§0 Zur Einführung: Was ist (war) Geometrie? ''Lange war Mathematik synonym mit Geometrie. Wohl gab es andere Zweige wie Algebra, Trigonometrie, Infinitesimalrechnung, Mechanik, aber das waren doch mehr Sammlungen zufälliger, schlecht begründeter Formeln, während Geometrie ein vollkommenes gedankliches System war, wo eines aus dem andern streng folgte, und alles schließlich aus Definitionen und Axiomen. Kam man mit andern Techniken auch weiter, die Geometrie war doch das eigentlich Wahre.'' (H. FREUDENTHAL) 0.1 Geometrie als Sprachrahmen der modernen Mathematik Die Rolle der Geometrie innerhalb des gesamten Gebäudes der Mathematik erfuhr in den letzten 100 Jahren einen wesentlichen Wandel. Während man bisweilen das 19. Jahrhundert auch als Jahrhundert der Geometrie bezeichnet, ging im 20. Jahrhundert der Anteil der Geometrie im engeren Sinne an der gesamten mathematischen Forschung deutlich zurück. Eine Ursache dafür besteht sicher in der Ausweitung mathematischer Fragestellungen, verbunden mit der durch die axiomatische Methode möglichen Absicherung der Erkenntnisgewinnung. Die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien war und ist nicht zuletzt dafür verantwortlich, dass aus Geometrie mehr als nur eine präzise Beschreibung des Anschauungsraumes wurde, dass geometrische Begriffe zunächst innerhalb der Geometrie von ihrer anschauungsgebundenen inhaltlichen Vorwegbestimmtheit befreit wurden. Man betrachte dazu nur die Interpretation von (euklidischen) Halbkreisen der oberen Halbebene als „Geraden“ des Poincarémodells der hyperbolischen Ebene (vgl. 0.3.2.4), oder auch die verschiedenen Möglichkeiten, einen Abstand (etwa mittels Metrik) in der Ebene oder im Raum zu erklären (diskrete Metrik, Taximetrik, euklidische Metrik, vgl. Aufgabe 1). Geometrische Sprechweisen setzten sich in allen Zweigen der Mathematik durch: „Punkte“ treten als Elemente vieler Typen von Räumen auf (Hilbertraum, Banachraum, topologischer Raum, Maßraum...), Abstände werden auch außerhalb der Geometrie betrachtet, z. B. zwischen Funktionen (Funktionalanalysis, Numerik) oder zwischen den Worten über einem Alphabet (Hamming-Distanz als Maß für Verwechselungsgefahr der Worte, bedeutsam für Codierungstheorie und Kryptographie). Geometrische Begriffe wie Kegel, Kugel, orthogonal, Inhalt.... werden in vielen mathematischen Theorien benutzt. Die Geometrie entwickelte sich so im 20. Jahrhundert zu einem Sprachrahmen der Mathematik, der zumindest teilweise die „anschauliche“ Argumentation auch in komplexen und abstrakten Situationen erlaubt und damit – ohne dass dies immer explizit formuliert wird – auch Lehr- und Lernhilfen für die Mathematik bereitstellt. Teilweise benutzt man bewusst geometrische Sprechweisen oder Bilder zur Beschreibung von Problemen und deren Lösungen. Drei einfache Beispiele mögen diesen neuen Charakter der Geometrie belegen. N. Christmann: Kurse zur Geometrie und deren DidaktikLetzte Änderung dieses Paragraphen am 21.10.2007 §0 Zur Einführung: 6 0.1.1 Beispiel (Theorie der Übungsaufgabendurchsage): Aufgabenstellung: Nehmen wir an, die (zum Ärger der Studierenden / Schüler) am Montagmorgen abzugebenden Lösungen der Übungsaufgaben (Hausaufgaben) seien recht umfangreich. Deshalb beschließen die n TeilnehmerInnen eines Kurses, die Aufgaben in n Teilaufgaben aufzuteilen, jede(r) TeilnehmerIn bearbeitet dann genau eine Teilaufgabe. Sonntags sollen gegen 19.00 Uhr die Lösungen telefonisch ausgetauscht werden. Wir setzen voraus, dass alle TeilnehmerInnen ihren Aufgabenteil lösen (können und dies tun). Wie kann man beim Austausch ein Telefonchaos vermeiden? Lösung für n=2k: Betrachten wir zuerst die Lösung für n = 22 = 4 (k=2) TeilehmerInnen. Wir ordnen diesen die Eckpunkte eines Quadrates zu. Die Lösungen werden zuerst in waagrechter Richtung (1 mit 2, 3 mit 4), anschließend in senkrechter Richtung (1 mit 3, 2 mit 4) ausgetauscht (die Existenz wird dabei natürlich vorausgesetzt), nach 4 Anrufen kennen alle TeilnehmerInnen alle Lösungen, wenn alle TeilnehmerInnen jeweils ihre gesamte Information weiter geben. 7 3 8 4 5 6 3 1 2 1 4 2 Geometrische Deutung der Übungsaufgabendurchsage Bei n = 23 = 8 (k=3) TeilnehmerInnen ordnen wir diesen die Eckpunkte eines Würfels zu. Der Austausch erfolgt dann in 3 Stufen, zunächst wird • in waagrechter Richtung (1 mit 2, 3 mit 4, 5 mit 6, 7 mit 8), ausgetauscht, • danach in senkrechter Richtung (1 mit 5, 2 mit 6, 3 mit 7, 4 mit 8) und • schließlich wird noch in die Tiefe des Raumes (1 mit 3, 2 mit 4, 6 mit 8, 5 mit 7) ausgetauscht, insgesamt werden so 3⋅4 = 12 Anrufe benötigt. Spätestens nach diesem Spezialfall sollte die allgemeine Strategie klar sein. Zur geschickteren Formulierung werden den TeilnehmerInnen jetzt k-tupel mit Komponenten aus {0,1} zugeordnet. Ausgetauscht wird längs der k kanonischen Basisvektoren des zugehörigen Vektorraumes. Weil dabei jeweils 2(k-1) Anrufe erfolgen, ist nach insgesamt k⋅2(k-1) Anrufen der Lösungsaustausch abgeschlossen. Weitere Verallgemeinerung: Im Falle n = pk k(2p-3)pk-1 kann man mit Telefonanrufen auskommen. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 7 Man überlege sich dazu zunächst, dass man in einer Richtung mit p Teilnehmern über Durchschieben der Lösungen mit insgesamt (p-1) + (p-2) = 2p-3 Telefonaten auskommt: T(1) → T(2) → T(3) → .............. → T(p-1) → T(p) Nach diesem Austausch (p-1 Telefonate) kennen T(p-1) und T(p) alle Lösungen. T(p) ruft T(1) an, anschließend erfolgt Durchschieben bis T(p-2), das sind p-2 Anrufe. In jeder Basisrichtung hat man pk-1 Geraden nach diesem Prinzip zu versorgen, insgesamt gibt es k Basisrichtungen, daher gilt die o.a. Formel. Wenn schließlich die Zahl der Teilnehmer keine Potenz pk ist, kann man einzelne Teilnehmer duplizieren oder auch Teilnehmer zusammenfassen bis eine Potenz erreicht ist. Vgl. hierzu Aufgabe 3 und das Schülerarbeitsheft zum Referat über endliche Geometrien im Tagungsband N. CHRISTMANN u.a.: Anregungen zum Geometrieunterricht sowie BEUTELSPACHER/ROSENBAUM: Projektive Geometrie, S. 42f. Man beachte bei diesen Lösungen, dass die Minimierung der Anzahl der Telefongespräche nicht das vorrangige Ziel ist, es sind durchaus teilweise Lösungen mit geringerer Anzahl von Anrufen denkbar. Betrachten wir etwa den Fall n = 9: Die Zerlegung 9 = 32 liefert mit der Formel 18 Anrufe, zerlegt man 9 = 23+1 und vereinbart, dass Teilnehmer 1 und 9 sich vor Beginn und am Ende des Austausches kurz schließen, so kommt man mit 12+2 = 14 Anrufen aus. Durch die Parallelschaltung der Anrufe erhält man eine klar durchschaubare Ordnung, man vermeidet, dass einzelne Anrufer einen Sonderstatus bekommen. Außerdem hat man damit eine Abschätzung für die Höchstzahl der benötigten Anrufe/Telefonrunden. 0.1.2 Beispiel (Travelling-Salesman-Problem): Fragestellung: Ein in KL ansässiger Handelsvertreter muss wöchentlich seinen Kundenstamm besuchen. Er versucht diese Rundreise so zu planen, dass seine Kosten möglichst gering (minimal) werden. Bevor unser Vertreter rechnen kann, muss er klarstellen, was er zu den Kosten zählt. Nehmen wir an, er fährt (trotz seines prinzipiell vorhandenen Umweltbewusstseins) mit dem (firmeneigenen) PKW. Dann sind die Entfernungen zwischen den Orten ein Kostenfaktor, wobei u. U. neben der reinen km-Angabe noch Straßentyp (Autobahn, gut/schlecht ausgebaute Landstraße, wenige/viele Ortsdurchfahrten...) und Fahrtrichtung (Gefällstrecke wird in Gegenrichtung zur Bergstrecke) und Preisniveau der Gaststätten (Mittagessen, Übernachtung) einzurechnen sind. Mathematisch gelangt er so zu einem gewichteten Graphen oder Digraphen (gerichteter Graph, directed graph, in diesem Fall können Hinweg und Rückweg unterschiedlich gewichtet werden, vgl. Berg- und Talfahrten). Die Gewichte der Kanten liefern dann ein Entfernungsmaß für die Knoten (Orte), welches nicht mehr nur für die rein geometrische Entfernung steht. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 7 §0 Zur Einführung: 8 Die Suche einer optimalen Rundreise kann bei geringer Ortszahl durch Probieren erfolgen, für beliebige Anzahlen ist noch kein Algorithmus polynomialer Komplexität bekannt, man kann bisher nur vermuten, dass ein solcher nicht existiert (vgl. hierzu Bücher über Graphentheorie, z. B. von JUNGNICKEL, VOLKMANN). Rundreisen werden dabei als Hamilton–Zykel oder –Kreise (kurz: H–Zykel) bezeichnet, man erkennt das Abheben vom ursprünglichen geometrischen Gehalt des Begriffs Kreis. Die Kreise dieses Beispiels sind vielleicht noch als doppelpunktfrei und geschlossen anzusehen, einen Mittelpunkt oder Radius kann man allenfalls nach einer wesentlichen Verallgemeinerung dieser Begriffe finden. KIB KUS FT LU KL NW SP ZW PS LD Eine Rundreise durch die Pfalz (Im Bild ist nur eine, vermutlich recht günstige eingezeichnet) Im vorangehenden Bild ist ein solcher H-Zykel für 10 pfälzische Städte angedeutet, dabei wurde keine Richtungsangabe gemacht, es wird also insbesondere nicht die Neigung der Strecken bei Hin- und Rückweg unterschieden. Der Startpunkt ist unerheblich, insgesamt gibt es 9!/2 solche ungerichteten Rundreisen (bei n Städten: (n–1)!/2). Die Fakultät in dieser Formel belegt den exponentiellen Anstieg des Aufwandes beim reinen Probieralgorithmus. Allerdings belegt das Beispiel auch, dass man gewisse ungünstige (also lange) Rundreisen nur dann auswählen kann, wenn der Arbeitgeber sehr großzügig bei der Spesenabrechnung ist. Wer wird z. B. während der Rundreise von KUS direkt nach SP und von dort nach KIB fahren? Manche Reisen wird also der Praktiker gar nicht in Erwägung ziehen, dadurch reduziert sich die Anzahl möglicherweise schon erheblich. Außer den Entfernungen wird das Kreuzen anderer Rundreisestrecken dem Praktiker Hinweise zur Lösung geben. Auf der Idee, immer zu möglichst nahen, noch nicht erfassten Städten zu reisen, beruhen teilweise Näherungsalgorithmen (Greedy-Algorithmus) zur Bestimmung möglichst guter Rundreisen. Schlecht kann die solchermaßen gefundene Lösung dann werden, wenn der letzte nicht mehr zu umgehende Weg sehr weit ist. Im nachfolgenden Bild ist ein entsprechendes Beispiel angedeutet. Startet man mit P5 und geht immer zu dem Punkt, der am nächsten liegt, so gelangt man nacheinander zu P5, P4, P3, P2, P1, am Schluss muss man dann zwangsläufig die lange Strecke von P1 nach P5 wählen. Die Rundreise P5, P3, P1, P2, P4, P5 ist dagegen kürzer, wie man den Daten des Bildes entnehmen kann. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 9 d(P3;P5)+d(P1;P3)+d(P1;P2)+d(P2;P4)+d(P4;P5) 20,84 d(P4;P5) + d(P3;P4) + d(P2;P3) + d(P1;P2) + d(P1;P5) 22,16 8,1605 cm P1 4,90061 cm P3 5 cm 3 cm s1 P5 3,78944 cm 3,5 cm 2,5 cm s2 P2 3,64796 cm P4 Zum Aufsuchen einer kürzesten Rundreise Bei dem zuvor beschriebenen Rundreise-Problem müssen die Gewichte der Kanten nicht unbedingt der Dreiecksungleichung genügen und damit auch keine Metrik auf der Knotenmenge des Graphen beschreiben. Die zum Aufsuchen von Näherungslösungen verwendeten Algorithmen müssen dabei in Abhängigkeit von dieser Voraussetzung gewählt werden, gleiches gilt für die Abschätzung der Güte dieser Näherung. Die geometrische Spracheinkleidung wird aber in jedem Fall genutzt. 0.1.3 Beispiel (Theorie einer Weinprobe): Aufgabe: Beim Betriebsausflug besucht ein Kollegium ein Weingut mit großem Weinangebot. Der Winzer möchte sein umfangreiches Angebot insgesamt vorstellen. Weil die Sortenzahl zu groß ist, kann er die Teilnehmern nicht alle Sorten versuchen lassen, er bietet also jeder Kollegin und jedem Kollegen einen Ausschnitt seines Angebotes zum Test an. Für diese Auswahl versucht er folgende Grundsätze einzuhalten: (W1) Jede teilnehmende Person testet genau k (z.B. 3) Sorten. (W2) Jede Sorte wird von einer festen Personenzahl s getestet. (W3) Zu je zwei Sorten gibt es genau eine Person, welche beide testet. (W4) Zu je zwei Personen gibt es genau eine Sorte, welche von beiden getestet wird. Einen Weinprobenplan kann man z. B. dadurch erstellen, dass man den Weinsorten Punkte zuordnet und den testenden Personen Verbindungslinien dieser Punkte (Geraden, man denke an ein Tablett, auf dem die Weine serviert werden). Die Lösung führt dann in den Bereich der endlichen projektiven Ebenen, vgl. die zugehörige Abbildung für den Fall, dass mindestens zwei Personen (NC und HH) am Test teilnehmen und jeweils 3 Sorten testen. Etwas näher ausgeführt ist dieses Beispiel im bereits erwähnten Arbeitsheft als Schokoladentestproblem. Entscheidend ist, dass geometrische Vorstellungen zur Lösung eines nichtgeometrischen Problems genutzt wird. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 9 §0 Zur Einführung: 10 C B A G D F E Test von NC Start mit den Sorten A,B,C von NC, A werde von NC und HH gemeinsam getestet, für HH werden dann noch zwei weitere Sorten D,E benötigt. Für die Sorten D,C wird ein weiterer Tester und eine zusätzliche Sorte (G) benötigt, gleiches gilt für E,C (zusätzliche Sorte F). Drei weitere Tester mit den Probentirpeln (A,G,F), (B,E,G) und (D,F,B) (Tablettform verändern, Gerade im Bild gebogen) schließen den minimalen Probenplan ab. Test von HH Weinprobe und endliche Geometrie Dieser außergeometrische Gebrauch der Geometrie wurde in der Geometrie gegen Ende 19. und im 20. Jahrhundert durch Entwicklungen innerhalb der Geometrie vorbereitet. Bevor wir diese innergeometrische Entwicklung in 20. Jahrhundert näher betrachten, werfen wir einen kurzen Blick in die Geschichte der Geometrie, um damit u. a. ein noch besseres Verständnis für die Stellung und den Wandel der Geometrie zu erhalten. Man vergleiche hierzu die beiden Bücher von MAINZER und SCRIBA/SCHREIBER und auch das Referat von K. RADBRUCH im bereits zitierten Tagungsband. 0.2 Aus der Geschichte der Geometrie: Ägypten und Babylon Auf Ausgrabungen aller Kulturen findet man immer wieder bestimmte Formen und Muster, in denen sich der Sinn für Regelmäßigkeit und Symmetrie spiegelt: gleichseitiges Dreieck, Quadrat, Rechteck, Kreis, Quader, Würfel, Zylinder. Die Natur erscheint dabei häufig als Vorbild der Geometrie. Der Begriff Geometrie (Erdmessung) wird spätestens seit dem 6. Jahrhundert vor Christus von Philosophen und Mathematikern benutzt. Die ersten bekannten schriftlichen Dokumente über geometrische Fragen sind wesentlich älter, so sind uns solche aus den alten Hochkulturen Ägyptens und Babylons überliefert. Deren Inhalte und Methoden sollen hier kurz beleuchtet werden. Ein Keilschrifttext Aus dem Papyrus Rhind Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 11 0.2.1 Ansätze zur Geometrie im alten Ägypten Die alten Ägypter mussten über hervorragende geometrische Kenntnisse verfügen, sonst hätten sie ihre großartigen Totendenkmäler (Pyramiden) nicht bauen können. Geometrische Aufgaben werden im Papyrus Moskau (1850 v. Chr.) und im Papyrus Rhind (1650 v. Chr.) gelöst. Dabei handelt es sich um Sammlungen von Musteraufgaben, in denen Zahlenbeispiele – teilweise unterstützt mit Zeichnungen – vorgerechnet werden. Bautechnikern und Verwaltungsbeamten wurde hiermit die Berechnung von (Land–) Flächen– und Rauminhalten (z. B. von Kornspeichern) vermittelt. Enthalten sind in diesen Sammlungen z.B. eine Formel für den Pyramidenstumpf, ein guter 2 1 8 Näherungswert für die Kreiszahl π (4 ⋅ ≈ 3 ) und die Berechnung krummer Flächen 9 6 (Zylindermantel) durch Abwicklungen. Eine für Schüler aufbereitete Aufgabensammlung bietet das Buch J. LEHMANN: So rechneten Ägypter und Babylonier, Leipzig usw. 1994. 0.2.1.1 Beispiel (Volumen des Pyramidenstumpfes): In Aufgabe 14 des Papyrus Moskau wird das Volumen eines quadratischen Pyramidenstumpfes der Höhe 6 mit oberer Quadratseite 2 und unterer Quadratseite 4 berechnet. Die dazu angegebene Vorschrift lautet: „Quadriere die Zahlen 2 und 4, addiere zur Summe dieser Quadrate das Produkt von 2 und 4. Die so erhaltene Zahl 28 ist mit einem Drittel von 6, also mit 2 zu multiplizieren.“ b = 2 LE b = 2 LE h = 6 LE h = 6 LE a = 4 LE a = 4 LE Pyramidenstumpf, Zerlegung in einfachere Gebilde Zu Aufgabe 14 im Papyrus Moskau Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 11 §0 Zur Einführung: 12 Diese Vorgehensweise entspricht exakt der heutigen Formel (vgl. Aufgabe 4) h V = ( a 2 + ab + b 2 ) 3 für einen Pyramidenstumpf der Höhe h und den Seiten a bzw. b des Boden– bzw. Deckenquadrates. Strategien wie Zerlegen in einfachere Bestandteile (Pyramidenstümpfe werden in Quader, Prismen und Pyramiden zerlegt) und Zusammensetzen bis bekannte Bestandteile entstehen (Zusammensetzen zweier rechtwinkliger Dreiecke zu einem Rechteck) werden ausgenutzt, es wird aber stets am speziellen Beispiel orientiert gearbeitet. Ein Bedarf nach allgemeiner Absicherung der benutzten „Rezepte“ besteht nicht, ist zumindest in den Quellen nicht erkennbar. 0.2.2 Ansätze zur Geometrie im alten Babylon Aus Babylon sind etwa 300 Keilschrifttexte mathematischen Inhalts überliefert, der älteste stammt etwa aus dem Jahre 2100 v. Chr. Die Babylonier gelten danach besonders als geschickte, den Ägyptern überlegene Arithmetiker und Algebraiker. Man findet bei ihnen u. a. Formeln für die Inhalte von Dreieck, Trapez, Prisma und Zylinder, (falsche bzw. Näherungs-) Formeln für Inhalte von Pyramiden- und Kegelstumpf. Hervorzuheben sind die Kenntnis des Satzes von Pythagoras sowie die Vorformen von Tabellen trigonometrischer Funktionen. Der Satz des Pythagoras wird z. B. zur Lösung des Problems der rutschenden Leiter benutzt (vgl. RADBRUCH a.a.O.) W and W and Leiter Leiter Boden Boden Ortskurve des Mittelpunktes einer rutschenden Leiter Mittelpunkt eines Gummibandes, das entweder entlang (die Leiter rutscht an der Wand und am Boden entlang) der Wand oder entlang des Bodens bewegt wird Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 13 0.3 Griechische Geometrie 0.3.1 Griechische Geometrie vor Euklid Die nachweisbaren Anfänge der griechischen Mathematik liegen mehr als 1000 Jahre später als die Blütezeiten der ägyptischen und babylonischen Mathematik. Dabei zeichnen sich die Griechen nicht so sehr durch neue Erfindungen und Entdeckungen, sondern durch den Wechsel der Methode aus. An die Stelle rezeptartiger Musteraufgaben treten allgemeingültige Formeln und Lehrsätze, die man auch zu beweisen versucht. Warum formten die Griechen die Mathematik zu einer beweisenden Wissenschaft? Eine endgültig gesicherte Erklärung hierfür gibt es nicht, man findet z. B. folgende Argumente: (1) (2) (3) (4) (5) Zweckfreie Freude der Griechen an Philosophie und Wissenschaft; Übernahme des Vorbildes der juristischen/politischen Diskussionskunst (Dialektik). Der Einfluss der eleatischen Philosophie (Parmenides, Zenon) bewirkte die neue Methode. Die Entdeckung inkommensurabler Strecken durch die Pythagoräer löste (einen Schock und damit) die sorgfältige Hinterfragung der Grundlagen der Mathematik aus. Historisch überlieferte Ergebnisse widersprachen teilweise einander (verschiedene Formeln für den Kegelstumpf, verschiedene Werte für die Kreiszahl π), diese Unterschiede sollten geklärt werden. Nach den Geschichtsschreibern ENDEMOS und PROCLOS soll THALES von Milet als erster Geometer Sätze aufgestellt und bewiesen haben. Ursprünglich war Thales Kaufmann, sein mathematisches Wissen erwarb er sich vermutlich in Ägypten. Dort soll er nach PLUTARCH die Höhen von Pyramiden durch Schattenmessungen bestimmt haben. In einer literarischen Aufbereitung (Denis GUEDJ: Das Theorem des PaPaGeis, Hoffmann und Campe Hamburg 1999, S. 46ff) findet man: THALES von Milet (624-547 v. Chr.) „Wenn ich die Messung schon nicht per Hand durchführen kann, dann tue ich es eben mit Hilfe meines Verstandes.“ ....Thales war von folgender Idee überzeugt: Das Verhältnis, das zwischen mir und meinem Schatten besteht, ist dasselbe wie dasjenige zwischen der Pyramide und ihrem Schatten. Hieraus schloss er: In dem Moment, in dem mein Schatten gleich meiner Körpergröße ist, ist auch der Schatten der Pyramide gleich ihrer Höhe. Das war der Einfall....jetzt musste er nur noch praktisch umgesetzt werden können. Thales konnte dieses Unterfangen nicht allein durchführen.......(Ein) Fellache erklärte sich bereit, ihm zu helfen.....“ (vgl. Aufgabe 5). THALES werden u. a. folgende Sätze zugeschrieben: Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 13 14 (1) (2) (3) (4) §0 Zur Einführung: Jeder Durchmesser halbiert die Kreisfläche. Gegenüber liegende Winkel an sich schneidenden Geraden sind gleich. Die Basiswinkel eines gleichseitigen Dreiecks sind gleich. Dreiecke, die in einer Seite und den anliegenden Winkeln übereinstimmen, sind kongruent (Kongruenzsatz wsw). Während er diese Sätze begründet haben soll, wird in der mathematikgeschichtlichen Literatur häufig bestritten, dass er den bei uns nach ihm benannten Satz (Umfangswinkel im Halbkreis ist ein rechter Winkel) bewiesen hat. Wenn man Nichtmathematiker nach einem Ergebnis/Satz aus ihrem Mathematikunterricht fragt, wird von ihnen meist der Satz des Pythagoras genannt. Der Philosoph und Mathematiker PYTHAGORAS von Samos lebte etwa von 580 – 500 v. Chr., sein umfangreiches Wissen soll er sich auf Reisen verschafft haben, bevor er sich in der Mitte des 6. Jahrhunderts in Kroton (Unteritalien) niederließ und dort eine Akademie gründete. Eine Trennung der mathematischen Erkenntnisse in solche des Meisters und die seiner Anhänger ist heute kaum möglich, man ordnet die Erkenntnisse einfach den „Pythagoreern“ zu; diese Bezeichnung ist für die Mitglieder dieser Schule seit Aristoteles üblich. Die Akademie bestand bis zum 4. Jahrhundert v. Chr.. Die Pythagoreer sollen die Mathematik erstmals um ihrer selbst willen betrieben haben (frei von Anwendungssituationen, vgl. 0.2), gelten von daher auch als Begründer der reinen Mathematik. Pythagoras demonstriert links die ganzzahligen Verhältnisse der Tonhöhen am Monochord, im rechten Bild werden die „Fußlagen“ verschiedener Oktaven durch die Flötenlängen gekennzeichnet. Der entscheidende Ansatz von PYTHAGORAS und seinen Anhängern bestand in dem Versuch, alle Eigenschaften der Welt durch Verhältnisse ganzer Zahlen zu beschreiben. Das galt z. B. auch für die Verhältnisse von Saitenlängen (am Monochord, vgl. Bild) bei als wohlklingend empfundenen Intervallen (vgl. pythagoreische Stimmung). Seit dieser Zeit war das “Quadrivium'' (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) für den Unterricht bestimmend. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 15 Für die Philosophen dieser Akademie muss die Entdeckung der Irrationalität (Diagonale und Seite des regulären Fünfecks bzw. Quadrates sind inkommensurabel, vgl. Abschnitt 0.3.1.1 und Aufgabe 6) eine schockierende Erkenntnis gewesen sein. Vielleicht wurde dadurch das Primat der Arithmetik (Babylon) durch ein Primat der Geometrie abgelöst. 0.3.1.1 Ergänzung: Zur Entdeckung der Irrationalität Die Griechen (Pythagoreer) benutzten die Zahlen nicht nur zur Lösung praktischer Probleme, sie dachten auch als erste über die Natur der Zahlen nach, zumindest sind uns frühere Quellen darüber nicht bekannt. Es wurde bereits erwähnt, dass man dabei glaubte, dass sich alle Erscheinungen der Welt (z. B. auch wohlklingende Tonpaare) durch Verhältnisse natürlicher Zahlen beschreiben lassen. So lesen wir bei Aristoteles in der Metaphysik: „Da die Pythagoreer erkannten, dass die Eigenschaften und Verhältnisse der musikalischen Harmonie auf Zahlen beruhen und da auch alle andern Dinge ihrer ganzen Natur nach den Zahlen zu gleichen schienen, so meinten sie, die Elemente der Zahlen seien Elemente aller Dinge und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl.“ Zahlen werden so nicht nur als Hilfsmittel zur Lösung praktischer Probleme benutzt, sondern auch Gegenstand der Untersuchung einschließlich mystischer Spekulationen. Man vergleiche z. B. die Untersuchungen in Euklids Elementen zum Thema gerade und ungerade Zahlen. Zahlen wurden geometrisch interpretiert. Die im obigen Zitat angedeutete „Sphärenharmonie“ wurde durch die Entdeckung des Irrationalen empfindlich gestört, ja führte zu Entsetzen und sogar zur Spaltung der Pythagoräer in die Anhänger der reinen Lehre („Akusmathiker“) und die „Mathematiker“, welche diese Entdeckung akzeptierten. Wie aufwühlend die Entdeckung für die Gelehrten damals sein musste, belegt folgendes Zitat aus den Gesetzen von Platon: „Der Athener: „Lieber Kleinias, ich habe ja wohl auch erst recht spät etwas vernommen und musste mich über diesen Übelstand höchlich verwundern. Es kam mir vor als wäre das gar nicht bei den Menschen möglich, sondern eher nur etwa beim Schweinevieh. Und da schämte ich mich, nicht nur für mich selbst, sondern auch für alle Hellenen. Länge und Breite gegen Tiefe und Breite gegeneinander - nimmt man hierbei nicht in ganz Griechenland an, dass sich diese Dinge gegeneinander messen lassen?“ Kleinias: „Ganz entschieden.“ Der Athener: „Wenn das aber nun schlechterdings unmöglich ist und doch, wie gesagt, wir Griechen insgesamt an die Möglichkeit glauben: Ist’s da nicht der Mühe wert, sich für alle zu schämen und zuzurufen: Ihr wackren Hellenen, das ist eines von den Dingen, davon wird gesagt, es sei eine Schande, wenn mans nicht wisse, und wenn man das Notwendige weiß, ist’s keine sonderliche Ehre.““ Man vermutet, dass die Entdeckung der Irrationalität durch HIPPASOS am Pentagramm, dem Ordenssymbol der Pythagoräer erfolgte, und zwar durch die Feststellung, dass Seite und Diagonale dieses regulären 5-Ecks kein gemeinsames Maß besitzen. Gleiches gilt auch für Diagonale und Seite des Quadrates, diese Aussage wird in der Schule meist zum Ausgangspunkt für Erweiterungen der rationalen Zahlen in Klasse 9 genommen. HIPPASOS soll seine Entdeckung auch an Unwürdige (also Nichtpythagoräer) verraten haben. Für diesen Verrat soll er bestraft worden sein, und zwar nach einer Legende durch den Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 15 16 §0 Zur Einführung: Tod bei einem Schiffsuntergang infolge eines (von den Göttern gesandten) Unwetters, nach einer andern Legende erfolgte der Schiffsuntergang wegen Sabotage (Anbohren des Schiffes) durch seine Ordensbrüder. In heutiger Sprache lässt sich der im Text benutzte Begriff „gegeneinander messen lassen“ mit maßverwandt gemäß folgender Definition präzisieren. Definition: Zwei Strecken a und b heißen maßverwandt (kommensurabel), wenn es eine (gemeinsames Maß genannte) Strecke e und natürliche Zahlen n und m gibt mit a = n⋅e und b = m⋅e. Nicht maßverwandte Strecken heißen auch inkommensurabel. Dabei ist n⋅e als n-fache Summe (Aneinanderhängen auf einer Halbgeraden) e + e + … + e der Strecke e erklärt. Sind zwei Strecken a und b maßverwandt, so ist ihr Längenverhältnis offensichtlich eine rationale Zahl, zugleich gilt auch die Umkehrung dieser Aussage. Wären alle Streckenpaare maßverwandt, so könnte man nach Vorgabe einer Einheitsstrecke e jede andere Strecke als rationales Vielfaches von e darstellen. Zugleich sehen wir, dass aus der Existenz inkommensurabler Strecken die Existenz irrationaler Zahlen folgt. Aufgrund der philosophischen Grundthesen der Pythagoreer ist klar, dass sie hofften, alle Streckenverhältnisse durch rationale Zahlen (Quotienten natürlicher Zahlen) auszudrücken. Dass diese Erwartung schon das Verhältnis von Diagonale und Seite beim Quadrat und beim regulärem Fünfeck nicht erfüllt, war eine schockierende Entdeckung, die die bereits erwähnte Spaltung des Ordens in diese Entdeckung akzeptierende (Mathematiker) und ablehnende (Akusmatiker) Mitglieder bewirkte. Um zu überprüfen, ob zwei Strecken a und b kommensurabel sind, benutzt man den Wechselwegnahme-Algorithmus, den man auch als euklidischen Algorithmus (bzw. als einen Spezialfall desselben) bezeichnet. Wechselwegnahme-Algorithmus (WWA) zum Aufsuchen eines gemeinsamen Maßes: Gegeben sind zwei Strecken a und b, welche ein gemeinsames Maß besitzen. 1. Überprüfe ob a = b gilt. Im Falle a = b ist mit e =a das größte gemeinsame Maß gefunden, Ausgabe e und Ende, sonst gehe zu 2. 2. Sind a und b verschieden, so kann man (notfalls durch Austausch) a < b voraussetzen. Man ersetze b durch a und a durch b-a und gehe nach 1. Wir haben vorausgesetzt, dass die beiden Strecken ein gemeinsames Maß besitzen. Zunächst ist anzumerken, dass ein gemeinsames Maß von a und b auch ein solches von a und b–a ist (b ungleich a) ist. Weiter muss der Algorithmus im Falle der Existenz eines gemeinsamen Maßes (wie es sich für einen ordentliche Algorithmus gehört) nach endlich vielen Schritten abbrechen. Haben a und b aber kein gemeinsames Maß, so bricht der Wechselwegnahme-Algorithmus (WWA) nicht ab. Genau das ergibt eine Strategie, um die Inkommensurabilität zweier Strecken zu beweisen: Man nimmt die Existenz eines gemeinsamen Maßes an, startet den WWA und zeigt, dass er nicht abbricht. Zugleich liefert diese Vorgehensweise ein Beispiel für einen indirekten Beweis. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 17 Wir erläutern dies an den klassischen Beispielen, nämlich dem Nachweis der Inkommensurabilität von Seite und Diagonale beim Quadrat und beim regulären Fünfeck. A D B C Satz: Seite und Diagonale eines Quadrates (regulären Fünfecks) sind inkommensurabel. Beweis für das Quadrat: Sei s die Seite und d die Diagonale des Quadrates. Dann ist d > s, wir bilden r := d–s und errichten über diesem Rest ein Quadrat. Dessen Diagonale d1 := s–r ist Teil einer Seite des ursprünglichen Quadrates. Wären s und d maßverwandt mit gemeinsamem Maß e, so würde dies auch für s1 := r und d1 gelten. Auf das kleine Quadrat wird das gleiche Verfahren angewandt, wir erhalten so eine Folge von Quadraten mit den Seiten sn und den Diagonalen dn. Nimmt man die Existenz eines gemeinsamen Maßes e an, so muss man nur zeigen, dass die Seite sn schließlich kleiner als e wird und damit e kein gemeinsames Maß von sn und dn und damit auch keines von s und d sein kann. Aus der Abbildung erkennt man, dass wegen d1>r die Strecke r kleiner als s/2 ist. Entsprechend gilt sn+1< sn/2, also sn+1<(1/2)ns , für genügend großes n wird also die Seite des Quadrates kleiner als e, e kann daher kein gemeinsames Maß sein. Dabei müssen wir als bekannt voraussetzen, dass durch fortgesetztes Halbieren einer Strecke jede vorgegebene Strecke unterschritten wird. Beweis für das reguläre Fünfeck: Beim regulären Fünfeck ist der Beweis vielleicht noch einfacher zu führen. Die Diagonalen des Fünfecks erzeugen ein kleineres Fünfeck mit Seite s1 und Diagonale d1. Es gelten dann und s1 = d – 2(d – s) = 2s – d. d1 = d – s Man muss dazu nur feststellen, dass jede Diagonale zu einer Seite parallel ist und ausnutzen, dass parallele Strecken zwischen Parallelen gleich lang sind. Wir schließen wieder: Haben d und s ein gemeinsames Maß, so gilt dies auch für d1 und s1. Fortsetzung des Verfahrens liefert wieder eine Folge von Seiten sn und Diagonalen dn. Dass schließlich dn und sn kleiner als e werden, ergibt sich aus der Abschätzung dn+1= dn – sn < dn/2. Den vorangehenden Beweis für das Quadrat findet man häufig in älteren Schulbüchern zur Geometrie. Das Zurückdrängen des Geometrieunterrichts führt dazu, dass in neueren Büchern vorwiegend der euklidische Beweis (Elemente Buch X, §115a) angegeben wird: Es ist d2 = 2s2. Wären d und s kommensurabel, so hätten sie ein Verhältnis wie eine ganze Zahl m zu einer ganzen Zahl n: d / s = m / n. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 17 18 §0 Zur Einführung: Es kann vorausgesetzt werden, dass m und n nicht beide zugleich gerade sind. Aus folgt m² = 2n2. d2 = 2s2 Aus der Lehre vom Geraden und Ungeraden (Elemente Buch IX, §29: Ungerade mal ungerade ergibt ungerade) folgt, dass m nicht ungerade sein kann, es ist also m = 2m’. Dann ist aber n2 = 2(m’)2, also auch n eine gerade Zahl, im Widerspruch zur Voraussetzung, dass m und n nicht zugleich gerade sind. In Schulbüchern wird bei diesem Beweis häufig Bezug auf die Primfaktorzerlegung natürlicher Zahlen (ZPE-Eigenschaft) genommen. Tatsächlich braucht man, wie aus dem Beweis hervorgeht, nur Regeln über die Multiplikation gerader und ungerader Zahlen. Der Bezug auf die ZPE-Eigenschaft ermöglicht allerdings die Übertragung des Beweises auf Irrationalitätsbeweise anderer Zahlen (z. B. für die Wurzeln aus Primzahlen). Nach H. GERICKE (Mathematik in Antike und Orient, S.100f) war der letzte Beweis wohl kaum der Weg zur Entdeckung der Inkommensurabilität, weil ein solcher indirekter Beweis die Kenntnis der zu beweisenden Aussage voraussetzt. Den geometrischen Beweis am Fünfeck ordnen die Historiker meist dem HIPPASOS von Metapont (Mitte des 5. Jh. v. Chr.) zu. Ob die bereits erwähnte Legende stimmt, dass er seine Erkenntnis auch außerhalb des Ordens der Pythagoreer bekannt machte und für diesen Verrat durch die Götter oder auch durch Sabotage von Ordensbrüdern bei einem Schiffsunglück zu Tode kam, kann wohl nicht mehr endgültig entschieden werde. In jedem Fall erforderte die Entdeckung des Irrationalen ein Umschreiben der Mathematik, das sich auch auf viele andere Bereiche auswirkte (vgl. z. B. auch temperierte Stimmung in der Musik). Geometrisch kann man die Mängel des Zahlbereichs Q beseitigen bzw. den Körper der reellen Zahlen direkt kennzeichnen, indem man die (Hilbertschen) Streckenrechnung auf die (vollbesetzte, also vollständige) Zahlengerade wirken lässt. Dazu ist natürlich vorauszusetzen, dass die Geometrie (synthetisch, also ohne analytische Vorgabe von Koordinatenbereichen) durch Axiome vorgegeben wird, wie dies z.B. in den Elementen des EUKLID oder in moderner Fassung durch Hilberts Grundlagen der Geometrie (um 1900) geschieht. Details hierzu folgen später. Abschließend verweisen wir noch darauf, dass die geometrischen Mängel gekoppelt sind mit algebraischen Mängeln (fehlende Lösungen von Gleichungen). Ein wichtiges Buch zur Grundlegung der Geometrie, die Elemente des Hippokrates (etwa um 440 v. Chr.) ist leider verschollen, es gilt als Vorläufer der Elemente des Euklid. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 0.3.1.2 19 Einige klassischen Probleme der Geometrie (Mathematik) Als klassische Probleme der Geometrie bildeten sich in der weiteren Entwicklung u.a. heraus: a) Die Quadratur des Kreises (vielleicht gestützt durch die Möndchen des Hippokrates) ist der Versuch, die Kreisfläche in ein flächengleiches Rechteck zu verwandeln (mittels Zirkel und Lineal, s.u.). b) Die Dreiteilung eines Winkels. c) Zu einem Würfel einen Würfel mit doppeltem Volumen zu konstruieren (Würfelverdoppelung). Als Konstruktionshilfsmittel waren bei der Lösung dieser Aufgaben nur Zirkel und Lineal zugelassen, genauer waren demnach folgende Schritte zur Festlegung von Punkten in der Ebene erlaubt: (K1) Wahl eines Punktes der Ebene (K2) Konstruktion der Verbindungsgeraden zweier bereits konstruierter Punkte (Linealgebrauch) (K3) Konstruktion eines Kreises um einen bereits konstruierten Punkt als Mittelpunkt durch einen bereits konstruierten (Peripherie-) Punkt. (K4) Punkte als Schnittpunkte von konstruierbaren Objekten, also genauer (i) Schnittpunkt zweier (bereits konstruierter) Geraden, (ii) Schnittpunkte von Gerade und Kreis, (iii) Schnittpunkte zweier Kreise. (K5) Endliche Folgen von Konstruktionen des Typs (K1)-(K4) in beliebiger sinnvoller Kombination. Die Lösung der angesprochenen Probleme (bzw. teilweise der Nachweis der Unlösbarkeit) erfolgte erst nach Einführung algebraischer Methoden zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dazu mussten den geometrischen Aufgaben entsprechende algebraische zugeordnet werden. So führt die Würfelverdopplung bekanntlich auf das Bestimmen der dritten Wurzel aus 2. Interpretiert man die Zahlen über Koordinaten als Punkte in einer Ebene, so kann man geometrischen Objekten Zahlkörper zuordnen. Neu konstruierten Punkten entsprechen dann (möglicherweise) erweiterte Zahlkörper. Einer Folge von Konstruktionsschritten wird dadurch eine Folge von Körpererweiterungen zugeordnet. So konnten z. B. N. H. ABEL (18021829) und E. GALOIS (1811-1832) mit algebraischen Mitteln die Unmöglichkeit der Würfelverdopplung mit Zirkel und Lineal beweisen. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 19 §0 Zur Einführung: 20 Niels Hendrik ABEL Evariste GALOIS Beachtet man, dass die aus der Schule bekannte Kreisgleichung eine quadratische Gleichung ist, so kann man sich vorstellen, dass für die Gleichung dritten Grades (x3 = 2) mit Hilfe des Schneidens von Geraden und Kreisen keine Lösung konstruiert werden kann. 0.3.2 Die Elemente des Euklid EUKLID (365-300 v. Chr.) fasste wesentliche Teile der zu seiner Zeit in der Platonschen Schule gelehrte Mathematik in seinen „Elementen“' zusammen. Es handelt sich um das neben der Bibel am weitesten verbreitete Buch, das besonders wegen des didaktischen Geschicks von Euklid (z. B. hinsichtlich der Stoffanordnung) gerühmt wird. Euklid muss für sein Werk verschiedene Vorlagen benutzt haben, so findet man für einzelne Teile Hinweise auf die jeweiligen ursprünglichen Autoren in mathematikhistorischen Werken. Details hierzu entnehme man der entsprechenden Spezialliteratur. Euklid lehrte in Alexandria, sein Werk wurde teilweise durch Rückübersetzung aus dem Arabischen im frühen Mittelalter rekonstruiert. Es bestimmte lange Zeit den Geometrieunterricht an Schulen und Hochschulen. Statt Geometrie wurde häufig einfach „EUCLID“ gelehrt, in England noch um 1900. EUKLID unter einem Baldachin Arabische Darstellung des Lehrsatzes von Pythagoras (um 1350) Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 21 0.3.2.1 Zum Inhalt der Elemente Die Elemente umfassen 13 „Bücher“ (heute würde man vielleicht Kapitel sagen), mit Hilfe heutiger Begriffe lässt sich deren Inhalt etwa folgendermaßen beschreiben: 1. Buch: 2. Buch: 3. Buch: 4. Buch: 5.-10. Buch: 11.-13. Buch: Dreieckslehre, Parallelenlehre, Anfänge der Flächenlehre Geometrische Algebra Kreislehre Reguläre Vielecke Zahlen Stereometrie. Werfen wir einen kurzen Blick in den Anfang des ersten Buches. Euklid beginnt das erste Buch mit Definitionen: „1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat. 2. Eine Linie ist eine breitenlose Länge. 3. Eine Gerade ist eine Linie, die gleichmäßig in bezug auf ihre Punkte liegt. .......... 10. Wenn eine gerade Linie, auf eine gerade Linie gestellt, einander gleiche Nebenwinkel bildet, dann ist jeder der beiden Winkel ein rechter. ......... 23. Parallel sind gerade Linien, die in der Ebene liegen und dabei, wenn man sie nach beiden Seiten ins Unendliche verlängert, auf keiner aufeinander treffen.“ Weshalb sind diese Definitionen problematisch? Vermutlich haben Sie vergleichbare in ihren Mathematikvorlesungen nicht kennen gelernt. Wir kommen darauf zurück, zunächst beschreiben wir weiter Euklids Start in die Geometrie. Es folgen die fünf Postulate: „Gefordert soll sein: 1. Dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann, 2. Dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern kann. 3. Dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen kann. 4. Dass alle rechten Winkel einander gleich sind. 5. Und dass , wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.“ ← { Zum Schnittpunkt Die Postulate befassen sich mit geometrischen Aussagen, die man als gültig ansieht (postuliert), aus denen dann weitere Aussagen mittels logischer Schlüsse gefolgert werden. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 21 §0 Zur Einführung: 22 Dazu bedarf es gewisser allgemeiner Regeln der Logik, diese werden teilweise in den Axiomen formuliert. Wir finden als Axiome u.a.: „1. Was demselben dritten gleich ist, ist auch einander gleich.....“, (wir schreiben die ersten drei in die heute übliche Formelsprache um: 1. a = c und b = c ⇒ a = b 2. a = b und c = d ⇒ a + c = b + d 3. a = b und c = d ⇒ a − c = b − d ...........) „7. Was einander deckt, ist einander gleich. 8. Das Ganze ist größer als der Teil.“ Im weiteren Teil des Buches werden dann auf dieser „gesicherten“ Grundlage (Konstruktions–) Aufgaben gelöst, dabei wird die Existenz bzw. Nichtexistenz von Lösungen diskutiert und somit auch die Allgemeingültigkeit von Sätzen gezeigt. 0.3.2.2 Zur Bedeutung des 5. Postulates Das fünfte Postulat ist wesentlich komplizierter als die andern, es hat im Gegensatz zu den „Konstruktionspostulaten“ 1. – 4. (Kreise sind konstruierbar, Strecken verlängerbar....) eine „wenn – dann“ – Form, also die Form eines logischen Schlusses. Dies führte dazu, dass man bereits seit der Antike bis in das 19. Jahrhundert versuchte, das 5. Postulat als Satz zu beweisen bzw. durch „evidentere“ Aussagen zu ersetzen. Dabei erwies sich die Anschaulichkeit der Geometrie immer wieder als Fallstrick dieser Beweisversuche: Man übernahm unbewiesene Aussagen aus der Anschauung als gültig an, häufig waren dies Sätze, die nach heutiger Einsicht zum 5. Postulat gleichwertig sind. Hierzu zählen: (E1) (E2) (E3) (E4) (E5) (E6) (E7) Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei Rechte Stufenwinkel- oder Wechselwinkelsatz. Die Abstandslinien von Geraden sind Geraden. Es gibt zwei ähnliche Dreiecke, die nicht zueinander kongruent sind. Es gibt Dreiecke beliebig großen Inhalts. Durch drei nicht auf einer Geraden liegende Punkte gibt es einen Kreis (Umkreis). Sind die Geraden g und h parallel und verschieden und ist weiter der Schnitt der Geraden l mit g nicht leer, so ist auch der Schnitt von l mit h nicht leer. Die Beweisversuche zum 5. Postulat im 17. und 18. Jahrhundert greifen teilweise auf arabische Quellen zurück, vgl. hierzu z. B. MAINZER, S. 119 – 126. In Europa in Erinnerung gerufen wurde die Diskussion 1574 durch die Euklidausgabe von Ch. CLAVIUS. Dieser referierte über frühere Versuche und beweist das 5. Postulat unter der Annahme (E3). Das Linien, deren Punkte zu einer Geraden konstanten Abstand haben, nicht zwangsläufig Geraden sein müssen, kann man der sphärischen Geometrie (Geraden Großkreise der Kugel) entnehmen. Bei J. WALLIS findet man 1663 einen Beweisversuch, der (E4) benutzt. G. SACCHERI versuchte 1773 Euklid in einer Schrift „von jedem Mangel zu befreien“. Er betrachtet dazu nach ihm benannte SaccherischeVierecke ABCD, das sind solche, in denen AB und CD gleichlang sind und bei B und C rechte Winkel vorliegen. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 23 D A alpha alpha C B Saccherisches Viereck Er versuchte für den in der Figur mit „alpha“ gekennzeichneten Winkel die Hypothesen, dass er stumpf/spitz ist, zum Widerspruch zu führen. Für den ersten Fall (er gilt auf der Kugeloberfläche) gelang ihm der Nachweis, beim vergeblichen Versuch für den zweiten Fall entdeckte er einige Sätze der absoluten Geometrie (das ist die Geometrie, in der man alle Axiome der euklidischen Geometrie mit Ausnahme des Parallelenaxioms fordert). Auch J. H. LAMBERT (1728 – 1777) geht bei seinem Beweisversuch von einem Viereck aus. Bei ihm hat dieses drei rechte Winkel, zu zeigen ist, dass auch der vierte Winkel ein rechter ist. Aus der Hypothese, der vierte Winkel sei ein spitzer Winkel kann man folgern, dass die Winkelsumme im Dreieck kleiner ist als zwei Rechte, weiter kann man damit auch zeigen, dass dann auch zwei zueinander ähnliche Dreiecke auch kongruent sind. Dass Euklid „recht“ hatte, wurde durch die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien endgültig entschieden. 0.3.2.3 Die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien Um zu zeigen, dass die Kommutativität unabhängig ist von den Gruppenaxiomen, gibt man kommutative (z. B. (R,+)) und nicht kommutative (z.B. S3, die Permutationsgruppe von {1,2,3}) Gruppen an. Diese Vorgehensweise ist heute allen Mathematikstudenten bereits ab dem ersten Semester vertraut. Für die um das Parallelenpostulat ringenden Geometer war die Situation etwas komplizierter. Zunächst ging es für sie nur darum, die als eindeutig vorgegeben angesehene Geometrie möglichst sparsam zu kennzeichnen. Andere Geometrien zu denken erforderte für sie eine massive Änderung ihrer mathematischen Grundeinstellung. Aus heutiger Sicht ist zum Nachweis der Unabhängigkeit des Parallelenaxioms (bzw. 5. Postulats) von den übrigen Axiomen „nur“ die Angabe einer Geometrie (eines Modells) notwendig, welche allen Axiomen mit Ausnahme des Parallelenaxioms genügt. Dies in voller Klarheit zu erfassen setzt eine neue Sicht der Axiome (nicht Beschreibung der Natur, sondern unter gewissen Einschränkungen frei wählbare Regeln, Details in 0.4) voraus, zu der viele Geometer noch nicht bereit waren. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 23 §0 Zur Einführung: 24 C. F. GAUSS Nikolai Iwanowitsch LOBATSCHEWAKI Dass schon allein das Denken an eine solche neuartige Geometrie als revolutionär einzuschätzen war, erkennt man daran, dass C. F. GAUSS (1777-1855) entsprechende Ergebnisse (wegen des zu befürchtenden „Geschreis der Boeter“) nicht zu veröffentlichen wagte. Janos BOLYAI Zeichnung zur nichteuklidischen Geometrie Erste Arbeiten zu den nichteuklidischen Geometrien wurden unabhängig voneinander durch den russischen Mathematiker N. J. LOBATSCHEWSKI (1793-1856) in den Jahren 1826 bzw. 1829 (in Kasan) und den ungarischen Mathematiker J. BOLYAI (1802-1860) im Jahr 1831 (in einem Anhang des Lehrbuches seines Vaters) veröffentlicht. Einen ersten vollständigen Beweis der relativen Widerspruchsfreiheit einer solchen Geometrie gelang 1871 dem deutschen Mathematiker F. KLEIN durch Angabe eines Modells (vgl. die Hyperbolische Geometrie der Software CINDERELLA). Wir betrachten im nächsten Abschnitt ein anderes Modell einer solchen Geometrie. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? Felix KLEIN (1849 – 1925) 25 Henri POINCARÉ (1854 – 1912) 0.3.2.4 Die Poincarésche Halbebene Wir geben in diesem Abschnitt ein auf H. POINCARÉ zurückgehendes Modell der hyperbolischen Ebene an. Als Punktmenge IP wird die obere Halbebene der komplexen Zahlenebene ohne die berandende reelle Achse verwendet, beschreibbar durch Im(z)>0 oder auch durch IR×IR+. Als (hyperbolische) Geraden treten zwei Typen von Teilmengen von IP auf: Für c∈IR sei { } g c : = (c, y) y ∈ IR + = {c} × IR + (Halbgeraden parallel zur imaginären Achse). Für m ∈ IR und r ∈ IR + { } sei g m,r : = ( x, y) x ∈ IR und y ∈ IR + und ( x − m) 2 + y 2 = r 2 , das sind in euklidischer Interpretation Halbkreise mit Mittelpunkt auf der reellen Achse. { } Die Geradenmenge IG besteht demnach aus IG: = { g c c ∈ IR} ∪ g m,r m ∈ IR und r ∈ IR + . Die Inzidenz von Punkten und Geraden wird dann durch die Elementbeziehung beschrieben: Für (P,g)∈IP×IG gilt PIg genau dann, wenn P∈g. Für die hiermit erklärte Geometrie (IP,IG,I) kann man zeigen (vgl. z. B. KUNTZ: Ebene Geometrie), dass sie von den im nachfolgenden Abschnitt angegebenen Hilbertschen Axiomen lediglich das Parallelenaxiom nicht erfüllt. Im nachfolgenden Bild sind Geraden in dieser Ebene angedeutet. Man erkennt, dass es durch den Punkt P unendlich viele Parallelen zu der mit g(m,r) bezeichneten Geraden gibt, man muss nur die Radien der die hyperbolischen Geraden bestimmenden euklidischen Halbkreise genügend groß wählen. In dieser Geometrie gilt generell: Zu jeder Geraden g gibt es durch jeden Punkt außerhalb g unendlich viele Parallelen zu g (also g nicht schneidende Geraden). Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 25 §0 Zur Einführung: 26 Die Poincarésche Halbebene Im z Punkte: Im(z)>0 g c P g(m,r) r Re z m 0 c 0.4 Hilberts Grundlagen der Geometrie 0.4.1 Zur Einordnung des Werkes David HILBERT (1862 – 1943) D. HILBERT gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er leistete wichtige Beiträge zur Zahlentheorie, Grundlegung der Geometrie (s. u.), Analysis, Funktionentheorie, Integralgleichungen, auch zur theoretischen Physik. Er wurde 1862 in Königsberg (heute Kaliningrad) als Sohn einer preußischen Beamtenfamilie geboren. Schon in der Schule erwies er sich als starke, entschlossene Persönlichkeit. Er soll unter dem Zwang zum Auswendiglernen sehr gelitten haben. Nach dem Abitur 1880 studierte er in Königsberg bei WEBER, LINDEMANN und HUREWITZ. Er startete seine Laufbahn in Königsberg, wurde 1895 nach Göttingen berufen. In Göttingen blieb er trotz vieler interessanter Angebote bis zu seinem Tode. Er erlebte dort insbesondere auch den Exodus der deutschen Wissenschaften unter dem Terrorregime der Nationalsozialisten. Die Elemente des EUKLID bestimmten über zwei Jahrtausende den geometrischen Unterricht. Ihre bereits aufgezeigten Schwächen regten zwar intensiv Versuche zur Verbesserung an (Beweisversuch zum 5. Postulats u. ä.), der Durchbruch in Form der Entdeckung der nichteuklidischen Ebenen war aber mehr Bestätigung als Verbesserung des Euklid. Allerdings setzte sich damit eine wesentliche Änderung der Zielsetzung durch. Während es bei Euklid um eine präzise Beschreibung des umgebenden Raumes (bzw. der Anschauungsebene) geht, erfolgt durch die Entdeckung solcher „ungewöhnlicher“ Geometrien eine schrittweise Befreiung von der Bindung an die Gegebenheiten des umgebenden Raumes, der formale Standpunkt hält Einzug in die Mathematik: Entscheidend ist nicht mehr die (außermathematische) Bedeutung der Begriffe in unserer Anschauung, sondern deren präzise Beschreibung durch Beziehungen untereinander in Form von Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 27 Axiomen. Die Axiome werden zu „Spielregeln“ der weiteren mathematischen Diskussion. Nicht die Art der Modelle, sondern die Gültigkeit der Beziehungen ist die entscheidende Voraussetzung. So soll Hilbert auch Tische, Bierseidel o.ä. als Geraden oder Punkte seines Systems prinzipiell zugelassen haben, wenn dadurch die zugrunde gelegten Axiome erfüllt wären. Durch seine Grundlagen der Geometrie (1.Auflage 1899) hat D. HILBERT (1862-1943) dem formalen Standpunkt bzgl. der Grundlegung der Mathematik entscheidend zum Durchbruch verholfen. Grundbegriffe wie Punkte und Geraden werden nicht (wie etwa bei Euklid) inhaltlich definiert, sondern durch ein Axiomensystem implizit gekennzeichnet. Als entscheidende Forderungen an solche Systeme werden Widerspruchsfreiheit (eine Aussage und deren Negat sind nicht zugleich ableitbar) und Unabhängigkeit (Weglassen eines Axioms führt zur Ausweitung des Modellvorrates) angesehen. Dabei erfolgt der Beweis der Widerspruchsfreiheit meist durch Angabe eines Modells in einer Theorie, die als widerspruchsfrei gilt. In der Geometrie werden solche relativen Widerspruchsbeweise meist durch Angabe arithmetischer Modelle (vgl. Koordinatengeometrie) geführt. Die französische Mathematikergruppe mit dem Pseudonym N. BOURBAKI versuchte einen Aufbau der Mathematik nach einheitlichen Prinzipien. Man geht beim Aufbau einer mathematischen Theorie jeweils von wenigen Axiomen aus, erhält dadurch Strukturen mit großer Modellvielfalt (z.B. Gruppe). Durch Hinzunahme zusätzlicher Forderungen (Axiome) wird der Modellvorrat immer mehr eingeschränkt, bis schließlich nur noch (bis auf Isomorphie) ein Modell übrig bleibt. Systeme, deren Modelle alle zueinander isomorph sind und damit innerhalb dieser Theorie nicht unterschieden werden können, bezeichnet man als monomorph. Zu diesen Strukturen gehören z. B. die reellen Zahlen oder die hier zur Diskussion stehende euklidische Geometrie. Heutige Kurse über den synthetischen Aufbau beginnen meist mit aus wenigen Axiomen bestehenden Axiomensystemen, vgl. z. B. die Kurse Einführung in die Geometrie und Euklidische Geometrie. Die geringe Zahl von Forderungen führt dazu, dass zunächst noch viele verschiedenartige Geometrien (z. B. auch endliche) die vorgegebenen Axiomensystem erfüllen. Durch Hinzunahme weiterer Axiome wird diese Vielfalt eingeschränkt, bis sich schließlich die „Anschauungsgeometrie“ als einziges Modell übrig bleibt. Zur besseren Einordnung der verschiedenen Verästelungen im Aufbau der Geometrie geben wir hier einen Überblick zur Kennzeichnung des Aufbaus der euklidischen Ebene im Sinne Hilberts, und zwar in einer leicht modifizierten Fassung nach KLINGENBERG. Wir beschränken uns dabei zur Wahrung der Übersicht auf die ebene Geometrie. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 27 §0 Zur Einführung: 28 0.4.2 Die Axiomengruppen der euklidischen Ebene nach HILBERT Wir setzen die Existenz eines Tripels (IP,IG,I) von Mengen voraus, die Elemente von IP sollen dabei auch Punkte, die von IG auch Geraden heißen. Die Menge I, eine Teilmenge von IPxIG, heißt auch Inzidenzrelation, statt (P,g)∈ I schreiben wir auch PIg (gelesen: P inzidiert mit g). 0.4.2.1 Inzidenzaxiome Die erste Axiomengruppe sichert den Gebrauch des Lineals. (I1) Zu zwei verschiedenen Punkten P und Q aus IP existiert genau eine Gerade g aus IG (genannt Verbindungsgerade von P und Q, Bezeichnung P Q), die mit diesen inzidiert (also mit PIg und QIg). (I2) Jede Gerade g aus IG inzidiert mit mindestens zwei verschiedenen Punkten von IP (formaler: Für alle g aus IG existieren P,Q aus IP mit P ungleich Q und PIg und QIg). (I3) Es existieren drei verschiedene Punkte P,Q,R aus IP, die nicht auf einer Geraden liegen. Die zuvor genannten Axiome werden sicher von der Anschauungsebene erfüllt, aber auch von IP = {P,Q,R} mit 3 verschiedenen Punkten P,Q,R und den zweielementigen Teilmengen von IP als Geraden. Q Gerade mit Punkten P,Q P Gerade mit Punkten Q,R Gerade mit Punkten P,R R In der Zeichnung werden die Geraden durch Verbindungsstrecken gekennzeichnet, enthalten aber nur die markierten Punkte, P Q besteht also aus {P,Q} usw.. An diesem Minimalmodell erkennt man sofort, dass zur Kennzeichnung der Anschauungsebene weitere Axiome notwendig sind. 0.4.2.2 Die Axiome der Zwischenrelation (Anordnung) Die Endlichkeit der Geometrien wird durch die nachfolgenden Axiome über eine Zwischenbeziehung ausgeschaltet. Wir fordern die Existenz einer dreistelligen Relation Z auf IP (also einer Teilmenge Z von IPxIPxIP), notiert mit [A,B,C] für (A,B,C)∈Z (gelesen: B zwischen A und C) mit folgenden Eigenschaften: (Z0) Aus [A,B,C] folgt [C,B,A] (B zwischen A und C hat B zwischen C und A zur Folge). (Z1) Aus [A,B,C] folgt, dass A, B, C drei verschiedene Punkte einer Geraden sind. (Z2) Sind A,B,C drei verschiedene Punkte einer Geraden, so liegt genau einer zwischen den beiden andern. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 29 (Z3) Ist g eine Gerade und sind P und Q zwei verschiedene, mit g inzidierende Punkte, so gibt es einen Punkt R (auf g), der zwischen P und Q liegt. (Z4) Ist g eine Gerade und sind P,Q,R drei Punkte außerhalb von g, gibt es weiter einen Punkt S zwischen P und Q, der zu g gehört, so liegt auch zwischen Q und R oder zwischen P und R ein Punkt von g (Axiom von Pasch). Mit Hilfe der Zwischenrelation kann man wie in der Elementargeometrie die Begriffe Halbgerade, Strecke, Winkel, Halbebene erklären. Durch (Z3) wird gesichert, dass jede Gerade mit unendlich vielen Punkten inzidiert. Das Axiom von Pasch kann man auch so interpretieren: Trifft eine Gerade eine Dreiecksseite, so trifft sie noch eine zweite. Insbesondere kann man mit Hilfe dieser Relation auch Inneres und Äußeres eines Dreiecks (n-Ecks) unterscheiden. Wir benutzen im weiteren Verlauf dieses Abschnittes die folgenden Bezeichnungen, ohne sie an dieser Stelle detailliert zu definieren. AB := Strecke AB := Menge aller Punkte zwischen A und B einschließlich A und B. (AB>:= Halbgerade mit Startpunkt A durch B (Strahl). Wi(QPR) := Winkel mit Scheitel P, berandet durch die Strahlen (PQ> und (PR>. Mit (PQR> wird die Halbebene bezeichnet, welche durch PvQ berandet wird und den Punkt R enthält (P,Q,R also nicht kollinear). 0.4.2.3 Axiome der Bewegung (Kongruenz) Es gibt eine Gruppe (Γ,⋅), genannt Gruppe der Bewegungen oder Kongruenzabbildungen mit folgenden Eigenschaften: (B1) Jedes γ∈Γ lässt die Zwischenrelation invariant: Für alle Punkte A,B,C gilt: [A,B,C] hat A γ , B γ , C γ zur Folge. [ ] (B2) Liegt Q zwischen P und R (also [P,Q,R]), so existiert keine Bewegung, welche die Strecke PQ auf die Strecke PR abbildet. (B3) Sind (PQ>, (PR>, (PS> drei verschiedene Halbgeraden, so dass die Geraden durch P,Q bzw. P,R bzw. P,S verschieden sind, dann gibt es keine Bewegung, welche Wi(QPR) in Wi(QPS) überführt. (B4) Die Punktetripel P,Q,R und P',Q',R' seien jeweils nicht kollinear. Dann gibt es (genau) eine Bewegung µ, welche P in P', die Halbgerade (PQ> auf die Halbgerade (P'Q'> und die Halbebene (PQR>} auf die Halbebene (P'Q'R'> abbildet. Die in (B4) durch „genau“ formulierte Eindeutigkeit kann bewiesen werden, deshalb wurde dieser Zusatz in Klammern gesetzt. Teilmengen von IP heißen kongruent, wenn sie durch eine Kongruenzabbildung aufeinander abgebildet werden können. Hier wurde die Kongruenz unter Ausnutzung der Anordnungseigenschaften formuliert. Eine anordnungsfreie Kennzeichnung ist auch möglich, indem man die Idee des Streckenvergleichs präzisiert (vgl. Kurs Euklidische Geometrie). Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 29 §0 Zur Einführung: 30 0.4.2.4 Das Parallelenaxiom der euklidischen Geometrie (EP) Zu jedem Punkt P und jeder Geraden g gibt es genau eine Gerade h, welche mit P inzidiert und zu g parallel ist. (Schreibweise: h = //(g,P) g P h=//(g,P) Dabei ist g||h, wenn g = h oder g∩h = ∅ gilt. In (EP) wird die Zahl der Parallelen auf eine eingeschränkt, dass es überhaupt eine gibt, kann mit den übrigen Axiomen gezeigt werden. Dass diese Einschränkung der Anzahl gefordert werden muss, wurde durch das Poincarémodell in 0.3.2.4 bereits belegt. Das Axiom (EP) wird in den Elementen nicht als Axiom sondern als Folgerung genutzt. Es wurde als solches von J. Playfair in die Geometrie eingeführt. Weil es zur Trennung der euklidischen Geometrie von andern Geometrien genutzt werden kann, wird es trotz der historischen Ungenauigkeit häufig als euklidisches Parallelenaxiom bezeichnet. 0.4.2.5 Stetigkeitsaxiom (Vollständigkeit) Die bisherigen vier Axiomengruppen kennzeichnen die Geometrie der Anschauungsebene noch nicht vollständig. Dazu fehlt noch die Forderung nach Lückenlosigkeit der Geraden (vgl. Vollständigkeit von R). Wir formulieren diese hier in einer Form, die an Dedekindsche Schnitte erinnert. Dieses Axiom umfasst das Archimedische Axiom, vgl. hierzu Kapitel II. (VD) Teilt man die Punktmenge einer Geraden so in zwei nichtleere Teilmengen, dass kein Punkt der einen Menge zwischen einem Punkt der andern Menge liegt, dann gibt es in einer der beiden Mengen einen Punkt, der jeden andern Punkt dieser Menge von den Punkten der zweiten Teilmenge trennt. Durch die zuvor gegebenen Axiomengruppen ist die Anschauungsebene mathematisch vollständig gekennzeichnet. Dieses recht schwierige System wurde in unserm Jahrhundert weiter analysiert. Dazu wurden einzelne Axiomengruppen weggelassen (z.B. Anordnungseigenschaften, Vollständigkeit), und danach versucht, die Modellvielfalt des verbleibenden Systems systematisch zu ordnen. Dadurch entwickelten sich die Grundlagen der Geometrie zu einem weiten Forschungsfeld, in dem die Beziehungen zur Elementargeometrie durch sehr intensive Querverbindungen zur Algebra und andern Zweigen erweitert wurden. Details hierzu kann man der nachfolgend angegebenen Literatur (insbesondere dem Werk von KARZEL und KROLL) entnehmen. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 31 0.5 Die reelle euklidische Ebene als Modell für das Hilbertsche System Es wurde bereits betont, dass man Widerspruchsfreiheitsbeweise eines Axiomensystems durch Angabe eines Modells begründet. Dabei können Modelle i. a. nicht ohne Vorgaben konstruiert werden, ihre Widerspruchsfreiheit ist dann nur relativ zu diesen Vorgaben begründet. In der Geometrie konstruiert man gern Modelle unter Nutzung des Zahlsystems oder auch mit Hilfe algebraischer Konstruktionen (z. B. durch Vorgabe von Koordinatenkörpern). Für das Hilbertsche System bietet sich – das wird aufgrund geometrischer Schulerfahrungen kaum überraschen – das Ausnutzen der Theorie der reellen Zahlen als Konstruktionshilfe an. Als Punktmenge IP verwenden wir dabei die Menge der reellen Zahlenpaare: IP := RxR. Geraden werden mit Hilfe von Gleichungen als Teilmengen dieser Punktmenge erklärt. Dazu setzen wir zunächst für reelle a, b, c g(a,b,c) := {(x,y) aus IP mit ax + by + c = 0}. Damit g(a,b,c) eine Gerade beschreibt fordern wir zusätzlich (a,b) ungleich (0,0). Mit IG:= {g(a,b,c) / (a,b,c) aus R3 und (a,b) ungleich (0,0)} ist die Geradenmenge unseres Systems erklärt. Die Inzidenz wird einfach durch die Elementbeziehung erklärt. (IP, IG) wird damit zunächst zur reellen affinen Inzidenzebene (vgl. §3), die Inzidenzaxiome kann man jetzt leicht nachprüfen (Übungsaufgabe). Gleiches gilt auch für das euklidische Parallelenaxiom. Für die übrigen Axiome ist es sinnvoll, auf IP eine Metrik (Abstandsfunktion) in Form der euklidischen Metrik einzuführen: d((x1 , x 2 ), (y1 , y 2 )) := (x1 − y1 ) 2 + (x 2 − y 2 ) 2 . Man kann sich zunächst überlegen, dass X, Y, Z genau dann kollinear sind, wenn d(X,Y) + d(Y,Z) = d(X,Z) gilt. Damit wird es möglich, diese Relation zur Erklärung der Zwischenrelation auszunutzen und damit die Axiome für diese Relation zu beweisen. Bewegungen werden als abstandstreue Abbildungen erklärt. Die Axiome dieser Gruppe beweist man durch ausnutzen entsprechender Ergebnisse aus der Linearen Algebra. Das Vollständigkeitsaxiom wird mit Hilfe der Vollständigkeit der reellen Zahlen bewiesen. Die Durchführung der Beweisdetails wird zur Übung empfohlen, vgl. W. BENZ: Ebene Geometrie, Heidelberg usw. 1997 Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 31 32 §0 Zur Einführung: 0.6 Projektive Geometrie Die Geometrie erfuhr im Laufe ihrer Entwicklung verschiedene Verallgemeinerungen. Entstanden als Theorie des uns umgebenden Raumes wurden ihre Objekte teilweise uminterpretiert (vgl. Punkte und Geraden im Poincare´–Modell der hyperbolischen Ebene), teilweise wurden einfach Axiome weggelassen (Parallelenaxiom) oder auch Eigenschaften modifiziert (euklidisches Skalarprodukt wird durch andere Bilinearformen ersetzt, z. B. in der Relativitätstheorie). Dabei lieferten meist auch praktische Bedürfnisse Anlässe zu solchen Modifikationen. Einen Ansatzpunkt für die projektive Geometrie liefert das Prinzip der Ausnahmebeseitigung. Beim Schneiden von Unterräumen (etwa Geraden) sind in der „üblichen“ (also affinen) Geometrie Fallunterscheidungen notwendig. So können sich Geraden schneiden oder parallel und verschieden sein. Durch Einführen uneigentlicher Punkte (Fernpunkte) entfällt diese Unterscheidung. Dabei ergibt das Schneiden von Bahnschienen in Bildern u.ä. eine zusätzliche außermathematische Rechtfertigung für diese Erweiterung, vgl. hierzu auch die sich schneidenden (in Wirklichkeit parallelen) Ränder des Treppenaufgangs im nachfolgenden Bild. Bild 0.6a Die Potemkinsche Treppe, ein Wahrzeichen der Stadt Odessa Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 33 Bild 0.6b) Auf zum Rathaus in Ludwigshafen am Rhein (aus der RHEINPFALZ anlässlich der Vorschau auf die Stadtratswahlen) Innerhalb der Software zur dynamischen Geometrie wird so für den Zugmodus eine Methode bereitgestellt, welche die analytischen Grundlagen für das Rechnen im Hintergrund wesentlich vereinfacht. Generell liefert die projektive Geometrie die Grundlagen für das Abbilden räumlicher Gebilde in die Ebene und damit auch für weite Teile der Computergrafik. Als Begründer der projektiven Geometrie gelten Jean Victor PONCELET (1788-1867) und Joseph GERGONNE (1771-1859), sie konnten auf Vorarbeiten von Girard DESARGUES (1591-1661), Gaspard MONGE (1746-1818), L.N.M. CARNOT (1753-1823) und CharlesJulien BRIANCHON (1783-1864) zurückgreifen, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung lieferte auch Christian von STAUDT (1798-1867). Die projektive Geometrie wurde demnach vorwiegend im 19. Jahrhundert entwickelt. Im 20. Jahrhundert wurde die projektive Geometrie durch Verfeinerung der algebraischen Methoden (Verallgemeinerung der Koordinatenbereiche mit deren geometrischer Kennzeichnung) weiterentwickelt. Die beiden Grundpositionen des Aufbaus, analytisches Vorgehen durch Verwendung von Koordinaten oder synthetischer koordinatenfreier Aufbau, und das Zusammenführen beider Methoden durchziehen auch die Entwicklung der projektiven Geometrie. Dabei zeigt sich eine Besonderheit. Während ab Dimension 3 beide Methoden im Wesentlichen zur gleichen Modellvielfalt führen, ergibt sich beim synthetischen Ansatz bei Ebenen eine erheblich größere Modellvielfalt als beim analytischen Ansatz. Die synthetische ebene Geometrie weitete sich so zu einem eigenen Forschungszweig der Mathematik aus. Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 33 §0 Zur Einführung: 34 0.7 Literatur zu §0 G. AUMANN: Elemente der Geometrie, WS 2000/2001, FB Mathematik der Universität Karlsruhe (aus Internet) W. BENZ: Ebene Geometrie, Einführung in Theorie und Anwendung, Heidelberg usw. 1997 N. CHRISTMANN/ U. DEMPWOLFF/ G. HOLLAND/ K. RADBRUCH: Anregungen zum Geometrieunterricht, SIL Speyer 1996 EUKLID: Die Elemente, Buch I – XIII, WBG Darmstadt 1980 Denis GUEDJ: Das Theorem des PaPaGeis, Hoffmann und Campe Hamburg 1999 (Dieses Werk arbeitet Teile der Geschichte der Mathematik, insbesondere auch der Geometrie, als Roman auf.) D. HILBERT: Grundlagen der Geometrie, Stuttgart 1977(12. Auflage mit Supplementen von P. BERNAY) H. KARZEL / H. J. KROLL: Geschichte der Geometrie seit Hilbert, Darmstadt 1988 E. KUNZ: Ebene Geometrie, Braunschweig usw. W. KLINGENBERG: Grundlagen der Geometrie, Mannheim 1971 J. LEHMANN: So rechneten Ägypter und Babylonier, Urania Verlag Leipzig usw. 1994 K. MAINZER: Geschichte der Geometrie, Mannheim usw. 1980 C.J. SCRIBA / P. SCHREIBER: 5000 Jahre Geometrie – Geschichte, Kulturen, Menschen, Springer Verlag 2001 Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik Was ist (war) Geometrie? 35 0.8 Aufgaben zu §0 Aufgabe 1: Auf IP =R2 kann man verschiedene Metriken einführen, dadurch enthalten Kreise (z. B. der Einheitskreis um den Ursprung) unterschiedliche Punktmengen. a) Welche Punkte gehören zum Einheitskreis um (0,0) bezüglich der diskreten Metrik. b) Zu jeder Norm gehört eine Metrik. Wie lautet der entsprechende Zusammenhang? c) Für welche reellen µ wird eine Norm auf IP erklärt: 1 µ µ Nµ (x, y) := (x + y ) µ d) e) Zeichnen Sie die Einheitskreise um den Ursprung zu den Normen (Metriken) aus c). Wie gewinnt man in c) die Maximumsnorm? Aufgabe 2: Entwickeln Sie Telefonpläne für die nach den Schulgesetzen möglichen Klassenstärken (also etwa n ≤ 33). Aufgabe 3: Planen Sie eine kostengünstige Rundreise durch die Hauptstädte der deutschen Bundesländer. Aufgabe 4: Bei einer Weinprobe teste jeder Teilnehmer 4 Sorten. Probenplan? Aufgabe 5: a) Leiten Sie die Formel für das Volumen eines Pyramidenstumpfes her. b) Helfen Sie Thales bei der Durchführung der Messung der Pyramidenhöhe. Aufgabe 6: Lesen Sie den Abschnitt 4.3.1 (Beweisversuche zum Parallelenpostulat) in dem Buch von K. MAINZER: Geschichte der Geometrie. Aufgabe 7: a) Begründen Sie detailliert, dass die reelle euklidische Ebene das Hilbertsche System erfüllt. b) Überprüfen Sie die Gültigkeit der Axiome in der Poincaréschen Halbebene. c) Informieren Sie sich über das KLEINsche Modell der hyperbolischen Ebene (vgl. Bild auf S.28). Aufgabe 8: a) Weshalb wird man Euklids Definitionen für Punkte, Geraden ….. in der heutigen Mathematik nicht mehr als solche akzeptieren? b) Wie ist das mit der Cantorschen Mengendefinition? („Eine Menge ist ein Zusammenfassung von wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen?“) c) Wieso ist die Russellmenge, also die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, nicht wohldefiniert? Fassung zur Vorlesung im WS 2007/08 35 36 §0 Zur Einführung: Aufgabe 9: Untersuchen Sie den Gebrauch geometrischer Begriffe innerhalb der Funktionalanalysis, z. B. a) Abstand zweier Funktionen, b) Bestapproximierende einer Funktion durch ein Funktionensystem, c) orthogonale Funktionensysteme. Aufgabe 10: Untersuchen Sie, ob monomorphe Systeme vorliegen: a) Gruppen der Ordnung 3 (4, 5, 6) b) Körper mit 5 Elementen c) Integritätsring mit 4 Elementen d) Körper der Charakteristik Null e) Ringe mit 2 Elementen f) Vektorraum über einem Körper K (Dimension n, unendlichdimensional) g) archimedisch angeordneter Körper h) angeordneter Körper, in dem jede Cauchy-Folge konvergiert g P Zum Parallelenaxiom in der Nichteuklidischen Geometrie (Kleinsches Modell): Als Punkte zählen die inneren Punkte des Kreises, als Geraden die Kreissehnen. Dann gibt es zur gezeichneten Geraden g unendlich viele Parallelen durch den Punkt P. Historische Hinweise zu den Kursen in Geometrie und deren Didaktik