Irgendwie anders? Autistisch?! 26. September 2016 Dr. Ronnie Gundelfinger Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Seite 1 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Die Fachstelle Autismus in Zürich • Zuverlässige Diagnostik • Beratung von Eltern bzgl. Behandlungs- und Fördermöglichkeiten • Ein intensives, verhaltenstherapeutisches Frühförderprogramm • Gruppentherapie für Kinder mit AS unter Einbezug von Geschwistern und Eltern • Einzeltherapie für Kinder und Jugendliche • Konsiliartätigkeit für die Schule der Stiftung Kind + Autismus • Weiterbildungsangebote für Pädiater, Psychiater, Heilpädagogen, Logopädinnen • Enge Zusammenarbeit mit dem Elternverein • 2015 etwa 180 Neuanmeldungen Seite 2 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Definition der autistischen Störung Leo Kanner 1943 „Autistic Disturbances of Affective Contact“ • Unfähigkeit, soziale Beziehungen einzugehen • Unfähigkeit, Sprache zur Kommunikation einzusetzen • Zwanghafter Wunsch, Gleichheit zu bewahren • Faszination für Objekte • Auftreten der Symptome vor dem Alter von 2 ½ Jahren Seite 3 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Hans Asperger 1944 „Die Natur dieser Kinder offenbart sich am deutlichsten in ihrem Verhalten anderen Menschen gegenüber. In der Tat, ihr Verhalten in einer Gruppe ist das klarste Zeichen für ihre Behinderung und die Ursache für Konflikte von frühester Kindheit an.“ Seite 4 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Definition im ICD - 10 1. Eine spezifische, schwere und allgemeine Störung, soziale Beziehungen einzugehen 2. Eine spezifische Störung der verbalen und nonverbalen Kommunikation 3. Verschiedene eingeschränkte, sich wiederholende und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten 4. Auftreten der Störung vor dem Alter von 3 Jahren Seite 5 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Autismus – Spektrum - Störungen • Frühkindlicher Autismus • Atypischer Autismus (PDD – NOS) • Asperger Syndrom Seite 6 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Das autistische Spektrum frühkindl. Autismus atypischer Autismus Asperger Syndrom schwer leicht Schweregrad der autistischen Symptome Seite 7 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Beurteilung eines Kindes mit einer autistischen Störung Leicht Asperger High funct. + + + Ausmass der kognitiven Beeinträchtigung Frühkindl. + Autismus Schwer Low funct. Seite 8 16.06.2016 + + schwer Schweregrad der autistischen Symptome Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus leicht Das 1. Lebensjahr Zwischen dem 6. und dem 12. Monat nimmt bei nicht autistischen Kindern das gezielte soziale und kommunikative Verhalten kontinuierlich zu, während es bei autistischen Kindern stagniert oder sogar abnimmt (v.a. Blickkontakt, soziales Lächeln). Seite 9 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Warnzeichen im 1. Lebensjahr Kein „Pläuderle“ Kein Zeigen oder andere Geste Auffälligkeiten im Körperkontakt (macht sich steif, wird schlaff, dreht sich weg) Reagiert wenig oder nicht auf Stimmen, v.a. nicht auf Namensnennung, reagiert überempfindlich auf gewisse Geräusche (Staubsauger, Mixer …) Schaut Menschen nicht an oder vermeidet Blickkontakt Lächelt nicht zurück Kein Imitationsverhalten Unspezifische Symptome (motorische Entwicklung, Ernährung) Seite 10 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus The social motivation hypothesis Vermindertes soziales Interesse Mangel an sozialen Erfahrungen Verminderte Möglichkeiten für adäquates kognitives Lernen Seite 11 16.06.2016 Vermindertes soziales Lernen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Verdachtssymptome im 2. Lebensjahr Verzögerte Sprachentwicklung Kein gemeinsames Interesse an der Welt (joint attention) – Kein Zeigen auf interessante Gegenstände – Kein Bringen von Objekten, um sie zu zeigen – Kein Orientieren am Gesicht der Eltern – Kein gemeinsames Betrachten von Bildern Kein imitierendes Spielen, kein „so-tun-als-ob“-Spiel Wenig oder ungewöhnliche nonverbale Kommunikation Verlust von sprachlichen oder sozialen Fähigkeiten Seite 12 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Verdachtssymptome nach dem 2. Lebensjahr Wenig Interesse an anderen Kindern Fehlende oder ungewöhnliche Sprache, keine nonverbale Kompensation Kaum joint attention, wenig emotionale Gegenseitigkeit Eingeschränktes und repetitives Spielverhalten, kein Symbolspiel Wenig Interesse an Bilderbüchern und Geschichten Faszination für rotierend oder glitzernde Objekte Ungewöhnliche Hand- oder Körperbewegungen Über- oder Unterempfindlichkeiten auf Geräusche, Gerüche oder Berührung, selbststimulierendes Verhalten Läuft weg, ohne zu schauen Seite 13 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Asperger Syndrom und Genetik „Was wäre geschehen, wenn das Autismus-Gen aus dem Gen-Pool eliminiert worden wäre?“ „Ich sehe ein Bild vor mir von Höhlenmenschen, die um ein Feuer sitzen und miteinander reden. Und in einer Ecke sitzt der Aspie und fertigt seine erste Speerspitze und überlegt sich, wie er sie an einem Stab festmachen kann und schneidet eine Tiersehne zurecht. Soziale Menschen erfinden keine Technologie! Temple Grandin Seite 14 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Theory of Mind Die Fähigkeit, über das Denken anderer zu reflektieren und sich vorzustellen, was andere Menschen über die Gedanken anderer denken. Die Fähigkeit zu sehen, dass andere Menschen Gedanken, Wünsche, Absichten, Werte und ‘mentale Zustande’ haben, die anders sein können als die eigenen. Die Fähigkeit, eine Situation aus der Perspektive einer anderen Person zu sehen. “Theory of Mind” ist die Voraussetzung für Empathie. Seite 15 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Sally-Ann-Aufgabe Fragen „Wo wird Sally nach ihrer Murmel schauen?“ (Testfrage) „Wo befindet sich die Murmel tatsächlich?“ (Reality-Frage) „Wo war die Murmel zu Beginn?“ (Gedächtnisfrage) Ergebnis richtige Lösung bei 86% der Kinder mit Downsyndrom und 80% der neurotypischen Kinder Seite 16 16.06.2016 falsche Beantwortung der Testfrage von 80% der Kinder mit ASD (aber: richtige Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Beantwortung der KontrollSpezialangebote, Fachstelle Autismus fragen) Fehlende “Theory of Mind” erkennt man als Schwierigkeit: • Das Verhalten und die Reaktionen anderer voraussagen zu können • Täuschungen, Intentionen und Motive anderer zu durchschauen oder selbst etwas vorzutäuschen • Die Auswirkungen und Konsequenzen des eigenen Verhaltens auf Andere zu verstehen • In Betracht ziehen, was andere vielleicht schon wissen oder wofür sie sich interessieren • Missverständnisse zu durchschauen und zu klären • Das Interesse Anderer zu lesen und darauf zu reagieren Seite 17 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Konzeptuelle Ebene – Konkretismus (Frith, 1989) Seite 18 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Sensorische Wahrnehmung Effekt wird oft unterschätzt Mangelnde Filterfunktion führt zu sensorischer Reizüberflutung und Erschöpfung (Donna Williams) Seite 19 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Spezialinteressen Auffällige Themen – Technische Geräte, Fahrzeuge … – Fahrpläne – Nicht alterstypische Interessen Auffällige Intensität – Ansammlung von Faktenwissen, viele Details – Anlegen von Tabellen und Listen – Kaum Zeit für Anderes Altersabhängiger Übergang von einfachen, konkreten Themen zu komplexeren, abstrakten Interessen (Science Fiction, Fantasy, berühmte Personen, geschichtliche Themen) Seite 20 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Probleme im Alltag • Sie finden keinen Anschluss, werden ausgegrenzt und geplagt • Sie halten sich nicht an Regeln und Konventionen • Sie machen verletzende Bemerkungen • Sie wollen nur über ihr Lieblingsthema reden • Sie wenden extrem viel Zeit für ihre Hobbys auf • Sie hängen sehr an festen Abläufen und haben Mühe mit Unvorhergesehenem • Sie haben Mühe mit Nähe und Distanz • Sie sind oft motorisch ungeschickt • Sie zeigen oft sensorische Überempfindlichkeiten (Essen, Gerüche, Lärm, Kleider) Seite 21 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus ASS bei Mädchen und Frauen • Die Symptomatik ist subtiler und im Vergleich zu derjenigen bei Jungen oft weniger ausgeprägt. Mädchen/Frauen müssen aber in sozial komplexerer Umgebung bestehen. • Mädchen verfügen über mehr soziales Interesse, mehr soziale Kompetenzen und zeigen mehr soziales Spiel. • Mädchen erlernen soziale Fähigkeiten schneller als Knaben mit AS. • Mädchen reagieren eher passiv und mit Rückzug, was dem gesellschaftlichen Rollenbild (still, schüchtern) entspricht. • Mädchen fallen weniger auf und verhalten sich weniger störend. Die AS-Verhaltensweisen werden rollentypisch interpretiert (mangelnder Blickkontakt = schüchtern) Seite 22 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Social Situations Seite 23 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Seite 24 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Symptome des AS als Stärken • Beziehung zu Mitmenschen geprägt von absoluter Zuverlässigkeit und Loyalität • Frei von sexistischem oder anderem vorurteilsbehaftetem Denken • Ehrliche Kommunikation ohne Hintergedanken oder Doppeldeutigkeiten • Originelle Art der Problemlösung • Aussergewöhnliches Gedächtnis für Details • Enzyklopädisches Wissen über Spezialgebiete Seite 25 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Beratung und Therapie Das Kind „verändern“ Die Umgebung verändern – Familie – Schule – Freizeit Seite 26 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Beratung und Therapie Das Kind „verändern“ – Sein Verständnis erweitern – Information / Selbstbild – Wie funktionieren die anderen? – Wie funktionieren wir zusammen? – Sein Verhaltensrepertoire erweitern Seite 27 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Beratung und Therapie Die Umgebung verändern – Information – Erwartungen / Anforderungen – Konkrete Anpassungen Seite 28 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Verhalten Aufmerksamkeit Ich möchte erreichen: Objekt/Aktivität Ich möchte vermeiden: Sensorische Erfahrung Seite 29 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Stress und Ängstlichkeit sind Hauptfaktoren, die das Verhalten von Kindern mit AS beeinflussen. Sie werden ausgelöst durch: • Reizüberflutung • unbefriedigte Erwartungen • unerwartete Veränderungen • Mangel an Verständnis für soziale Situationen • Schulische/ soziale Herausforderungen Seite 30 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Übersicht über die KOMPASS - Module Basis-Gruppentraining Gefühlserkennung & -ausdruck Small Talk Nonverbale Kommunikation Training für Fortgeschrittene Komplexe Kommunikation Interaktion & Freundschaft Perspektivenwechsel & Empathie (immer im Hintergrund) Seite 31 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Visualisieren des Gruppenablaufs Seite 32 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus The Transporters Seite 33 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Therapeutische Materialien: Bücher von Menschen mit AS Schneebeli, Sandra: Verstehen und Verstanden werden - Mein Leben mit dem Aspergersyndrom. Überarbeitete Maturaarbeit, 2011. Autismus Deutsche Schweiz. Brauns Axel (2004). Buntschatten und Fledermäuse. Gerland Gunilla : Ein richtiger Mensch sein Grandin Temple : Ich bin die Anthropologin auf dem Mars Schäfer Susanne (2010). Sterne, Äpfel und rundes Glas: Mein Leben mit Autismus. Schuster Nicole (2007). Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing. Tammet Daniel (2008). Elf ist freundlich und Fünf ist laut: Ein genialer Autist erklärt seine Welt. Seite 34 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Spielfilme Temple Grandin Mozart and the whale Snow cake Adam Rain Man Extremely loud and incredibly close Seite 35 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Internet www.autismus.ch www.tonyattwood.com Youtube Beiträge zu • • • • Temple Grandin Peter Schmidt Nicole Schuster Daniel Tammet TED –Talks zu Autismus Seite 36 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus Literatur Samantha Todd, Eine eigene Welt– Einblick in das AutismusSpektrum, Kommode Verlag Zürich, 2015 Vera Bernard-Opitz, Kinder mit Autismus-SpektrumStörungen, Kohlhammer, 3. Auflage 2015 Michele Noterdaeme, Angelika Enders (Hrsg.) Autismus-Spektrum-Störungen, Kohlhammer, 2010 Tony Attwood: Ein ganzes Leben mit dem Asperger Syndrom: Alle Fragen – alle Antworten Mark Haddon: Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone Seite 37 16.06.2016 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Ambulatorien und Spezialangebote, Fachstelle Autismus