Wie funktioniert die Naturwissenschaft? Teil 5 Die Spanne erstreckt sich diesmal vom freien Fall bis zum Placebo-Effekt. Dr. Peter Hank befasst sich mit den Dingen, die die Welt im Innersten zusammenhalten und erklärt dabei, warum die Breite der Anwendung für die Wissenschaft so wichtig ist. Wie sich das gehört, kriegt die Homöopathie wieder eins drauf, und es wird veranschaulicht, welche Effekte bei den Placebos wirken. Breite der Anwendung Wie funktioniert Naturwissenschaft? Teil 5 die Der Punkt, dass eine, wie Popper sagt, „kühne“ Theorie immer auch Möglichkeiten zur Falsifizierung anbieten muss, wird uns auch im fünften Teil von „Wie funktioniert die Naturwissenschaft“ begleiten. Es wird um drei der größten Wissenschaftler gehen, nämlich um Galileo, Kepler und Newton und darum, was es bedeutet, eine wissenschaftliche Theorie ist breit anwendbar. Galileo und der freie Fall Eigentlich verblüffend, dass es bis nach 1600 gedauert hat, bis man die Bewegung fallender Körper verstanden hat und formelmäßig beschreiben konnte. Denn den allermeisten Menschen bereitet es kaum Schwierigkeiten einen geworfenen Ball zu fangen – aber wenn man die Bewegung beschreiben lässt, dann kommen oft Bahnkurven raus, die mit der wirklichen Bewegung nichts zu tun hat [McCloskey, Intuitive Physics, 1984]. Galileo hat sich bei seinen Experimenten mit einem Trick beholfen; um die Bewegung fallender Körper zu verstehen, hat er schiefe Ebenen verwendet, um die Wirkung der Schwerkraft scheinbar zu vermindern und die Bewegung zu verlangsamen. Dadurch konnte er dann auch das Gesetz für den freien Fall formulieren – in moderner Schreibweise erhält man für die Fallstrecke s in Abhängigkeit von der Zeit t und der Erdbeschleunigung g: Eine der wesentlichen Erkenntnisse von Galileo war damals, dass die Unterschiede für verschiedene, fallende Körper auf den Einfluss des Luftwiderstand zurückgehen. „Angesichts dessen glaube ich, dass, wenn man den Widerstand der Luft ganz aufhöbe, alle Körper gleich schnell fallen würden.“ Galileo, Discorsi e Demonstrazioni“, 1636 Heute haben wir tatsächlich die Möglichkeit diese Vermutung nachzuprüfen. Dass z. B. ein Hammer und eine Feder im Vakuum gleich schnell fallen, kann man hier in diesem Video sehen kann: Freier Fall auf dem Mond Wie die obige Formel zeigt, ist die Fallstrecke mit der Zeit unabhängig davon, was man fallen lässt. Große, kleine, rote, blaue, Schaumstoff-, Holz- und Bleikugeln, Würfel, Oktaeder – ohne Luftwiderstand fallen alle Körper gleich schnell. Dadurch, dass Galileo die Fallgesetze auf eine breite Basis gestellt hat, hat er auch zusätzliche Tests ermöglicht. Teste, bei denen immer auch die Möglichkeit bestand, dass sie zu einer Widerlegung seiner Theorie führen könnten. Solche Tests aber anzubieten, dass macht seine Theorie „kühn“. Und nicht das sie denken, dass wären leere Worte; solche Tests wurden immer wieder und werden mit immer höherer Genauigkeit auch heute noch durchgeführt (siehe wikipedia: Equivalence principle) Kepler und die Bewegung der Planeten Zu einer ähnlichen Zeit wie Galileo sich mit fallenden Körpern beschäftigt hat, hat Johannes Kepler versucht die Bahnen der Planeten zu beschreiben. Den Abschluss fanden diese Arbeiten mit dem dritten Keplerschen Gesetz, welches beschreibt, wie die Umlaufzeiten der Planeten und deren Bahnradien voneinander abhängen. „Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen, dass die Proportion, die zwischen den Umlaufszeiten zweier Planeten besteht, genau das Anderthalbe der Proportion der mittleren Abstände, d. h. der Bahnen selber ist“ Harmonices mundi libri V, 1619 Oder in heutiger Schreibweise mit Umlaufzeit T und Bahnradius a und C als Konstanter: Auch wieder schön, dass das Gesetz – denken Sie an die Breite der Anwendung – nicht nur für alle Planeten des Sonnensystem gilt, sondern immer dann, wenn leichtere Objekte ein deutlich schwereres umkreisen, so auch für Jupiter und seine Monde (Video Jupitermonde) und sogar für die Sterne, die das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße umkreisen (Video Milchstraßenzentrum). Newton und das Gravitationsgesetz So und jetzt kommen wir dann auf die bekannte Geschichte von Newton und dem Apfel. Angeblich soll Newton bei der Betrachtung des Apfels (oder nach einer anderen Fassung der Anekdote nachdem ihm der Apfel auf den Kopf gefallen ist) sich die Frage gestellt haben, wie weit wohl die Schwerkraft der Erde reiche und ob es einen Zusammenhang zwischen dem Fallen eines Apfels (und damit sind wir wieder bei Galileo) und den Bewegungen am Himmel (siehe Kepler) geben könnte. Ergebnis seiner Überlegungen war dann die Formulierung des Gravitationsgesetzes in seiner Principia Mathematica von 1687. Philosophiae Naturalis [1] Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, 1987 (Newtonsches Gravitationsgesetz: Die Kraft F ist gleich der Gravitationskonstanten G mal Masse m und Masse M durch das Quadrat des Abstands r) Uns heute ist natürlich der Gedanke vertraut, dass auch die Vorgänge im Himmel nach denselben Gesetzen wie auf der Erde ablaufen; aber auch das war wieder ein Schritt, der die Breite der Anwendbarkeit erweitert hat. Warum die Breite der Anwendung für die Wissenschaft so wichtig ist An sich finde ich es allein schon in einem intellektuellen Sinne schön, wenn sich zeigt, dass verschiedene Teile der Welt zusammenhängen, dass das, was man an einer Stelle gelernt hat, woanders anwendbar ist, dass man bis auf grundlegende Prinzipien vorgestoßen ist – Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber – damit ist es nicht getan. Es ist nämlich nicht so, dass Newton nur statt zwei Formeln mit einer einzigen auskommt. Dadurch, dass Newton die Galileischen Fallgesetze und die Keplersche Himmelsmechanik beide auf das Gravitationsgesetz zurückführt, sind diese beiden Phänomene nicht mehr unabhängig voneinander. Deutlich wird das, wenn man die ersten beiden Formeln aus dem Gravitationsgesetz ableitet: Die Herleitung von Kepler aus Newton geht (im einfachen Fall für Kreisbahnen) über Kräftegleichgewicht Anziehung und Zentrifugalkraft: GmM / r² = mv² / r mit m Planetenmasse, M Sonnenmasse, v Bahngeschwindigkeit, r Bahnradius GM = rv² = r (2π r / T)² GM / 4π² = r³ / T² Wie man aus der unteren Zeile sieht, kann man mit dem universalen Gravitationsgesetz jetzt die vorher experimentell bestimmten Konstanten g und C auf die Gravitationskonstante G zurückführen. Das Tolle daran ist, dass man jetzt einen neuen Test für die Theorie angeben kann. Man sagt jetzt nicht nur voraus, dass alle Körper gleich schnell fallen, man sagt auch nicht nur voraus, wie schnell ein Planet mit bestimmten Abstand sich um die Sonne bewegt – nein, aus einer der beiden Messungen kann man auch die andere vorhersagen. Beispiel: Wenn man misst, wie schnell ein Apfel fällt und weiß, wie lange ein Monat dauert, dann kann man auch berechnen, wie weit der Mond von der Erde entfernt ist. Und das kann man dann wieder mit einer unabhängigen Messung prüfen. In einem späteren Teil dieser Reihe, wenn wir zur Durchführung von Experimenten kommen, werden wir außerdem sehen, dass es – um mögliche Fehler bei einem einzelnen Experiment auszuschließen – es immer wünschenswert ist, eine wichtige Messung mit verschiedenen Versuchsaufbauten basierend auf verschiedenen Prinzipien vorzunehmen (Stichwort systematische Fehler). Und wenn eine Theorie nur in einer Nische anwendbar ist? Erst einmal heißt es, dass ich mögliche Prüfungen der Theorie auch nur in dieser Nische durchführen kann und ich dabei im schlimmsten Fall systematisch immer denselben Fehler mache. Zweitens besteht die Gefahr, dass man eine Theorie so hinkonstruiert, dass sie zu den Fakten des Einzelfalls passt, man aber dann für umfassendere Erklärungsversuche blind wird. Ein Beispiel für mich ist dafür die Astrologie: Um ein Horoskope erstellen zu können, wird ein kompliziertes System von Sternzeichen, Aszendenten, Achsen und Quadranten aufgestellt. Da steht der (Zwerg-) Planet Pluto nach dem Gott der Unterwelt für den Tod (was wäre wohl passiert, wenn nicht Percival Lowell die Suche nach Pluto finanziert hätte und der Planet einen anderen Namen bekommen hätte?). Das zeigt schon, dass dieses System willkürlich konstruiert ist, denn physikalisch gibt es keinen Grund warum ausgerechnet Pluto berücksichtigt und der (die?) größere Eris ignoriert wird. [2] Eris und Pluto im Größenvergleich Tatsächlich gibt es auch eine umfassendere und viel einfachere Erklärung, warum Menschen meinen, Horoskope treffen zu. Barnum-Effekt: Wir Menschen neigen dazu, uns in vagen oder allgemeinen Aussagen wiederzuerkennen. Dazu hilft es, wenn die Aussagen alle Möglichkeiten abdecken, also ein sowohl als auch enthalten; in der Originalstudie von B. R. Forer: The fallacy of personal validation; a classroom demonstration of gullibility, 1949 hieß es unter anderem: „Manchmal verhalten Sie sich extrovertiert, leutselig und aufgeschlossen, manchmal auch introvertiert, skeptisch und zurückhaltend.“. Schmeichelei ist auch nicht verkehrt, z. B. „In Ihnen steckt mehr als man auf den ersten Blick vermutet.“ oder „Sie sind viel zu schlau, um auf Komplimente reinzufallen.“. Das erklärt auch, warum ein in einem Nachfolgeexperiment (Michel Gauquelin: Dreams and Illusions of Astrology. 1980) von 150 Personen, die alle ein und dasselbe „ganz persönliche“ Horoskop erhielten, sich 90% passend beschrieben sahen. Das Horoskop war das eines Serienmörder. Ähnliche Beispiele finden sich auch in der Alternativmedizin: Akupunktur: Die in der Akupunktur postulierten Meridiane und Akupunkturpunkte, entlang derer sich die Lebensenergie Qi aufbreiten soll, werden auch nur innerhalb dieses Behandlungssystem benötigt. Es gibt keine Beobachtung außerhalb dieses abgeschlossenen Systems, in denen die Akupunkturpunkte eine Rolle spielen – man sieht sie nicht beim Röntgen, Kernspin, Ultraschall oder wenn man den Körper aufschneidet. Homöopathie: Dass sich die Wirkung eines Mittels durch Verdünnung verstärkt – die Homöopathen sagen potenziert – ist nur innerhalb der Homöpathie zu beobachten. Überall sonst verschwindet die Wirkung, wenn vom Stoff nicht mal mehr ein einzelnes Molekül vorhanden ist. Eigentlich schade, denn sonst könnten wir mit homöopathischen Benzin Auto fahren. Auch Erstverschlimmerung – einem Patienten geht es trotz Homöopathika schlechter – kann man auch einfacher erklären. Schließlich gibt es nur die zwei Möglichkeiten, dem Patienten geht es besser, dann fragt auch keiner warum die Erstverschlimmerung fehlt – oder es geht ihm schlechter, dann ist es gut, eine passende Antwort zu haben. Dennoch halten sich alle möglichen zweifelhaften pseudomedizinische Verfahren schon über Jahre und Jahrhunderte und haben viele Anhänger, die sich sicher sind, dass sie funktionieren. Auch dafür gibt es eine Erklärung, eine die – auch wieder Breite der Anwendung – für alle dieser Verfahren und außerdem für Zuckerpillen erklären kann, warum diese scheinbar wirksam sind: Placebo-Effekt: Je nach Definition tragen verschiedene Einzeleffekte zum Placebo-Effekt bei, etwa Natürlicher Heilungsverlauf: Ohne Arzt dauert der Schnupfen eine Woche, sonst sieben Tage. Regression zur Mitte: Viele auch chronische Krankheiten haben keinen glatten, sondern einen Verlauf mit Höhen und Tiefen – wenn man also irgendein Mittelchen dann nimmt, wenn es einem schlecht geht, dann kann man sich darauf verlassen, dass es bald wieder besser geht. Wahrnehmungsverzerrung: Man achtet mehr auf die Anzeichen der Besserung, wenn man erwartet, dass es besser wird. Stressreduktion: In vielen Fällen ist es schon eine Erleichterung, dass man das Gefühl hat, etwas tun zu können, statt der Situation ausgeliefert zu sein. Das erklärt auch, warum Placebos bei Beschwerden, die durch Anspannung verschlimmert werden wie etwa Schlaflosigkeit besonders wirksam scheinen. Und zum Abschluss verweise ich noch auf einen Comic der von mir sehr geschätzten Webseite XKCD, der nochmal demonstriert, was wäre, wenn manche Phänomene breiter anwendbar wären: [3] xkcd comic: The Economic Argument Bildnachweis: [1] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:NewtonsPrincipia. jpg [2] http://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AEightTNOs.png (mit Eris und Pluto links oben) {3] https://xkcd.com/808/ Formeln: Hank Startbild: IH Weitere wissenbloggt-Artikel von Peter Hank unter Auswahl/Wissenschaft Kann ich meinem Hirn trauen 1…9 und Wie funktioniert die Naturwissenschaft?