Nr. 12 - Januar 2008

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med tropole
Nr. 12 Januar 2008
DIAGNOSTIK
bei Schulterverletzungen
HEIMBEATMUNG
– einfach nur Beatmung zu Hause?
ADHS
im Erwachsenenalter
Aktuelles aus der Klinik
für einweisende Ärzte
Editorial
Impressum
Liebe Leserinnen und Leser,
Redaktion
Jens Oliver Bonnet
(verantw.)
PD Dr. Oliver Detsch
Dr. Birger Dulz
PD Dr. Siegbert Faiss
Dr. Christian Frerker
Dr. Annette Hager
PD Dr. Werner Hofmann
Dr. Susanne Huggett
Prof. Dr. Uwe Kehler
Prof. Dr. Lutz Lachenmayer
Dr. Jürgen Madert
Dr. Ursula Scholz
PD Dr. Karl Wagner
Prof. Dr. Gerd Witte
Cornelia Wolf
Herausgeber
Asklepios Kliniken
Hamburg GmbH
Pressestelle
Rudi Schmidt V. i. S. d. P.
Friedrichsberger Straße 56
22081 Hamburg
Tel.: (0 40) 18 18-84 20 08
Fax: (0 40) 18 18-84 20 46
E-Mail:
[email protected]
Auflage: 15.000
Erscheinungsweise:
4 x jährlich
ISSN 1863-8341
das Titelbild der aktuellen medtropole gibt Rätsel auf, jedenfalls demjenigen, der nicht mit den Darstellungsformen der
Molekulargenetik vertraut ist: Wir sehen den Faktor V als
Proteinstruktur in der sogenannten tertiären Darstellung.
Der Artikel über Hereditäre Thromboserisiken klärt noch
mehr auf.
Rätseln kann man auch über das aus der Luftfahrt in die
Medizin übernommene Akronym CIRS. Critical Incident Reporting System ist
eine Form der Weiterentwicklung von Qualitätsmanagement und interessiert
am praktischen „Beinahe-Katastrophen-Ausgang“ eines Ereignisses, das beobachtet wird, aber nicht zum Schadensfall wurde und aus dem nun Ableitungen
getroffen werden sollen, die seinen Eintritt künftig verhindern werden. Nun ist
alles gesagt – oder? Nein, das Hauptproblem ist: Wer traut sich einer Instanz
innerhalb eines Unternehmens ein solch kritisches Ereignis zu berichten, ohne
persönliche Nachteile oder andere negative Konsequenzen zu fürchten? Die
Kulturentwicklung, insbesondere die Entwicklung einer „Fehlerkultur“, hat
auch bei allen anderen Unternehmungen lange gedauert, wie man aus der Luftfahrt und auch Autoindustrie weiß. Bisher gibt es in den Asklepios Kliniken
Hamburg nur wenige Pionierprojekte, das soll sich ändern. Also fangen wir
damit an!
Angefangen haben wir aber auch mit der konsequenten Diagnostik und
Behandlung von Schulterverletzungen, einem komplizierten Fachgebiet der
Orthopäden und Chirurgen, sowie mit der Laserbehandlung des Harnblasenkarzinoms. Besonders ausführlich möchten wir über die Trigeminusneuralgie
informieren, eine Erkrankung die doch viel häufiger ist, als gemeinhin angenommen. Dieses Heft wendet sich dann einer ganzen Reihe von Sonderthemen
zu, zu denen Kardiologie, Herzchirurgie und Pneumologie gehören, wie auch
ein Einblick in die Medizingeschichte: Die „Eiserne Lunge“; da fragt man sich,
wie lange ist das eigentlich her und welche Erkrankungen wurden durch ihren
Einsatz gelindert und behandelt? (Man kann nur hoffen, dass die Impfmüdigkeit nachlässt und solche Ungetüme nie mehr zum Einsatz kommen müssen.)
Ein gutes neues Jahr wünsche ich und verbleibe
mit kollegialen Empfehlungen
Dr. med. Jörg Weidenhammer
Inhalt
484 | RECHT
Doppelt hält doch nicht besser!
Klinisches Risikomanagement
487 | UROLOGIE
Laserbehandlung beim oberflächlichen Harnblasenkarzinom des alten Patienten
489 | UNFALLCHIRURGIE
Diagnostik bei Schulterverletzungen
S. 489
492 | NEUROCHIRURGIE
Die klassische Trigeminusneuralgie – Klinik, Diagnostik, Therapie
497 | KARDIOLOGIE
Katheterablation ventrikulärer Tachykardien
500 | HERZCHIRURGIE
Das chirurgische Vorgehen bei akuten und chronischen Herzinfarktfolgen
504 | LUNGENHEILKUNDE
Heimbeatmung – einfach nur Beatmung zu Hause?
S. 504
506 | PSYCHIATRIE
ADHS im Erwachsenenalter
508 | PERSONALIA
Priv.-Doz. Dr. med. Thoralf Kerner
Prof. Dr. Ulrich Treichel
509 | MOLEKULARGENETIK
Hereditäre Thrombophiliediathesen
512 | GESCHICHTE DER MEDIZIN
Rettender Luft-Sog – Die Geschichte der Eisernen Lunge
S. 509
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Doppelt hält doch nicht besser!
Klinisches Risikomanagement
Dr. jur. Cornelia Süfke
Patientensicherheit rückt in den Fokus: Zog im Gesundheitswesen noch bis vor einem Jahrzehnt praktisch
niemand die Parallelität zu Luft- und Raumfahrt, Kernkraft oder Petrochemie als „ultrasafe industries“, wird
dieser Vergleich heute im Zusammenhang mit der Patientensicherheit immer häufiger bemüht.
Seit den frühen 90er-Jahren beschäftigten
sich wissenschaftliche Studien zunehmend
mit den erheblichen medizinischen und
wirtschaftlichen Auswirkungen vermeidbarer Medizinfehler.[1] Bahnbrechend und
meistzitiert war 1999 der Report des angesehenen „Institute of Medicine“ der National Academy of Science.[2] Sie hatte sich
zur Aufgabe gemacht, dem Thema Qualität
klinischer Prozesse zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. „To Err Is Human. Building a Safer Health System“ erschien als
umfassende Analyse und sorgte für deutliche Aufregung. Das Erschrecken über die
Ergebnisse war auch bei nüchternster Würdigung nicht zu übersehen. Rechnet man
zum Beispiel die konservativste Studie zur
Fehlerhäufigkeit in der Krankenversorgung in den Staaten Colorado und Utah
hoch, ist davon auszugehen, dass in den
USA pro Jahr 44.000 Patienten an den Folgen fehlerhafter Prozesse sterben – mehr
als an Verkehrsunfällen, Brustkrebs oder
Aids.
Auch in Deutschland wird das Thema
zunehmend enttabuisiert und sachlich
angegangen, verlässliche Zahlen zu den
484
bundesweiten Behandlungsfehlervorwürfen gibt es allerdings noch nicht. Nach der
Statistik der Bundesärztekammer (BÄK)
aus 2006 wandten sich 10.000 Patienten mit
einem Verdacht auf Behandlungsfehler an
die Gutachter- und Schlichtungsstellen der
Ärztekammern. Bei knapp einem Viertel
stellten die Gutachter tatsächliche Fehler in
der Behandlung oder Aufklärung fest, im
weit überwiegenden Teil der Anspruchsanmeldungen wurde also keine Fehlbehandlung bestätigt. Dabei wurden in Krankenhäusern nahezu doppelt so viele Fehler
nachgewiesen wie in Arztpraxen: Die
BÄK-Statistik zeigt 1.336 Fehler in Krankenhäusern im Gegensatz zu 657 Fehlern
bei Niedergelassenen auf.
Betrachtet man die Gründe für die bisherige Zunahme von Haftungsansprüchen,
geht der Fortschritt in der Medizin einher
mit dem sogenannten Haftungsfortschritt.
Die Gerichte entwickelten die Patientenrechte weiter und unterstützt durch die
zielgerichtete Informationsvielfalt der
Medien werden Misserfolge im Heilungsverlauf zunehmend weniger als schicksalhaft akzeptiert.
Notausgang
klinisches Risikomanagement
Nicht zuletzt veranlasst durch steigende
Versicherungsprämien und drohende oder
bereits erfolgte Kündigungen von Haftpflichtverträgen durch die Versicherer
betreiben Krankenhäuser bundesweit
zunehmend klinisches Risikomanagement.
Ziel ist, Risiken zu begrenzen und damit
in dem beherrschbaren Segment Patientensicherheit Kosten in die Vermeidung von
Risiken zu steuern. Damit wird das Risikomanagement als Treiber erachtet, der nachvollziehbare Akzeptanz bei den Beteiligten
im immer stärker bürokratisierten Klinikalltag schaffen soll. Konkret betrachtet
werden Strukturen und Arbeitsabläufe im
Blickwinkel früherer Schäden oder Beinaheschäden. Um dem Ganzen eine Systematik
zu geben, werden terminologisch fein säuberlich „unerwünschte Ereignisse“ von
„Behandlungsschäden“ und „vermeidbaren Behandlungsfehlern“, also vorwerfbaren Behandlungsfehlern unterschieden.
Tatsächlich geht es darum, Schwachstellen,
die zu Haftungsansprüchen führen könnten, sichtbar zu machen und zu benennen.
Recht
Abb. 1: Eisbergmodell
In Modellanalysen wird von Stufe zu Stufe vom Faktor 10 ausgegangen, d. h. einem Schadensfall sollen 10 Beinahe-Schäden, 100 kritische Ereignisse und 1.000 Regelverletzungen
und Störungen vorausgehen (in Anlehnung an: A. Möllemann, M. Eberlein-Gonska, T. Koch, M. Hübler (2005) Klinisches Risikomanagement, Implementierung eines anonymen
Fehlermeldesystems in der Anästhesie eines Universitätsklinikums. Der Anaesthesist 4 : 377-384)
Klinisches Risikomanagement bedeutet
daher juristische Qualitätssicherung (was
ist rechtlich vorgegeben?). Die direkte Einflussnahme auf die klinischen Prozesse soll
die Patientensicherheit stärken und auch
die Mitarbeitersicherheit steigern, da diese
vor zivil- und strafrechtlichen Verfahren
geschützt bleiben.
Wer Fehler vermeiden will, muss
wissen wo sie gemacht werden
Die Asklepios Kliniken in Hamburg verfügen über eine umfangreiche Accessgestützte Datenbank, in der alle berechtigten
und unberechtigten Behandlungsfehlervorwürfe, unterschieden nach Abteilungen
und einzelnen Kategorisierungen des Vorwurfes, erfasst werden. Nachdem in den
vergangenen Jahren 35 Audits, also externe
Prüfungen einzelner High-Risk-Abteilungen von der Aufnahme bis zur Entlassung
durchgeführt wurden, erfuhr die Thematik
eine zunehmende Durchdringung. Da es
sich bei Arzthaftungsrisiken um „long-tailRisiken“ handelt, die auch noch deutlich
nach dem eigentlichen Eingriff geltend
gemacht werden können, ist die Messbar-
keit der durchgeführten Risikomanagement-Maßnahmen vorsichtig zu beurteilen.
Angesichts des bisherigen Schadensverlaufes der jüngsten Vergangenheit lässt sich
jedoch ableiten, dass bestimmte Präventionsmaßnahmen ihre Wirkung gezeigt
haben.
So wurde die Patientendokumentation in
den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Bot in der Vergangenheit die Lückenhaftigkeit der klinischen Dokumentation
häufig Angriffsfläche für Patientenanwälte,
hat die Einführung von TEMPA® diese
deutlich verbessert. In den Asklepios Kliniken Hamburg wurde seit 2004 die einheitliche, berufsgruppenübergreifende Patientendokumentation eingeführt. TEMPA® ist
die Kurzbezeichnung für „Teamorientierte
Multiprofessionelle Patientendokumentation“ und eine eingetragene Marke der
Asklepios Kliniken Hamburg GmbH.
TEMPA® bedeutet einen Informationsgewinn auch über die Risikolage und damit
eine Reduktion von Behandlungsfehlerquellen.
Auch die Akzeptanz, sich aktiv mit stattgehabten Schadenssituationen zu konfrontieren und – wenn dies auch inzwischen
etwas abgegriffen klingen mag – aus den
Fehlern zu lernen, ist gestiegen. Auch um
das Risikomanagement effektiv und passgenau in die Kliniken zu transportieren,
sind die Asklepios Kliniken Hamburg als
Company Mitglied des 2005 gegründeten
Aktionsbündnisses Patientensicherheit e. V.
(APS). Gründungsmitglieder sind zum Beispiel die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Deutsche Ärztekammer
und die Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung
(GQMG).
Das APS hat eine gemeinsame Plattform
zur Verbesserung der Patientensicherheit
in Deutschland aufgebaut. Die fachlich
kompetent erarbeiteten Empfehlungen des
APS werden im klinischen Risikomanagement der Hamburger Asklepios Kliniken
zunehmend genutzt. Bisher stehen die von
uns jüngst übertragene Empfehlung zur
Vermeidung von Eingriffsverwechslungen
(falsche Seite/falscher Patient), zur Einführung von Critical Incident Reporting Syste-
485
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Abb. 2: Schweizer-Käse-Modell einer typischen Fehlerkette im Vorfeld eines Zwischenfalls nach JT. Reason, Human Error, 1990
Grafik modifiziert: R. Heuzeroth
men (CIRS) in Krankenhäusern und zur
Medikationssicherheit zur Verfügung.
Lernsystem CIRS
Als ein Baustein im Risikomanagement ist
im Hausarztbereich das Fehlerberichtssystem für Hausärzte des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt/
Main zu nennen. Unter dem Motto „Jeder
Fehler zählt!“ können Hausärzte über ihre
Praxisgrenzen hinweg über eigene Fehler
anonym berichten und diese kommentieren
lassen.[3] Analog dazu gibt es für viele
Facharztgruppen ein Online-Portal der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung.[4]
Auch in den Asklepios Kliniken Hamburg
gibt es bereits Abteilungen, die seit Jahren
diesen Ansatz der Auswertung von Beinahe-Fehlern führen und damit Schäden aus
denselben Fehlerquellen weitestgehend
vermeiden konnten. So blickt die Geburtshilfe in der Asklepios Klinik Nord auf
Erfahrungen seit dem Jahr 2000 zurück.[5]
Fazit
Kontakt
Für die Weiterentwicklung von CIRS bedarf es eines hohen Vertrauensschutzes.
Hier geht es um die Abkehr von der blame
culture hin zur safety culture. Nicht WER,
sondern WAS hat zu den Beinahe-Schäden
geführt, soll die entscheidende Frage sein.
Die Arbeit mit einer Beinahefehleranalyse
im wirtschaftlichen und Patientenschutzinteresse geht also einher mit einem grundlegenden Kulturwechsel. Hier bleibt noch
viel zu tun. Vergleicht man aber das Fehlerbewusstsein in der Medizin mit dem in
der Anwaltschaft oder unter Architekten,
lässt sich zusammenfassend sagen, dass
sich dieses allen Unkenrufen zum Trotz
deutlich entwickelt hat.
Dr. jur. Cornelia Süfke
Asklepios Kliniken Hamburg GmbH
Interner Versicherungsfonds (IVF)
Hohenfelder Str. 13
22087 Hamburg
Tel. (0 40) 41 26 30-0
Fax (0 40) 41 26 30-29
E-Mail: [email protected]
Literatur
[1] Brennan TA, Leape LL, Laird NM, et. al. Incidents of
adverse events and negligence in hospitalized patients:
results of the Harvard Medival Practice study. NEngl J Med
1991; 324: 370-6.
[2] Kohn LT. Errors in health care: A leading cause of death
and injury. In: Kohn KT, Corrigan JM, Donaldson MS (eds).
To err is human. National Academy Press Washington/DC
1999: 26-48.
[3] www.jeder-fehler-zaehlt.de
[4] www.kbv.de
[5] vgl. Bericht vom Ltd. Arzt Dr. Scheele und Risikoberaterin Sabine Kraft in Frauenarzt 2007; 48 (3): 6.
486
Urologie
Laserbehandlung beim oberflächlichen
Harnblasenkarzinom des alten Patienten
Prof. Dr. Andreas Gross, Dr. Thorsten Bach
Mehr als andere Disziplinen ist die Urologie mit dem demografischen Wandel in der Bevölkerung konfrontiert.
Lag in urologischen Hauptabteilungen bereits früher das Durchschnittsalter der Patienten bei über 60 Jahren, so
sind heute regelmäßig 20 Prozent der Behandelten über 80 Jahre.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ältere
Patienten neben ihren urologischen Problemen eine Reihe nicht-urologischer Begleiterkrankungen haben, die den behandelnden
Arzt zwingen, Wege jenseits von Leitlinien
oder Empfehlungen der Fachgesellschaft
zu gehen. Zum Beispiel bei der Therapie
oberflächlicher Harnblasenkarzinome:
Mehr als 80 Prozent der Harnblasenkarzinome sind oberflächlich. Als Goldstandard
in der Therapie hat sich die transurethrale
mono- oder bipolare Resektion bewährt.
In unserer Abteilung bieten wir zusätzlich
die vorherige Instillation photodynamischer Diagnostika an, um schlecht sichtbare Tumoren oder ein Carcinoma in situ
erkennbar zu machen. Leider neigen Harnblasentumoren in einem sehr hohen Prozentsatz zu Rezidiven. Zudem kann es zu
einer Verschlechterung im Grading kommen, weswegen invasivere Maßnahmen als
eine transurethrale Resektion erforderlich
sein können.
Folgender Patient ist nun für den Urologen
eine besondere Herausforderung: Betagter
Mensch mit erheblichen Begleiterkrankun-
gen und somit deutlich erhöhtem OP-Risiko, bei dem ein oberflächlicher Harnblasentumor als Rezidiv auftritt. Für einen
solchen Patienten käme außer der lokalen
Entfernung des Tumors keine alternative
Behandlung infrage, sodass ein Shift im
Grading keine Konsequenzen hätte. Es
geht also allein um die Entfernung des
Tumors und damit um die Behebung der
Begleitprobleme des Tumors, also im
Wesentlichen um Hämaturie.
Diese Patientengruppe sehen wir in unserer Abteilung sehr regelmäßig: Im Rahmen
der Kontrollzystoskopie nach vorherigem
oberflächlichen Harnblasenkarzinom
(pTaG1) wird ein papilläres, exophytisch
wachsendes Rezidiv gesehen. Es sollten
weniger als drei Läsionen sein, keine
davon größer als drei Zentimeter.
Die Patienten erhalten zusätzlich zu einer
Sedoanalgesie ein Lokalanästhetikum (2 %
Lidocain). Die Zystoskopie wird mit einem
flexiblen Instrument durchgeführt, durch
das problemlos der Laserstrahl eines
RevoLix® Lasers (Thulium:YAG) über eine
600 µm Quarz-Faser appliziert werden
kann. Die eingesetzte Leistung beträgt
zehn Watt.
Als Irrigationsflüssigkeit wird bei diesem
Laser, genau wie bei der Behandlung der
benignen Prostatahyperplasie mit dem
RevoLix®, Kochsalzlösung eingesetzt. Damit
gibt es kein Risiko eines TUR-Syndroms,
was in der oben beschriebenen Patientengruppe besonders gefürchtet ist. Zunächst
wird mit der Biopsiezange eine Gewebeprobe entnommen, die zur histologischen
Bestätigung dient. Größere Tumorteile können gewonnen werden, indem der Stiel des
Exophyten mit dem Laser abgetrennt wird.
Dieses Material lässt sich zusätzlich zur
histologischen Evaluation nutzen. Tumorgrund und -ränder werden bis zur lamina
muscularis vaporisiert. Da der RevoLix®Laser eine sehr geringe Eindringtiefe von
etwa 200 µm hat, ist die Gefahr einer Perforation praktisch nicht gegeben. Nach
abschließender Kontrolle auf Bluttrockenheit wird ein Einmalkatheter eingelegt,
über den zur Rezidivprophylaxe 40 mg
Mitomycin instilliert werden können.
Soweit möglich sollten die Patienten das
Chemotherapeutikum für 90 Minuten in
487
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Oberflächliches Harnblasenkarzinom
der Harnblase belassen. Danach können sie
Wasser lassen. Nach weiteren 90 Minuten
ist der gesamte Vorgang beendet. Je nach
Befinden und/oder sozialer Situation des
Patienten kann er nun entlassen werden
oder zur weiteren Beobachtung auf der
Station bleiben. Die Nachsorge erfolgt
analog der anderen Patienten mit diesem
Krankheitsbild. Bei Auftreten eines Rezidivs kommt – aus gleichen Gründen wie
oben – wieder der Laser zum Einsatz.
488
Fazit
Wir betrachten die Laserbehandlung des
oberflächlichen Harnblasenkarzinoms als
die bestmögliche Behandlung solcher
Patienten, bei denen lediglich ein Kompromissverfahren möglich ist. Gleichwohl liegen Berichte anderer Gruppen vor, die die
Indikation für dieses minimal invasive Vorgehen bereits sehr viel weiter stellen.
Kontakt
Prof. Dr. Andreas Gross,
Dr. Thorsten Bach
Abteilung für Urologie
Asklepios Klinik Barmbek
Rübenkamp 220
22291 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-82 98 21
Fax (0 40) 18 18-82 98 29
E-Mail: [email protected]
Unfallchirurgie
Diagnostik bei Schulterverletzungen
Dr. Ralf Gütschow
Frakturen und Weichteilverletzungen des Schultergürtels gehören zu den
häufigsten Folgen von Verkehrs-, Freizeit- und Sportunfällen. Verletzungen
am Schultergürtel können unmittelbare sowie im weiteren Verlauf posttraumatische Beschwerden nach sich ziehen und sind zudem von degenerativen Vorschäden und Beschwerden abzugrenzen. Sie können sowohl die
Knochen, den ligamentären Halteapparat als auch muskuläre (z. B. Rotatorenmanschette) oder aber neurovaskuläre Strukturen betreffen.
Prinzipiell gelten für die Behandlung akuter, posttraumatischer oder degenerativer
Veränderungen vergleichbare Behandlungsgrundsätze. Für die Diagnosestellung
hingegen lassen sich aus rein pragmatischen Gründen Unterschiede in der Vorgehensweise ableiten.
Während bei chronischen und posttraumatischen Folgezuständen eine Vielzahl funktioneller Testungen und spezieller nativradiologischer Untersuchungen neben
einer strukturierten Anamneseerhebung
zur Diagnose führen können, stehen beim
Akutverletzten die teils erhebliche
Schmerzsymptomatik und die Funktionsbeeinträchtigung im Vordergrund. Das
kann die klinischen und radiologischen
Möglichkeiten der Diagnostik erheblich
einschränken. Neben der strukturierten
Erhebung der Unfallanamnese und des
Unfallherganges sowie der klinischen
Untersuchung dient der gezielte Einsatz
bildgebender Verfahren der Diagnosesicherung wie auch der Therapieplanung.
In der Praxis ist die korrekte Durchführung
der möglichen und intraoperativ reproduzierbaren Standarduntersuchungen daher
trotz verletzungsbedingter Einschränkungen anzustreben.
Frakturen des proximalen Oberarms
[1,2,4,6]
Um die wichtigen anatomischen Strukturen wie Humeruskopf, -schaft, Tubercula
und Pfannenrand ausreichend darzustellen
und eine Luxation auszuschließen, sollte
bei jedem Patienten möglichst ein Bild in
zwei besser drei Ebenen erstellt werden.
Bei proximalen Oberarmfrakturen hängen
Prognose und Versorgungsart vom Dislokationsgrad der vier „Neer-Fragmente“
(Schaft, Kopf, Tuberculum minus et majus)
ab, sodass diese exakt zu eruieren sind.
1. Echte a.p.-Aufnahme
(true-a.-p.- oder Grashey-Aufnahme):
Hier wird der Patient so positioniert, dass
seine unverletzte Seite um etwa 30 – 40°
nach vorn gedreht ist (Abb. 1), um eine
möglichst überlagerungsfreie Aufnahme
des Glenoid und des Gelenkspaltes zu
erhalten. Der Strahlengang ist dabei gering
absteigend. Um die Zentrierung des Kopfes besser beurteilen zu können, sollten die
Aufnahmen mit hängendem, nicht unterstütztem Arm (Abstand Humeruskopf/
Acromion) in neutraler oder leichter
Außenrotationstellung (Tuberculum-majusBeurteilung) erfolgen (Abb. 2).
Abb.1: Technik True-a.-p.-Aufnahme
2. Y-Aufnahme (axiale, laterale oder transscapuläre Aufnahme oder supraspinatusoutlet-view):
Der Patient wird so vor den Röntgenfilm
gedreht, dass die Längsachse des Schulterblattes parallel zum Strahlengang verläuft
(Abb. 3). Der Strahlengang ist dabei um
10 – 20° abwärts gesenkt. Spina scapula,
oberer und unterer Anteil des Scapulablattes bilden ein Zielkreuz für den Humeruskopf, sodass Luxationsfehlstellungen
(Abb. 4) gut zu erkennen sind. Außerdem
lässt sich die knöcherne Begrenzung des
Supraspinatus-Kanals (Abb. 5) abgrenzen.
3. Transaxilläre Aufnahme
(axiale Aufnahme):
Sie kann bei liegendem als auch sitzendem
Patienten angefertigt werden (Abb. 6). Dargestellt wird der Humeruskopf umgeben
von Gelenkpfanne, Acromion und Coracoid. Besonders gut sind vorderer und hinterer Pfannenrand sowie das Tuberculum
minus zu erkennen (Abb. 7).
4. Velpeauprojektion (Abb. 4):
Lässt sich der Arm wegen eines GilchristVerbandes oder Schmerzen nicht abduzieren, kann ersatzweise die Projektion nach
489
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Abb. 2: Röntgen-Bild True-a.-p.-Aufnahme
Abb. 3: Technik Y-Aufnahme
Abb. 4: Velpeau-Aufnahme
Velpeau durchgeführt werden.[1] Hier
lehnt sich der sitzende Patient mit angelegtem Oberarm etwas zurück, damit der
schräg sagittal laufende Röntgenstrahl die
Pfanne möglichst tangential trifft. Mit diesen Aufnahmen lassen sich auch intraoperativ bei sogenannter Beachchairlagerung
(entspricht Velpeau) die oben genannten
Strukturen gut darstellen.
nahme) und der transaxillären Aufnahme
ausmachen.
Schultergelenkluxation
Claviculafrakturen machen etwa zehn
Prozent aller Knochenbrüche aus und sind
die häufigsten Frakturen überhaupt. Über
80 Prozent sind im mittleren Drittel, rund
15 Prozent lateral und fünf Prozent medial
lokalisiert. Eine gute Beurteilung ermöglichen die ap- und eine um 45° geneigte
tangentiale Aufnahme ergänzt durch die
oben beschriebenen Technik nach Velpeau.[1] Mit dieser auch intraoperativ reproduzierbaren Einstellung sollten auch die
selteneren lateralen und medialen Frakturen abgebildet werden können.
Die Diagnose der Luxation und die Luxationsrichtung erhält man zumeist durch die
true-a.-p.- und Y-Aufnahme. Während vordere Luxationen anamnestisch, klinisch
und radiologisch gut zu diagnostizieren
sind, werden dorsale Verrenkungen (häufig
im Krampfanfall) immer wieder übersehen.
Vorsicht ist bei fehlender Freiprojektion des
glenohumeralen Gelenkspaltes geboten
(CT!)
Prognostisch wichtig sind Kettenverletzungen des Schultergürtels und Gelenkfrakturen, weswegen hier die Indikation zum CT
großzügig gestellt werden sollte.
Frakturen der Clavicula[1,4]
Frakturen der Scapula[1,4]
Scapulafrakturen sind selten und aufgrund
der Überlagerung durch Thoraxorgane
manchmal schwer zu erkennen. Allerdings
lassen sich die relevanten Gelenkverletzungen gut in der „Trauma“-Serie, vor allem
in der true-a.-p. (wahre oder Grashey-Auf-
490
Verletzungen des
Acromioclaviculargelenkes[1,2]
Üblicherweise werden diese Verletzungen
nach Tossy oder Rockwood eingeteilt.
Dabei wird der zunehmende Abstand der
Clavicula vom Acromion bzw. des Coracoi-
des von der Clavicula in Abhängigkeit der
Anzahl und des Zerstörungsgrades der
Bänder zugrunde gelegt.[2] Diagnostiziert
wird die vertikale Instabilität durch Belastungsaufnahmen („Wasserträger“). Die
herabhängenden Arme werden mit
Gewichten belastet (5 – 15 kg), wobei diese
möglichst nicht mit den Händen gehalten
werden sollten (Schlingen), um eine Kompensation durch die Muskelspannung zu
vermeiden. Entscheidend für die OP-Indikation ist jedoch auch die horizontale
Instabilität mit Verletzung der DeltoideusFaszie, die am besten mit einer Y-Aufnahme nach Alexander (also mit auf die Schulter der Gegenseite gelegter Hand) zu
verifizieren ist.[2]
Verletzungen des
Sternoclaviculargelenkes[1,4]
Bei dieser seltenen Verletzung kann es zu
einer ventralen oder dorsalen Luxation
kommen, deren nativradiologischer Nachweis nach Rockwood a. p. mit 30 Grad
ansteigendem Strahlengang nicht immer
gelingt. In der Mehrzahl der Fälle ist für
Diagnosestellung und OP-Indikation ein
CT erforderlich.
Unfallchirurgie
Abb. 5: Röntgen-Bild Y-Aufnahme
Abb. 6: Technik transaxilläre Aufnahme
Traumatische Weichteilverletzungen
der Schulter [3,5]
Bei frischem Trauma ist eine knöcherne
Verletzung mit der „Trauma“-Serie auszuschließen. Die Untersuchung möglicher
Weichteilverletzungen im MRT sollte allerdings mit einer klaren Fragestellung in den
Schnittebenen paracoronar (senkrecht zum
Glenoid), parasagittal (parallel zur Gelenkfläche) sowie axial bis zum Proc. coracoideus erfolgen, insbesondere auch bei Luxationen nach dem 50. Lebensjahr.[2,6] Die
Indikation sollte gegebenenfalls mit dem
potenziellen Operateur abgesprochen werden.
Intraoperative Bildgebung
Die intraoperative Erstellung von Röntgenbildern in den üblichen und reproduzierbaren Standardprojektionen ist für die weitere Verlaufsbeurteilung unabdingbar und
einzufordern. Mittels Bildwandler erstellte
„schöne Bilder“ außerhalb der üblichen
und reproduzierbaren Standardprojektionen sind selten zweckdienlich und nur zur
Dokumentation einer korrekten Implantatlage hinsichtlich Schrauben-/Bolzenlage
und -länge sinnvoll.
Abb. 7: Röntgen-Bild transaxilläre Aufnahme
Postoperative Bildgebung
Kontakt
Auch diese sollten wiederum in den beschriebenen Standardprojektionen erfolgen.
Bei fraglicher Implantatfehllage oder Fragmentfehlstellung ist in Einzelfällen ein CT
erforderlich.
Fazit
Die Bildgebung bei Verletzungen des
Schultergürtels reduziert sich in allen
Behandlungsphasen im Prinzip auf wenige
Standardaufnahmen. Optimale Einstellung
vorausgesetzt, lassen sich damit die komplexe Anatomie und die meisten ossären
Verletzungen des Schultergürtels darstellen.[4] Weiterführende Diagnostik mittels
moderner Schnittbildverfahren sollte bei
bestehender OP-Indikation in Absprache
mit dem Operateur erfolgen, um unnötige
Doppeluntersuchungen zu vermeiden.
Dr. Ralf Gütschow
II. Chirurgische Abteilung – Unfall-,
Gefäß- und Wiederherstellungschirurgie
Asklepios Klinik Barmbek
Rübenkamp 220
22291 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-82 28 21
Fax (0 40) 18 18-82 28 29
E-Mail: [email protected]
Literatur
[1] Golser K, Resch H. Röntgenabklärung der Schulter
einschl. CT. In: Habermeyer P, Schweiberer L. Schulterchirurgie. Urban & Schwarzenberg Verlag 2. Auflage 2002:
83-131.
[2] Hedtmann A, Heers G, Heidersdorf S. Bildgebende
Verfahren an der Schulter. Arthroskopie 2001; 14: 74-93.
[3] Hendricks P, Krahn-Peters V. Verletzungen des Schultergelenks. Trauma Berufskrankh 2001; 4: 512-8.
[4] Philipp MO, Philipp-Hauser S, Breitenseher M. Das
akute ossäre Trauma des Schultergürtels. Radiologie 2004;
44: 562-8.
[5] Rademacher G, Mutze S. Schultergelenkverletzung.
Trauma Berufskrankh 2006; 3: 247-52.
[6] Zeiler C, Wiedemann E, Brunner U, Mutschler W.
Schulterdiagnostik. Trauma Berufskrankh 2003; 5: 108-13.
491
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Die klassische Trigeminusneuralgie –
Klinik, Diagnostik, Therapie
Prof. Dr. Uwe Kehler, PD Dr. Bernd Eckert, Prof. Dr. Axel Müller-Jensen
Die Schmerzen der klassischen Trigeminusneuralgie gehören zu den stärksten für den Menschen vorstellbaren
Schmerzen. Auf einer Schmerzskala von 0 bis 10 erreichen sie fast immer die höchste Stufe. Das macht eine fachgerechte und zügige Diagnostik sowie Einleitung einer meist außerordentlich erfolgreichen Therapie notwendig.
Klinik, Pathophysiologie und
Epidemiologie
die Triggerbarkeit sowie die blitzartig einschießenden Schmerzen.
Die Trigeminusneuralgie ist gekennzeichnet durch einseitige, blitzartig einschießende Schmerzattacken im Versorgungsgebiet
des I. – III. Trigeminusastes (Abb. 1). Die
Attacken sind von Sekunden Dauer, treten
häufig in Serien auf und können durch
Reizung sogenannter Triggerzonen ausgelöst werden (z. B. Berührung, Luftzug,
Kauen). Synonym werden Begriffe wie Tic
doloreux, typische, essentielle oder idiopathische Trigeminusneuralgie gebraucht.
Die Trigeminusneuralgie beginnt in der
Regel nicht vor der 4. Lebensdekade, die
Häufigkeit steigt mit dem Lebensalter. Die
Inzidenz beträgt bei Männern 3,4/100.000,
bei Frauen 5,9/100.000 pro Jahr.[1,4] Am
häufigsten sind der II. und III. Trigeminusast zusammen betroffen, es folgen der II.
und III. Ast jeweils allein. Die Beteiligung
des I. Trigeminusastes ist ebenso wie ein
beidseitiger Befall so selten, dass an der
Diagnose der Trigeminusneuralgie gezweifelt werden muss. Der neurologische
Befund erweist sich als regelrecht. Insbesondere lassen sich keine sensiblen Defizite
und auch keine zusätzlichen neurologischen Herdsymptome feststellen.
■
■
■
■
essentielle Trigeminusneuralgie
typische Trigeminusneuralgie
Tic doloreux
idiopathische Trigeminusneuralgie
Tab. 1: Synonyme der klassischen Trigeminusneuralgie
Idiopathisch ist jedoch irreführend, da
ursächlich ein Gefäß-Nerv-Konflikt im
Übergang zwischen Trigeminusnerven und
Brücke vorliegt. Der Gefäß-Nerven-Kontakt
führt zu einer umschriebenen Atrophie der
Dendroglia/Myelinscheide.[6] Dieser
Übergangsbereich ist besonders sensibel.
Durch die Atrophie können Impulse von
den Fasern, die die Berührungsempfindung weiterleiten, auf die Schmerzfasern
überspringen. Diese „Ephapsen“ erklären
492
■ blitzartige einschießende Schmerzattacken im
Versorgungsgebiet des I. – III. Trigeminusastes
■ Attacken von Sekunden Dauer, häufig in Serien
auftretend
■ Attacken durch Reizung sog. Triggerzonen auslösbar (z. B. Berührung, Luftzug, Kauen u. a.)
■ kein Dauerschmerz, keine sensiblen Ausfälle,
keine zusätzlichen neurologischen Herdsymptome
Tab. 2: Klinische Symptomatologie der klassischen
Trigeminusneuralgie
Differentialdiagnostisch ist die Trigeminusneuralgie von der Trigeminusneuropathie
unterschiedlicher Ätiologie, vom atypischen Gesichtsschmerz sowie dem seltenen
SUNCT-Syndrom (short-lasting unilateral
neuralgiform headache attacks with conjunctival injection, tearing, sweating and
rhinorrhoea) abzugrenzen.
■ Trigeminusneuropathie
■ Multiple Sklerose (MS)
■ Raumforderung/Tumor der hinteren und
mittleren Schädelgrube
■ vaskuläre und/oder entzündliche Erkrankungen
(vaskulär-diabetisch, Kollagenosen, Zoster,
Borreliose, Sarkoidose, Lepra)
■ atypischer Gesichtsschmerz (z. B. Kiefergelenkserkrankung, Karies etc.)
■ SUNCT-Syndrom (selten): short-lasting unilateral
neuralgiform headache attacks with conjunctival
injection, tearing, sweating and rhinorrhoea
Tab. 3: Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie
Neurochirurgie
Abb. 1 – Schmerzausbreitung der Trigeminusneuralgie:
Abb. 2 – MRT: T2-Dünnschicht, Trigeminusneurinom
1. Ast: Stirn und Nasenrücken
(schmaler Pfeil), li. am Übergang zum Ganglion Gasseri,
2. Ast: Oberkieferbereich
Gefäß-Nerven-Kontakt (breiter Pfeil)
3. Ast: Unterkieferbereich
Bildgebende Diagnostik
Die Differentialdiagnose zwischen klassischer und symptomatischer Trigeminusneuralgie wird durch bildmorphologische
Befunde gestützt, die vor allem mit der
Kernspintomographie erhoben werden.
Organische Ursachen einer symptomatischen Trigeminusneuralgie sind mit einem
kompletten MRT-Untersuchungsprotokoll
■ MRT:
Cerebrum: T2 transversal, sagittal,
Diffusionswichtung
KHBW:
T1-/+ KM transversal
CISS oder T2-Dünnschicht (1 mm)
transversal evtl. coronar
(KHBW = Kleinhirnbrückenwinkel)
■ ggfs CCT:
Knöcherne Läsion, Tumorverkalkung
■ ggfs. Angiographie:
Gefäßmalformation, Aneurysma, Tumorvaskularisation, Prä-OP Embolisation
Tab. 4: Neuroradiologische Bildgebung bei der
Trigeminusneuralgie
mit sehr großer Sicherheit zu erkennen. Die
Ausschlussdiagnostik dient in erster Linie
der Erfassung von Tumoren im Kleinhirnbrückenwinkel (häufig: Meningeome des
Ligamentum petrosellare, Neurinome),
entzündlichen Prozessen (ganz überwiegend Multiple Sklerose) sowie malignen
Grunderkrankungen (Schädelbasistumore,
Metastasen, Meningeosis carcinomatosa).
Die bildgebende Diagnostik muss den
gesamten pontinen Abschnitt des Trigeminuskerngebietes, das arachnoidale Kompartiment des Nervus trigeminus, das
Ganglion Gasseri im Cavum Meckeli sowie
die peripheren Äste im Verlauf des Sinus
cavernosus vollständig erfassen.
Zur Darstellung des arachnoidalen Verlaufes vom Hirnstamm bis zum Ganglion
Gasseri eignen sich dünnschichtige Sequenzen, die einen sehr hohen Kontrast
zwischen den Hirnnerven und dem umgebenden Arachnoidalraum herstellen (T2Dünnschicht – 0,9 bis 1 mm – Abb. 2) oder
eine 3-D-Gradientenechosequenz, CISSSequenz (Constructive Interference in
Steady State, rekonstruierte Schichtdicke
0,8 mm). Auch die Auffaserung des N. trigeminus im Ganglion Gasseri lässt sich in
den dünnschichtigen Sequenzen gut erfassen. Die Sequenzen besitzen eine sehr hohe
Sensitivität zur Erfassung raumfordernder
Prozesse.
Eine meningeale Anreicherung sowohl im
Niveau der Arachnoidea als auch in der
Dura mater ist nur in der kontrastmittelgestützten Sequenz zu erkennen und vor
allem zur Erfassung einer Meningeosis carcinomatosa/leucaemica oder einer granulomatösen Meningitis unverzichtbar. Bei
der DD von Raumforderungen im Kleinhirnbrückenwinkel kann eine Diffusions-
Abb. 3a – Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie:
Epidermoid – MRT
oben: T1 nach KM, Asymmetrie mit erweitertem linken
KHBW (Kleinhirnbrückenwinkel), keine KM-Anreicherung, kein erkennbarer Tumor;
unten: Diffusionswichtung, Diffusionsstörung im linken
KHBW: Pathognomonischer Befund für ein Epidermoid
493
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Abb. 3b – Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie: Epidermoid – MRT
Abb. 4 – Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie: Schädelbasistumor – Sarkom –
links: T2 Dünnschicht transversal, der re. N. Trigeminus gut abgrenzbar, der li. Trigeminus
links MRT: T1 fettgesättigt nach KM, KM anreichernder Tumor in der rechten
wird durch das nahezu liquorisointense Epidermoid verlagert;
Felsenbeinspitze mit Hirnstammkompression am Austrittspunkt des re. Trigeminus
rechts: T2 Dünnschicht coronar, der li. Trigeminus (Pfeil) wird durch das Epidermoid nach
und Infiltration der temporalen Dura
cranial verdrängt
rechts CCT: Maligne Knochendestruktion im Felsenbein und Os temporale re.
sowie im Clivus
wichtung sehr hilfreich sein. Eine hier
lokalisierte Diffusionsstörung ist pathognomonisch für ein Epidermoid insbesondere
in der Abgrenzung von einer Arachnoidalzyste (Abb. 3a, b). Eine umschriebene Anreicherung im N. trigeminus ohne Raumforderung entspricht dem Befund einer
Neuritis und ist nur gelegentlich als
Hyperintensität in der T2-Wichtung zu
erkennen. Sehr viel häufiger ist der Nachweis von Demyelinisierungsherden im
Hirnstamm bei einer Multiplen Sklerose.
Bei knochendestruierenden Prozessen oder
Tumoren, die in die Schädelbasis einwachsen, ist die Computertomographie eine
unverzichtbare Zusatzmethode, um das
Ausmaß der Knochendestruktion oder eine
Tumormatrix ausreichend darzustellen. Die
Morphologie der Destruktion ist darüber
hinaus ein wichtiges differentialdiagnostisches Kriterium (Abb. 4).
Der Kontakt zwischen dem Trigeminusaustrittspunkt und einem Gefäß, vor allem der
A. cerebelli superior, ist ein häufiger
Befund, der allein keine pathogene Bedeutung besitzt (Abb. 2). Gefäß-Nerven-Kontakte zeigen sich abhängig von der technischen Qualität der Untersuchung bei jeder
vierten gesunden Kontrollperson. Insbesondere bei älteren Patienten mit einer
hypertensiven Makrovaskulopathie sieht
man häufig eine Elongation der A. basilaris
mit direktem Kontakt zum N. trigeminus,
ohne dass dies Symptome auslösen würde.
Nur in Verbindung mit der Symptomatik
einer klassischen Trigeminusneuralgie ist
494
ermöglichen. Generell ist eine Monotherapie zu bevorzugen in Verbindung mit konsequenter Aufsättigung. Umsetzen oder
Kombination sollte erst bei Refraktärität
erwogen werden. Es gilt, die niedrigste
noch wirksame Dosis zu finden. Eine
Dosisreduktion sollte in der Regel erst
nach vier bis sechs Wochen Schmerzfreiheit
versucht werden.
der Nachweis eines Gefäß-Nerven-Kontaktes diagnostisch zu werten und bei der
Indikation zur operativen Therapie zu
berücksichtigen.
Medikamentöse Therapie
In der Regel sollte zunächst ein Therapieversuch mit Carbamazepin in einschleichender Dosierung unternommen werden.[2] Wegen weniger Interaktionen
könnte auch Oxcarbazepin primär Verwendung finden, welches in einem Verhältnis
1,5:1 zum Carbamazepin steht. Vor allem
bei älteren Pa-tienten ist hier aber eine
gelegentlich auftretende Hyponatriämie
als Nebenwirkung zu berücksichtigen.
Bei therapierefraktären Schmerzen ist eine
add-on-Therapie mit Lamotrigin oder
Gabapentin indiziert. In der letzten Zeit
hat sich – auch bereits in der Monotherapie
– Pregabalin in einer bereits effektiven
Anfangsdosierung von 2 x 75 mg/d bei
guter Verträglichkeit bewährt. Phenytoin
kann parenteral bei Schluckunfähigkeit
wertvoll sein. Bei anhaltenden Schmerzsalven im Akutfall kann hier 250 mg Phenytoin i. v. in 20 Minuten einen Durchbruch
■
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Carbamazepin
Oxcarbazepin
Lamotrigin
Gabapentin
Pregabalin
Phenytoin
Capsaicin
–
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600 – 1.500 mg
600 – 2.400 mg
100 – 400 mg
900 – 3.600 mg
150 – 600 mg
100 – 400 mg
0,03 % Flüssigkeit lokal
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Operative Verfahren
Nach Versagen oder Unverträglichkeit der
konservativen Therapie, aber auch bei
berufsbedingten Bedenken gegen die medikamentöse Therapie (z. B. bei Kraftfahrern)
ist an eine operative Therapie zu denken.
Bevorzugt wird meist die kausale, nicht
destruktive mikrovaskuläre Dekompres■ typische Trigeminusneuralgie
■ Ausschluss anderer Ursachen (z. B. Kleinhirnbrückenwinkeltumoren)
■ Pharmakoresistenz oder – Unverträglichkeit
■ vertretbares Narkoserisiko
Tab. 6: Indikationen zur Jannetta-Operation
75 % Effektivität
weniger Interaktionen
langsam aufdosieren (Exanthem)
gute Verträglichkeit
gute Verträglichkeit
i. v. Gabe möglich
Brennen als initiale Nebenwirkung
Tab. 5: Medikamentöse Therapie der Trigeminusneuralgie
Neurochirurgie
Foramen ovale
★
Abb. 5: Schema der Punktion des Ganglion Gasseri (★).
Die Nadel wird etwa 2 – 3 cm lateral des Mundwinkels
eingestochen und durch die Wange zur Schädelbasis und
hier durch das Foramen ovale vorgeschoben. Diese Punktionstechnik wird für alle perkutanen Verfahren (Thermoläsion, Glycerolinjektion und Ballonkompression) angewandt.
sion nach Jannetta (Tab. 6). Alle perkutanen
Verfahren sind destruktive Verfahren. Im
Einzelfall muss eine individuelle Therapie
in Abhängigkeit von Alter, Begleiterkrankungen und Patientenwunsch (z. B. Angst
vor Schädeleröffnung) gesucht werden.
Die häufigsten Verfahren sind die Thermoläsion des Ganglion Gasseri und die mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta.
Thermoläsion des Ganglion Gasseri
Die Schmerzfasern (Aδ- und C-Fasern)
haben nur eine dünne bzw. gar keine Myelinschicht. Damit sollen sie gegenüber
einer Erhitzung viel anfälliger sein als
Fasern mit einer dickeren Myelinschicht.
Tatsächlich kommt es bei einer Erhitzung
auf 65 – 70 °C aber zu einer Schädigung
praktisch aller Fasern, wobei die Entfernung zur Nadelspitze eine Rolle spielen
dürfte. So sind nach einer Thermoläsion
neben der Schmerzfreiheit doch auch gewisse Gefühlstörungen in Kauf zu nehmen.
Technik: 2 – 3 cm lateral des Mundwinkels
wird eine Thermosonde eingeführt und
unter Röntgen-Bildwandler-Kontrolle
durch das Foramen ovale bis zur Trigeminuswurzel geschoben (Abb. 5). Die exakte
Position wird durch Stimulation beim
wachen Patienten so lange variiert, bis eine
Reizung genau in dem schmerzhaften
Gesichtsbereich gelingt. Unter einer Kurznarkose wird dann die Nadelspitze auf
65 – 70 °C für eine Minute erhitzt.[9] Ist die
Stimulationsstärke zum Erzielen eines
Schmerzes verdreifacht oder bereits eine
Analgesie im lädierten Bereich vorhanden,
wird die Thermoläsion beendet und die
Nadel entfernt. Der Patient kann in der
Regel 1 – 2 Tage später die Klinik verlassen.
Die Erfolgsquote liegt bei über 90 Prozent,
zum Teil werden auch sehr günstige Langzeitergebnisse mit 80 Prozent nach zehn
Jahren angegeben. Bei einem Rezidiv kann
die Thermoläsion wiederholt werden.
Auch einige atypische Trigeminusneuralgien können mit den perkutanen Verfahren
günstig, wenn auch deutlich weniger
erfolgreich beeinflusst werden.
Mikrovaskuläre Dekompression
(Jannetta-Operation) [7]
Prinzip der einzig kausalen Behandlung
der typischen Trigeminusneuralgie ist die
Behebung des Gefäß-Nerven-Kontakts im
präpontinen Trigeminusabschnitt durch
Einbringen eines Polsters zwischen Nerven
und Gefäß. Die Operation führen wir in
der Regel in Rückenlage mit zur Gegenseite gedrehtem Kopf durch. So „fällt“ das
Kleinhirn nach Liquorentnahme mit der
Schwerkraft nach unten und gibt den
Kleinhirnbrückenwinkel ohne Retraktion
frei. Nach Durchtrennen einiger arachnoidaler Adhärenzen werden Trigeminus und
komprimierendes Gefäß im Kleinhirnbrückenwinkel freipräpariert. Häufig findet
man eine erhebliche Druckusur am Nerven. Nach Abpräparation und evtl. Verlagerung des Gefäßes wird ein Polster
(Teflon oder Muskelstück) eingelegt, um
den erneuten Konflikt zu verhindern
(Abb. 6). Danach wird die Wunde mittels
Dura-, Muskel-, Subkutan- und Hautnaht
verschlossen. Die kleine ca. 2 bis 2,5 cm
große Trepanationsöffnung wird mit dem
ausgesägten Knochenstück oder durch
Knochenzement (Palacos) verschlossen.
Der Krankenhausaufenthalt liegt bei sieben
Tagen.
Die Erfolgsquote ist hoch: Schmerzfreiheit
wird in über 80 Prozent erreicht, in gut
15 Prozent eine Schmerzlinderung. Die
Patienten wachen in der Regel bereits
schmerzfrei aus der Narkose auf. Die Mortalitätsrate liegt bei 0,5 Prozent, Komplikationen werden in 3,6 – 34 Prozent angegeben,
erwähnenswert sind hier die Hypästhesie
im Trigeminusbereich, die Taubheit des
ipsilateralen Ohres und die Liquorfistel.
Operationsbedürftige Rezidive treten in
einer Größenordnung von elf Prozent bei
einer mittleren Nachbeobachtungszeit von
sechs Jahren auf.
Eine Reihe anderer Erkrankungen, die
durch einen Gefäß-/Nervenkonflikt ausgelöst werden (z. B. Facialisspasmus, Glossopharyngeusneuralgie, Tinnitus [Kompression des N. statoacusticus], Torticollis
spasticus [Kompression der 1. Cervikalwurzel], arterieller Hypertonus durch
Kompression des linksseitigen N. vagus
und der medulla oblongata), können ebenso erfolgreich mit einer mikrovaskulären
Dekompression behandelt werden.
495
medtropole | Ausgabe Januar 2008
★
■
★
★
➚
❍
➚
❍
❍
a
c
b
Abb. 6: Intraoperative Fotos einer mikrovaskulären Dekompression; a: der Trigeminusnerv ist präpontin freipräpariert und die Kompression durch die unter dem Nerv liegende
Arterie ist erkennbar; b: die Arterie wurde freipräpariert und hervorluxiert; c: zwischen Nerv und Arterie wurde ein Teflonpolster eingelegt
★: Trigeminusnerv; gepunktete Linie: unter dem Nerv liegende Arterie mit Ausbuchtung des Nervens
❍: Hirnstamm; ➚: hervorluxiertes und in c, abgepolstertes Gefäß; ■: Teflonpolster
Seltene Verfahren
störungen auf, Langzeitergebnisse sind
abzuwarten.[5]
Glycerolinjektion
Die Glycerolinjektion wird mit der gleichen Punktionstechnik wie die Thermoläsion durchgeführt. Die Nadelspitze wird in
die Trigeminuszisterne (die das Ganglion
Gasseri umgibt) platziert. Injiziert werden
ca. 0,4 ml Glycerol, ein wasserfreier Alkohol. Die Erfolgsquote liegt über 90 Prozent,
die Langzeiterfolge werden nach zehn Jahren mit 80 Prozent angegeben.[3] Gefühlstörungen sind häufig, störende Dysästhesien werden mit 20 – 40 Prozent angegeben.
Die Anaesthesia dolorosa (Schmerz bei
gleichzeitigem Ausfall der Oberflächensensibilität) wird mit 1,8 Prozent erwartet,
aseptische Meningitiden sind möglich.
Ballonkompression des Ganglion Gasseri
Ein vier French aufblasbarer Ballonkatheter
wird in oben beschriebener Punktionstechnik in die Trigeminuszisterne eingeführt
und mit 0,75 – 1 ml (entsprechend einem
intraluminalen Druck von ca. 1.000 – 1.500
mmHg) gefüllt. Die anfänglichen Ergebnisse entsprechen denen anderer perkutaner Verfahren, die Rezidivquote ist jedoch
höher. Die Anaesthesia dolorosa tritt dagegen nur extrem selten auf (0,1 Prozent).[8]
Stereotaktische Bestrahlung
Der Anfangserfolg der stereotaktischen
Bestrahlung der Trigeminusnervenwurzel
liegt bei über 85 Prozent und sinkt nach
33 Monaten auf 75,4 Prozent. Nach der
Prozedur treten in zehn Prozent Gefühl-
496
Die früher geübten läsionellen Therapien
(Exhärese peripherer Trigeminusäste und
die extradurale Durchtrennung von Trigeminusästen an der Schädelbasis) können
mit den Erfolgs- und Komplikationsquoten
der perkutanen Verfahren nicht mithalten
und sollten heute nicht mehr durchgeführt
werden.[1]
Kontakt
Prof. Dr. Uwe Kehler
Abteilung für Neurochirurgie
Asklepios Klinik Altona
Paul-Ehrlich-Straße 1
22763 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-81 16 71
Fax: (0 40) 18 18-81 49 11
E-Mail: [email protected]
Fazit
Literatur
Die klassische Trigeminusneuralgie ist
klinisch bereits durch sorgfältige Schmerzanalyse mit hoher Sicherheit zu diagnostizieren. Symptomatische Trigeminusneuropathien sowie atypischer Gesichtsschmerz
müssen differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden. Die bildgebende Diagnostik ist hier besonders zum Tumorausschluss wichtig. Der Gefäß-Nerven-Kontakt
ist bei hochauflösenden NMR-Schichten
bereits häufig zu erkennen, kann aber auch
ohne entsprechende Symptomatik vorkommen. Nach Versagen bzw. bei Unverträglichkeit der medikamentösen konservativen
Therapie sind die etabliertesten operativen
Verfahren die kausale mikrovaskuläre
Dekompression nach Jannetta oder die
symptomatische Thermoläsion des Ganglion Gasseri. Beide haben eine sehr günstige Prognose bei – in geübter Hand – sehr
geringer Komplikationsrate. Erlaubt es der
klinische Zustand, ist die kausale mikrovaskuläre Dekompression vorzuziehen, da
sie eine Heilung mit einer geringen Rezidivrate ohne zusätzliche Sensibilitätsstörungen verspricht.
[1] AWMF-Leitlinien-Register Nr 030/016 Trigeminusneuralgie
[2] Al-Khalaf B, Loew F, Donauer E: Stufenplan zur
Behandlung der essentiellen Trigeminusneuralgie,
Dt Ärzteblatt 1999; 96A: 3177-81.
[3] Jho H, Lundsford D: Percutaneous retrogasserian
gylcerol rhizitomy. Neurosurg Clin N Amer 1997; 8: 63-74,
[4] Kautusic S, Beard CM, et al: Incidence and clinical
features of trigeminal neuralgia, Rochester, Minnesota
1945-1984. Ann Neurol 1990; 27: 89-95.
[5] Kondziolka D et al: Stereotactic radiosurgery for the
treatment of trigeminal neuralgia. Clin J Pain 2002; 18: 42-7.
[6] Love S, Coakham B: Trigeminal neuralgia: pathology
and pathogenesis. Brain 2001; 124: 2347-60.
[7] McLaughlin M, Jannetta PJ et al: Microvascular decompression of cranial nerves: lessons learned after 4400 operations. J Neurosurg 1999; 90:1-8.
[8] Skirving D, Dan N. A 20-year review of percutaneous
ballon compression of the trigeminal ganglion. J Neurosurg
2001; 94: 913-7.
[9] Sweet W. Trigeminal neuralgias, Lea & Felbinger,
Philadelphia, 1968: 89-106.
Kardiologie
Katheterablation
ventrikulärer Tachykardien
Dr. Boris Schmidt, Dr. KR Julian Chun, Dr. Feifan Ouyang, Prof. Dr. Karl-Heinz Kuck
Pro Jahr sterben in Deutschland rund 100.000 Menschen am plötzlichen Herztod, meist verursacht durch
ventrikuläre Tachykardien (VT) und Kammerflimmern (Abb. 1). Den sichersten und effektivsten Schutz vor
dem plötzlichen Herztod stellt der implantierbare Kardioverter/Defibrillator (ICD) dar. Er kann VT zuverlässig
erkennen und mittels Überstimulation oder Schockentladung terminieren. Der ICD ist jedoch keine kausale
Therapie der VT und kann folglich deren Auftreten nicht verhindern.
VT bei Patienten ohne strukturelle
Herzerkrankung
ben, sollte daher die Indikation zur Katheterablation großzügig gestellt werden.
VT aus dem Ausflusstrakt des rechten
Ventrikels (RVOT)
VT mit Ursprung aus der Tasche des
Aortenklappensegels
Die häufigste Form von VT bei Patienten
ohne strukturelle Herzerkrankung stellt
die VT aus dem rechtsventrikulären Ausflusstrakt (RVOT) dar.[1] Sie hat generell
eine günstige Prognose, kann aber erhebliche klinische Beschwerden verursachen.
Ursprung sind arrhythmogene Myozyten,
die abhängig von Katecholaminspiegel
und intrazellulärem Kalzium-Gehalt
schnelle VT (Herzfrequenz 200 – 250 min-1)
generieren können. Im EKG zeigen diese
fokalen VT typischerweise einen Linksschenkelblock (LSB)-artig deformierten
QRS-Komplex und eine inferiore Achse. Sie
treten häufig bei körperlicher Anstrengung
(hoher Katecholaminspiegel) auf und lassen sich medikamentös mit Betablockern
oder Kalziumantagonisten behandeln.
Aufgrund der günstigen anatomischen
Lage unterhalb der Pulmonalklappe im
Ausflusstrakt des RV sind die Substrate
der RVOT-VT aber auch einer kurativen
Katheterablation sehr gut zugänglich. Um
den sonst meist gesunden, jungen Patienten eine dauerhafte medikamentöse Therapie zu ersparen oder bei Versagen dersel-
Eine seltene Variante stellt die Gruppe der
VT aus der Tasche des linken Segels der
Aortenklappe dar.[2] Hierbei handelt es
sich ebenfalls um fokale VT, deren Substrat
arrhythmogene Zellverbände bilden. Die
EKG-Morphologie ähnelt der RVOT-VT
mit komplettem LSB und inferiorer Achse.
Die medikamentöse Therapie ist meist
unbefriedigend, somit bietet die Katheterablation eine kurative Therapieoption
(Abb. 2). Trotz der unmittelbaren Nähe der
Koronararterien ist die Komplikationsrate
in erfahrenen Zentren sehr gering.
Idiopathische linksventrikuläre
Tachykardie (ILVT)
Elektroanatomische Mappinguntersuchungen haben den Mechanismus der ILVT als
Mikro-Reentrytachykardie im distalen Purkinje-System identifiziert.[3] Eine Leitungsverzögerung in bestimmten PurkinjeFasern ermöglicht den Wiedereintritt
retrograd in bereits wieder erregbare Purkinje-Fasern, eine kreisende Erregung entsteht. Es resultieren schnelle VT (Herzfre-
quenz 200 – 250 min-1) mit Rechtsschenkelblock (RSB)-Morphologie und superiorer
Achse im EKG. Durch Ablation der betroffenen Purkinje-Fasern kann die VT mit
sehr gutem Langzeit-Erfolg behandelt
werden.
Schenkelblock-Tachykardien
(engl. Bundle-branch-Reentry; BBRT)
BBRT treten in der Regel bei Patienten mit
struktureller Herzerkankung und komplettem LSB auf, finden sich aber auch bei
„Herzgesunden“ ohne bestehende Erregungsausbreitungsstörung. Während der
VT kommt es zur antegraden Erregung des
rechten Tawara-Schenkels und retrograden
Impulsausbreitung über den linken TawaraSchenkel oder umgekehrt.[4] Dadurch entstehen schnelle Makro-Reentrytachykardien
mit Herzfrequenzen von 200 – 250 min-1 und
LSB-artig deformierten QRS-Komplexen im
EKG. Die Therapie der Wahl besteht in der
Ablation des rechten Tawara-Schenkels.
Erstaunlicherweise benötigt anschließend
nur ein geringer Teil der Patienten einen
Herzschrittmacher aufgrund eines kompletten AV-Blocks. Die überwiegende
Mehrheit weist einen kompletten RSB auf.
Dies beweist, dass der linke Tawara-Schenkel zuvor lediglich eine Leitungsverzögerung aufgewiesen hat und nicht einen tota-
497
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Abb. 1: 12-Kanal-EKG (25 ms/mm) einer ventrikulären Tachykardie (VT) mit Rechtsschenkelblock-Morphologie
(Herzfrequenz ~140 min-1)
len Leitungsblock. In einer eigenen Untersuchung stellten wir fest, dass die Häufigkeit im Anschluss auftretender VT von der
zugrunde liegenden Herzerkrankung
abhängt: Patienten ohne strukturelle Herzerkrankung wiesen keine VT mehr auf,
während Patienten mit struktureller Herzerkrankung weiterhin durch myokardiale
VT gefährdet sind und sich einer ICDImplantation unterziehen sollten.
VT bei Patienten mit struktureller
Herzerkrankung
Patienten mit struktureller Herzerkrankung
stellen das größte Kollektiv der Patienten
mit VT im klinischen Alltag dar. Das größte Risiko tragen Patienten mit ischämischer
Kardiomyopathie (ICM) oder dilatativer
Kardiomyopathie (DCM) und eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion. Große klinische Untersuchungen zeigten, dass dieses Patientenkollektiv nur
durch Implantation eines ICD sicher vor
dem arrhythmogenen plötzlichen Herztod
geschützt werden kann (Primärprophylaxe).[5,6] Das gilt besonders für die Sekundärprophylaxe nach überlebtem plötz-
498
lichen Herztod oder dokumentierter VT.
Durch die kardiale Grunderkrankung entstehen myokardiale Narben (z. B. nach
Myokardinfarkt, aber auch bei DCM), die
das Substrat für Reentry-Tachykardien
bilden. In den Narben überleben kleinste
Areale mit der Fähigkeit der elektrischen
Leitung. So entstehen Zonen langsamer
Erregungsausbreitung, die dem elektrischen Impuls den Eintritt in eine Kreiserregung ermöglichen.
Ziel der Katheterablation ist die Identifikation und Elimination dieser Areale. Häufig
lassen sich bei der elektrophysiologischen
Untersuchung durch programmierte
Elektrostimulation mehrere unterschiedliche VT in einem Patienten induzieren.
Unter Umständen werden die VT zudem
hämodynamisch nicht toleriert. Daher
wurde die Strategie des „Substratmappings“ entwickelt, mit der sich durch ein
elektroanatomisches Mappingsystem
anhand der intrakardialen Elektrogramme
gesundes Myokard von Narben unterscheiden lässt (Abb. 3).[7] Diese Areale werden
dann elektrisch isoliert oder die überlebenden Myokardfasern abladiert. Da eine
Narbe ein dreidimensionales Gebilde ist,
kann in einigen Fällen eine epikardiale
Ablation erforderlich werden. Hierzu wird
der Mappingkatheter über einen subxyphoidalen Zugang in den Perikardbeutel
eingebracht und elektrophysiologisch
untersucht.[8]
Da es sich bei der ICM und der DCM in
der Regel um progrediente Erkrankungen
handelt, kann die Katheterablation keine
kurative Maßnahme sein, die Patienten
sollten also trotz primär erfolgreicher Ablation mit einem ICD versorgt werden.
Hauptindikation für eine Ablation bei diesen Patienten ist das Auftreten multipler
Schockentladungen durch den ICD bei therapierefraktären VT-Rezidiven.
Patienten mit genetischer
Herzerkrankung
Bei Patienten mit elektrischer Kardiomyopathie (Brugada-Syndrom, Long-QT-Syndrom u. a.) ist die Katheterablation derzeit
nur bei der arrhythmogenen rechtsventrikulären Dysplasie (ARVD) indiziert.[9]
Durch den fettigen Umbau des Myokards
Kardiologie
Abb. 2: Fluoroskopische Darstellung des Ablationsortes einer VT vom Aortenklappensegel.
Abb. 3: Elektroanatomisches Map (Substratmap) des linken Ventrikels bei
Links in RAO 30°, rechts in LAO 45°. LCA: linke Koronararterie, JC: Judkins-Katheter im
einem Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie nach Vorderwandinfarkt
Ostium der LCA, His: His-Bündel-Katheter, CS: Koronarvenensinus-Katheter. AS: Ablations-
(RAO 30°). Je nach Höhe der lokalen Signalamplituden werden die Areale
katheter am Aortenklappensegel
in unterschiedlichen Farben wiedergegeben. Die Areale in Lila stellen gesundes Myokard dar (Amplitude > 1 mV), die bunten Areale sind elektrisch
„krank“ (Amplitude < 1 mV). In Grau stellt sich eine elektrische Narbe dar
(kein Potenzial).
entsteht das Substrat für eine Reentry-VT.
Je nach Ausmaß der Erkrankung können
diese aus dem rechten und/oder linken
Ventrikel stammen. Ziel der Katheterablation ist die Identifikation und Ablation dieser Substrate. Da die ARVD ebenfalls eine
progrediente Erkrankung ist, sollte hier aus
sekundärprophylaktischer Indikation ebenfalls ein ICD implantiert werden.
Literatur
[1] Joshi S, Wilber DJ. Ablation of idiopathic right ventricular outflow tract tachycardia: current perspectives. J Cardio-
Kontakt
Dr. Boris Schmidt
vasc Electrophysiol 2005; 16 Suppl 1: S52-S58.
[2] Ouyang F, Fotuhi P, Ho SY, et al. Repetitive monomorphic ventricular tachycardia originating from the aortic
sinus cusp: electrocardiographic characterization for gui-
Hanseatisches Herzzentrum
Asklepios Klinik St. Georg
Lohmühlenstraße 5
20099 Hamburg
ding catheter ablation. J Am Coll Cardiol 2002; 39(3): 5008.
Tel. (0 40) 18 18-85 44 87
Fax (0 40) 18 18-85 44 35
[3] Ouyang F, Cappato R, Ernst S, et al. Electroanatomic
Fazit
substrate of idiopathic left ventricular tachycardia: unidi-
E-Mail [email protected]
rectional block and macroreentry within the purkinje net-
Die Katheterablation von VT stellt bei
Patienten ohne strukturelle Herzerkrankung meist eine kurative Maßnahme dar,
bei Patienten mit struktureller Herzerkrankung eine symptomatische Therapie. Vor
der Indikationsstellung sollte eine ausführliche Diagnostik mit körperlicher Untersuchung, Echokardiografie, 12-Kanal-RuheEKG und ggf. Koronarangiografie erfolgt
sein. Die Dokumentation der VT im 12Kanal-EKG ermöglicht eine erste Lokalisation des Ursprungsortes und erleichtert so
die Planung der Strategie für die invasive
elektrophysiologische Untersuchung.
work. Circulation 2002; 105(4): 462-9.
[7] Marchlinski FE, Callans DJ, Gottlieb CD, Zado E. Linear
[4] Tang M, Schmidt B, Shi H, et al. The Left Bundle
ablation lesions for control of unmappable ventricular
Branch-Purkinje System in Patients with Bundle Branch
tachycardia in patients with ischemic and nonischemic
Reentrant Tachycardia: Lessons from Electroanatomical
cardiomyopathy. Circulation 2000; 101(11): 1288-96.
Mapping and Catheter Ablation. Submitted to J Cardiovasc
[8] Soejima K, Stevenson WG, Sapp JL, Selwyn AP, Couper
Electrophysiol.
G, Epstein LM. Endocardial and epicardial radiofrequency
[5] Moss AJ, Zareba W, Hall WJ, et al. Prophylactic implan-
ablation of ventricular tachycardia associated with dilated
tation of a defibrillator in patients with myocardial infarc-
cardiomyopathy: the importance of low-voltage scars. J Am
tion and reduced ejection fraction. N Engl J Med 2002;
Coll Cardiol 2004; 43(10): 1834-42.
346(12): 877-83.
[9] Dalal D, Jain R, Tandri H, et al. Long-term efficacy of
[6] Bardy GH, Lee KL, Mark DB, et al. Amiodarone or an
catheter ablation of ventricular tachycardia in patients with
implantable cardioverter-defibrillator for congestive heart
arrhythmogenic right ventricular dysplasia/cardiomyo-
failure. N Engl J Med 2005; 352(3): 225-37.
pathy. J Am Coll Cardiol 2007; 50(5): 432-40.
499
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Das chirurgische Vorgehen bei akuten
und chronischen Herzinfarktfolgen
Dr. Stephan Geidel, PD Dr. Michael Laß, Prof. Dr. Jörg Ostermeyer
Pro Jahr erleiden in Deutschland mehr als 250.000 Menschen einen Herzinfarkt.[1] Dabei geht die Ischämiezone
innerhalb weniger Stunden in eine Myokardnekrose über. Grundsätzlich existieren für alle direkten Folgen des
Infarkts beziehungsweise der Myokardnekrose herzchirurgische Therapieoptionen. Man unterscheidet akute
(Herzwandruptur, postinfarktieller Ventrikelseptumdefekt und Papillarmuskelruptur mit akuter Mitralinsuffizienz) und chronische Auswirkungen als Resultat einer späteren Narbenbildung (chronisch ischämische Mitralinsuffizienz, linksventrikuläres Aneurysma und „maligne“ ventrikuläre Tachykardie). Die Therapie beinhaltet in
der Regel, vor allem bei chronischen Infarktfolgen, abhängig vom koronarmorphologischen Befund die koronare
Bypassversorgung.
Herzwandruptur
Postinfarktieller Ventrikelseptumdefekt
Bezogen auf alle Herzinfarkte liegt die in
der Literatur angegebene Häufigkeit einer
Herzwandruptur bei 5 – 10 Prozent (nach
Kammerflimmern und Pumpversagen
dritthäufigste Todesursache bei akutem
Infarkt [2,3]). Eine akute Zerreißung führt
durch Perikardtamponade rasch zum Tode,
während eine mehrzeitige Ruptur (2 – 5
Tage) chirurgisch behandelbar ist. Rupturen der Vorderwand des linken Ventrikels
(LV) sind etwa doppelt so häufig wie der
Hinterwand. Methode der Wahl ist die
Übernähung der Perforationsstelle, gegebenenfalls mit Infarktektomie. Der Verschluss
kann im Sinne einer Plikatur unter Verwendung von Filzstreifen erfolgen (Abb. 1),
bei großem Defekt muss ein Patch (z. B.
Dacron) eingesetzt werden. Aus der Literatur ist eine Sterblichkeit von etwa 50 Prozent zu entnehmen, die längerfristige Prognose hängt vom Ausmaß der koronaren
Herzerkrankung ab.
Bei 1 – 2 Prozent aller Infarktpatienten
kommt es zwei bis vier Tage (selten bis
zwei Wochen) nach einem Infarkt mit Septumbeteiligung und Ruptur zur Ausbildung
einer interventrikulären Kommunikation
(Ventrikelseptumdefekt = VSD).[2,3] Meist
liegt der Defekt im Bereich des anterioren/
apikalen Septums und ist mit einer Vorderwand-Spitzen-Dyskinesie vergesellschaftet.
Durch die Ruptur entsteht akut ein Linksrechts-Shunt mit Fluss- und Druckbelastung
der Lungenstrombahn sowie LV-Volumenbelastung. Die Prognose ohne chirurgische
Behandlung ist ungünstig: 24 Stunden
nach VSD-Entstehung betragen die Überlebensraten 75 Prozent, nach einer Woche
50 Prozent, nach zwei Wochen 30 Prozent
und nach mehr als einem Monat 20 Prozent.
Todesursache ist meist ein akutes/subakutes Linksherzversagen. Bei stabilen
Verhältnissen (ohne Lungenstauung und
Katecholaminbedarf sowie bei guter Urinausscheidung) wird die Operation auf 3 – 4
500
Wochen nach dem Infarkt verschoben, da
die beginnende Narbenbildung günstigere
operationstechnische (festere) Gewebsverhältnisse ergibt (Abb. 2). Ein PostinfarktVSD stellt wegen seiner hämodynamischen
Relevanz praktisch immer eine dringliche
OP-Indikation dar. Bei akuter Linksherzinsuffizienz, nachlassender Diurese und
steigenden Katecholamindosen ist ein notfallmäßiger Eingriff indiziert. Dabei wird
der LV durch die infarzierte Wand bzw.
das Aneurysma eröffnet und der VSD mit
einem primär dichten Kunststoffpatch verschlossen. Gleichzeitig erfolgen (bei gegebener Indikation) eine Aneurysmaresektion
und eine koronararterielle Revaskularisation. Die OP-Sterblichkeit beträgt 5 – 40
Prozent. Das Risiko ist besonders hoch,
wenn innerhalb der frühen Postinfarktphase operiert werden muss und die Patienten
im kardiogenen Schock zur Operation
kommen (Abb. 3). Nach Überleben des
Eingriffs sind die Fünf-Jahres-Überlebensraten mit 75 – 80 Prozent relativ günstig.
Herzchirurgie
Abb. 1: Bei mehrzeitiger Myokardruptur 2 – 5 Tage nach dem Infarktereignis (klinisch i. d. R. Dekompensation,
Lungenstauung, hier mit großem Pleuraerguss rechts) finden sich meist Koagel und frische perikardiale Adhäsionen
des gesamten Herzens. Bei ausreichender Gewebestabilität und eher kleinem Infarktareal kann der Verschluss im
Sinne einer Plikatur unter Verwendung von Filzstreifen erfolgen.
Ischämische Mitralinsuffizienz
Auf einen Myokardinfarkt mit Papillarmuskel-(PPM-)beteiligung kann ein PPMAbriss (= akute ischämische Mitralklappeninsuffizienz [MI]) folgen (Abb. 4).
Protrahiert kann es zu Kontraktilitätsverlust, Dilatation des linksventrikulären
Myokards, Fibrosierung und Verkürzung
(Restriktion) des Tensorapparates mit einer
resultierenden chronisch ischämischen MI
kommen (Abb. 5).[4,5] Dabei entsteht eine
akute/chronische systolische Mitralklappenregurgitation mit LV-Volumenüberlastung und möglichem Rückstau in die Lungenvenen. Bei PPM-Abriss und akuter
schwerer MI überlebt ohne chirurgische
Therapie nur etwa jeder vierte Patient die
ersten 24 Stunden. Bei partiellem Abriss
und gering ausgeprägtem Reflux ist die
Prognose besser (70 Prozent überleben
24 Stunden, 50 Prozent über einen Monat).
Eine wesentlich günstigere Prognose haben
Patienten mit ischämischer PPM-Dysfunktion. Bei akuter MI durch PPM-Abriss ist
somit meist eine dringliche bis notfallmäßige Operationsindikation gegeben. Bei chronischer MI sollte eine Operation ab dem
klinischen Schweregrad II – III (NYHA)
erwogen werden. Häufig muss die akut
geschädigte Mitralklappe durch eine Klappenprothese ersetzt werden, in einigen
Fällen ist ein klappenerhaltendes Vorgehen
möglich. Eine chronische MI mit gefestigten
Gewebeverhältnissen ermöglicht dagegen
nahezu ausnahmslos eine Rekonstruktion.
Meist erfolgt die Implantation eines Mitralklappenringes geringer Größe (restriktive
Ringannuloplastie als „Downsizing“ oder
mittels geometrischem Annuloplastiering
mit reduzierter Höhendimension), um
einen kompetenten Klappenschluss zu
erzielen. Die Operationssterblichkeit für
den Eingriff bei PPM-Abriss in der akuten
Postinfarktphase liegt bei 10 – 15 Prozent,
bei chronischer MI in Abhängigkeit von
der Pumpfunktion und der Komorbidität
mit koronararterieller Bypassversorgung
inzwischen bei nur 2 – 4 Prozent. Nach
überstandener Operation ist die Prognose
als günstig einzuschätzen. Auch Patienten
mit schwerer chronisch ischämischer MI
und eingeschränkter Kammerfunktion
haben nach chirurgischer Therapie (restriktive Ringannuloplastie + Revaskularisation)
eine gute Prognose.[5]
Ventrikelaneurysma
Eine großflächige transmurale Vernarbung
der linksventrikulären Wandung, die morphologisch und ventrikulographisch als
gut markierte Aussackung imponiert, wird
als Ventrikelaneurysma bezeichnet. Damit
ist der Ventrikel morphologisch und funktionell in ein aneurysmatisches und ein
kontraktiles („Restventrikel“) Segment aufgeteilt.
Die Linie dazwischen ist die so genannte
„Aneurysmapforte“. Aneurysmen entstehen
mit einer Häufigkeit von 10 – 30% innerhalb von 2 – 8 Wochen nach einem ausgedehnten Herzinfarkt.[2,3] Sie finden sich
zu 85 Prozent im LV-Vorderwand-SpitzenSeptumbereich. Das aneurysmatische Seg-
501
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Abb. 2: Postinfarktieller VSD (3 – 4 Wochen alt): Durch Ausbildung eines relativ stabilen Narbengewebes und gute Abgrenzung zum gesunden Myokard gelingt der chirurgische
Verschluss in diesem Stadium fast immer.
Abb. 3: Postinfarktieller VSD (20 Stunden alt): Das frische Nekroseareal ist ausgedehnt mit inhomogener Abgrenzung zum gesunden Myokard. Der VSD-Verschluss gestaltet sich
in diesem frühen Stadium mitunter als äußerst schwierig.
ment nimmt nicht an der Ventrikelkontraktion teil. Beim typischen Aneurysma findet
sich hier eine paradoxe Pulsation. Die Globalfunktion ist häufig deutlich eingeschränkt
(enddiastolischer Druck über 20 mmHg;
linksventrikuläre Auswurffraktion unter
35 Prozent). Wesentliche Operationsindikationen sind progrediente Linksherzinsuffizienz, „maligne“ ventrikuläre Tachykardie,
Thrombembolieereignisse durch Thrombenmaterial aus dem Aneurysma und drohende Ruptur. Bei der Operation werden
der LV im Aneurysmabereich eröffnet, die
aneurysmatischen Wandanteile reseziert
und der Ventrikel im Bereich der Aneurysmapforte verschlossen (Abb. 6). Dies kann
direkt mittels Filzstreifen, U-Nahtreihe und
zusätzlich überwendlicher Naht erfolgen
oder im Sinne der Implantation eines
Dacronpatchs als LV-Rekonstruktionsoperation nach Dor durchgeführt werden.[6]
Die Wegnahme des Aneurysmas verbessert
die Pumpeffizienz des LV, bei entsprechender Indikation findet zusätzlich eine koronararterielle Revaskularisation statt. Das
502
Operationsrisiko hängt vom Ausmaß der
koronaren Herzkrankheit und dem Funktionszustand des kontraktilen Restventrikels ab (2 – 10 Prozent), die Fünf-JahresÜberlebensrate liegt bei 60 – 80 Prozent.
„Maligne“ ventrikuläre Tachykardie
Eine „maligne“ ventrikuläre Tachykardie
(VT) ist eine Rhythmusstörung mit potenziell lebensbedrohlichem Charakter.
Ursprung sind arrhythmogene Gewebe,
d. h. ischämisch geschädigte Myokardareale, die meist im Grenzbereich zwischen
einer Infarktzone (meist Aneurysma) und
der erhaltenen Muskulatur liegen. Bis
Anfang der 90er-Jahre wurde das arrhythmogene Gewebe in entsprechend ausgerichteten herzchirurgischen Zentren im
Anschluss an eine intraoperative elektrophysiologische „Mapping-Untersuchung“
aus dem „elektrophysiologischen Gesamtverbund“ des Herzens durch Resektion,
Umschneidung, Kryo- oder Laserablation
eliminiert, meist in Zusammenhang mit
einer Aneurysmaresektion und einer koronaren Bypassversorgung. Dieses über viele
Jahre etablierte chirurgische Verfahren
wurde durch implantierbare Defibrillationssysteme (ICD) und interventionelle
elektrophysiologische Ablationstechniken
fast vollständig abgelöst. Patienten mit
malignen VTs werden heute in rhythmologisch-elekrophysiologisch ausgerichteten
Zentren zunächst elektrophysiologisch
untersucht (EPU, wenn möglich mit interventionellen elektrophysiologischen Ablationstechniken) und bei gegebener Indikation einer ICD-Implantation zugeführt.[3]
Herzchirurgie
Abb. 4: Akute ischämische Mitralinsuffizienz mit Papillarmuskelabriss: Meist ist ein Mitralklappenersatz notwendig, in Einzelfällen gelingt eine Rekonstruktion
(z. B. Goretex-Sehnenfadenersatz mit Verankerung im gesunden Papillarmuskelgewebe).
Abb. 5: Chronisch ischämische Mitralinsuffizienz: Rekonstruktion mittels 3-dimensionalem (geometrischem) Annuloplastiering
Literatur
[1] Bruckenberger E. Herzbericht 2006 mit Transplantationschirurgie; http://www.herzbericht.de.
[2] Kouchoukos NT, Blackstone EH, Doty DB et al. In:
Kirklin JW/Barratt-Boyes B: Cardiac Surgery, Third Edition
Kontakt
Oberarzt Dr. Stephan Geidel
Ltd. Oberarzt PD Dr. Michael Laß
Chefarzt Prof. Dr. Jörg Ostermeyer
(Churchill Livingstone, Philadelphia, USA). Ischemic heart
disease. 2003: Volume 1: 351-497.
[3] Geidel S, Ostermeyer J: In: Berger M, Domschke W,
Hohenberger W, Meinertz T, Possinger K, Reinhardt D.
Therapie-Handbuch. Koronare Herzkrankheit: Chirurgische Therapie. Urban & Fischer München, Jena 2007;
C1.2: 1-13.
[4] Geidel S, Laß M, Ostermeyer J. Operative Techniken
der rekonstruktiven Mitralklappenchirurgie. Hamburger
Ärzteblatt 2005; 2: 60-4.
[5] Geidel S, Lass M, Schneider C, Groth G, Boczor S,
Hanseatisches Herzzentrum
Abteilung für Herzchirurgie
Asklepios Klinik St. Georg
Lohmühlenstraße 5
20099 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-85 41 50/41 51
(Sekretariat der Herzchirurgie)
Tel. (0 40) 18 18-85 22 61
(Herzchirurgische Normalstation)
Tel. (0 40) 18 18-85 22 62
(Herzchirurgische Intensivstation)
Tel. (0 40) 18 18-85 22 85 (Privatstation)
Fax (0 40) 18 18-85 41 84
Abb. 6: Postinfarktielles Ventrikelaneurysma:
Resektion und Verschluss im Sinne einer Plikatur unter
Verwendung von Filzstreifen
Kuck KH, Ostermeyer J. Downsizing of the mitral valve
and coronary revascularization in severe ischemic mitral
E-Mail: [email protected]
regurgitation results in reverse left ventricular and left atrial remodeling. Eur J Cardiothorac Surg 2005; 27: 1011-6.
[6] Dor V, Saab M, Coste P, Lornaszewska M, Montiglio F.
Left ventricular aneurysm: a new surgical approach. Thorac
Cardiovasc Surg 1989; 37: 11-7.
503
medtropole | Ausgabe Januar 2008
Heimbeatmung
– einfach nur Beatmung zu Hause?
Dr. Martin Bachmann
Die Zahl der Patienten, die in häuslicher Umgebung eine Beatmungstherapie durchführen, stieg in den vergangenen Jahren deutlich, daher
werden niedergelassene Haus- und Fachärzte wie auch Krankenhausärzte
immer häufiger mit dieser Therapieform konfrontiert.
Die Heimbeatmung ist eine inzwischen gut
etablierte Therapieform, die am häufigsten
bei Patienten mit COPD, ausgeprägter Adipositas oder neuromuskulären Erkrankungen eingesetzt wird. Ihre konsequente
Anwendung führt meist zu einer Lebensverlängerung und Steigerung der Lebensqualität. Bei richtiger Indikationsstellung
und guter Betreuung lassen sich schwerwiegende Komplikationen der Grunderkrankungen verhindern.
Heimbeatmung kann über zwei Wege
erfolgen: den häufig angewandten „nicht
invasiven Zugang“, meist mit einer Nasenoder Mund-Nasenmaske, oder den „invasiven Zugang“ über eine Trachealkanüle.
Der nicht invasive Zugang ist unkomplizierter, für den Patienten angenehmer und
komplikationsärmer. In der Regel führen
die Patienten die nicht invasive Heimbeatmung selbstständig oder mithilfe ihrer
Angehörigen durch.
504
Wesentliche Heimbeatmungsindikation ist
die symptomatische, chronisch ventilatorische Insuffizienz (CVI). Sie ist durch eine
CO2-Erhöhung (Hyperkapnie) zunächst
während des Schlafes, später auch während des Wachzustands, gekennzeichnet.
Die Erkrankungsbilder, für die eine Heimbeatmung infrage kommt, sind vielfältig
und entstammen verschiedenen Fachgebieten (Tab. 1).
Die Indikation für eine Beatmungstherapie
richtet sich nach zugrunde liegenden Erkrankungen, klinischer Beschwerdesymptomatik und den Ergebnissen der Funktionsuntersuchungen. Entscheidend für
den Therapiebeginn ist die subjektive
Beeinträchtigung durch beispielsweise
Ruhedyspnoe, Tagesmüdigkeit mit Einschlafneigung und morgendliche Kopfschmerzen. Zur Diagnostik gehören Blutgasanalysen am Tag und in der Nacht,
nächtliche Pulsoxymetrie und Kapnometrie
sowie schlafmedizinische Untersuchungen
wie Polygraphie und Polysomnographie.
Ein weiterer diagnostischer Baustein ist
die Lungenfunktion mit Atemmuskelfunktionstestung, Messung des maximalen
Hustenstoßes (PCF) und der maximal insufflierbaren Kapazität (MIC). Ist Beatmung
indiziert, werden die Patienten unter stationären Bedingungen zunächst tagsüber
an ein Heimbeatmungsgerät gewöhnt.
Bei guter Toleranz der Beatmung kann anschließend die nächtliche Beatmung beginnen. Angestrebt wird die kontrollierte oder
assistiert-kontollierte Beamtung, die eine
möglichst vollständige Entlastung der
Atemmuskulatur (Atempumpe) gewährleistet. Patient und Angehörige erlernen
während des stationären Aufenthalts die
selbstständige Handhabung der Maske
und des Geräts.
Etwa 20 – 30 Prozent langzeitbeatmeter
Patienten auf Intensivstationen mit schwieriger Entwöhnbarkeit vom Beatmungsgerät
(„schwieriges oder prolongiertes Weaning“)
Lungenheilkunde
Heimbeatmeter Patient
■ COPD / Lungenemphysem
■ Brustwanderkrankungen, wie z. B.
– Kyphoskoliose
– Folgezustände nach Thorakoplastik bei Tbc
■ Neuromuskuläre Erkrankungen, wie z. B.
– Muskeldystrophie Duchenne
– Spinale Muskelatrophie
– Amyotrophe Lateralsklerose
– Myotone Dystrophie Curschmann Steinert
■ Obesitas-Hypoventilationssyndrom
■ Hohe Querschnittslähmung
mit Beeinträchtigung der Zwerchfellaktivität
■ Zwerchfellparese verschiedener Ursachen
Tab. 1: Erkrankungen, die zur chronisch ventilatorischen
Abb. 1: Versorgungskonzept Beatmungszentrum
Insuffizienz führen können
Hamburg-Harburg
benötigen eine Heimbeatmungstherapie,
um dauerhaft stabil zu bleiben. Daher sollte bei diesen Patienten die Notwendigkeit
einer langfristig erforderlichen Heimbeatmung abgeklärt werden.
immer zwischen häuslicher Umgebung
und stationärer Krankenhausaufnahme
mit Behandlung auf einer peripheren Beatmungsstation oder Intensivstation. Dafür
muss ein umfassendes Netzwerk mit allen
Versorgungsmöglichkeiten, Ansprechpartnern, Notfallversorgungskonzepten und
spezifischen Aufnahme- und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (Abb.
2). Kompetente Beatmungsmediziner des
betreuenden Beatmungszentrums müssen
für Patienten und betreuende Hausärzte
kurzfristig erreichbar sein. Daneben kann
eine Spezialsprechstunde für tracheotomierte und nicht-tracheotomierte, heimbeatmete Patienten wie im Beatmungszentrum Hamburg-Harburg die Kooperation
zwischen ambulanter und stationärer Versorgung erleichtern. Niedergelassene Fachärzte für Innere Medizin/Pneumologie
oder Neurologie können hier Patienten mit
der Frage der Einleitung einer Heimbeatmungstherapie oder Heimbeatmungsproblemen ambulant vorstellen oder überwei-
Gelingt die Entwöhnung von der invasiven
Beatmung auch in einem spezialisierten
Zentrum nicht, muss die Beatmung langfristig über ein Tracheostoma als invasive
Heimbeatmung weitergeführt werden.
Dies ist deutlich aufwendiger und erfordert eine umfassende Weiterversorgung,
die dezidiert geplant und koordiniert werden muss. Abhängig davon, ob der Patient
in die häusliche Umgebung oder in eine
Betreuungseinrichtung entlassen wird,
müssen ein kompetenter Pflegedienst organisiert, Angehörige oder betreuende Pflegekräfte bezüglich der Beatmungsmodalitäten geschult und eingewiesen werden.
Heimbeatmete Patienten sind schwer kranke Patienten. Sie bewegen sich potenziell
Abb. 2: Beatmungszentrum Hamburg-Harburg
sen. In Kooperation mit den niedergelassenen Kollegen wird so eine Rundumversorgung gewährleistet, die medizinische
Aspekte der Versorgung sowie die Lebensqualität der Patienten berücksichtigt und
sie mit ihrer Heimbeatmung zu Hause
nicht allein lässt.
Kontakt
Dr. Martin Bachmann
Lungenabteilung
Oberarzt, Leiter des Beamtungszentrums
Hamburg-Harburg
Asklepios Klinik Harburg
Eißendorfer Pferdeweg 52
21075 Hamburg
Tel. (0 40) 18 18-86 22 41
Fax (0 40) 18 18-86 33 22
E-Mail: [email protected]
505
medtropole | Ausgabe Januar 2008
ADHS im Erwachsenenalter
Dipl.-Psych. Karina Günther
Kennzeichnend für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) sind verminderte Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.[4] Früher wurde ADHS mit den minimalen zerebralen Dysfunktionen
gleichgesetzt. Darunter wurden die Symptome der ADHS und die der Teilleistungsschwächen gefasst. Erstmals als eigenständiges Krankheitsbild abgegrenzt wurde die ADHS im ICD-9 (1978) und im DSM-III (1980), wobei
der DSM-III dem Persistieren von Symptomen bis ins Erwachsenenalter mit
der Bezeichnung „Attention Defizit Disorder Residual Type“ Rechnung trug.
Mit einer Prävalenz von 5 – 9 Prozent ist
die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung die häufigste kinderpsychiatrische Störung. Bis Ende der 1990er-Jahre
wurde sie in Deutschland nur im Kindesund Jugendalter diagnostiziert. Im Erwachsenenalter liegt die Prävalenzrate bei 1 – 6
Prozent, wobei Männer drei Mal häufiger
betroffen sind als Frauen. Man geht heute
davon aus, dass keine Erstmanifestationen
im Erwachsenenalter auftreten, sondern
dass die Symptome über die Adoleszenz
hinaus bestehen bleiben. Bei bis zu 2/3 der
betroffenen Kinder treten auch im Erwachsenenalter Störungen auf.[1]
Symptomatik
Patienten im Erwachsenenalter werden
meist wegen depressiver Verstimmungen
vorstellig, Angstproblematiken oder der
Sorge, den Überblick über ihr Leben zu
verlieren. Meist wird eine ausgeprägte
Selbstwertproblematik mit Depressionen
und psychosomatischen Symptomen sichtbar. Aufgrund fehlender motorischer Unruhe können diese Symptome dem Bereich
der Persönlichkeitsstörungen zugeordnet
werden, sodass unter Umständen eine adäquate Behandlung ausbleibt.[1] Allerdings
sind die Zusammenhänge zwischen ADHS
und Persönlichkeitsstörungen (vor allem
der Dissozialen und der Borderline-Persönlichkeitsstörung) noch nicht hinreichend
geklärt. Als wichtige Merkmale gelten
506
abnorme Ausmaße an Unaufmerksamkeit,
Überaktivität und Impulsivität – und zwar
über die Zeit stabil und situationsübergreifend.[3] Hauptmerkmal der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung ist die
geringe Aufmerksamkeitsspanne auch im
Erwachsenenalter. Häufig treten kurze
Lernzeiten auf, sodass Schwierigkeiten bei
alltäglichen Tätigkeiten deutlich werden,
wie dem Anhören von Vorträgen oder
beim Zeitungslesen. Die leichte Ablenkbarkeit kann Arbeitsstörungen auslösen. Da die
Betroffenen häufig stark auf die Störquellen
fokussieren, kann eine Vermeidung von
Reizüberflutung in fast allen Lebensbereichen die Folge sein. Die sozialen Rückzugstendenzen können fälschlich zur Diagnose
einer sozialen Phobie führen.
Die Störung der motorischen Aktivität bzw.
Überaktivität ist ein weiteres Kennzeichen
der ADHS. Sie ist im Erwachsenenalter
weniger sichtbar. Betroffene haben aber
Probleme, wenn sie länger sitzen bleiben
müssen; zeigen generell Entspannungsprobleme. Als Ausgleich zu sitzenden
Tätigkeiten treiben sie häufig mehrfach
pro Woche Sport.
Die Desorganisation der Betroffenen kann
sich in der Unordnung aufgrund fehlender
Selbststrukturierung zeigen. Diese fällt
wegen der ständig wechselnden Inhalte
der Aufmerksamkeitsfokussierung und
damit einhergehender fehlender Selbstkon-
trolle schwer. Die chaotische Organisation
kann vermehrt Selbstwertzweifel hervorrufen. Bei hyper-, aber auch hypoaktiven
Menschen scheint die negative Selbsteinschätzung sogar an der Tagesordnung zu
sein. Eigene Leistungen werden selten als
positiv gewertet, häufig erleben sie sich als
vermindert leistungsfähig, was in einer
Destabilisierung des Selbstwertgefühls
münden kann.
Die Störung der Impulskontrolle kann
sich auf verschiedenen Ebenen zeigen.
Kennzeichnend hierfür ist die Neigung zu
unüberlegtem Handeln, ohne die Konsequenzen abzuschätzen. Betroffene scheinen
sich häufiger motorische Aktivitäten zu
suchen, ohne die Risiken abzuschätzen.
Außerdem zeigt sich eine aggressive
Impulsivität in Stresssituationen, die im
Widerspruch zu der möglichen Fürsorglichkeit in Entspannungssituationen zu
stehen scheint. Die Scheidungsrate ist im
Vergleich zur Allgemeinbevölkerung höher
(28 % vs. 15 %).[1]
Diagnostik
Die Erstdiagnose einer ADHS im Erwachsenenalter ist wegen des jahrelangen Anpassungsprozesses an die Symptomatik
meist schwierig. Im ersten Schritt sollte ein
semistrukturiertes Interview erfolgen, in
dem die aktuellen Beschwerden exploriert
werden. Daten über Familienangehörige
Psychiatrie
sollten erfragt werden, da eine genetische
Disposition als wahrscheinlich gilt. Des
Weiteren ist eine Kindheitsanamnese erforderlich, da für die Diagnose ADHS gezeigt
werden muss, dass typische Symptome
bereits im Kindesalter auftraten und bis ins
Erwachsenenalter persistieren. Dabei helfen fremdanamnestische Daten von Eltern
oder Lehrern. Sind diese nicht verfügbar,
können Beurteilungen aus Schulzeugnissen
wichtige Hinweise liefern. Weiterhin werden Selbstbeurteilungsskalen und testpsychologische Untersuchungen für die Diagnostik herangezogen. Sie kommen zur
Erfassung des Arbeitsverhaltens und der
individuellen Möglichkeiten der Betroffenen zum Einsatz. Hauptaugenmerk sollte
dabei auf der geteilten Aufmerksamkeit
und der Dauerbelastbarkeit bei subjektiv
als langweilig erlebten Situationen liegen.[1]
Zur Abgrenzung oder Bestätigung einer
Komorbidität können die parallele Anwendung beispielsweise von SKID-II und
DIB-R (Diagnostisches Interview für das
Borderline-Syndrom) erforderlich sein.
Behandlungsmöglichkeiten
Bei der ADHS-Therapie sollten verschiedene Elemente verknüpft werden (multimodales Therapiekonzept). Dies kann Psychoedukation, medikamentöse Behandlung,
Psychotherapie, Arbeit mit Bezugspersonen, Selbsthilfegruppen und Therapie bei
komorbiden Störungen beinhalten.[4]
Störungen im Katecholaminhaushalt und
möglicherweise auch im Serotoninhaushalt
werden als eine Ursache der ADHS angesehen. Methylphenidat ist neben dem Kindes- und Jugendalter auch bei Erwachsenen
das Mittel der ersten Wahl. In Deutschland
ist es noch nicht für die Indikation im Erwachsenenalter zugelassen (off-label-use).
Die empfohlene Tagesdosis liegt bei 20 –
30 mg/Tag auf 2 – 3 Dosen verteilt, unter
Umständen sind 80 mg/Tag erforderlich.[5]
Atomoxetin als selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmer erwies sich als
wirksam bezüglich der Reduktion von
Impulsivität, motorischer Unruhe und der
Verbesserung der Aufmerksamkeit. Bei
Jugendlichen/Erwachsenen über 70 kg
Körpergewicht liegt die empfohlene
Anfangsdosis bei 40 mg/Tag, die nach
mindestens drei Tagen auf 80 mg/Tag
erhöht werden darf.[2]
Grundsätzlich sollte die Verordnung von
Psychopharmaka nicht ohne eine Psychotherapie stattfinden.
Psychotherapie kann notwendig werden,
da im dritten Lebensjahrzehnt die Kompensationsmechanismen nachzulassen
scheinen, sodass die Betroffenen den
Alltag als belastender erleben. Aus den
Unzulänglichkeitsgefühlen kann sich eine
anhaltende depressive Verstimmung entwickeln, die Anlass geben kann, sich in
Psychotherapie zu begeben. In der Verhaltenstherapie stehen die Anleitung zum
Selbstmanagement und die Förderung der
Selbstkognition auch in Verbindung mit
geeigneter Medikation im Vordergrund.
Bei bestehender Selbstwertproblematik
könnte eine ausschließlich verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie nicht
ausreichend sein. Erstes Ziel der psychoanalytisch interaktionellen Methode ist die
Unterstützung der Betroffenen bei der Entwicklung eines Arbeitsbündnisses. Durch
die Interaktion mit dem Therapeuten erfahren sie eine Wertschätzung der eigenen
Person, die zu einem stabileren Selbstwertgefühl beitragen kann. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie stehen
die Beziehungs- und Entwicklungsangebote
eines Therapeuten im Vordergrund, der die
unbefriedigt gebliebenen Entwicklungsbedürfnisse empathisch anerkennt und den
Auf- und Ausbau einer Welt ohne bedrohliche Erfahrungen unterstützt.[3] Durch
Einbeziehung der Partner in die Therapie
werden die Bemühungen des Angehörigen
gewürdigt. Das Aufdecken der Kommunikationsmuster kann wieder Verständnis für
den anderen schaffen. Gemeinsam lassen
sich strukturelle Veränderungen der Alltagsroutine planen.[1]
In vielen Fällen ist eine ambulante Psychotherapie ausreichend. Sind hingegen die
sozialen Bezüge bereits weggebrochen, ist
eine Suizidalität ambulant nicht beherrschbar, ist die Symptomatik besonders ausgeprägt und ein kontinuierliches Aufsuchen
einer Praxis nicht mehr möglich, dann sollte eine stationäre Behandlung beginnen.
Unsere Station für „Junge Erwachsene“
verfügt für Patienten mit der dargestellten
Problematik über gezielte therapeutische
Angebote.
Literatur
[1] Krause J, Krause KH. ADHS im Erwachsenenalter.
Stuttgart: Schattauer 2005.
[2] Sevecke K, Battel S, Dittmann R, Lehmkuhl G, Döpfner
M. Wirksamkeit von Atomoxetin bei Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen mit ADHS. Eine systematische Übersicht. Nervenarzt 2005; 77: 294-308.
[3] Streeck-Fischer A. „Neglekt“ bei der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störung. Psychotherapeut
2006; 51: 80-90.
[4] ADHS bei Erwachsenen. Sichtweisen und Empfehlungen. Firma Lilly.
[5] Rote Liste. Arzneimittelverzeichnis für Deutschland
(2007). Rote Liste Service GmbH Frankfurt/Main.
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Dipl.-Psych. Karina Günther
Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll
Station Psy 46
Langenhorner Chaussee 560
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507
Medtropole | Ausgabe Januar 2008
Personalia
Asklepios Klinik Harburg: Neuer Chefarzt der Abteilung
für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin
Asklepios Klinik Wandsbek:
Neuer Chefarzt der II. Medizinischen Abteilung
Seit dem 1. Januar 2008 leitet Priv.-Doz. Dr. Thoralf Kerner die
Abteilung für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an
der Asklepios Klinik Harburg. Kerner wurde 1966 in Berlin geboren, studierte Humanmedizin an der Freien Universität Berlin und
absolvierte seine Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie an
der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am
Campus Virchow-Klinikum der Charité. Er wurde 2000 Oberarzt
der Klinik, habilitierte 2003 und war dort zuletzt Mitglied der
erweiterten Klinikleitung. Kerners wissenschaftliche Schwerpunkte liegen in den Bereichen Trauma, Kreislaufregulation, Immunsystem und Notfallmedizin. Er erwarb u. a. die Zusatzbezeichnung
für Ärztliches Qualitätsmanagement und war in der Gruppe der
leitenden Notärzte Berlins aktiv. Kerner ist verheiratet und Vater
von zwei Töchtern. In der Asklepios Klinik Harburg wird Kerner
mit seinem Team die Bereiche Kinderanästhesie, Regionalanästhesie und OP-Management weiterentwickeln.
Am 1. Januar 2008 übernahm Prof. Dr. Ulrich Treichel als Nachfolger von Prof. Dr. Michael Otte die Leitung der II. Medizinischen
Abteilung in der Asklepios Klinik Wandsbek. Treichel wurde in
Mülheim an der Ruhr geboren, ist verheiratet und Vater von fünf
Kindern. Er studierte Humanmedizin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und promovierte dort zu einem Thema über
die zellbiologische Funktion der Leberzellmembran. Die Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin und zum Gastroenterologen absolvierte Treichel an der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik im Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
unter Prof. Meyer zum Büschenfelde. Zwischenzeitlich war er als
DFG-Stipendiat am Liver Research Center, AECOM in New York
und habilitierte sich anschließend in Mainz mit einem Thema zur
immunologischen Erkennung der Leberzellmembran. 1998 wechselte Treichel als leitender Oberarzt an die Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie des Universitätsklinikums Essen.
Anfang 2006 übernahm er von Dr. Volker Cautius die Leitung der
Klinik für Innere Medizin am Dominikus-Krankenhaus in Düsseldorf. Treichels wissenschaftliche Schwerpunkte liegen im Bereich
der experimentellen und klinischen Hepatologie, insbesondere der
chronischen Hepatitis und im Bereich der interventionellen Endoskopie. Er ist Mitglied mehrerer nationaler und internationaler
Fachgesellschaften und der Arzneimittelkommission der Bundesärzteschaft. In der Asklepios Klinik Wandsbek wird Treichel mit
seinem Team die Schwerpunkte chronisch entzündlicher Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und der Leber sowie die interventionelle Endoskopie weiterentwickeln. Besonders wichtig ist
ihm die Fortentwicklung der interdisziplinären Viszeralmedizin
einschließlich des Tumorschwerpunktes. Dabei legt er besonderen
Wert auf zielorientiertes, persönlich verbindliches Arbeiten.
Kontakt
Priv.-Doz. Dr. Thoralf Kerner
Kontakt
Abteilung für Anästhesiologie und
operative Intensivmedizin
Asklepios Klinik Harburg
Eißendorfer Pferdeweg 52
21075 Hamburg
Prof. Dr. Ulrich Treichel
Tel. (0 40) 18 18-86 25 01
Fax (0 40) 18 18-86 30 73
Tel. (0 40) 18 18-83 12 56
Fax (0 40) 18 18-83 16 30
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508
II. Medizinische Abteilung
Asklepios Klinik Wandsbek
Alphonsstraße 14, 22043 Hamburg
Molekulargenetik
Hereditäre Thrombophiliediathesen
Dr. rer. nat. Thomas Brodegger
Die Gerinnung ist ein komplexes, multifaktorielles Ereignis, dem ein Gleichgewicht zwischen koagulatorischen
und anti-koagulatorischen Faktoren zugrunde liegt. Die Störung dieses Hämostasesystems kann zum einen
Blutungsneigung steigern, zum anderen das Risiko erhöhen, einem thromboembolischen Ereignis zu erliegen.
Die Ursachen für eine Störung des Hämostasesystems können hereditären Ursprungs sein oder durch andere
Krankheiten, wie z. B. Karzinom, erworben sein.
Hereditäre Thromboserisiken
Die beiden häufigsten genetischen Veränderungen, die zu einer Risikoerhöhung
eines thromboembolischen Ereignisses führen, sind die Faktor V Leiden-Mutation mit
einer Prävalenz in der europäischen Bevölkerung von etwa 5 – 7 % und die Prothrombinmutation (2 – 3 %). [1] Bei weiteren Proteinen mit geringerer Prävalenz bei den
genetischen Varianten wurden ebenfalls
pathologisch relevante Mutationen nachgewiesen. Tab. 1 zeigt eine Übersicht der
bedeutendsten hereditären Risikofaktoren
für Thrombosen.
reduziert. Die häufigste genetische Veränderung repräsentiert die Faktor V LeidenMutation.[4] Die Punktmutation bewirkt
einen Aminosäureaustausch an Position
506 von Arginin zu Glutamin, wodurch
diese Spaltungsstelle zerstört wird und der
FVa nicht mehr ausreichend inaktiviert
werden kann. Abb. 1 zeigt die Struktur des
Faktor V mit der von der Mutation betroffenen Aminosäure Arg506 (blau). Neben
der Faktor V Leiden-Mutation sind weitere
Punktmutationen beschrieben (z. B. FV
Cambridge, FV Hong Kong), die aufgrund
ihrer geringen Prävalenz aber eine untergeordnete Rolle spielen.
Faktor V
Prothrombin
Der Faktor V (FV) spielt sowohl im koagulatorischen als auch im anti-koagulatorischen Gerinnungsprozess eine Rolle. In
seiner aktiven Form (FVa) dient er im koagulatorischen System als Co-Faktor des
aktivierten Faktor X (FXa) im Prothrombinasekomplex, der die Konversion des Prothrombins zu Thrombin katalysiert. Die
Aktivität des FVa wird durch die proteolytische Spaltung an drei Arginin-Aminosäureresten an Position 306, 506 und 679 durch
das aktivierte Protein C (aPC) drastisch
Prothrombin ist die Vorstufe des Thrombins (Faktor IIa), einem Vitamin K-abhängigen Faktor im Gerinnungssystem, der
die Umwandlung des Fibrinogens zu
Fibrin katalysiert und somit pro-koagulatorisch wirkt. Die Mutation im ProthrombinGen (G20210A) umfasst eine definierte
Punktmutation von Guanin zu Adenin an
Position 20210 im 3’-untranslatierten
Bereich des Gens, die somit nicht die Aminosäuresequenz des Proteins beeinflusst.[5]
Ihre Auswirkung liegt wahrscheinlich in
einer effektiveren Katalyse der Prozessierung, die in einer Anhäufung von mRNA
und einer Steigerung der Proteinbiosynthese resultiert, was zu einem erhöhten Prothrombinspiegel führt.[1]
Protein C, Protein S, Antithrombin
Im Gegensatz zu den Punktmutationen im
Faktor V- und im Prothrombin-Gen sind die
Veränderungen in den Genen für Protein
C, Protein S und Antithrombin, bei denen
eine entsprechende Familien- und Eigenanamnese vorliegen, sehr viel heterogener
verteilt und die Prävalenz der einzelnen
Mutation deutlich geringer. Die Diversität
der Mutationen stellt die molekulargenetische Diagnostik vor Herausforderungen in
der Testung und der Interpretation der
Ergebnisse. Da eine unbekannte Veränderung vorliegen kann, muss das gesamte
Gen analysiert werden. Hierfür steht beispielsweise die Sequenziertechnik zur Verfügung. Sie ist in der Lage, die meisten
Mutationen zu detektieren, derzeit allerdings noch relativ teuer und aufwendig.
Wird eine genetische Veränderung erkannt,
muss die pathologische Relevanz geklärt
werden. Nicht jede Veränderung führt
automatisch zu einer Beeinträchtigung des
509
medtropole | Ausgabe Januar 2008
a
b
Abb. 1: Faktor V-Proteinstruktur mit den proteolytischen Spaltungsstellen für das aktivierte Protein C Arginin 306
Abb. 3: Teststreifen zur Diagnostik der Faktor V Leiden-
und 679 (grün) sowie bei dem Faktor V Leiden verändertem Arginin 506 (blau). (a) Proteinoberfläche;
Mutation und der Prothrombin-Genmutation (G20210A).
(b) Tertiärstruktur (Strukturdaten aus Brookhaven-Datenbank, 1y61.pdb).
Linker Streifen: kein Faktor V Leiden, heterezygote
Mutation für das Prothrombin-Gen. Rechter Streifen:
heterozygote Mutation für Faktor V Leiden, keine
Prothrombin-Genmutation.
Abkürzungen: WT = Wildtyp, Mut = Mutation
FV = Faktor V, FVL = Faktor V Leiden, FII = Faktor II
(Prothrombin), KK = Konjugatkontrolle,
AK = Amplifikationskontrolle
Proteins. Während ein Aminosäureaustausch durch eine Mutation an einer
bestimmten Position des Proteins fatale
Auswirkungen haben kann, ist der Austausch an einer anderen Position der Aminosäurekette unter Umständen unproblematisch. Wie wirken sich beispielsweise
kleine „in frame“-Deletionen oder -Insertionen auf die Funktionalität des Proteins
aus?
Sind die Veränderungen bisher noch nicht
untersucht, kann es schwierig sein, die
Auswirkungen zu prognostizieren, sodass
eine Unsicherheit in der Relevanz der
gefundenen genetischen Veränderung
besteht.
Methylentetrahydrofolatreduktase
(MTHFR)
Ein erhöhter Homocysteinspiegel im Plasma gilt als unabhängiger Risikofaktor für
venöse [6] sowie arterielle Thrombosen.
Ursachen können erworbene Hyperhomocysteinämien durch Mangel an Vitamin B6,
Vitamin B12 oder Folsäure sein, aber auch
genetische Ursachen sind in der Diskussion. Eine Mutation, die mit einem erhöhten Homocysteinspiegel assoziiert wurde,
510
ist die C677T-Mutation im MTHFR-Gen.
Neuere Daten konnten aber keinerlei
Zusammenhang zwischen dieser Mutation
und einer Hyperhomocysteinämie herstellen.
Neben den aufgeführten Faktoren haben
auch weitere genetische Faktoren einen
Einfluss auf das Thromboserisiko. Im
Gegensatz zu Mutationen/Polymorphismen, die eine Erhöhung des Risikos bedeuten, stehen weiterhin auch Veränderungen
wie beim Faktor XIII-Gen im Fokus, die
eine Schutzfunktion ausüben könnten. [7]
Diagnostik
Die Mutationsuntersuchungen auf Faktor
V Leiden und im Prothrombin-Gen sind im
Zuge eines individualisierten Screenings
angesiedelt (Abb. 2). Für das Prothrombin
ist kein funktioneller Test in der Routinediagnostik verfügbar, daher kann stattdessen die genetische Testung als geeignete
Methode eingesetzt werden. Für die aPCResistenz sind funktionelle Tests in Gebrauch (aPTT-Methoden), die Hinweise auf
eine pathologische aPC-Resistenz zulassen.
Die molekulargenetische Testung auf Faktor V Leiden kann hier unterstützend wir-
ken. Denn obwohl moderne Funktionstests
gut zwischen pathologischen und normalen Werten diskriminieren können, konnte
bei pathologisch auffälligen Proben in den
Funktionstests nicht immer zuverlässig auf
eine heterozygote bzw. homozygote Trägerschaft der Mutation geschlossen werden.
Die molekulargenetische Testung schafft in
diesen Fällen Klarheit (Abb. 3).
Weiter kann der molekulargenetische Testansatz für Familienuntersuchungen herangezogen werden, um bei einem Patienten
mit Mutation eine Trägerschaft innerhalb
der Familie aufzuklären. Hierbei sind
jedoch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik zu beachten. [9]
Die molekulargenetische Untersuchung auf
Veränderungen in den Genen für Protein C
und S sowie im Antithrombin-Gen ist bisher lediglich in Einzelfällen sinnvoll, da
das Kosten-Nutzen-Verhältnis mit der derzeitigen Diagnostik noch nicht ausgewogen ist und die Aussagekraft in Bezug auf
die Pathogenität sehr eingeschränkt sein
kann. Hierfür stehen funktionelle Tests zur
Verfügung, die eine thromboembolische
Risikoeinschätzung erlauben.
Molekulargenetik
[3]
Protein S-Mangel
[3]
Antithrombinmangel [3]
Defekt
aPC-Resistenz
(modifiziert nach [2])
Prothrombin-Genmutation
(modifiziert nach [2])
Protein C-Mangel
Mutationstyp
Punktmutation G1691A
(R506Q)
Punktmutation
G20210A
verschiedene Mutationen
verschiedene Mutationen
verschiedene Mutationen
Prävalenz
(Normalbevölkerung)
het: 5 – 7 %
hom: 0,02 – 0,1 %
2–3%
0,2 – 0,5 %
0,1 – 1 %
0,02 – 0,04 %
Prävalenz
(Thrombosepatient)
het: 20 – 30 %
hom: 3 %
4 – 10 %
2–5%
1–3%
1–2%
Risikoerhöhung
für Thrombosen
het: 3 – 7fach
hom: 80-fach
het: 2 – 3-fach
het: 6 – 10-fach
hom: nicht lebensfähig
het: 2-fach
hom: nicht lebensfähig
het: 5-fach
hom: nicht lebensfähig
(außer HeparinBindungsvariante)
het = heterozygote Mutation: ein Allel unverändert, ein Allel trägt die Mutation
hom = homozygote Mutation: beide Allel tragen die Mutation
Tab. 1: Angeborene Thromboserisiken und deren Prävalenz in der kaukasischen Bevölkerung
Literatur
[1] Zivelin A, Mor-Cohen R, Kovalsky V et al. Prothrombin
20210G>A is an ancestral prothrombotic mutation that
occurred in whites approximately 24000 years ago. Blood
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[2] Hach-Wunderle V, Müller MM, Pabinger J, Seifried E.
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Abb. 2: Auszug des Algorithmus einer rationellen Thrombophiliediagnostik (Willeke, DÄ 1999).[8]
Thromb J 2006; 4: 15-31.
Die Therapieoptionen sind nicht dargestellt.
[4] Bertina RM, Koeleman BP, Koster T et al. Mutation in
blood coagulation factor V associated with resistance to
activated protein C. Nature 1994; 369: 64-7.
[5] Poort SR, Rosendaal FR, Reitsma PH, Bertina RM. A
common genetic variation in the 3’-untranslated region of
the prothrombin gene is associated with elevated plasma
prothrombin levels and an increase in venous thrombosis.
Blood 1996; 88: 3698-703.
[6] Eichinger S, Stümpflen A, Hirschl M et al. Hyperhomocysteinemia is a risk factor of recurrent venous thrombo-
Kontakt
Dr. rer. nat. Thomas Brodegger
Molekulargenetik
MEDILYS c/o Asklepios Klinik Altona
Paul-Ehrlich-Straße 1
22763 Hamburg
embolism. Thromb Haemost 1998; 80: 566-9.
[7] Cushman M, Cornell A, Folsom AR et al. Association of
Tel. (0 40) 18 18-81 59 74
Fax (0 40) 18 18-81 49 37
the beta-fibrinogen Hae III and factor XIII Val34Leu gene
variants with venous thrombosis. Thromb Res 2007 (im
E-Mail: [email protected]
Druck).
[8] Willeke A, Gerdsen F, Bauersachs RM, Lindhoff-Last E.
Rationelle Thrombophiliediagnostik. Deutsches Ärtzeblatt
1999; 31-32: A2111-A2118.
[9] Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V.
www.gfhev.de/de/leitlinien/index.htm
511
ISSN 1863-8341
Rettender Luft-Sog –
die Geschichte der Eisernen Lunge
Jens O. Bonnet
In der Genesis vollendet der Schöpfer die
Erschaffung Adams, indem er ihm „in
seine Nase Atem des Lebens hauchte“.[1]
Auch die Mund-zu-Mund-Beatmung zur
Reanimation von Kindern wird im alten
Testament mehrfach erwähnt.[2,3]
Technische Hilfsmittel zur Beatmung
kamen vermehrt im 18. Jahrhundert zum
Einsatz. So empfahl 1782 die Royal Humane Society in England den Gebrauch von
Blasebalgen als effektivstes Mittel zur
künstlichen Beatmung [4], der Franzose
François Chaussier propagierte 1791 die
Sauerstoffgabe und 1806 die Larynx-Intubation.[5] Die Kritik des Franzosen Leroy
D’Etailles 1829 und weiterer Ärzte an der
mangelhaften Regulierbarkeit des Luftstromes ließ die Blasebalgbeatmung um 1837
aus der Mode kommen.[4] Probleme wie
häufige Überblähungen oder gar Magenrupturen nach nasopharyngealer Intubation und Beatmung ließen die Forscher
nach Alternativen suchen. Als besonders
erfolgreich und schonend erwiesen sich
schließlich Unterdruckkammern, die den
Patienten von außen bei der Atmung
unterstützten und weder Intubation noch
Sedierung des Patienten erforderten. Dabei
lag der Patient mit dem gesamten Körper
oder nur dem Rumpf in einem Hohlzylinder, der Kopf blieb außerhalb des Zylinders. Rhythmische Druckschwankungen
im Zylinder bewegten den Thorax des
Patienten passiv mit und imitierten so die
normale Atemtätigkeit: Zur Inspiration
wurde ein Unterdruck im Zylinder aufgebaut, zur Expiration ein Überdruck. Nach
diesem Prinzip entwickelte der schottische
Arzt John Dalziel bereits 1832 eine Anlage
zur Beatmung ertrunkener Seeleute, die als
erster Tank-Respirator gilt.[6] 1876 präsentierte Eugène Joseph Woillez in Paris die
röhrenförmige und über einen Hebel angetriebene „Spirophore“ zur Behandlung der
www.medtropole.de
Links: Untersuchung eines Polio-Patienten in der Eisernen Lunge während der Epidemie auf Rhode Island 1960
(Foto: CDC) Rechts: Geöffnete Eiserne Lunge aus den 1950er Jahren (Foto: CDC/GHO/Mary Hilpertshauser)
Asphyxie.[6] Nach dem Tod seines neugeborenen Sohnes aufgrund von Atemproblemen beschäftigte sich sogar der Erfinder
des Telefons, Alexander Graham Bell, mit
diesem Thema und entwarf 1881 eine
eiserne Vakuumjacke zur Erleichterung der
Atmung.[7] Den Durchbruch für die künstliche Beatmung brachten schließlich 1928
der Chemie-Ingenieur Philip Drinker und
der Pädiater Charles F. McKhann mit dem
erfolgreichen Einsatz des „Drinker-Respirators“ bei der Langzeitbeatmung eines
Poliomyelitispatienten.[8] Das später als
„Eiserne Lunge“ bekannte Gerät war für
kleine Kinder ebenso geeignet wie für
Erwachsene mit einer Länge von bis zu
zwei Metern und einem Gewicht von bis
zu 110 Kilogramm. Beatmungsparameter
wie Atemfrequenz und -volumen ließen
sich einstellen, der Gummikragen um den
Hals ermöglichte eine gute Abdichtung der
Druckkammer bei höchstmöglichem Komfort für den Patienten, zur Pflege und
Untersuchung ließ sich das Bett aus der
Druckkammer herausziehen.[8] Eiserne
Lungen kamen vor allem bei Polio-Patienten zum Einsatz, von denen viele die
Atemunterstützung nur in der Akutphase
benötigten. Einige Patienten benutzten die
Maschine nur über Nacht, andere über
lange Zeit. In Leipzig gab es in den 1950erJahren sogar eine ganze Station mit Eisernen Lungen. Die Polio-Impfung und neue
Beatmungstechniken ließen die Eiserne
Lunge beinahe aus dem medizinischen
Repertoire verschwinden, die Produktion
wurde 1970 eingestellt, Wartung und Ersatzteilversorgung 2004. Doch noch immer
leben in den USA rund 40 Überlebende der
Polioepidemie in Eisernen Lungen, so wie
Dianne Odell aus Jackson. Odell erkrankte
mit drei Jahren an Poliomyelitis und ist seit
58 Jahren rund um die Uhr auf ihre Eiserne
Lunge angewiesen, die im Haus ihrer
Eltern steht.[9]
Literatur
[1] Gen 2, 7
[2] 1 Kön 17, 8-24
[3] 2 Kön 4, 18-37
[4] Keith A. The mechanism underlying the various
methods of artificial respiration. Lancet 1909; 1: 745-9
[5] Stofft H. La mort apparente du nouveau-né en 1781 et
en 1806. L'oeuvre de François Chaussier. Hist Sci Med.
1997 Oct-Dec; 31 (3-4): 341-9.
[6] Woollam CH. (1976) The development of apparatus for
intermittent negative pressure respiration (1) 1832-1918.
Anaesthesia. 1976; 31 (4): 537-47.
[7] Baskett TF. Alexander Graham Bell and the vacuum
jacket for assisted respiration. Resuscitation. 2004; 63 (2):
115-7.
[8] Drinker P, McKhann CF. The use of a new apparatus for
the prolonged administration of artificial respiration: I. A
fatal case of poliomyelitis. JAMA. 1929; 92 (20): 1658-60.
[9] http://www.wthfoundation.org
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