Workshop: „Die fazio-orale Therapie erwachsener Patienten mit neurologischen Störungen im Bobath-Konzept “ 7. Fachkongress von logopädieaustria „WunderHirn“ – ERlernen- WIEDERlernen-Umlernen 10.-12. März 2016, Linz Florence Kraus-Irsigler, Bobath-Senior-Instruktorin, IBITA Funktionen des FOT Lebensqualität • Essen und Trinken: - Nahrungsaufnahme (Kauen und Schlucken) - Sozialer Aspekt - Genuss • Kommunikation: - Sprechen - Mimik, Gestik, Ausdruck, Was wird interpretiert? - Ästhetik „Das Gesicht verrät die Stimmung des Herzens“ Dante Alighieri • Atmung: - Koordination mit den anderen Funktionen - Mechanische Beatmung? Florence Kraus-Irsigler, 2016 2 Bio-psycho-soziales Modell der ICF Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit, ICD) Körperfunktionen und -strukturen Teilhabe Partizipation Aktivitäten Ganzheitlichkeit Umweltfaktoren persönliche Faktoren materiell sozial verhaltensbezogen Alter, Geschlecht Motivation Lebensstil 3 Wichtigste theoretische Annahmen • Kopplung von Partizipation, Aktivität und zugrunde liegenden Impairments. Analyse nach spezifischen Bedürfnissen • Organisation menschlichen Verhaltens und motorischer Kontrolle. Aufgabenteilung im ZNS. Unterschiedliche Komponenten einer Aufgabe in verschiedenen Gebieten ZNS verarbeitet. • Konsequenzen aus Verletzung und Dysfunktion für die Bewegungsausführung. • Regeneration abhängig von Veränderungen im ZNS, Lagerung und Handhabung, Art und Qualität der Bewegungsversuche. – Neurale und muskuläre Plastizität. – Motorisches Lernen. • Beurteilung / Bemessung der Rehabilitationsergebnisse am Erfolg. IBITA Jahreshauptversammlung, September 2006 Florence Kraus-Irsigler, 2016 4 Neurologische Störungen komplexe Folgen große psychosoziale Auswirkungen! • Motorische Steuerungsstörung, Paresen • Koordinationsstörungen • Veränderter Tonus • Sensibilitätsstörungen, • Biomechanische Veränderungen • Pathologische Reflexe • Neuropsychologische Störungen, innere Repräsentation verändert • Hyperaktivität der weniger betroffenen Seite • Gelernter Nichtgebrauch • Posturale Aktivität ungenügend, nicht genügend Voraussetzung für gezielte Bewegung • Dysphagien Kau-, Schluckstörungen • Dysarthrien, Dysphasien Stimm- und Artikulationsstörungen • Beeinträchtigung der Atmung ev. Abhängigkeit von Geräten • Erhöhter Pflegebedarf, • Verminderung der Lebensqualität • Lebensgefahr Florence Kraus-Irsigler, 2016 5 Diese komplexe Symptomatik wird oft mit dem Begriff Fazialis Lähmung beschrieben. Greift die Bezeichnung einer peripheren Nervenlähmung nicht viel zu kurz und ist daher sehr zu hinterfragen? Im Großkörper ist das Umdenken schon Großteiles passiert, warum nicht auch im spezifischen fazio-oralen Bereich? Florence Kraus-Irsigler, 2016 6 Kernaspekte therapeutischer Anwendung • Clinical Reasoning und Bewegungsanalyse. Lösungsorientiert beobachten, analysieren und interpretieren angemessene, sinnvolle und patientenorientierte Ziele festlegen. • Befund und Behandlung als Interaktion: „Theragnostik“ • Integration von posturaler Kontrolle und aufgabenorientierter Bewegung. • Nutzung sensorischen und propriozeptiven Inputs. Pat. aktivieren! • Afferente Informationen wichtig für Initiieren und Modifizieren von Bewegung und Erzeugen innerer Repräsentation von Haltung und Bewegung. „Intake“ und nicht nur „Input“: aktive Aufnahme von sensomotorischer Erfahrung! – Bedeutung der Fazilitation Veränderung motorischen Verhaltens Neuroplastizität, Verstärkter Gebrauch der mehr betroffenen Körperabschnitte IBITA Jahreshauptversammlung, September 2006 Florence Kraus-Irsigler, 2016 7 Kernaspekte therapeutischer Anwendung • Problemstellung des aktiven Tonus/Spastik. Alignment sowie Länge und Elastizität der Muskulatur muss erhalten bleiben. • Allgemeine Behandlungsstrategien, effektive, vielfältige, individuelle Wege zur Aufgabenbewältigung erarbeiten. • Eventuell Umgebungsveränderungen und externe Unterstützung für die verbesserte, aufrechte Position. 24 Std. Management. • Ergebnisbemessung / Ergebnisbeurteilung. Florence Kraus-Irsigler, 2016 8 Fazilitation • Fazilitation verlangt häufig den Einsatz des manuellen Kontakts. Dies hat zum Ziel, die Aufnahme sensorischer und propriozeptiver Information anzuregen, Muskulatur zu aktivieren und / oder Bewegung zu lenken; Fazilitation ist aber niemals passiv. – Der Patient muss dabei wach, möglichst aufmerksam sein – An dem Ziel interessiert sein – Möglichkeit haben / bekommen, Bewegungen zu lernen, anzupassen, zu verändern, auszuprobieren / reflektieren und somit sinnvoll einzusetzen. • Lernen braucht Zeit! Theoretical Assumptions and Clinical Practice – January 2007, IBITA Florence Kraus-Irsigler, 2016 9 Fazilitation HANDS ON / HANDS OFF Je nach Möglichkeit und Fähigkeit des Patienten! Die Hände des Therapeuten müssen dabei sein: • • • • • Aktivierend, nicht fixierend Führend, Weg weisend, nicht passivierend Sicherheit /Stabilität / Referenz gebend Beeinflussend, nicht bestimmend Überwachend „Die Kunst ist nicht die Hände am Patienten anzulegen, sondern sie im richtigen Moment weg zu nehmen.“ Berti Bobath Florence Kraus-Irsigler, 2016 10 Die Grundgedanken des BobathKonzepts sind sinngemäß auf die Faziooralen (FO) Funktionen übertragbar. Florence Kraus-Irsigler, 2016 11 FOTT für Erwachsene mit neurologischen Störungsbildern vor allem von KAY COOMBES (England) entwickelt Ein Ziel ist, dass bestimmte Grundsätze im Umgang mit dem Patienten durchgängig, d.h. von allen Teammitgliedern und zu jeder Zeit beachtet werden! Florence Kraus-Irsigler, 2016 12 • FOTT ist Niemandsland! Alle Berufsgruppen können, keine muss diese Therapie machen, aber die Patienten dürfen durch diese ungeklärte Situation nicht vernachlässigt werden! • FOTT braucht eine Zusatzausbildung (FOTTGrundkurs, Aufbaukurs), ist eine Spezialisierung. (Auch für Logopäden) Florence Kraus-Irsigler, 2016 13 Ziele der Behandlung des fazio-oralen Traktes • Verbessern der Motorik und Sensorik und somit der FOFunktionen • Wiederherstellung, Verbesserung von Lebensqualität – Essen als soziale Funktion – Empfinden von Geschmack – Essen als Genuss • Behandlung zur Stimulation, Integration von Angehörigen • Abbau der Sonde • Bahnen von Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit • Verbessern der Mundpflege • Abbau der pathologischen Reflexe, Verbessern der Ästhetik • Verhindern von Sekundärkomplikationen Florence Kraus-Irsigler, 2016 14 Therapie ist fortwährender Befund – „Theragnostik“ • Wie im Großkörper werden die Funktionen nicht nur quantitativ geprüft. • Die Qualität der einzelnen Bausteine der Funktion entscheidet über die Alltagsrelevanz und den Grad der Integration des Patienten. • Kosten die Funktionen Anstrengung, Konzentration? Normalerweise eben nicht! Florence Kraus-Irsigler, 2016 15 Therapie ist fortwährender Befund – „Theragnostik“ 1. Zusammenhang zwischen Fazio-oralem Bereich und „Großkörper“ 2. Gesicht (außen) 3. Mund (innen) 4. Stimme, Sprechen, Artikulation 5. Atmung 6. Essen und Trinken Florence Kraus-Irsigler, 2016 16 1. Zusammenhang zwischen Faziooralem Bereich und „Großkörper“ • Auswirkung der Ausgangsstellung, speziell Kopfstellung, Haltung, Posturale Kontrolle • Tonus (Flex. ? Ext. ?) • Andere neurologische Symptome, z.B. Ataxie, Athetose • Assoziierte Reaktionen bei Anstrengung, gegenseitige Auswirkungen? • Sensibilitätsstörungen • Neuropsychologische Störungen Florence Kraus-Irsigler, 2016 17 Repräsentation des Fazio-oralen Trakts im Homunculus • Übergroße Repräsentation von Gesicht (30%) und Hand (30%) auf den primären Rindenfeldern • Viele Afferenzen zum ZNS • Große Beeinflussung von o Motorik o Sensorik o Wachheitsgrad, Vigilanz Florence Kraus-Irsigler, 2016 18 Core Stabilität - Kernstabilität „Kern / Sockel / Ursprung“ dynamisch- stabiles Muskelkorsett • Beckenboden, tiefe Hüftmuskeln UNTEN als BODEN • Tiefe paraspinale Rückenmuskeln HINTEN • Tiefe Bauchmuskeln SEITLICH und VORNE • Diaphragma OBEN als DACH Der KERN ist das Zentrum der beweglichen Kette Florence Kraus-Irsigler, 2016 19 2. Gesicht (außen) • Sichtbefund an Hand von Linien, Falten, Grübchen, („Symmetrie“?) • Aktivitäten abschnittsweise prüfen (siehe nächste Folie) • Mimische Bewegungen nonverbale Kommunikation, Ausdruck • Sensibilität • Pathologische Reflexe, (Bruxismus, Beißreflex) • Ästhetischer Eindruck? Florence Kraus-Irsigler, 2016 20 2. Gesicht (außen) • • • • • • • • • Stirn Augen Nasen-Wangenfalte Nasen-Lippenfalte Mm. risorii, obere/untere Kinn, M. mentalis Platysma Kehlkopf Kopfstellung, HalsNackenmuskulatur Florence Kraus-Irsigler, 2016 21 3. Mund (innen) • Zustand des Zahnfleischs und der Zähne, Prothese? • Bisswunden, Abdrücke der Zähne • Form der Zunge, Gaumenbögen, des Zäpfchens, („A“ - sagen) • Reflexe verändert? (z.B. Beißen, Knirschen) • Aktivitäten abschnittsweise prüfen (siehe nächste Folie) • Sensibilität Florence Kraus-Irsigler, 2016 22 3. Mund (innen) Für alle 4 Quadranten: • • • • • • Lippen Zahnfleisch außen Wangen Zahnfleisch innen Harter Gaumen Zunge in Ext. / Flex. Richtung? Tempo? Qualität/ Ausmaß? Rhythmus Florence Kraus-Irsigler, 2016 23 Kieferkontrollgriff von vorne, von der Seite 4. Stimme, Sprechen, Artikulation • Dysarthrie? (Schnelltest: King-Kong, Hongkong) • Artikulation von: - Vokalen - Zungenlauten • j, g, k (hinten) • n, l, d, t (vorne) • - Lippenlauten m, b, p • - Zischlauten s, f, sch • Dysphonie? • Qualität der Stimme? - Lautstärke, - Tonhöhe, - Klang, - Rhythmus, • Melodie Florence Kraus-Irsigler, 2016 25 5. Atmung • Wenn die Atmung auffällt, ist sie meist nicht in Ordnung. Koordination mit Sprechen? Essen? • bei Anstrengung? • in Ruhe? • Atemgeräusche in Ruhe? • Tiefe Atemzüge? • Atem anhalten? • „a“ über mehrere Sekunden („ha-ha-ha“) • Mechanische Beatmung? Florence Kraus-Irsigler, 2016 26 6. Essen und Trinken • Kauen? Schlucken (hörbar, anstrengend)? Nahrungsauswahl, Menge, Geschmack! Kostform, Konsistenz! Selbständig? • Trinken? (auch rasch aufeinander folgend?) • Mundschluss? Speichelfluss? Wann? • Speisereste im Mund? Reinigung mit der Zunge? Nachschlucks? • Schwierigkeiten in welchen Phasen der Schlucksequenz? • Wenn Dysphagie, schluckt ev. Speichel? Aspirationsgefahr? • Sonde? Welche? • Schluckversuch bei Sondenpatienten nur durch Fachpersonal! Vorbereitung durch FOTT und Prüfung der Schutzreflexe Florence Kraus-Irsigler, 2016 27 Physiologische Schlucksequenz Prä-orale Phase: - Haltungshintergrund Becken, Schultern, Nacken, Kopf, Augen – Handkoordination, Neuropsychologie Orale Phase: (1,0 Sek.) - Speise zerkleinern, einspeicheln, transportieren Pharyngeale Phase: (0,5. – 1,0 Sek.) - Schluckreflex + Atemstopp, Verschluss Nasenraum und Kehlkopfdeckel - Öffnung Speiseröhre Ösophageale Phase: (8 – 20 Sek.) - Nahrung durch Sphinkter in den Magen Florence Kraus-Irsigler, 2016 28 6. Essen und Trinken • Schutzreflexe: - Schlucken, Kehlkopfbeweglichkeit - Würgen - Husten, spontan / willkürlich? Häufig? Qualität (trocken / feucht, kräftig / schwach)? • Mundhygiene: Welche Zahnbürste, alle Quadranten, alle Flächen, wie spülen, wie oft? Zahnfleischmassage? Prothesenreinigung? • Ausspucken • Andere Funktionen: z.B. Gähnen, Räuspern (kräftig / schwach?), Pfeifen Florence Kraus-Irsigler, 2016 29 Schlussfolgerung • Individuelle Partizipationsziele? Möglichst genau, überprüfbar! (was ist der realistische Zuwachs an Funktionen, der für den Patienten Gewinn im Alltag bedeutet?) • Einschätzung des Potentials Therapieplan Welche Bausteine sind nötig zur Verbesserung der Funktionen? • Zusammenhänge? Auswirkungen? Veränderung und Beratung im Alltags-Management • Eigentraining? • Verlauf? • Überprüfung, Ergebnismessungen • Re-analyse Florence Kraus-Irsigler, 2016 30 Plastizität des ZNS Plastizität ist die Grundlage für die lebenslange Lernfähigkeit des Menschen und somit auch für die plastische Reorganisation des Netzwerks nach einer Schädigung des ZNS. „ Neurons that fire together wire together” Florence Kraus-Irsigler, 2016 31 Fördern durch Fordern Das Prinzip der Rehabilitation ist, immer ein wenig mehr zu fordern, als der Patient kann. Fördern durch fordern, ohne dabei zu überfordern. Dr. med. A.Vogt, Charité-Berlin, 2005 Florence Kraus-Irsigler, 2016 32 Zusammenfassung: Kernelemente des Bobath-Konzepts • Ganzheitliche Sicht-, Denk- und Handlungsweiseweise, z.B. nicht nur isoliert als Fazialislähmung betrachten! • Spezifische Analyse individuelle, kreative, alltagsorientierte Behandlung verbesserte Partizipation Motivation! • Aktive Aufnahme von senso-motorischer Erfahrung, Verbesserung der Sensibilität speziell im fazio-oralen Bereich bedeutend, Kompensation durch Augenkontrolle nicht möglich! • Aktive Mitarbeit des Patienten gewinnen! • 24-h-Management Arbeit im interdiziplinären Team, Einbeziehen der Familie und Betreuer, Adaptierung der Umwelt, Einfluss der Positionierung! Florence Kraus-Irsigler, 2016 33 Literatur zum Thema FOTT • Nusser-Müller-Busch: „Die Therapie des Facio-Oralen Trakts; Springer • G. Bartolome et al.: „Diagnostik und Therapie neurologisch bedingter Schluckstörungen“; Gustav Fischer • Gabriele Münch: „Manuelle Stimmtherapie (MST), eine Therapie, die berührt“; Das Gesundheitsforum • Bettina Paeth Rohlfs: „Erfahrungen mit dem Bobath-Konzept“; Thieme • Pat M. Davies: „Hemiplegie: Ein umfassendes Behandlungskonzept für Patienten nach Schlaganfall und anderen Hirnschädigungen (Rehabilitation und Prävention)“; Springer Florence Kraus-Irsigler, 2016 34