med tropole Nr. 12 Januar 2008 DIAGNOSTIK bei Schulterverletzungen HEIMBEATMUNG – einfach nur Beatmung zu Hause? ADHS im Erwachsenenalter Aktuelles aus der Klinik für einweisende Ärzte Editorial Impressum Liebe Leserinnen und Leser, Redaktion Jens Oliver Bonnet (verantw.) PD Dr. Oliver Detsch Dr. Birger Dulz PD Dr. Siegbert Faiss Dr. Christian Frerker Dr. Annette Hager PD Dr. Werner Hofmann Dr. Susanne Huggett Prof. Dr. Uwe Kehler Prof. Dr. Lutz Lachenmayer Dr. Jürgen Madert Dr. Ursula Scholz PD Dr. Karl Wagner Prof. Dr. Gerd Witte Cornelia Wolf Herausgeber Asklepios Kliniken Hamburg GmbH Pressestelle Rudi Schmidt V. i. S. d. P. Friedrichsberger Straße 56 22081 Hamburg Tel.: (0 40) 18 18-84 20 08 Fax: (0 40) 18 18-84 20 46 E-Mail: [email protected] Auflage: 15.000 Erscheinungsweise: 4 x jährlich ISSN 1863-8341 das Titelbild der aktuellen medtropole gibt Rätsel auf, jedenfalls demjenigen, der nicht mit den Darstellungsformen der Molekulargenetik vertraut ist: Wir sehen den Faktor V als Proteinstruktur in der sogenannten tertiären Darstellung. Der Artikel über Hereditäre Thromboserisiken klärt noch mehr auf. Rätseln kann man auch über das aus der Luftfahrt in die Medizin übernommene Akronym CIRS. Critical Incident Reporting System ist eine Form der Weiterentwicklung von Qualitätsmanagement und interessiert am praktischen „Beinahe-Katastrophen-Ausgang“ eines Ereignisses, das beobachtet wird, aber nicht zum Schadensfall wurde und aus dem nun Ableitungen getroffen werden sollen, die seinen Eintritt künftig verhindern werden. Nun ist alles gesagt – oder? Nein, das Hauptproblem ist: Wer traut sich einer Instanz innerhalb eines Unternehmens ein solch kritisches Ereignis zu berichten, ohne persönliche Nachteile oder andere negative Konsequenzen zu fürchten? Die Kulturentwicklung, insbesondere die Entwicklung einer „Fehlerkultur“, hat auch bei allen anderen Unternehmungen lange gedauert, wie man aus der Luftfahrt und auch Autoindustrie weiß. Bisher gibt es in den Asklepios Kliniken Hamburg nur wenige Pionierprojekte, das soll sich ändern. Also fangen wir damit an! Angefangen haben wir aber auch mit der konsequenten Diagnostik und Behandlung von Schulterverletzungen, einem komplizierten Fachgebiet der Orthopäden und Chirurgen, sowie mit der Laserbehandlung des Harnblasenkarzinoms. Besonders ausführlich möchten wir über die Trigeminusneuralgie informieren, eine Erkrankung die doch viel häufiger ist, als gemeinhin angenommen. Dieses Heft wendet sich dann einer ganzen Reihe von Sonderthemen zu, zu denen Kardiologie, Herzchirurgie und Pneumologie gehören, wie auch ein Einblick in die Medizingeschichte: Die „Eiserne Lunge“; da fragt man sich, wie lange ist das eigentlich her und welche Erkrankungen wurden durch ihren Einsatz gelindert und behandelt? (Man kann nur hoffen, dass die Impfmüdigkeit nachlässt und solche Ungetüme nie mehr zum Einsatz kommen müssen.) Ein gutes neues Jahr wünsche ich und verbleibe mit kollegialen Empfehlungen Dr. med. Jörg Weidenhammer Inhalt 484 | RECHT Doppelt hält doch nicht besser! Klinisches Risikomanagement 487 | UROLOGIE Laserbehandlung beim oberflächlichen Harnblasenkarzinom des alten Patienten 489 | UNFALLCHIRURGIE Diagnostik bei Schulterverletzungen S. 489 492 | NEUROCHIRURGIE Die klassische Trigeminusneuralgie – Klinik, Diagnostik, Therapie 497 | KARDIOLOGIE Katheterablation ventrikulärer Tachykardien 500 | HERZCHIRURGIE Das chirurgische Vorgehen bei akuten und chronischen Herzinfarktfolgen 504 | LUNGENHEILKUNDE Heimbeatmung – einfach nur Beatmung zu Hause? S. 504 506 | PSYCHIATRIE ADHS im Erwachsenenalter 508 | PERSONALIA Priv.-Doz. Dr. med. Thoralf Kerner Prof. Dr. Ulrich Treichel 509 | MOLEKULARGENETIK Hereditäre Thrombophiliediathesen 512 | GESCHICHTE DER MEDIZIN Rettender Luft-Sog – Die Geschichte der Eisernen Lunge S. 509 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Doppelt hält doch nicht besser! Klinisches Risikomanagement Dr. jur. Cornelia Süfke Patientensicherheit rückt in den Fokus: Zog im Gesundheitswesen noch bis vor einem Jahrzehnt praktisch niemand die Parallelität zu Luft- und Raumfahrt, Kernkraft oder Petrochemie als „ultrasafe industries“, wird dieser Vergleich heute im Zusammenhang mit der Patientensicherheit immer häufiger bemüht. Seit den frühen 90er-Jahren beschäftigten sich wissenschaftliche Studien zunehmend mit den erheblichen medizinischen und wirtschaftlichen Auswirkungen vermeidbarer Medizinfehler.[1] Bahnbrechend und meistzitiert war 1999 der Report des angesehenen „Institute of Medicine“ der National Academy of Science.[2] Sie hatte sich zur Aufgabe gemacht, dem Thema Qualität klinischer Prozesse zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. „To Err Is Human. Building a Safer Health System“ erschien als umfassende Analyse und sorgte für deutliche Aufregung. Das Erschrecken über die Ergebnisse war auch bei nüchternster Würdigung nicht zu übersehen. Rechnet man zum Beispiel die konservativste Studie zur Fehlerhäufigkeit in der Krankenversorgung in den Staaten Colorado und Utah hoch, ist davon auszugehen, dass in den USA pro Jahr 44.000 Patienten an den Folgen fehlerhafter Prozesse sterben – mehr als an Verkehrsunfällen, Brustkrebs oder Aids. Auch in Deutschland wird das Thema zunehmend enttabuisiert und sachlich angegangen, verlässliche Zahlen zu den 484 bundesweiten Behandlungsfehlervorwürfen gibt es allerdings noch nicht. Nach der Statistik der Bundesärztekammer (BÄK) aus 2006 wandten sich 10.000 Patienten mit einem Verdacht auf Behandlungsfehler an die Gutachter- und Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Bei knapp einem Viertel stellten die Gutachter tatsächliche Fehler in der Behandlung oder Aufklärung fest, im weit überwiegenden Teil der Anspruchsanmeldungen wurde also keine Fehlbehandlung bestätigt. Dabei wurden in Krankenhäusern nahezu doppelt so viele Fehler nachgewiesen wie in Arztpraxen: Die BÄK-Statistik zeigt 1.336 Fehler in Krankenhäusern im Gegensatz zu 657 Fehlern bei Niedergelassenen auf. Betrachtet man die Gründe für die bisherige Zunahme von Haftungsansprüchen, geht der Fortschritt in der Medizin einher mit dem sogenannten Haftungsfortschritt. Die Gerichte entwickelten die Patientenrechte weiter und unterstützt durch die zielgerichtete Informationsvielfalt der Medien werden Misserfolge im Heilungsverlauf zunehmend weniger als schicksalhaft akzeptiert. Notausgang klinisches Risikomanagement Nicht zuletzt veranlasst durch steigende Versicherungsprämien und drohende oder bereits erfolgte Kündigungen von Haftpflichtverträgen durch die Versicherer betreiben Krankenhäuser bundesweit zunehmend klinisches Risikomanagement. Ziel ist, Risiken zu begrenzen und damit in dem beherrschbaren Segment Patientensicherheit Kosten in die Vermeidung von Risiken zu steuern. Damit wird das Risikomanagement als Treiber erachtet, der nachvollziehbare Akzeptanz bei den Beteiligten im immer stärker bürokratisierten Klinikalltag schaffen soll. Konkret betrachtet werden Strukturen und Arbeitsabläufe im Blickwinkel früherer Schäden oder Beinaheschäden. Um dem Ganzen eine Systematik zu geben, werden terminologisch fein säuberlich „unerwünschte Ereignisse“ von „Behandlungsschäden“ und „vermeidbaren Behandlungsfehlern“, also vorwerfbaren Behandlungsfehlern unterschieden. Tatsächlich geht es darum, Schwachstellen, die zu Haftungsansprüchen führen könnten, sichtbar zu machen und zu benennen. Recht Abb. 1: Eisbergmodell In Modellanalysen wird von Stufe zu Stufe vom Faktor 10 ausgegangen, d. h. einem Schadensfall sollen 10 Beinahe-Schäden, 100 kritische Ereignisse und 1.000 Regelverletzungen und Störungen vorausgehen (in Anlehnung an: A. Möllemann, M. Eberlein-Gonska, T. Koch, M. Hübler (2005) Klinisches Risikomanagement, Implementierung eines anonymen Fehlermeldesystems in der Anästhesie eines Universitätsklinikums. Der Anaesthesist 4 : 377-384) Klinisches Risikomanagement bedeutet daher juristische Qualitätssicherung (was ist rechtlich vorgegeben?). Die direkte Einflussnahme auf die klinischen Prozesse soll die Patientensicherheit stärken und auch die Mitarbeitersicherheit steigern, da diese vor zivil- und strafrechtlichen Verfahren geschützt bleiben. Wer Fehler vermeiden will, muss wissen wo sie gemacht werden Die Asklepios Kliniken in Hamburg verfügen über eine umfangreiche Accessgestützte Datenbank, in der alle berechtigten und unberechtigten Behandlungsfehlervorwürfe, unterschieden nach Abteilungen und einzelnen Kategorisierungen des Vorwurfes, erfasst werden. Nachdem in den vergangenen Jahren 35 Audits, also externe Prüfungen einzelner High-Risk-Abteilungen von der Aufnahme bis zur Entlassung durchgeführt wurden, erfuhr die Thematik eine zunehmende Durchdringung. Da es sich bei Arzthaftungsrisiken um „long-tailRisiken“ handelt, die auch noch deutlich nach dem eigentlichen Eingriff geltend gemacht werden können, ist die Messbar- keit der durchgeführten Risikomanagement-Maßnahmen vorsichtig zu beurteilen. Angesichts des bisherigen Schadensverlaufes der jüngsten Vergangenheit lässt sich jedoch ableiten, dass bestimmte Präventionsmaßnahmen ihre Wirkung gezeigt haben. So wurde die Patientendokumentation in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. Bot in der Vergangenheit die Lückenhaftigkeit der klinischen Dokumentation häufig Angriffsfläche für Patientenanwälte, hat die Einführung von TEMPA® diese deutlich verbessert. In den Asklepios Kliniken Hamburg wurde seit 2004 die einheitliche, berufsgruppenübergreifende Patientendokumentation eingeführt. TEMPA® ist die Kurzbezeichnung für „Teamorientierte Multiprofessionelle Patientendokumentation“ und eine eingetragene Marke der Asklepios Kliniken Hamburg GmbH. TEMPA® bedeutet einen Informationsgewinn auch über die Risikolage und damit eine Reduktion von Behandlungsfehlerquellen. Auch die Akzeptanz, sich aktiv mit stattgehabten Schadenssituationen zu konfrontieren und – wenn dies auch inzwischen etwas abgegriffen klingen mag – aus den Fehlern zu lernen, ist gestiegen. Auch um das Risikomanagement effektiv und passgenau in die Kliniken zu transportieren, sind die Asklepios Kliniken Hamburg als Company Mitglied des 2005 gegründeten Aktionsbündnisses Patientensicherheit e. V. (APS). Gründungsmitglieder sind zum Beispiel die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Deutsche Ärztekammer und die Gesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung (GQMG). Das APS hat eine gemeinsame Plattform zur Verbesserung der Patientensicherheit in Deutschland aufgebaut. Die fachlich kompetent erarbeiteten Empfehlungen des APS werden im klinischen Risikomanagement der Hamburger Asklepios Kliniken zunehmend genutzt. Bisher stehen die von uns jüngst übertragene Empfehlung zur Vermeidung von Eingriffsverwechslungen (falsche Seite/falscher Patient), zur Einführung von Critical Incident Reporting Syste- 485 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Abb. 2: Schweizer-Käse-Modell einer typischen Fehlerkette im Vorfeld eines Zwischenfalls nach JT. Reason, Human Error, 1990 Grafik modifiziert: R. Heuzeroth men (CIRS) in Krankenhäusern und zur Medikationssicherheit zur Verfügung. Lernsystem CIRS Als ein Baustein im Risikomanagement ist im Hausarztbereich das Fehlerberichtssystem für Hausärzte des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt/ Main zu nennen. Unter dem Motto „Jeder Fehler zählt!“ können Hausärzte über ihre Praxisgrenzen hinweg über eigene Fehler anonym berichten und diese kommentieren lassen.[3] Analog dazu gibt es für viele Facharztgruppen ein Online-Portal der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.[4] Auch in den Asklepios Kliniken Hamburg gibt es bereits Abteilungen, die seit Jahren diesen Ansatz der Auswertung von Beinahe-Fehlern führen und damit Schäden aus denselben Fehlerquellen weitestgehend vermeiden konnten. So blickt die Geburtshilfe in der Asklepios Klinik Nord auf Erfahrungen seit dem Jahr 2000 zurück.[5] Fazit Kontakt Für die Weiterentwicklung von CIRS bedarf es eines hohen Vertrauensschutzes. Hier geht es um die Abkehr von der blame culture hin zur safety culture. Nicht WER, sondern WAS hat zu den Beinahe-Schäden geführt, soll die entscheidende Frage sein. Die Arbeit mit einer Beinahefehleranalyse im wirtschaftlichen und Patientenschutzinteresse geht also einher mit einem grundlegenden Kulturwechsel. Hier bleibt noch viel zu tun. Vergleicht man aber das Fehlerbewusstsein in der Medizin mit dem in der Anwaltschaft oder unter Architekten, lässt sich zusammenfassend sagen, dass sich dieses allen Unkenrufen zum Trotz deutlich entwickelt hat. Dr. jur. Cornelia Süfke Asklepios Kliniken Hamburg GmbH Interner Versicherungsfonds (IVF) Hohenfelder Str. 13 22087 Hamburg Tel. (0 40) 41 26 30-0 Fax (0 40) 41 26 30-29 E-Mail: [email protected] Literatur [1] Brennan TA, Leape LL, Laird NM, et. al. Incidents of adverse events and negligence in hospitalized patients: results of the Harvard Medival Practice study. NEngl J Med 1991; 324: 370-6. [2] Kohn LT. Errors in health care: A leading cause of death and injury. In: Kohn KT, Corrigan JM, Donaldson MS (eds). To err is human. National Academy Press Washington/DC 1999: 26-48. [3] www.jeder-fehler-zaehlt.de [4] www.kbv.de [5] vgl. Bericht vom Ltd. Arzt Dr. Scheele und Risikoberaterin Sabine Kraft in Frauenarzt 2007; 48 (3): 6. 486 Urologie Laserbehandlung beim oberflächlichen Harnblasenkarzinom des alten Patienten Prof. Dr. Andreas Gross, Dr. Thorsten Bach Mehr als andere Disziplinen ist die Urologie mit dem demografischen Wandel in der Bevölkerung konfrontiert. Lag in urologischen Hauptabteilungen bereits früher das Durchschnittsalter der Patienten bei über 60 Jahren, so sind heute regelmäßig 20 Prozent der Behandelten über 80 Jahre. Es liegt in der Natur der Sache, dass ältere Patienten neben ihren urologischen Problemen eine Reihe nicht-urologischer Begleiterkrankungen haben, die den behandelnden Arzt zwingen, Wege jenseits von Leitlinien oder Empfehlungen der Fachgesellschaft zu gehen. Zum Beispiel bei der Therapie oberflächlicher Harnblasenkarzinome: Mehr als 80 Prozent der Harnblasenkarzinome sind oberflächlich. Als Goldstandard in der Therapie hat sich die transurethrale mono- oder bipolare Resektion bewährt. In unserer Abteilung bieten wir zusätzlich die vorherige Instillation photodynamischer Diagnostika an, um schlecht sichtbare Tumoren oder ein Carcinoma in situ erkennbar zu machen. Leider neigen Harnblasentumoren in einem sehr hohen Prozentsatz zu Rezidiven. Zudem kann es zu einer Verschlechterung im Grading kommen, weswegen invasivere Maßnahmen als eine transurethrale Resektion erforderlich sein können. Folgender Patient ist nun für den Urologen eine besondere Herausforderung: Betagter Mensch mit erheblichen Begleiterkrankun- gen und somit deutlich erhöhtem OP-Risiko, bei dem ein oberflächlicher Harnblasentumor als Rezidiv auftritt. Für einen solchen Patienten käme außer der lokalen Entfernung des Tumors keine alternative Behandlung infrage, sodass ein Shift im Grading keine Konsequenzen hätte. Es geht also allein um die Entfernung des Tumors und damit um die Behebung der Begleitprobleme des Tumors, also im Wesentlichen um Hämaturie. Diese Patientengruppe sehen wir in unserer Abteilung sehr regelmäßig: Im Rahmen der Kontrollzystoskopie nach vorherigem oberflächlichen Harnblasenkarzinom (pTaG1) wird ein papilläres, exophytisch wachsendes Rezidiv gesehen. Es sollten weniger als drei Läsionen sein, keine davon größer als drei Zentimeter. Die Patienten erhalten zusätzlich zu einer Sedoanalgesie ein Lokalanästhetikum (2 % Lidocain). Die Zystoskopie wird mit einem flexiblen Instrument durchgeführt, durch das problemlos der Laserstrahl eines RevoLix® Lasers (Thulium:YAG) über eine 600 µm Quarz-Faser appliziert werden kann. Die eingesetzte Leistung beträgt zehn Watt. Als Irrigationsflüssigkeit wird bei diesem Laser, genau wie bei der Behandlung der benignen Prostatahyperplasie mit dem RevoLix®, Kochsalzlösung eingesetzt. Damit gibt es kein Risiko eines TUR-Syndroms, was in der oben beschriebenen Patientengruppe besonders gefürchtet ist. Zunächst wird mit der Biopsiezange eine Gewebeprobe entnommen, die zur histologischen Bestätigung dient. Größere Tumorteile können gewonnen werden, indem der Stiel des Exophyten mit dem Laser abgetrennt wird. Dieses Material lässt sich zusätzlich zur histologischen Evaluation nutzen. Tumorgrund und -ränder werden bis zur lamina muscularis vaporisiert. Da der RevoLix®Laser eine sehr geringe Eindringtiefe von etwa 200 µm hat, ist die Gefahr einer Perforation praktisch nicht gegeben. Nach abschließender Kontrolle auf Bluttrockenheit wird ein Einmalkatheter eingelegt, über den zur Rezidivprophylaxe 40 mg Mitomycin instilliert werden können. Soweit möglich sollten die Patienten das Chemotherapeutikum für 90 Minuten in 487 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Oberflächliches Harnblasenkarzinom der Harnblase belassen. Danach können sie Wasser lassen. Nach weiteren 90 Minuten ist der gesamte Vorgang beendet. Je nach Befinden und/oder sozialer Situation des Patienten kann er nun entlassen werden oder zur weiteren Beobachtung auf der Station bleiben. Die Nachsorge erfolgt analog der anderen Patienten mit diesem Krankheitsbild. Bei Auftreten eines Rezidivs kommt – aus gleichen Gründen wie oben – wieder der Laser zum Einsatz. 488 Fazit Wir betrachten die Laserbehandlung des oberflächlichen Harnblasenkarzinoms als die bestmögliche Behandlung solcher Patienten, bei denen lediglich ein Kompromissverfahren möglich ist. Gleichwohl liegen Berichte anderer Gruppen vor, die die Indikation für dieses minimal invasive Vorgehen bereits sehr viel weiter stellen. Kontakt Prof. Dr. Andreas Gross, Dr. Thorsten Bach Abteilung für Urologie Asklepios Klinik Barmbek Rübenkamp 220 22291 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-82 98 21 Fax (0 40) 18 18-82 98 29 E-Mail: [email protected] Unfallchirurgie Diagnostik bei Schulterverletzungen Dr. Ralf Gütschow Frakturen und Weichteilverletzungen des Schultergürtels gehören zu den häufigsten Folgen von Verkehrs-, Freizeit- und Sportunfällen. Verletzungen am Schultergürtel können unmittelbare sowie im weiteren Verlauf posttraumatische Beschwerden nach sich ziehen und sind zudem von degenerativen Vorschäden und Beschwerden abzugrenzen. Sie können sowohl die Knochen, den ligamentären Halteapparat als auch muskuläre (z. B. Rotatorenmanschette) oder aber neurovaskuläre Strukturen betreffen. Prinzipiell gelten für die Behandlung akuter, posttraumatischer oder degenerativer Veränderungen vergleichbare Behandlungsgrundsätze. Für die Diagnosestellung hingegen lassen sich aus rein pragmatischen Gründen Unterschiede in der Vorgehensweise ableiten. Während bei chronischen und posttraumatischen Folgezuständen eine Vielzahl funktioneller Testungen und spezieller nativradiologischer Untersuchungen neben einer strukturierten Anamneseerhebung zur Diagnose führen können, stehen beim Akutverletzten die teils erhebliche Schmerzsymptomatik und die Funktionsbeeinträchtigung im Vordergrund. Das kann die klinischen und radiologischen Möglichkeiten der Diagnostik erheblich einschränken. Neben der strukturierten Erhebung der Unfallanamnese und des Unfallherganges sowie der klinischen Untersuchung dient der gezielte Einsatz bildgebender Verfahren der Diagnosesicherung wie auch der Therapieplanung. In der Praxis ist die korrekte Durchführung der möglichen und intraoperativ reproduzierbaren Standarduntersuchungen daher trotz verletzungsbedingter Einschränkungen anzustreben. Frakturen des proximalen Oberarms [1,2,4,6] Um die wichtigen anatomischen Strukturen wie Humeruskopf, -schaft, Tubercula und Pfannenrand ausreichend darzustellen und eine Luxation auszuschließen, sollte bei jedem Patienten möglichst ein Bild in zwei besser drei Ebenen erstellt werden. Bei proximalen Oberarmfrakturen hängen Prognose und Versorgungsart vom Dislokationsgrad der vier „Neer-Fragmente“ (Schaft, Kopf, Tuberculum minus et majus) ab, sodass diese exakt zu eruieren sind. 1. Echte a.p.-Aufnahme (true-a.-p.- oder Grashey-Aufnahme): Hier wird der Patient so positioniert, dass seine unverletzte Seite um etwa 30 – 40° nach vorn gedreht ist (Abb. 1), um eine möglichst überlagerungsfreie Aufnahme des Glenoid und des Gelenkspaltes zu erhalten. Der Strahlengang ist dabei gering absteigend. Um die Zentrierung des Kopfes besser beurteilen zu können, sollten die Aufnahmen mit hängendem, nicht unterstütztem Arm (Abstand Humeruskopf/ Acromion) in neutraler oder leichter Außenrotationstellung (Tuberculum-majusBeurteilung) erfolgen (Abb. 2). Abb.1: Technik True-a.-p.-Aufnahme 2. Y-Aufnahme (axiale, laterale oder transscapuläre Aufnahme oder supraspinatusoutlet-view): Der Patient wird so vor den Röntgenfilm gedreht, dass die Längsachse des Schulterblattes parallel zum Strahlengang verläuft (Abb. 3). Der Strahlengang ist dabei um 10 – 20° abwärts gesenkt. Spina scapula, oberer und unterer Anteil des Scapulablattes bilden ein Zielkreuz für den Humeruskopf, sodass Luxationsfehlstellungen (Abb. 4) gut zu erkennen sind. Außerdem lässt sich die knöcherne Begrenzung des Supraspinatus-Kanals (Abb. 5) abgrenzen. 3. Transaxilläre Aufnahme (axiale Aufnahme): Sie kann bei liegendem als auch sitzendem Patienten angefertigt werden (Abb. 6). Dargestellt wird der Humeruskopf umgeben von Gelenkpfanne, Acromion und Coracoid. Besonders gut sind vorderer und hinterer Pfannenrand sowie das Tuberculum minus zu erkennen (Abb. 7). 4. Velpeauprojektion (Abb. 4): Lässt sich der Arm wegen eines GilchristVerbandes oder Schmerzen nicht abduzieren, kann ersatzweise die Projektion nach 489 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Abb. 2: Röntgen-Bild True-a.-p.-Aufnahme Abb. 3: Technik Y-Aufnahme Abb. 4: Velpeau-Aufnahme Velpeau durchgeführt werden.[1] Hier lehnt sich der sitzende Patient mit angelegtem Oberarm etwas zurück, damit der schräg sagittal laufende Röntgenstrahl die Pfanne möglichst tangential trifft. Mit diesen Aufnahmen lassen sich auch intraoperativ bei sogenannter Beachchairlagerung (entspricht Velpeau) die oben genannten Strukturen gut darstellen. nahme) und der transaxillären Aufnahme ausmachen. Schultergelenkluxation Claviculafrakturen machen etwa zehn Prozent aller Knochenbrüche aus und sind die häufigsten Frakturen überhaupt. Über 80 Prozent sind im mittleren Drittel, rund 15 Prozent lateral und fünf Prozent medial lokalisiert. Eine gute Beurteilung ermöglichen die ap- und eine um 45° geneigte tangentiale Aufnahme ergänzt durch die oben beschriebenen Technik nach Velpeau.[1] Mit dieser auch intraoperativ reproduzierbaren Einstellung sollten auch die selteneren lateralen und medialen Frakturen abgebildet werden können. Die Diagnose der Luxation und die Luxationsrichtung erhält man zumeist durch die true-a.-p.- und Y-Aufnahme. Während vordere Luxationen anamnestisch, klinisch und radiologisch gut zu diagnostizieren sind, werden dorsale Verrenkungen (häufig im Krampfanfall) immer wieder übersehen. Vorsicht ist bei fehlender Freiprojektion des glenohumeralen Gelenkspaltes geboten (CT!) Prognostisch wichtig sind Kettenverletzungen des Schultergürtels und Gelenkfrakturen, weswegen hier die Indikation zum CT großzügig gestellt werden sollte. Frakturen der Clavicula[1,4] Frakturen der Scapula[1,4] Scapulafrakturen sind selten und aufgrund der Überlagerung durch Thoraxorgane manchmal schwer zu erkennen. Allerdings lassen sich die relevanten Gelenkverletzungen gut in der „Trauma“-Serie, vor allem in der true-a.-p. (wahre oder Grashey-Auf- 490 Verletzungen des Acromioclaviculargelenkes[1,2] Üblicherweise werden diese Verletzungen nach Tossy oder Rockwood eingeteilt. Dabei wird der zunehmende Abstand der Clavicula vom Acromion bzw. des Coracoi- des von der Clavicula in Abhängigkeit der Anzahl und des Zerstörungsgrades der Bänder zugrunde gelegt.[2] Diagnostiziert wird die vertikale Instabilität durch Belastungsaufnahmen („Wasserträger“). Die herabhängenden Arme werden mit Gewichten belastet (5 – 15 kg), wobei diese möglichst nicht mit den Händen gehalten werden sollten (Schlingen), um eine Kompensation durch die Muskelspannung zu vermeiden. Entscheidend für die OP-Indikation ist jedoch auch die horizontale Instabilität mit Verletzung der DeltoideusFaszie, die am besten mit einer Y-Aufnahme nach Alexander (also mit auf die Schulter der Gegenseite gelegter Hand) zu verifizieren ist.[2] Verletzungen des Sternoclaviculargelenkes[1,4] Bei dieser seltenen Verletzung kann es zu einer ventralen oder dorsalen Luxation kommen, deren nativradiologischer Nachweis nach Rockwood a. p. mit 30 Grad ansteigendem Strahlengang nicht immer gelingt. In der Mehrzahl der Fälle ist für Diagnosestellung und OP-Indikation ein CT erforderlich. Unfallchirurgie Abb. 5: Röntgen-Bild Y-Aufnahme Abb. 6: Technik transaxilläre Aufnahme Traumatische Weichteilverletzungen der Schulter [3,5] Bei frischem Trauma ist eine knöcherne Verletzung mit der „Trauma“-Serie auszuschließen. Die Untersuchung möglicher Weichteilverletzungen im MRT sollte allerdings mit einer klaren Fragestellung in den Schnittebenen paracoronar (senkrecht zum Glenoid), parasagittal (parallel zur Gelenkfläche) sowie axial bis zum Proc. coracoideus erfolgen, insbesondere auch bei Luxationen nach dem 50. Lebensjahr.[2,6] Die Indikation sollte gegebenenfalls mit dem potenziellen Operateur abgesprochen werden. Intraoperative Bildgebung Die intraoperative Erstellung von Röntgenbildern in den üblichen und reproduzierbaren Standardprojektionen ist für die weitere Verlaufsbeurteilung unabdingbar und einzufordern. Mittels Bildwandler erstellte „schöne Bilder“ außerhalb der üblichen und reproduzierbaren Standardprojektionen sind selten zweckdienlich und nur zur Dokumentation einer korrekten Implantatlage hinsichtlich Schrauben-/Bolzenlage und -länge sinnvoll. Abb. 7: Röntgen-Bild transaxilläre Aufnahme Postoperative Bildgebung Kontakt Auch diese sollten wiederum in den beschriebenen Standardprojektionen erfolgen. Bei fraglicher Implantatfehllage oder Fragmentfehlstellung ist in Einzelfällen ein CT erforderlich. Fazit Die Bildgebung bei Verletzungen des Schultergürtels reduziert sich in allen Behandlungsphasen im Prinzip auf wenige Standardaufnahmen. Optimale Einstellung vorausgesetzt, lassen sich damit die komplexe Anatomie und die meisten ossären Verletzungen des Schultergürtels darstellen.[4] Weiterführende Diagnostik mittels moderner Schnittbildverfahren sollte bei bestehender OP-Indikation in Absprache mit dem Operateur erfolgen, um unnötige Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Dr. Ralf Gütschow II. Chirurgische Abteilung – Unfall-, Gefäß- und Wiederherstellungschirurgie Asklepios Klinik Barmbek Rübenkamp 220 22291 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-82 28 21 Fax (0 40) 18 18-82 28 29 E-Mail: [email protected] Literatur [1] Golser K, Resch H. Röntgenabklärung der Schulter einschl. CT. In: Habermeyer P, Schweiberer L. Schulterchirurgie. Urban & Schwarzenberg Verlag 2. Auflage 2002: 83-131. [2] Hedtmann A, Heers G, Heidersdorf S. Bildgebende Verfahren an der Schulter. Arthroskopie 2001; 14: 74-93. [3] Hendricks P, Krahn-Peters V. Verletzungen des Schultergelenks. Trauma Berufskrankh 2001; 4: 512-8. [4] Philipp MO, Philipp-Hauser S, Breitenseher M. Das akute ossäre Trauma des Schultergürtels. Radiologie 2004; 44: 562-8. [5] Rademacher G, Mutze S. Schultergelenkverletzung. Trauma Berufskrankh 2006; 3: 247-52. [6] Zeiler C, Wiedemann E, Brunner U, Mutschler W. Schulterdiagnostik. Trauma Berufskrankh 2003; 5: 108-13. 491 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Die klassische Trigeminusneuralgie – Klinik, Diagnostik, Therapie Prof. Dr. Uwe Kehler, PD Dr. Bernd Eckert, Prof. Dr. Axel Müller-Jensen Die Schmerzen der klassischen Trigeminusneuralgie gehören zu den stärksten für den Menschen vorstellbaren Schmerzen. Auf einer Schmerzskala von 0 bis 10 erreichen sie fast immer die höchste Stufe. Das macht eine fachgerechte und zügige Diagnostik sowie Einleitung einer meist außerordentlich erfolgreichen Therapie notwendig. Klinik, Pathophysiologie und Epidemiologie die Triggerbarkeit sowie die blitzartig einschießenden Schmerzen. Die Trigeminusneuralgie ist gekennzeichnet durch einseitige, blitzartig einschießende Schmerzattacken im Versorgungsgebiet des I. – III. Trigeminusastes (Abb. 1). Die Attacken sind von Sekunden Dauer, treten häufig in Serien auf und können durch Reizung sogenannter Triggerzonen ausgelöst werden (z. B. Berührung, Luftzug, Kauen). Synonym werden Begriffe wie Tic doloreux, typische, essentielle oder idiopathische Trigeminusneuralgie gebraucht. Die Trigeminusneuralgie beginnt in der Regel nicht vor der 4. Lebensdekade, die Häufigkeit steigt mit dem Lebensalter. Die Inzidenz beträgt bei Männern 3,4/100.000, bei Frauen 5,9/100.000 pro Jahr.[1,4] Am häufigsten sind der II. und III. Trigeminusast zusammen betroffen, es folgen der II. und III. Ast jeweils allein. Die Beteiligung des I. Trigeminusastes ist ebenso wie ein beidseitiger Befall so selten, dass an der Diagnose der Trigeminusneuralgie gezweifelt werden muss. Der neurologische Befund erweist sich als regelrecht. Insbesondere lassen sich keine sensiblen Defizite und auch keine zusätzlichen neurologischen Herdsymptome feststellen. ■ ■ ■ ■ essentielle Trigeminusneuralgie typische Trigeminusneuralgie Tic doloreux idiopathische Trigeminusneuralgie Tab. 1: Synonyme der klassischen Trigeminusneuralgie Idiopathisch ist jedoch irreführend, da ursächlich ein Gefäß-Nerv-Konflikt im Übergang zwischen Trigeminusnerven und Brücke vorliegt. Der Gefäß-Nerven-Kontakt führt zu einer umschriebenen Atrophie der Dendroglia/Myelinscheide.[6] Dieser Übergangsbereich ist besonders sensibel. Durch die Atrophie können Impulse von den Fasern, die die Berührungsempfindung weiterleiten, auf die Schmerzfasern überspringen. Diese „Ephapsen“ erklären 492 ■ blitzartige einschießende Schmerzattacken im Versorgungsgebiet des I. – III. Trigeminusastes ■ Attacken von Sekunden Dauer, häufig in Serien auftretend ■ Attacken durch Reizung sog. Triggerzonen auslösbar (z. B. Berührung, Luftzug, Kauen u. a.) ■ kein Dauerschmerz, keine sensiblen Ausfälle, keine zusätzlichen neurologischen Herdsymptome Tab. 2: Klinische Symptomatologie der klassischen Trigeminusneuralgie Differentialdiagnostisch ist die Trigeminusneuralgie von der Trigeminusneuropathie unterschiedlicher Ätiologie, vom atypischen Gesichtsschmerz sowie dem seltenen SUNCT-Syndrom (short-lasting unilateral neuralgiform headache attacks with conjunctival injection, tearing, sweating and rhinorrhoea) abzugrenzen. ■ Trigeminusneuropathie ■ Multiple Sklerose (MS) ■ Raumforderung/Tumor der hinteren und mittleren Schädelgrube ■ vaskuläre und/oder entzündliche Erkrankungen (vaskulär-diabetisch, Kollagenosen, Zoster, Borreliose, Sarkoidose, Lepra) ■ atypischer Gesichtsschmerz (z. B. Kiefergelenkserkrankung, Karies etc.) ■ SUNCT-Syndrom (selten): short-lasting unilateral neuralgiform headache attacks with conjunctival injection, tearing, sweating and rhinorrhoea Tab. 3: Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie Neurochirurgie Abb. 1 – Schmerzausbreitung der Trigeminusneuralgie: Abb. 2 – MRT: T2-Dünnschicht, Trigeminusneurinom 1. Ast: Stirn und Nasenrücken (schmaler Pfeil), li. am Übergang zum Ganglion Gasseri, 2. Ast: Oberkieferbereich Gefäß-Nerven-Kontakt (breiter Pfeil) 3. Ast: Unterkieferbereich Bildgebende Diagnostik Die Differentialdiagnose zwischen klassischer und symptomatischer Trigeminusneuralgie wird durch bildmorphologische Befunde gestützt, die vor allem mit der Kernspintomographie erhoben werden. Organische Ursachen einer symptomatischen Trigeminusneuralgie sind mit einem kompletten MRT-Untersuchungsprotokoll ■ MRT: Cerebrum: T2 transversal, sagittal, Diffusionswichtung KHBW: T1-/+ KM transversal CISS oder T2-Dünnschicht (1 mm) transversal evtl. coronar (KHBW = Kleinhirnbrückenwinkel) ■ ggfs CCT: Knöcherne Läsion, Tumorverkalkung ■ ggfs. Angiographie: Gefäßmalformation, Aneurysma, Tumorvaskularisation, Prä-OP Embolisation Tab. 4: Neuroradiologische Bildgebung bei der Trigeminusneuralgie mit sehr großer Sicherheit zu erkennen. Die Ausschlussdiagnostik dient in erster Linie der Erfassung von Tumoren im Kleinhirnbrückenwinkel (häufig: Meningeome des Ligamentum petrosellare, Neurinome), entzündlichen Prozessen (ganz überwiegend Multiple Sklerose) sowie malignen Grunderkrankungen (Schädelbasistumore, Metastasen, Meningeosis carcinomatosa). Die bildgebende Diagnostik muss den gesamten pontinen Abschnitt des Trigeminuskerngebietes, das arachnoidale Kompartiment des Nervus trigeminus, das Ganglion Gasseri im Cavum Meckeli sowie die peripheren Äste im Verlauf des Sinus cavernosus vollständig erfassen. Zur Darstellung des arachnoidalen Verlaufes vom Hirnstamm bis zum Ganglion Gasseri eignen sich dünnschichtige Sequenzen, die einen sehr hohen Kontrast zwischen den Hirnnerven und dem umgebenden Arachnoidalraum herstellen (T2Dünnschicht – 0,9 bis 1 mm – Abb. 2) oder eine 3-D-Gradientenechosequenz, CISSSequenz (Constructive Interference in Steady State, rekonstruierte Schichtdicke 0,8 mm). Auch die Auffaserung des N. trigeminus im Ganglion Gasseri lässt sich in den dünnschichtigen Sequenzen gut erfassen. Die Sequenzen besitzen eine sehr hohe Sensitivität zur Erfassung raumfordernder Prozesse. Eine meningeale Anreicherung sowohl im Niveau der Arachnoidea als auch in der Dura mater ist nur in der kontrastmittelgestützten Sequenz zu erkennen und vor allem zur Erfassung einer Meningeosis carcinomatosa/leucaemica oder einer granulomatösen Meningitis unverzichtbar. Bei der DD von Raumforderungen im Kleinhirnbrückenwinkel kann eine Diffusions- Abb. 3a – Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie: Epidermoid – MRT oben: T1 nach KM, Asymmetrie mit erweitertem linken KHBW (Kleinhirnbrückenwinkel), keine KM-Anreicherung, kein erkennbarer Tumor; unten: Diffusionswichtung, Diffusionsstörung im linken KHBW: Pathognomonischer Befund für ein Epidermoid 493 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Abb. 3b – Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie: Epidermoid – MRT Abb. 4 – Differentialdiagnose der Trigeminusneuralgie: Schädelbasistumor – Sarkom – links: T2 Dünnschicht transversal, der re. N. Trigeminus gut abgrenzbar, der li. Trigeminus links MRT: T1 fettgesättigt nach KM, KM anreichernder Tumor in der rechten wird durch das nahezu liquorisointense Epidermoid verlagert; Felsenbeinspitze mit Hirnstammkompression am Austrittspunkt des re. Trigeminus rechts: T2 Dünnschicht coronar, der li. Trigeminus (Pfeil) wird durch das Epidermoid nach und Infiltration der temporalen Dura cranial verdrängt rechts CCT: Maligne Knochendestruktion im Felsenbein und Os temporale re. sowie im Clivus wichtung sehr hilfreich sein. Eine hier lokalisierte Diffusionsstörung ist pathognomonisch für ein Epidermoid insbesondere in der Abgrenzung von einer Arachnoidalzyste (Abb. 3a, b). Eine umschriebene Anreicherung im N. trigeminus ohne Raumforderung entspricht dem Befund einer Neuritis und ist nur gelegentlich als Hyperintensität in der T2-Wichtung zu erkennen. Sehr viel häufiger ist der Nachweis von Demyelinisierungsherden im Hirnstamm bei einer Multiplen Sklerose. Bei knochendestruierenden Prozessen oder Tumoren, die in die Schädelbasis einwachsen, ist die Computertomographie eine unverzichtbare Zusatzmethode, um das Ausmaß der Knochendestruktion oder eine Tumormatrix ausreichend darzustellen. Die Morphologie der Destruktion ist darüber hinaus ein wichtiges differentialdiagnostisches Kriterium (Abb. 4). Der Kontakt zwischen dem Trigeminusaustrittspunkt und einem Gefäß, vor allem der A. cerebelli superior, ist ein häufiger Befund, der allein keine pathogene Bedeutung besitzt (Abb. 2). Gefäß-Nerven-Kontakte zeigen sich abhängig von der technischen Qualität der Untersuchung bei jeder vierten gesunden Kontrollperson. Insbesondere bei älteren Patienten mit einer hypertensiven Makrovaskulopathie sieht man häufig eine Elongation der A. basilaris mit direktem Kontakt zum N. trigeminus, ohne dass dies Symptome auslösen würde. Nur in Verbindung mit der Symptomatik einer klassischen Trigeminusneuralgie ist 494 ermöglichen. Generell ist eine Monotherapie zu bevorzugen in Verbindung mit konsequenter Aufsättigung. Umsetzen oder Kombination sollte erst bei Refraktärität erwogen werden. Es gilt, die niedrigste noch wirksame Dosis zu finden. Eine Dosisreduktion sollte in der Regel erst nach vier bis sechs Wochen Schmerzfreiheit versucht werden. der Nachweis eines Gefäß-Nerven-Kontaktes diagnostisch zu werten und bei der Indikation zur operativen Therapie zu berücksichtigen. Medikamentöse Therapie In der Regel sollte zunächst ein Therapieversuch mit Carbamazepin in einschleichender Dosierung unternommen werden.[2] Wegen weniger Interaktionen könnte auch Oxcarbazepin primär Verwendung finden, welches in einem Verhältnis 1,5:1 zum Carbamazepin steht. Vor allem bei älteren Pa-tienten ist hier aber eine gelegentlich auftretende Hyponatriämie als Nebenwirkung zu berücksichtigen. Bei therapierefraktären Schmerzen ist eine add-on-Therapie mit Lamotrigin oder Gabapentin indiziert. In der letzten Zeit hat sich – auch bereits in der Monotherapie – Pregabalin in einer bereits effektiven Anfangsdosierung von 2 x 75 mg/d bei guter Verträglichkeit bewährt. Phenytoin kann parenteral bei Schluckunfähigkeit wertvoll sein. Bei anhaltenden Schmerzsalven im Akutfall kann hier 250 mg Phenytoin i. v. in 20 Minuten einen Durchbruch ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■ Carbamazepin Oxcarbazepin Lamotrigin Gabapentin Pregabalin Phenytoin Capsaicin – – – – – – – 600 – 1.500 mg 600 – 2.400 mg 100 – 400 mg 900 – 3.600 mg 150 – 600 mg 100 – 400 mg 0,03 % Flüssigkeit lokal ➔ ➔ ➔ ➔ ➔ ➔ ➔ Operative Verfahren Nach Versagen oder Unverträglichkeit der konservativen Therapie, aber auch bei berufsbedingten Bedenken gegen die medikamentöse Therapie (z. B. bei Kraftfahrern) ist an eine operative Therapie zu denken. Bevorzugt wird meist die kausale, nicht destruktive mikrovaskuläre Dekompres■ typische Trigeminusneuralgie ■ Ausschluss anderer Ursachen (z. B. Kleinhirnbrückenwinkeltumoren) ■ Pharmakoresistenz oder – Unverträglichkeit ■ vertretbares Narkoserisiko Tab. 6: Indikationen zur Jannetta-Operation 75 % Effektivität weniger Interaktionen langsam aufdosieren (Exanthem) gute Verträglichkeit gute Verträglichkeit i. v. Gabe möglich Brennen als initiale Nebenwirkung Tab. 5: Medikamentöse Therapie der Trigeminusneuralgie Neurochirurgie Foramen ovale ★ Abb. 5: Schema der Punktion des Ganglion Gasseri (★). Die Nadel wird etwa 2 – 3 cm lateral des Mundwinkels eingestochen und durch die Wange zur Schädelbasis und hier durch das Foramen ovale vorgeschoben. Diese Punktionstechnik wird für alle perkutanen Verfahren (Thermoläsion, Glycerolinjektion und Ballonkompression) angewandt. sion nach Jannetta (Tab. 6). Alle perkutanen Verfahren sind destruktive Verfahren. Im Einzelfall muss eine individuelle Therapie in Abhängigkeit von Alter, Begleiterkrankungen und Patientenwunsch (z. B. Angst vor Schädeleröffnung) gesucht werden. Die häufigsten Verfahren sind die Thermoläsion des Ganglion Gasseri und die mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta. Thermoläsion des Ganglion Gasseri Die Schmerzfasern (Aδ- und C-Fasern) haben nur eine dünne bzw. gar keine Myelinschicht. Damit sollen sie gegenüber einer Erhitzung viel anfälliger sein als Fasern mit einer dickeren Myelinschicht. Tatsächlich kommt es bei einer Erhitzung auf 65 – 70 °C aber zu einer Schädigung praktisch aller Fasern, wobei die Entfernung zur Nadelspitze eine Rolle spielen dürfte. So sind nach einer Thermoläsion neben der Schmerzfreiheit doch auch gewisse Gefühlstörungen in Kauf zu nehmen. Technik: 2 – 3 cm lateral des Mundwinkels wird eine Thermosonde eingeführt und unter Röntgen-Bildwandler-Kontrolle durch das Foramen ovale bis zur Trigeminuswurzel geschoben (Abb. 5). Die exakte Position wird durch Stimulation beim wachen Patienten so lange variiert, bis eine Reizung genau in dem schmerzhaften Gesichtsbereich gelingt. Unter einer Kurznarkose wird dann die Nadelspitze auf 65 – 70 °C für eine Minute erhitzt.[9] Ist die Stimulationsstärke zum Erzielen eines Schmerzes verdreifacht oder bereits eine Analgesie im lädierten Bereich vorhanden, wird die Thermoläsion beendet und die Nadel entfernt. Der Patient kann in der Regel 1 – 2 Tage später die Klinik verlassen. Die Erfolgsquote liegt bei über 90 Prozent, zum Teil werden auch sehr günstige Langzeitergebnisse mit 80 Prozent nach zehn Jahren angegeben. Bei einem Rezidiv kann die Thermoläsion wiederholt werden. Auch einige atypische Trigeminusneuralgien können mit den perkutanen Verfahren günstig, wenn auch deutlich weniger erfolgreich beeinflusst werden. Mikrovaskuläre Dekompression (Jannetta-Operation) [7] Prinzip der einzig kausalen Behandlung der typischen Trigeminusneuralgie ist die Behebung des Gefäß-Nerven-Kontakts im präpontinen Trigeminusabschnitt durch Einbringen eines Polsters zwischen Nerven und Gefäß. Die Operation führen wir in der Regel in Rückenlage mit zur Gegenseite gedrehtem Kopf durch. So „fällt“ das Kleinhirn nach Liquorentnahme mit der Schwerkraft nach unten und gibt den Kleinhirnbrückenwinkel ohne Retraktion frei. Nach Durchtrennen einiger arachnoidaler Adhärenzen werden Trigeminus und komprimierendes Gefäß im Kleinhirnbrückenwinkel freipräpariert. Häufig findet man eine erhebliche Druckusur am Nerven. Nach Abpräparation und evtl. Verlagerung des Gefäßes wird ein Polster (Teflon oder Muskelstück) eingelegt, um den erneuten Konflikt zu verhindern (Abb. 6). Danach wird die Wunde mittels Dura-, Muskel-, Subkutan- und Hautnaht verschlossen. Die kleine ca. 2 bis 2,5 cm große Trepanationsöffnung wird mit dem ausgesägten Knochenstück oder durch Knochenzement (Palacos) verschlossen. Der Krankenhausaufenthalt liegt bei sieben Tagen. Die Erfolgsquote ist hoch: Schmerzfreiheit wird in über 80 Prozent erreicht, in gut 15 Prozent eine Schmerzlinderung. Die Patienten wachen in der Regel bereits schmerzfrei aus der Narkose auf. Die Mortalitätsrate liegt bei 0,5 Prozent, Komplikationen werden in 3,6 – 34 Prozent angegeben, erwähnenswert sind hier die Hypästhesie im Trigeminusbereich, die Taubheit des ipsilateralen Ohres und die Liquorfistel. Operationsbedürftige Rezidive treten in einer Größenordnung von elf Prozent bei einer mittleren Nachbeobachtungszeit von sechs Jahren auf. Eine Reihe anderer Erkrankungen, die durch einen Gefäß-/Nervenkonflikt ausgelöst werden (z. B. Facialisspasmus, Glossopharyngeusneuralgie, Tinnitus [Kompression des N. statoacusticus], Torticollis spasticus [Kompression der 1. Cervikalwurzel], arterieller Hypertonus durch Kompression des linksseitigen N. vagus und der medulla oblongata), können ebenso erfolgreich mit einer mikrovaskulären Dekompression behandelt werden. 495 medtropole | Ausgabe Januar 2008 ★ ■ ★ ★ ➚ ❍ ➚ ❍ ❍ a c b Abb. 6: Intraoperative Fotos einer mikrovaskulären Dekompression; a: der Trigeminusnerv ist präpontin freipräpariert und die Kompression durch die unter dem Nerv liegende Arterie ist erkennbar; b: die Arterie wurde freipräpariert und hervorluxiert; c: zwischen Nerv und Arterie wurde ein Teflonpolster eingelegt ★: Trigeminusnerv; gepunktete Linie: unter dem Nerv liegende Arterie mit Ausbuchtung des Nervens ❍: Hirnstamm; ➚: hervorluxiertes und in c, abgepolstertes Gefäß; ■: Teflonpolster Seltene Verfahren störungen auf, Langzeitergebnisse sind abzuwarten.[5] Glycerolinjektion Die Glycerolinjektion wird mit der gleichen Punktionstechnik wie die Thermoläsion durchgeführt. Die Nadelspitze wird in die Trigeminuszisterne (die das Ganglion Gasseri umgibt) platziert. Injiziert werden ca. 0,4 ml Glycerol, ein wasserfreier Alkohol. Die Erfolgsquote liegt über 90 Prozent, die Langzeiterfolge werden nach zehn Jahren mit 80 Prozent angegeben.[3] Gefühlstörungen sind häufig, störende Dysästhesien werden mit 20 – 40 Prozent angegeben. Die Anaesthesia dolorosa (Schmerz bei gleichzeitigem Ausfall der Oberflächensensibilität) wird mit 1,8 Prozent erwartet, aseptische Meningitiden sind möglich. Ballonkompression des Ganglion Gasseri Ein vier French aufblasbarer Ballonkatheter wird in oben beschriebener Punktionstechnik in die Trigeminuszisterne eingeführt und mit 0,75 – 1 ml (entsprechend einem intraluminalen Druck von ca. 1.000 – 1.500 mmHg) gefüllt. Die anfänglichen Ergebnisse entsprechen denen anderer perkutaner Verfahren, die Rezidivquote ist jedoch höher. Die Anaesthesia dolorosa tritt dagegen nur extrem selten auf (0,1 Prozent).[8] Stereotaktische Bestrahlung Der Anfangserfolg der stereotaktischen Bestrahlung der Trigeminusnervenwurzel liegt bei über 85 Prozent und sinkt nach 33 Monaten auf 75,4 Prozent. Nach der Prozedur treten in zehn Prozent Gefühl- 496 Die früher geübten läsionellen Therapien (Exhärese peripherer Trigeminusäste und die extradurale Durchtrennung von Trigeminusästen an der Schädelbasis) können mit den Erfolgs- und Komplikationsquoten der perkutanen Verfahren nicht mithalten und sollten heute nicht mehr durchgeführt werden.[1] Kontakt Prof. Dr. Uwe Kehler Abteilung für Neurochirurgie Asklepios Klinik Altona Paul-Ehrlich-Straße 1 22763 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-81 16 71 Fax: (0 40) 18 18-81 49 11 E-Mail: [email protected] Fazit Literatur Die klassische Trigeminusneuralgie ist klinisch bereits durch sorgfältige Schmerzanalyse mit hoher Sicherheit zu diagnostizieren. Symptomatische Trigeminusneuropathien sowie atypischer Gesichtsschmerz müssen differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden. Die bildgebende Diagnostik ist hier besonders zum Tumorausschluss wichtig. Der Gefäß-Nerven-Kontakt ist bei hochauflösenden NMR-Schichten bereits häufig zu erkennen, kann aber auch ohne entsprechende Symptomatik vorkommen. Nach Versagen bzw. bei Unverträglichkeit der medikamentösen konservativen Therapie sind die etabliertesten operativen Verfahren die kausale mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta oder die symptomatische Thermoläsion des Ganglion Gasseri. Beide haben eine sehr günstige Prognose bei – in geübter Hand – sehr geringer Komplikationsrate. Erlaubt es der klinische Zustand, ist die kausale mikrovaskuläre Dekompression vorzuziehen, da sie eine Heilung mit einer geringen Rezidivrate ohne zusätzliche Sensibilitätsstörungen verspricht. [1] AWMF-Leitlinien-Register Nr 030/016 Trigeminusneuralgie [2] Al-Khalaf B, Loew F, Donauer E: Stufenplan zur Behandlung der essentiellen Trigeminusneuralgie, Dt Ärzteblatt 1999; 96A: 3177-81. [3] Jho H, Lundsford D: Percutaneous retrogasserian gylcerol rhizitomy. Neurosurg Clin N Amer 1997; 8: 63-74, [4] Kautusic S, Beard CM, et al: Incidence and clinical features of trigeminal neuralgia, Rochester, Minnesota 1945-1984. Ann Neurol 1990; 27: 89-95. [5] Kondziolka D et al: Stereotactic radiosurgery for the treatment of trigeminal neuralgia. Clin J Pain 2002; 18: 42-7. [6] Love S, Coakham B: Trigeminal neuralgia: pathology and pathogenesis. Brain 2001; 124: 2347-60. [7] McLaughlin M, Jannetta PJ et al: Microvascular decompression of cranial nerves: lessons learned after 4400 operations. J Neurosurg 1999; 90:1-8. [8] Skirving D, Dan N. A 20-year review of percutaneous ballon compression of the trigeminal ganglion. J Neurosurg 2001; 94: 913-7. [9] Sweet W. Trigeminal neuralgias, Lea & Felbinger, Philadelphia, 1968: 89-106. Kardiologie Katheterablation ventrikulärer Tachykardien Dr. Boris Schmidt, Dr. KR Julian Chun, Dr. Feifan Ouyang, Prof. Dr. Karl-Heinz Kuck Pro Jahr sterben in Deutschland rund 100.000 Menschen am plötzlichen Herztod, meist verursacht durch ventrikuläre Tachykardien (VT) und Kammerflimmern (Abb. 1). Den sichersten und effektivsten Schutz vor dem plötzlichen Herztod stellt der implantierbare Kardioverter/Defibrillator (ICD) dar. Er kann VT zuverlässig erkennen und mittels Überstimulation oder Schockentladung terminieren. Der ICD ist jedoch keine kausale Therapie der VT und kann folglich deren Auftreten nicht verhindern. VT bei Patienten ohne strukturelle Herzerkrankung ben, sollte daher die Indikation zur Katheterablation großzügig gestellt werden. VT aus dem Ausflusstrakt des rechten Ventrikels (RVOT) VT mit Ursprung aus der Tasche des Aortenklappensegels Die häufigste Form von VT bei Patienten ohne strukturelle Herzerkrankung stellt die VT aus dem rechtsventrikulären Ausflusstrakt (RVOT) dar.[1] Sie hat generell eine günstige Prognose, kann aber erhebliche klinische Beschwerden verursachen. Ursprung sind arrhythmogene Myozyten, die abhängig von Katecholaminspiegel und intrazellulärem Kalzium-Gehalt schnelle VT (Herzfrequenz 200 – 250 min-1) generieren können. Im EKG zeigen diese fokalen VT typischerweise einen Linksschenkelblock (LSB)-artig deformierten QRS-Komplex und eine inferiore Achse. Sie treten häufig bei körperlicher Anstrengung (hoher Katecholaminspiegel) auf und lassen sich medikamentös mit Betablockern oder Kalziumantagonisten behandeln. Aufgrund der günstigen anatomischen Lage unterhalb der Pulmonalklappe im Ausflusstrakt des RV sind die Substrate der RVOT-VT aber auch einer kurativen Katheterablation sehr gut zugänglich. Um den sonst meist gesunden, jungen Patienten eine dauerhafte medikamentöse Therapie zu ersparen oder bei Versagen dersel- Eine seltene Variante stellt die Gruppe der VT aus der Tasche des linken Segels der Aortenklappe dar.[2] Hierbei handelt es sich ebenfalls um fokale VT, deren Substrat arrhythmogene Zellverbände bilden. Die EKG-Morphologie ähnelt der RVOT-VT mit komplettem LSB und inferiorer Achse. Die medikamentöse Therapie ist meist unbefriedigend, somit bietet die Katheterablation eine kurative Therapieoption (Abb. 2). Trotz der unmittelbaren Nähe der Koronararterien ist die Komplikationsrate in erfahrenen Zentren sehr gering. Idiopathische linksventrikuläre Tachykardie (ILVT) Elektroanatomische Mappinguntersuchungen haben den Mechanismus der ILVT als Mikro-Reentrytachykardie im distalen Purkinje-System identifiziert.[3] Eine Leitungsverzögerung in bestimmten PurkinjeFasern ermöglicht den Wiedereintritt retrograd in bereits wieder erregbare Purkinje-Fasern, eine kreisende Erregung entsteht. Es resultieren schnelle VT (Herzfre- quenz 200 – 250 min-1) mit Rechtsschenkelblock (RSB)-Morphologie und superiorer Achse im EKG. Durch Ablation der betroffenen Purkinje-Fasern kann die VT mit sehr gutem Langzeit-Erfolg behandelt werden. Schenkelblock-Tachykardien (engl. Bundle-branch-Reentry; BBRT) BBRT treten in der Regel bei Patienten mit struktureller Herzerkankung und komplettem LSB auf, finden sich aber auch bei „Herzgesunden“ ohne bestehende Erregungsausbreitungsstörung. Während der VT kommt es zur antegraden Erregung des rechten Tawara-Schenkels und retrograden Impulsausbreitung über den linken TawaraSchenkel oder umgekehrt.[4] Dadurch entstehen schnelle Makro-Reentrytachykardien mit Herzfrequenzen von 200 – 250 min-1 und LSB-artig deformierten QRS-Komplexen im EKG. Die Therapie der Wahl besteht in der Ablation des rechten Tawara-Schenkels. Erstaunlicherweise benötigt anschließend nur ein geringer Teil der Patienten einen Herzschrittmacher aufgrund eines kompletten AV-Blocks. Die überwiegende Mehrheit weist einen kompletten RSB auf. Dies beweist, dass der linke Tawara-Schenkel zuvor lediglich eine Leitungsverzögerung aufgewiesen hat und nicht einen tota- 497 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Abb. 1: 12-Kanal-EKG (25 ms/mm) einer ventrikulären Tachykardie (VT) mit Rechtsschenkelblock-Morphologie (Herzfrequenz ~140 min-1) len Leitungsblock. In einer eigenen Untersuchung stellten wir fest, dass die Häufigkeit im Anschluss auftretender VT von der zugrunde liegenden Herzerkrankung abhängt: Patienten ohne strukturelle Herzerkrankung wiesen keine VT mehr auf, während Patienten mit struktureller Herzerkrankung weiterhin durch myokardiale VT gefährdet sind und sich einer ICDImplantation unterziehen sollten. VT bei Patienten mit struktureller Herzerkrankung Patienten mit struktureller Herzerkrankung stellen das größte Kollektiv der Patienten mit VT im klinischen Alltag dar. Das größte Risiko tragen Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie (ICM) oder dilatativer Kardiomyopathie (DCM) und eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion. Große klinische Untersuchungen zeigten, dass dieses Patientenkollektiv nur durch Implantation eines ICD sicher vor dem arrhythmogenen plötzlichen Herztod geschützt werden kann (Primärprophylaxe).[5,6] Das gilt besonders für die Sekundärprophylaxe nach überlebtem plötz- 498 lichen Herztod oder dokumentierter VT. Durch die kardiale Grunderkrankung entstehen myokardiale Narben (z. B. nach Myokardinfarkt, aber auch bei DCM), die das Substrat für Reentry-Tachykardien bilden. In den Narben überleben kleinste Areale mit der Fähigkeit der elektrischen Leitung. So entstehen Zonen langsamer Erregungsausbreitung, die dem elektrischen Impuls den Eintritt in eine Kreiserregung ermöglichen. Ziel der Katheterablation ist die Identifikation und Elimination dieser Areale. Häufig lassen sich bei der elektrophysiologischen Untersuchung durch programmierte Elektrostimulation mehrere unterschiedliche VT in einem Patienten induzieren. Unter Umständen werden die VT zudem hämodynamisch nicht toleriert. Daher wurde die Strategie des „Substratmappings“ entwickelt, mit der sich durch ein elektroanatomisches Mappingsystem anhand der intrakardialen Elektrogramme gesundes Myokard von Narben unterscheiden lässt (Abb. 3).[7] Diese Areale werden dann elektrisch isoliert oder die überlebenden Myokardfasern abladiert. Da eine Narbe ein dreidimensionales Gebilde ist, kann in einigen Fällen eine epikardiale Ablation erforderlich werden. Hierzu wird der Mappingkatheter über einen subxyphoidalen Zugang in den Perikardbeutel eingebracht und elektrophysiologisch untersucht.[8] Da es sich bei der ICM und der DCM in der Regel um progrediente Erkrankungen handelt, kann die Katheterablation keine kurative Maßnahme sein, die Patienten sollten also trotz primär erfolgreicher Ablation mit einem ICD versorgt werden. Hauptindikation für eine Ablation bei diesen Patienten ist das Auftreten multipler Schockentladungen durch den ICD bei therapierefraktären VT-Rezidiven. Patienten mit genetischer Herzerkrankung Bei Patienten mit elektrischer Kardiomyopathie (Brugada-Syndrom, Long-QT-Syndrom u. a.) ist die Katheterablation derzeit nur bei der arrhythmogenen rechtsventrikulären Dysplasie (ARVD) indiziert.[9] Durch den fettigen Umbau des Myokards Kardiologie Abb. 2: Fluoroskopische Darstellung des Ablationsortes einer VT vom Aortenklappensegel. Abb. 3: Elektroanatomisches Map (Substratmap) des linken Ventrikels bei Links in RAO 30°, rechts in LAO 45°. LCA: linke Koronararterie, JC: Judkins-Katheter im einem Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie nach Vorderwandinfarkt Ostium der LCA, His: His-Bündel-Katheter, CS: Koronarvenensinus-Katheter. AS: Ablations- (RAO 30°). Je nach Höhe der lokalen Signalamplituden werden die Areale katheter am Aortenklappensegel in unterschiedlichen Farben wiedergegeben. Die Areale in Lila stellen gesundes Myokard dar (Amplitude > 1 mV), die bunten Areale sind elektrisch „krank“ (Amplitude < 1 mV). In Grau stellt sich eine elektrische Narbe dar (kein Potenzial). entsteht das Substrat für eine Reentry-VT. Je nach Ausmaß der Erkrankung können diese aus dem rechten und/oder linken Ventrikel stammen. Ziel der Katheterablation ist die Identifikation und Ablation dieser Substrate. Da die ARVD ebenfalls eine progrediente Erkrankung ist, sollte hier aus sekundärprophylaktischer Indikation ebenfalls ein ICD implantiert werden. Literatur [1] Joshi S, Wilber DJ. Ablation of idiopathic right ventricular outflow tract tachycardia: current perspectives. J Cardio- Kontakt Dr. Boris Schmidt vasc Electrophysiol 2005; 16 Suppl 1: S52-S58. [2] Ouyang F, Fotuhi P, Ho SY, et al. Repetitive monomorphic ventricular tachycardia originating from the aortic sinus cusp: electrocardiographic characterization for gui- Hanseatisches Herzzentrum Asklepios Klinik St. Georg Lohmühlenstraße 5 20099 Hamburg ding catheter ablation. J Am Coll Cardiol 2002; 39(3): 5008. Tel. (0 40) 18 18-85 44 87 Fax (0 40) 18 18-85 44 35 [3] Ouyang F, Cappato R, Ernst S, et al. Electroanatomic Fazit substrate of idiopathic left ventricular tachycardia: unidi- E-Mail [email protected] rectional block and macroreentry within the purkinje net- Die Katheterablation von VT stellt bei Patienten ohne strukturelle Herzerkrankung meist eine kurative Maßnahme dar, bei Patienten mit struktureller Herzerkrankung eine symptomatische Therapie. Vor der Indikationsstellung sollte eine ausführliche Diagnostik mit körperlicher Untersuchung, Echokardiografie, 12-Kanal-RuheEKG und ggf. Koronarangiografie erfolgt sein. Die Dokumentation der VT im 12Kanal-EKG ermöglicht eine erste Lokalisation des Ursprungsortes und erleichtert so die Planung der Strategie für die invasive elektrophysiologische Untersuchung. work. Circulation 2002; 105(4): 462-9. [7] Marchlinski FE, Callans DJ, Gottlieb CD, Zado E. Linear [4] Tang M, Schmidt B, Shi H, et al. The Left Bundle ablation lesions for control of unmappable ventricular Branch-Purkinje System in Patients with Bundle Branch tachycardia in patients with ischemic and nonischemic Reentrant Tachycardia: Lessons from Electroanatomical cardiomyopathy. Circulation 2000; 101(11): 1288-96. Mapping and Catheter Ablation. Submitted to J Cardiovasc [8] Soejima K, Stevenson WG, Sapp JL, Selwyn AP, Couper Electrophysiol. G, Epstein LM. Endocardial and epicardial radiofrequency [5] Moss AJ, Zareba W, Hall WJ, et al. Prophylactic implan- ablation of ventricular tachycardia associated with dilated tation of a defibrillator in patients with myocardial infarc- cardiomyopathy: the importance of low-voltage scars. J Am tion and reduced ejection fraction. N Engl J Med 2002; Coll Cardiol 2004; 43(10): 1834-42. 346(12): 877-83. [9] Dalal D, Jain R, Tandri H, et al. Long-term efficacy of [6] Bardy GH, Lee KL, Mark DB, et al. Amiodarone or an catheter ablation of ventricular tachycardia in patients with implantable cardioverter-defibrillator for congestive heart arrhythmogenic right ventricular dysplasia/cardiomyo- failure. N Engl J Med 2005; 352(3): 225-37. pathy. J Am Coll Cardiol 2007; 50(5): 432-40. 499 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Das chirurgische Vorgehen bei akuten und chronischen Herzinfarktfolgen Dr. Stephan Geidel, PD Dr. Michael Laß, Prof. Dr. Jörg Ostermeyer Pro Jahr erleiden in Deutschland mehr als 250.000 Menschen einen Herzinfarkt.[1] Dabei geht die Ischämiezone innerhalb weniger Stunden in eine Myokardnekrose über. Grundsätzlich existieren für alle direkten Folgen des Infarkts beziehungsweise der Myokardnekrose herzchirurgische Therapieoptionen. Man unterscheidet akute (Herzwandruptur, postinfarktieller Ventrikelseptumdefekt und Papillarmuskelruptur mit akuter Mitralinsuffizienz) und chronische Auswirkungen als Resultat einer späteren Narbenbildung (chronisch ischämische Mitralinsuffizienz, linksventrikuläres Aneurysma und „maligne“ ventrikuläre Tachykardie). Die Therapie beinhaltet in der Regel, vor allem bei chronischen Infarktfolgen, abhängig vom koronarmorphologischen Befund die koronare Bypassversorgung. Herzwandruptur Postinfarktieller Ventrikelseptumdefekt Bezogen auf alle Herzinfarkte liegt die in der Literatur angegebene Häufigkeit einer Herzwandruptur bei 5 – 10 Prozent (nach Kammerflimmern und Pumpversagen dritthäufigste Todesursache bei akutem Infarkt [2,3]). Eine akute Zerreißung führt durch Perikardtamponade rasch zum Tode, während eine mehrzeitige Ruptur (2 – 5 Tage) chirurgisch behandelbar ist. Rupturen der Vorderwand des linken Ventrikels (LV) sind etwa doppelt so häufig wie der Hinterwand. Methode der Wahl ist die Übernähung der Perforationsstelle, gegebenenfalls mit Infarktektomie. Der Verschluss kann im Sinne einer Plikatur unter Verwendung von Filzstreifen erfolgen (Abb. 1), bei großem Defekt muss ein Patch (z. B. Dacron) eingesetzt werden. Aus der Literatur ist eine Sterblichkeit von etwa 50 Prozent zu entnehmen, die längerfristige Prognose hängt vom Ausmaß der koronaren Herzerkrankung ab. Bei 1 – 2 Prozent aller Infarktpatienten kommt es zwei bis vier Tage (selten bis zwei Wochen) nach einem Infarkt mit Septumbeteiligung und Ruptur zur Ausbildung einer interventrikulären Kommunikation (Ventrikelseptumdefekt = VSD).[2,3] Meist liegt der Defekt im Bereich des anterioren/ apikalen Septums und ist mit einer Vorderwand-Spitzen-Dyskinesie vergesellschaftet. Durch die Ruptur entsteht akut ein Linksrechts-Shunt mit Fluss- und Druckbelastung der Lungenstrombahn sowie LV-Volumenbelastung. Die Prognose ohne chirurgische Behandlung ist ungünstig: 24 Stunden nach VSD-Entstehung betragen die Überlebensraten 75 Prozent, nach einer Woche 50 Prozent, nach zwei Wochen 30 Prozent und nach mehr als einem Monat 20 Prozent. Todesursache ist meist ein akutes/subakutes Linksherzversagen. Bei stabilen Verhältnissen (ohne Lungenstauung und Katecholaminbedarf sowie bei guter Urinausscheidung) wird die Operation auf 3 – 4 500 Wochen nach dem Infarkt verschoben, da die beginnende Narbenbildung günstigere operationstechnische (festere) Gewebsverhältnisse ergibt (Abb. 2). Ein PostinfarktVSD stellt wegen seiner hämodynamischen Relevanz praktisch immer eine dringliche OP-Indikation dar. Bei akuter Linksherzinsuffizienz, nachlassender Diurese und steigenden Katecholamindosen ist ein notfallmäßiger Eingriff indiziert. Dabei wird der LV durch die infarzierte Wand bzw. das Aneurysma eröffnet und der VSD mit einem primär dichten Kunststoffpatch verschlossen. Gleichzeitig erfolgen (bei gegebener Indikation) eine Aneurysmaresektion und eine koronararterielle Revaskularisation. Die OP-Sterblichkeit beträgt 5 – 40 Prozent. Das Risiko ist besonders hoch, wenn innerhalb der frühen Postinfarktphase operiert werden muss und die Patienten im kardiogenen Schock zur Operation kommen (Abb. 3). Nach Überleben des Eingriffs sind die Fünf-Jahres-Überlebensraten mit 75 – 80 Prozent relativ günstig. Herzchirurgie Abb. 1: Bei mehrzeitiger Myokardruptur 2 – 5 Tage nach dem Infarktereignis (klinisch i. d. R. Dekompensation, Lungenstauung, hier mit großem Pleuraerguss rechts) finden sich meist Koagel und frische perikardiale Adhäsionen des gesamten Herzens. Bei ausreichender Gewebestabilität und eher kleinem Infarktareal kann der Verschluss im Sinne einer Plikatur unter Verwendung von Filzstreifen erfolgen. Ischämische Mitralinsuffizienz Auf einen Myokardinfarkt mit Papillarmuskel-(PPM-)beteiligung kann ein PPMAbriss (= akute ischämische Mitralklappeninsuffizienz [MI]) folgen (Abb. 4). Protrahiert kann es zu Kontraktilitätsverlust, Dilatation des linksventrikulären Myokards, Fibrosierung und Verkürzung (Restriktion) des Tensorapparates mit einer resultierenden chronisch ischämischen MI kommen (Abb. 5).[4,5] Dabei entsteht eine akute/chronische systolische Mitralklappenregurgitation mit LV-Volumenüberlastung und möglichem Rückstau in die Lungenvenen. Bei PPM-Abriss und akuter schwerer MI überlebt ohne chirurgische Therapie nur etwa jeder vierte Patient die ersten 24 Stunden. Bei partiellem Abriss und gering ausgeprägtem Reflux ist die Prognose besser (70 Prozent überleben 24 Stunden, 50 Prozent über einen Monat). Eine wesentlich günstigere Prognose haben Patienten mit ischämischer PPM-Dysfunktion. Bei akuter MI durch PPM-Abriss ist somit meist eine dringliche bis notfallmäßige Operationsindikation gegeben. Bei chronischer MI sollte eine Operation ab dem klinischen Schweregrad II – III (NYHA) erwogen werden. Häufig muss die akut geschädigte Mitralklappe durch eine Klappenprothese ersetzt werden, in einigen Fällen ist ein klappenerhaltendes Vorgehen möglich. Eine chronische MI mit gefestigten Gewebeverhältnissen ermöglicht dagegen nahezu ausnahmslos eine Rekonstruktion. Meist erfolgt die Implantation eines Mitralklappenringes geringer Größe (restriktive Ringannuloplastie als „Downsizing“ oder mittels geometrischem Annuloplastiering mit reduzierter Höhendimension), um einen kompetenten Klappenschluss zu erzielen. Die Operationssterblichkeit für den Eingriff bei PPM-Abriss in der akuten Postinfarktphase liegt bei 10 – 15 Prozent, bei chronischer MI in Abhängigkeit von der Pumpfunktion und der Komorbidität mit koronararterieller Bypassversorgung inzwischen bei nur 2 – 4 Prozent. Nach überstandener Operation ist die Prognose als günstig einzuschätzen. Auch Patienten mit schwerer chronisch ischämischer MI und eingeschränkter Kammerfunktion haben nach chirurgischer Therapie (restriktive Ringannuloplastie + Revaskularisation) eine gute Prognose.[5] Ventrikelaneurysma Eine großflächige transmurale Vernarbung der linksventrikulären Wandung, die morphologisch und ventrikulographisch als gut markierte Aussackung imponiert, wird als Ventrikelaneurysma bezeichnet. Damit ist der Ventrikel morphologisch und funktionell in ein aneurysmatisches und ein kontraktiles („Restventrikel“) Segment aufgeteilt. Die Linie dazwischen ist die so genannte „Aneurysmapforte“. Aneurysmen entstehen mit einer Häufigkeit von 10 – 30% innerhalb von 2 – 8 Wochen nach einem ausgedehnten Herzinfarkt.[2,3] Sie finden sich zu 85 Prozent im LV-Vorderwand-SpitzenSeptumbereich. Das aneurysmatische Seg- 501 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Abb. 2: Postinfarktieller VSD (3 – 4 Wochen alt): Durch Ausbildung eines relativ stabilen Narbengewebes und gute Abgrenzung zum gesunden Myokard gelingt der chirurgische Verschluss in diesem Stadium fast immer. Abb. 3: Postinfarktieller VSD (20 Stunden alt): Das frische Nekroseareal ist ausgedehnt mit inhomogener Abgrenzung zum gesunden Myokard. Der VSD-Verschluss gestaltet sich in diesem frühen Stadium mitunter als äußerst schwierig. ment nimmt nicht an der Ventrikelkontraktion teil. Beim typischen Aneurysma findet sich hier eine paradoxe Pulsation. Die Globalfunktion ist häufig deutlich eingeschränkt (enddiastolischer Druck über 20 mmHg; linksventrikuläre Auswurffraktion unter 35 Prozent). Wesentliche Operationsindikationen sind progrediente Linksherzinsuffizienz, „maligne“ ventrikuläre Tachykardie, Thrombembolieereignisse durch Thrombenmaterial aus dem Aneurysma und drohende Ruptur. Bei der Operation werden der LV im Aneurysmabereich eröffnet, die aneurysmatischen Wandanteile reseziert und der Ventrikel im Bereich der Aneurysmapforte verschlossen (Abb. 6). Dies kann direkt mittels Filzstreifen, U-Nahtreihe und zusätzlich überwendlicher Naht erfolgen oder im Sinne der Implantation eines Dacronpatchs als LV-Rekonstruktionsoperation nach Dor durchgeführt werden.[6] Die Wegnahme des Aneurysmas verbessert die Pumpeffizienz des LV, bei entsprechender Indikation findet zusätzlich eine koronararterielle Revaskularisation statt. Das 502 Operationsrisiko hängt vom Ausmaß der koronaren Herzkrankheit und dem Funktionszustand des kontraktilen Restventrikels ab (2 – 10 Prozent), die Fünf-JahresÜberlebensrate liegt bei 60 – 80 Prozent. „Maligne“ ventrikuläre Tachykardie Eine „maligne“ ventrikuläre Tachykardie (VT) ist eine Rhythmusstörung mit potenziell lebensbedrohlichem Charakter. Ursprung sind arrhythmogene Gewebe, d. h. ischämisch geschädigte Myokardareale, die meist im Grenzbereich zwischen einer Infarktzone (meist Aneurysma) und der erhaltenen Muskulatur liegen. Bis Anfang der 90er-Jahre wurde das arrhythmogene Gewebe in entsprechend ausgerichteten herzchirurgischen Zentren im Anschluss an eine intraoperative elektrophysiologische „Mapping-Untersuchung“ aus dem „elektrophysiologischen Gesamtverbund“ des Herzens durch Resektion, Umschneidung, Kryo- oder Laserablation eliminiert, meist in Zusammenhang mit einer Aneurysmaresektion und einer koronaren Bypassversorgung. Dieses über viele Jahre etablierte chirurgische Verfahren wurde durch implantierbare Defibrillationssysteme (ICD) und interventionelle elektrophysiologische Ablationstechniken fast vollständig abgelöst. Patienten mit malignen VTs werden heute in rhythmologisch-elekrophysiologisch ausgerichteten Zentren zunächst elektrophysiologisch untersucht (EPU, wenn möglich mit interventionellen elektrophysiologischen Ablationstechniken) und bei gegebener Indikation einer ICD-Implantation zugeführt.[3] Herzchirurgie Abb. 4: Akute ischämische Mitralinsuffizienz mit Papillarmuskelabriss: Meist ist ein Mitralklappenersatz notwendig, in Einzelfällen gelingt eine Rekonstruktion (z. B. Goretex-Sehnenfadenersatz mit Verankerung im gesunden Papillarmuskelgewebe). Abb. 5: Chronisch ischämische Mitralinsuffizienz: Rekonstruktion mittels 3-dimensionalem (geometrischem) Annuloplastiering Literatur [1] Bruckenberger E. Herzbericht 2006 mit Transplantationschirurgie; http://www.herzbericht.de. [2] Kouchoukos NT, Blackstone EH, Doty DB et al. In: Kirklin JW/Barratt-Boyes B: Cardiac Surgery, Third Edition Kontakt Oberarzt Dr. Stephan Geidel Ltd. Oberarzt PD Dr. Michael Laß Chefarzt Prof. Dr. Jörg Ostermeyer (Churchill Livingstone, Philadelphia, USA). Ischemic heart disease. 2003: Volume 1: 351-497. [3] Geidel S, Ostermeyer J: In: Berger M, Domschke W, Hohenberger W, Meinertz T, Possinger K, Reinhardt D. Therapie-Handbuch. Koronare Herzkrankheit: Chirurgische Therapie. Urban & Fischer München, Jena 2007; C1.2: 1-13. [4] Geidel S, Laß M, Ostermeyer J. Operative Techniken der rekonstruktiven Mitralklappenchirurgie. Hamburger Ärzteblatt 2005; 2: 60-4. [5] Geidel S, Lass M, Schneider C, Groth G, Boczor S, Hanseatisches Herzzentrum Abteilung für Herzchirurgie Asklepios Klinik St. Georg Lohmühlenstraße 5 20099 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-85 41 50/41 51 (Sekretariat der Herzchirurgie) Tel. (0 40) 18 18-85 22 61 (Herzchirurgische Normalstation) Tel. (0 40) 18 18-85 22 62 (Herzchirurgische Intensivstation) Tel. (0 40) 18 18-85 22 85 (Privatstation) Fax (0 40) 18 18-85 41 84 Abb. 6: Postinfarktielles Ventrikelaneurysma: Resektion und Verschluss im Sinne einer Plikatur unter Verwendung von Filzstreifen Kuck KH, Ostermeyer J. Downsizing of the mitral valve and coronary revascularization in severe ischemic mitral E-Mail: [email protected] regurgitation results in reverse left ventricular and left atrial remodeling. Eur J Cardiothorac Surg 2005; 27: 1011-6. [6] Dor V, Saab M, Coste P, Lornaszewska M, Montiglio F. Left ventricular aneurysm: a new surgical approach. Thorac Cardiovasc Surg 1989; 37: 11-7. 503 medtropole | Ausgabe Januar 2008 Heimbeatmung – einfach nur Beatmung zu Hause? Dr. Martin Bachmann Die Zahl der Patienten, die in häuslicher Umgebung eine Beatmungstherapie durchführen, stieg in den vergangenen Jahren deutlich, daher werden niedergelassene Haus- und Fachärzte wie auch Krankenhausärzte immer häufiger mit dieser Therapieform konfrontiert. Die Heimbeatmung ist eine inzwischen gut etablierte Therapieform, die am häufigsten bei Patienten mit COPD, ausgeprägter Adipositas oder neuromuskulären Erkrankungen eingesetzt wird. Ihre konsequente Anwendung führt meist zu einer Lebensverlängerung und Steigerung der Lebensqualität. Bei richtiger Indikationsstellung und guter Betreuung lassen sich schwerwiegende Komplikationen der Grunderkrankungen verhindern. Heimbeatmung kann über zwei Wege erfolgen: den häufig angewandten „nicht invasiven Zugang“, meist mit einer Nasenoder Mund-Nasenmaske, oder den „invasiven Zugang“ über eine Trachealkanüle. Der nicht invasive Zugang ist unkomplizierter, für den Patienten angenehmer und komplikationsärmer. In der Regel führen die Patienten die nicht invasive Heimbeatmung selbstständig oder mithilfe ihrer Angehörigen durch. 504 Wesentliche Heimbeatmungsindikation ist die symptomatische, chronisch ventilatorische Insuffizienz (CVI). Sie ist durch eine CO2-Erhöhung (Hyperkapnie) zunächst während des Schlafes, später auch während des Wachzustands, gekennzeichnet. Die Erkrankungsbilder, für die eine Heimbeatmung infrage kommt, sind vielfältig und entstammen verschiedenen Fachgebieten (Tab. 1). Die Indikation für eine Beatmungstherapie richtet sich nach zugrunde liegenden Erkrankungen, klinischer Beschwerdesymptomatik und den Ergebnissen der Funktionsuntersuchungen. Entscheidend für den Therapiebeginn ist die subjektive Beeinträchtigung durch beispielsweise Ruhedyspnoe, Tagesmüdigkeit mit Einschlafneigung und morgendliche Kopfschmerzen. Zur Diagnostik gehören Blutgasanalysen am Tag und in der Nacht, nächtliche Pulsoxymetrie und Kapnometrie sowie schlafmedizinische Untersuchungen wie Polygraphie und Polysomnographie. Ein weiterer diagnostischer Baustein ist die Lungenfunktion mit Atemmuskelfunktionstestung, Messung des maximalen Hustenstoßes (PCF) und der maximal insufflierbaren Kapazität (MIC). Ist Beatmung indiziert, werden die Patienten unter stationären Bedingungen zunächst tagsüber an ein Heimbeatmungsgerät gewöhnt. Bei guter Toleranz der Beatmung kann anschließend die nächtliche Beatmung beginnen. Angestrebt wird die kontrollierte oder assistiert-kontollierte Beamtung, die eine möglichst vollständige Entlastung der Atemmuskulatur (Atempumpe) gewährleistet. Patient und Angehörige erlernen während des stationären Aufenthalts die selbstständige Handhabung der Maske und des Geräts. Etwa 20 – 30 Prozent langzeitbeatmeter Patienten auf Intensivstationen mit schwieriger Entwöhnbarkeit vom Beatmungsgerät („schwieriges oder prolongiertes Weaning“) Lungenheilkunde Heimbeatmeter Patient ■ COPD / Lungenemphysem ■ Brustwanderkrankungen, wie z. B. – Kyphoskoliose – Folgezustände nach Thorakoplastik bei Tbc ■ Neuromuskuläre Erkrankungen, wie z. B. – Muskeldystrophie Duchenne – Spinale Muskelatrophie – Amyotrophe Lateralsklerose – Myotone Dystrophie Curschmann Steinert ■ Obesitas-Hypoventilationssyndrom ■ Hohe Querschnittslähmung mit Beeinträchtigung der Zwerchfellaktivität ■ Zwerchfellparese verschiedener Ursachen Tab. 1: Erkrankungen, die zur chronisch ventilatorischen Abb. 1: Versorgungskonzept Beatmungszentrum Insuffizienz führen können Hamburg-Harburg benötigen eine Heimbeatmungstherapie, um dauerhaft stabil zu bleiben. Daher sollte bei diesen Patienten die Notwendigkeit einer langfristig erforderlichen Heimbeatmung abgeklärt werden. immer zwischen häuslicher Umgebung und stationärer Krankenhausaufnahme mit Behandlung auf einer peripheren Beatmungsstation oder Intensivstation. Dafür muss ein umfassendes Netzwerk mit allen Versorgungsmöglichkeiten, Ansprechpartnern, Notfallversorgungskonzepten und spezifischen Aufnahme- und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (Abb. 2). Kompetente Beatmungsmediziner des betreuenden Beatmungszentrums müssen für Patienten und betreuende Hausärzte kurzfristig erreichbar sein. Daneben kann eine Spezialsprechstunde für tracheotomierte und nicht-tracheotomierte, heimbeatmete Patienten wie im Beatmungszentrum Hamburg-Harburg die Kooperation zwischen ambulanter und stationärer Versorgung erleichtern. Niedergelassene Fachärzte für Innere Medizin/Pneumologie oder Neurologie können hier Patienten mit der Frage der Einleitung einer Heimbeatmungstherapie oder Heimbeatmungsproblemen ambulant vorstellen oder überwei- Gelingt die Entwöhnung von der invasiven Beatmung auch in einem spezialisierten Zentrum nicht, muss die Beatmung langfristig über ein Tracheostoma als invasive Heimbeatmung weitergeführt werden. Dies ist deutlich aufwendiger und erfordert eine umfassende Weiterversorgung, die dezidiert geplant und koordiniert werden muss. Abhängig davon, ob der Patient in die häusliche Umgebung oder in eine Betreuungseinrichtung entlassen wird, müssen ein kompetenter Pflegedienst organisiert, Angehörige oder betreuende Pflegekräfte bezüglich der Beatmungsmodalitäten geschult und eingewiesen werden. Heimbeatmete Patienten sind schwer kranke Patienten. Sie bewegen sich potenziell Abb. 2: Beatmungszentrum Hamburg-Harburg sen. In Kooperation mit den niedergelassenen Kollegen wird so eine Rundumversorgung gewährleistet, die medizinische Aspekte der Versorgung sowie die Lebensqualität der Patienten berücksichtigt und sie mit ihrer Heimbeatmung zu Hause nicht allein lässt. Kontakt Dr. Martin Bachmann Lungenabteilung Oberarzt, Leiter des Beamtungszentrums Hamburg-Harburg Asklepios Klinik Harburg Eißendorfer Pferdeweg 52 21075 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-86 22 41 Fax (0 40) 18 18-86 33 22 E-Mail: [email protected] 505 medtropole | Ausgabe Januar 2008 ADHS im Erwachsenenalter Dipl.-Psych. Karina Günther Kennzeichnend für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind verminderte Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.[4] Früher wurde ADHS mit den minimalen zerebralen Dysfunktionen gleichgesetzt. Darunter wurden die Symptome der ADHS und die der Teilleistungsschwächen gefasst. Erstmals als eigenständiges Krankheitsbild abgegrenzt wurde die ADHS im ICD-9 (1978) und im DSM-III (1980), wobei der DSM-III dem Persistieren von Symptomen bis ins Erwachsenenalter mit der Bezeichnung „Attention Defizit Disorder Residual Type“ Rechnung trug. Mit einer Prävalenz von 5 – 9 Prozent ist die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung die häufigste kinderpsychiatrische Störung. Bis Ende der 1990er-Jahre wurde sie in Deutschland nur im Kindesund Jugendalter diagnostiziert. Im Erwachsenenalter liegt die Prävalenzrate bei 1 – 6 Prozent, wobei Männer drei Mal häufiger betroffen sind als Frauen. Man geht heute davon aus, dass keine Erstmanifestationen im Erwachsenenalter auftreten, sondern dass die Symptome über die Adoleszenz hinaus bestehen bleiben. Bei bis zu 2/3 der betroffenen Kinder treten auch im Erwachsenenalter Störungen auf.[1] Symptomatik Patienten im Erwachsenenalter werden meist wegen depressiver Verstimmungen vorstellig, Angstproblematiken oder der Sorge, den Überblick über ihr Leben zu verlieren. Meist wird eine ausgeprägte Selbstwertproblematik mit Depressionen und psychosomatischen Symptomen sichtbar. Aufgrund fehlender motorischer Unruhe können diese Symptome dem Bereich der Persönlichkeitsstörungen zugeordnet werden, sodass unter Umständen eine adäquate Behandlung ausbleibt.[1] Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen ADHS und Persönlichkeitsstörungen (vor allem der Dissozialen und der Borderline-Persönlichkeitsstörung) noch nicht hinreichend geklärt. Als wichtige Merkmale gelten 506 abnorme Ausmaße an Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität – und zwar über die Zeit stabil und situationsübergreifend.[3] Hauptmerkmal der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung ist die geringe Aufmerksamkeitsspanne auch im Erwachsenenalter. Häufig treten kurze Lernzeiten auf, sodass Schwierigkeiten bei alltäglichen Tätigkeiten deutlich werden, wie dem Anhören von Vorträgen oder beim Zeitungslesen. Die leichte Ablenkbarkeit kann Arbeitsstörungen auslösen. Da die Betroffenen häufig stark auf die Störquellen fokussieren, kann eine Vermeidung von Reizüberflutung in fast allen Lebensbereichen die Folge sein. Die sozialen Rückzugstendenzen können fälschlich zur Diagnose einer sozialen Phobie führen. Die Störung der motorischen Aktivität bzw. Überaktivität ist ein weiteres Kennzeichen der ADHS. Sie ist im Erwachsenenalter weniger sichtbar. Betroffene haben aber Probleme, wenn sie länger sitzen bleiben müssen; zeigen generell Entspannungsprobleme. Als Ausgleich zu sitzenden Tätigkeiten treiben sie häufig mehrfach pro Woche Sport. Die Desorganisation der Betroffenen kann sich in der Unordnung aufgrund fehlender Selbststrukturierung zeigen. Diese fällt wegen der ständig wechselnden Inhalte der Aufmerksamkeitsfokussierung und damit einhergehender fehlender Selbstkon- trolle schwer. Die chaotische Organisation kann vermehrt Selbstwertzweifel hervorrufen. Bei hyper-, aber auch hypoaktiven Menschen scheint die negative Selbsteinschätzung sogar an der Tagesordnung zu sein. Eigene Leistungen werden selten als positiv gewertet, häufig erleben sie sich als vermindert leistungsfähig, was in einer Destabilisierung des Selbstwertgefühls münden kann. Die Störung der Impulskontrolle kann sich auf verschiedenen Ebenen zeigen. Kennzeichnend hierfür ist die Neigung zu unüberlegtem Handeln, ohne die Konsequenzen abzuschätzen. Betroffene scheinen sich häufiger motorische Aktivitäten zu suchen, ohne die Risiken abzuschätzen. Außerdem zeigt sich eine aggressive Impulsivität in Stresssituationen, die im Widerspruch zu der möglichen Fürsorglichkeit in Entspannungssituationen zu stehen scheint. Die Scheidungsrate ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung höher (28 % vs. 15 %).[1] Diagnostik Die Erstdiagnose einer ADHS im Erwachsenenalter ist wegen des jahrelangen Anpassungsprozesses an die Symptomatik meist schwierig. Im ersten Schritt sollte ein semistrukturiertes Interview erfolgen, in dem die aktuellen Beschwerden exploriert werden. Daten über Familienangehörige Psychiatrie sollten erfragt werden, da eine genetische Disposition als wahrscheinlich gilt. Des Weiteren ist eine Kindheitsanamnese erforderlich, da für die Diagnose ADHS gezeigt werden muss, dass typische Symptome bereits im Kindesalter auftraten und bis ins Erwachsenenalter persistieren. Dabei helfen fremdanamnestische Daten von Eltern oder Lehrern. Sind diese nicht verfügbar, können Beurteilungen aus Schulzeugnissen wichtige Hinweise liefern. Weiterhin werden Selbstbeurteilungsskalen und testpsychologische Untersuchungen für die Diagnostik herangezogen. Sie kommen zur Erfassung des Arbeitsverhaltens und der individuellen Möglichkeiten der Betroffenen zum Einsatz. Hauptaugenmerk sollte dabei auf der geteilten Aufmerksamkeit und der Dauerbelastbarkeit bei subjektiv als langweilig erlebten Situationen liegen.[1] Zur Abgrenzung oder Bestätigung einer Komorbidität können die parallele Anwendung beispielsweise von SKID-II und DIB-R (Diagnostisches Interview für das Borderline-Syndrom) erforderlich sein. Behandlungsmöglichkeiten Bei der ADHS-Therapie sollten verschiedene Elemente verknüpft werden (multimodales Therapiekonzept). Dies kann Psychoedukation, medikamentöse Behandlung, Psychotherapie, Arbeit mit Bezugspersonen, Selbsthilfegruppen und Therapie bei komorbiden Störungen beinhalten.[4] Störungen im Katecholaminhaushalt und möglicherweise auch im Serotoninhaushalt werden als eine Ursache der ADHS angesehen. Methylphenidat ist neben dem Kindes- und Jugendalter auch bei Erwachsenen das Mittel der ersten Wahl. In Deutschland ist es noch nicht für die Indikation im Erwachsenenalter zugelassen (off-label-use). Die empfohlene Tagesdosis liegt bei 20 – 30 mg/Tag auf 2 – 3 Dosen verteilt, unter Umständen sind 80 mg/Tag erforderlich.[5] Atomoxetin als selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmer erwies sich als wirksam bezüglich der Reduktion von Impulsivität, motorischer Unruhe und der Verbesserung der Aufmerksamkeit. Bei Jugendlichen/Erwachsenen über 70 kg Körpergewicht liegt die empfohlene Anfangsdosis bei 40 mg/Tag, die nach mindestens drei Tagen auf 80 mg/Tag erhöht werden darf.[2] Grundsätzlich sollte die Verordnung von Psychopharmaka nicht ohne eine Psychotherapie stattfinden. Psychotherapie kann notwendig werden, da im dritten Lebensjahrzehnt die Kompensationsmechanismen nachzulassen scheinen, sodass die Betroffenen den Alltag als belastender erleben. Aus den Unzulänglichkeitsgefühlen kann sich eine anhaltende depressive Verstimmung entwickeln, die Anlass geben kann, sich in Psychotherapie zu begeben. In der Verhaltenstherapie stehen die Anleitung zum Selbstmanagement und die Förderung der Selbstkognition auch in Verbindung mit geeigneter Medikation im Vordergrund. Bei bestehender Selbstwertproblematik könnte eine ausschließlich verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie nicht ausreichend sein. Erstes Ziel der psychoanalytisch interaktionellen Methode ist die Unterstützung der Betroffenen bei der Entwicklung eines Arbeitsbündnisses. Durch die Interaktion mit dem Therapeuten erfahren sie eine Wertschätzung der eigenen Person, die zu einem stabileren Selbstwertgefühl beitragen kann. In der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie stehen die Beziehungs- und Entwicklungsangebote eines Therapeuten im Vordergrund, der die unbefriedigt gebliebenen Entwicklungsbedürfnisse empathisch anerkennt und den Auf- und Ausbau einer Welt ohne bedrohliche Erfahrungen unterstützt.[3] Durch Einbeziehung der Partner in die Therapie werden die Bemühungen des Angehörigen gewürdigt. Das Aufdecken der Kommunikationsmuster kann wieder Verständnis für den anderen schaffen. Gemeinsam lassen sich strukturelle Veränderungen der Alltagsroutine planen.[1] In vielen Fällen ist eine ambulante Psychotherapie ausreichend. Sind hingegen die sozialen Bezüge bereits weggebrochen, ist eine Suizidalität ambulant nicht beherrschbar, ist die Symptomatik besonders ausgeprägt und ein kontinuierliches Aufsuchen einer Praxis nicht mehr möglich, dann sollte eine stationäre Behandlung beginnen. Unsere Station für „Junge Erwachsene“ verfügt für Patienten mit der dargestellten Problematik über gezielte therapeutische Angebote. Literatur [1] Krause J, Krause KH. ADHS im Erwachsenenalter. Stuttgart: Schattauer 2005. [2] Sevecke K, Battel S, Dittmann R, Lehmkuhl G, Döpfner M. Wirksamkeit von Atomoxetin bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS. Eine systematische Übersicht. Nervenarzt 2005; 77: 294-308. [3] Streeck-Fischer A. „Neglekt“ bei der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Störung. Psychotherapeut 2006; 51: 80-90. [4] ADHS bei Erwachsenen. Sichtweisen und Empfehlungen. Firma Lilly. [5] Rote Liste. Arzneimittelverzeichnis für Deutschland (2007). Rote Liste Service GmbH Frankfurt/Main. Kontakt Dipl.-Psych. Karina Günther Asklepios Klinik Nord Ochsenzoll Station Psy 46 Langenhorner Chaussee 560 22419 Hamburg Tel. (0 40) 18 18-87 16 88 Fax (0 40) 18 18-87 16 84 E-Mail: [email protected] 507 Medtropole | Ausgabe Januar 2008 Personalia Asklepios Klinik Harburg: Neuer Chefarzt der Abteilung für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Asklepios Klinik Wandsbek: Neuer Chefarzt der II. Medizinischen Abteilung Seit dem 1. Januar 2008 leitet Priv.-Doz. Dr. Thoralf Kerner die Abteilung für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Asklepios Klinik Harburg. Kerner wurde 1966 in Berlin geboren, studierte Humanmedizin an der Freien Universität Berlin und absolvierte seine Ausbildung zum Facharzt für Anästhesiologie an der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am Campus Virchow-Klinikum der Charité. Er wurde 2000 Oberarzt der Klinik, habilitierte 2003 und war dort zuletzt Mitglied der erweiterten Klinikleitung. Kerners wissenschaftliche Schwerpunkte liegen in den Bereichen Trauma, Kreislaufregulation, Immunsystem und Notfallmedizin. Er erwarb u. a. die Zusatzbezeichnung für Ärztliches Qualitätsmanagement und war in der Gruppe der leitenden Notärzte Berlins aktiv. Kerner ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern. In der Asklepios Klinik Harburg wird Kerner mit seinem Team die Bereiche Kinderanästhesie, Regionalanästhesie und OP-Management weiterentwickeln. Am 1. Januar 2008 übernahm Prof. Dr. Ulrich Treichel als Nachfolger von Prof. Dr. Michael Otte die Leitung der II. Medizinischen Abteilung in der Asklepios Klinik Wandsbek. Treichel wurde in Mülheim an der Ruhr geboren, ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er studierte Humanmedizin an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und promovierte dort zu einem Thema über die zellbiologische Funktion der Leberzellmembran. Die Weiterbildung zum Facharzt für Innere Medizin und zum Gastroenterologen absolvierte Treichel an der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik im Klinikum der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter Prof. Meyer zum Büschenfelde. Zwischenzeitlich war er als DFG-Stipendiat am Liver Research Center, AECOM in New York und habilitierte sich anschließend in Mainz mit einem Thema zur immunologischen Erkennung der Leberzellmembran. 1998 wechselte Treichel als leitender Oberarzt an die Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie des Universitätsklinikums Essen. Anfang 2006 übernahm er von Dr. Volker Cautius die Leitung der Klinik für Innere Medizin am Dominikus-Krankenhaus in Düsseldorf. Treichels wissenschaftliche Schwerpunkte liegen im Bereich der experimentellen und klinischen Hepatologie, insbesondere der chronischen Hepatitis und im Bereich der interventionellen Endoskopie. Er ist Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Fachgesellschaften und der Arzneimittelkommission der Bundesärzteschaft. In der Asklepios Klinik Wandsbek wird Treichel mit seinem Team die Schwerpunkte chronisch entzündlicher Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes und der Leber sowie die interventionelle Endoskopie weiterentwickeln. Besonders wichtig ist ihm die Fortentwicklung der interdisziplinären Viszeralmedizin einschließlich des Tumorschwerpunktes. Dabei legt er besonderen Wert auf zielorientiertes, persönlich verbindliches Arbeiten. Kontakt Priv.-Doz. Dr. Thoralf Kerner Kontakt Abteilung für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Asklepios Klinik Harburg Eißendorfer Pferdeweg 52 21075 Hamburg Prof. Dr. Ulrich Treichel Tel. (0 40) 18 18-86 25 01 Fax (0 40) 18 18-86 30 73 Tel. (0 40) 18 18-83 12 56 Fax (0 40) 18 18-83 16 30 E-Mail: [email protected] E-Mail: [email protected] 508 II. Medizinische Abteilung Asklepios Klinik Wandsbek Alphonsstraße 14, 22043 Hamburg Molekulargenetik Hereditäre Thrombophiliediathesen Dr. rer. nat. Thomas Brodegger Die Gerinnung ist ein komplexes, multifaktorielles Ereignis, dem ein Gleichgewicht zwischen koagulatorischen und anti-koagulatorischen Faktoren zugrunde liegt. Die Störung dieses Hämostasesystems kann zum einen Blutungsneigung steigern, zum anderen das Risiko erhöhen, einem thromboembolischen Ereignis zu erliegen. Die Ursachen für eine Störung des Hämostasesystems können hereditären Ursprungs sein oder durch andere Krankheiten, wie z. B. Karzinom, erworben sein. Hereditäre Thromboserisiken Die beiden häufigsten genetischen Veränderungen, die zu einer Risikoerhöhung eines thromboembolischen Ereignisses führen, sind die Faktor V Leiden-Mutation mit einer Prävalenz in der europäischen Bevölkerung von etwa 5 – 7 % und die Prothrombinmutation (2 – 3 %). [1] Bei weiteren Proteinen mit geringerer Prävalenz bei den genetischen Varianten wurden ebenfalls pathologisch relevante Mutationen nachgewiesen. Tab. 1 zeigt eine Übersicht der bedeutendsten hereditären Risikofaktoren für Thrombosen. reduziert. Die häufigste genetische Veränderung repräsentiert die Faktor V LeidenMutation.[4] Die Punktmutation bewirkt einen Aminosäureaustausch an Position 506 von Arginin zu Glutamin, wodurch diese Spaltungsstelle zerstört wird und der FVa nicht mehr ausreichend inaktiviert werden kann. Abb. 1 zeigt die Struktur des Faktor V mit der von der Mutation betroffenen Aminosäure Arg506 (blau). Neben der Faktor V Leiden-Mutation sind weitere Punktmutationen beschrieben (z. B. FV Cambridge, FV Hong Kong), die aufgrund ihrer geringen Prävalenz aber eine untergeordnete Rolle spielen. Faktor V Prothrombin Der Faktor V (FV) spielt sowohl im koagulatorischen als auch im anti-koagulatorischen Gerinnungsprozess eine Rolle. In seiner aktiven Form (FVa) dient er im koagulatorischen System als Co-Faktor des aktivierten Faktor X (FXa) im Prothrombinasekomplex, der die Konversion des Prothrombins zu Thrombin katalysiert. Die Aktivität des FVa wird durch die proteolytische Spaltung an drei Arginin-Aminosäureresten an Position 306, 506 und 679 durch das aktivierte Protein C (aPC) drastisch Prothrombin ist die Vorstufe des Thrombins (Faktor IIa), einem Vitamin K-abhängigen Faktor im Gerinnungssystem, der die Umwandlung des Fibrinogens zu Fibrin katalysiert und somit pro-koagulatorisch wirkt. Die Mutation im ProthrombinGen (G20210A) umfasst eine definierte Punktmutation von Guanin zu Adenin an Position 20210 im 3’-untranslatierten Bereich des Gens, die somit nicht die Aminosäuresequenz des Proteins beeinflusst.[5] Ihre Auswirkung liegt wahrscheinlich in einer effektiveren Katalyse der Prozessierung, die in einer Anhäufung von mRNA und einer Steigerung der Proteinbiosynthese resultiert, was zu einem erhöhten Prothrombinspiegel führt.[1] Protein C, Protein S, Antithrombin Im Gegensatz zu den Punktmutationen im Faktor V- und im Prothrombin-Gen sind die Veränderungen in den Genen für Protein C, Protein S und Antithrombin, bei denen eine entsprechende Familien- und Eigenanamnese vorliegen, sehr viel heterogener verteilt und die Prävalenz der einzelnen Mutation deutlich geringer. Die Diversität der Mutationen stellt die molekulargenetische Diagnostik vor Herausforderungen in der Testung und der Interpretation der Ergebnisse. Da eine unbekannte Veränderung vorliegen kann, muss das gesamte Gen analysiert werden. Hierfür steht beispielsweise die Sequenziertechnik zur Verfügung. Sie ist in der Lage, die meisten Mutationen zu detektieren, derzeit allerdings noch relativ teuer und aufwendig. Wird eine genetische Veränderung erkannt, muss die pathologische Relevanz geklärt werden. Nicht jede Veränderung führt automatisch zu einer Beeinträchtigung des 509 medtropole | Ausgabe Januar 2008 a b Abb. 1: Faktor V-Proteinstruktur mit den proteolytischen Spaltungsstellen für das aktivierte Protein C Arginin 306 Abb. 3: Teststreifen zur Diagnostik der Faktor V Leiden- und 679 (grün) sowie bei dem Faktor V Leiden verändertem Arginin 506 (blau). (a) Proteinoberfläche; Mutation und der Prothrombin-Genmutation (G20210A). (b) Tertiärstruktur (Strukturdaten aus Brookhaven-Datenbank, 1y61.pdb). Linker Streifen: kein Faktor V Leiden, heterezygote Mutation für das Prothrombin-Gen. Rechter Streifen: heterozygote Mutation für Faktor V Leiden, keine Prothrombin-Genmutation. Abkürzungen: WT = Wildtyp, Mut = Mutation FV = Faktor V, FVL = Faktor V Leiden, FII = Faktor II (Prothrombin), KK = Konjugatkontrolle, AK = Amplifikationskontrolle Proteins. Während ein Aminosäureaustausch durch eine Mutation an einer bestimmten Position des Proteins fatale Auswirkungen haben kann, ist der Austausch an einer anderen Position der Aminosäurekette unter Umständen unproblematisch. Wie wirken sich beispielsweise kleine „in frame“-Deletionen oder -Insertionen auf die Funktionalität des Proteins aus? Sind die Veränderungen bisher noch nicht untersucht, kann es schwierig sein, die Auswirkungen zu prognostizieren, sodass eine Unsicherheit in der Relevanz der gefundenen genetischen Veränderung besteht. Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR) Ein erhöhter Homocysteinspiegel im Plasma gilt als unabhängiger Risikofaktor für venöse [6] sowie arterielle Thrombosen. Ursachen können erworbene Hyperhomocysteinämien durch Mangel an Vitamin B6, Vitamin B12 oder Folsäure sein, aber auch genetische Ursachen sind in der Diskussion. Eine Mutation, die mit einem erhöhten Homocysteinspiegel assoziiert wurde, 510 ist die C677T-Mutation im MTHFR-Gen. Neuere Daten konnten aber keinerlei Zusammenhang zwischen dieser Mutation und einer Hyperhomocysteinämie herstellen. Neben den aufgeführten Faktoren haben auch weitere genetische Faktoren einen Einfluss auf das Thromboserisiko. Im Gegensatz zu Mutationen/Polymorphismen, die eine Erhöhung des Risikos bedeuten, stehen weiterhin auch Veränderungen wie beim Faktor XIII-Gen im Fokus, die eine Schutzfunktion ausüben könnten. [7] Diagnostik Die Mutationsuntersuchungen auf Faktor V Leiden und im Prothrombin-Gen sind im Zuge eines individualisierten Screenings angesiedelt (Abb. 2). Für das Prothrombin ist kein funktioneller Test in der Routinediagnostik verfügbar, daher kann stattdessen die genetische Testung als geeignete Methode eingesetzt werden. Für die aPCResistenz sind funktionelle Tests in Gebrauch (aPTT-Methoden), die Hinweise auf eine pathologische aPC-Resistenz zulassen. Die molekulargenetische Testung auf Faktor V Leiden kann hier unterstützend wir- ken. Denn obwohl moderne Funktionstests gut zwischen pathologischen und normalen Werten diskriminieren können, konnte bei pathologisch auffälligen Proben in den Funktionstests nicht immer zuverlässig auf eine heterozygote bzw. homozygote Trägerschaft der Mutation geschlossen werden. Die molekulargenetische Testung schafft in diesen Fällen Klarheit (Abb. 3). Weiter kann der molekulargenetische Testansatz für Familienuntersuchungen herangezogen werden, um bei einem Patienten mit Mutation eine Trägerschaft innerhalb der Familie aufzuklären. Hierbei sind jedoch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik zu beachten. [9] Die molekulargenetische Untersuchung auf Veränderungen in den Genen für Protein C und S sowie im Antithrombin-Gen ist bisher lediglich in Einzelfällen sinnvoll, da das Kosten-Nutzen-Verhältnis mit der derzeitigen Diagnostik noch nicht ausgewogen ist und die Aussagekraft in Bezug auf die Pathogenität sehr eingeschränkt sein kann. Hierfür stehen funktionelle Tests zur Verfügung, die eine thromboembolische Risikoeinschätzung erlauben. Molekulargenetik [3] Protein S-Mangel [3] Antithrombinmangel [3] Defekt aPC-Resistenz (modifiziert nach [2]) Prothrombin-Genmutation (modifiziert nach [2]) Protein C-Mangel Mutationstyp Punktmutation G1691A (R506Q) Punktmutation G20210A verschiedene Mutationen verschiedene Mutationen verschiedene Mutationen Prävalenz (Normalbevölkerung) het: 5 – 7 % hom: 0,02 – 0,1 % 2–3% 0,2 – 0,5 % 0,1 – 1 % 0,02 – 0,04 % Prävalenz (Thrombosepatient) het: 20 – 30 % hom: 3 % 4 – 10 % 2–5% 1–3% 1–2% Risikoerhöhung für Thrombosen het: 3 – 7fach hom: 80-fach het: 2 – 3-fach het: 6 – 10-fach hom: nicht lebensfähig het: 2-fach hom: nicht lebensfähig het: 5-fach hom: nicht lebensfähig (außer HeparinBindungsvariante) het = heterozygote Mutation: ein Allel unverändert, ein Allel trägt die Mutation hom = homozygote Mutation: beide Allel tragen die Mutation Tab. 1: Angeborene Thromboserisiken und deren Prävalenz in der kaukasischen Bevölkerung Literatur [1] Zivelin A, Mor-Cohen R, Kovalsky V et al. Prothrombin 20210G>A is an ancestral prothrombotic mutation that occurred in whites approximately 24000 years ago. Blood 2006; 107: 4666-8. [2] Hach-Wunderle V, Müller MM, Pabinger J, Seifried E. Thrombophile Diathesen. DGHO 2005. www.dgho.de; Rubrik: Leitlinien/Studien [3] Khan S, Dickerman JD. Hereditary thrombophilia. Abb. 2: Auszug des Algorithmus einer rationellen Thrombophiliediagnostik (Willeke, DÄ 1999).[8] Thromb J 2006; 4: 15-31. Die Therapieoptionen sind nicht dargestellt. [4] Bertina RM, Koeleman BP, Koster T et al. Mutation in blood coagulation factor V associated with resistance to activated protein C. Nature 1994; 369: 64-7. [5] Poort SR, Rosendaal FR, Reitsma PH, Bertina RM. A common genetic variation in the 3’-untranslated region of the prothrombin gene is associated with elevated plasma prothrombin levels and an increase in venous thrombosis. Blood 1996; 88: 3698-703. [6] Eichinger S, Stümpflen A, Hirschl M et al. Hyperhomocysteinemia is a risk factor of recurrent venous thrombo- Kontakt Dr. rer. nat. Thomas Brodegger Molekulargenetik MEDILYS c/o Asklepios Klinik Altona Paul-Ehrlich-Straße 1 22763 Hamburg embolism. Thromb Haemost 1998; 80: 566-9. [7] Cushman M, Cornell A, Folsom AR et al. Association of Tel. (0 40) 18 18-81 59 74 Fax (0 40) 18 18-81 49 37 the beta-fibrinogen Hae III and factor XIII Val34Leu gene variants with venous thrombosis. Thromb Res 2007 (im E-Mail: [email protected] Druck). [8] Willeke A, Gerdsen F, Bauersachs RM, Lindhoff-Last E. Rationelle Thrombophiliediagnostik. Deutsches Ärtzeblatt 1999; 31-32: A2111-A2118. [9] Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V. www.gfhev.de/de/leitlinien/index.htm 511 ISSN 1863-8341 Rettender Luft-Sog – die Geschichte der Eisernen Lunge Jens O. Bonnet In der Genesis vollendet der Schöpfer die Erschaffung Adams, indem er ihm „in seine Nase Atem des Lebens hauchte“.[1] Auch die Mund-zu-Mund-Beatmung zur Reanimation von Kindern wird im alten Testament mehrfach erwähnt.[2,3] Technische Hilfsmittel zur Beatmung kamen vermehrt im 18. Jahrhundert zum Einsatz. So empfahl 1782 die Royal Humane Society in England den Gebrauch von Blasebalgen als effektivstes Mittel zur künstlichen Beatmung [4], der Franzose François Chaussier propagierte 1791 die Sauerstoffgabe und 1806 die Larynx-Intubation.[5] Die Kritik des Franzosen Leroy D’Etailles 1829 und weiterer Ärzte an der mangelhaften Regulierbarkeit des Luftstromes ließ die Blasebalgbeatmung um 1837 aus der Mode kommen.[4] Probleme wie häufige Überblähungen oder gar Magenrupturen nach nasopharyngealer Intubation und Beatmung ließen die Forscher nach Alternativen suchen. Als besonders erfolgreich und schonend erwiesen sich schließlich Unterdruckkammern, die den Patienten von außen bei der Atmung unterstützten und weder Intubation noch Sedierung des Patienten erforderten. Dabei lag der Patient mit dem gesamten Körper oder nur dem Rumpf in einem Hohlzylinder, der Kopf blieb außerhalb des Zylinders. Rhythmische Druckschwankungen im Zylinder bewegten den Thorax des Patienten passiv mit und imitierten so die normale Atemtätigkeit: Zur Inspiration wurde ein Unterdruck im Zylinder aufgebaut, zur Expiration ein Überdruck. Nach diesem Prinzip entwickelte der schottische Arzt John Dalziel bereits 1832 eine Anlage zur Beatmung ertrunkener Seeleute, die als erster Tank-Respirator gilt.[6] 1876 präsentierte Eugène Joseph Woillez in Paris die röhrenförmige und über einen Hebel angetriebene „Spirophore“ zur Behandlung der www.medtropole.de Links: Untersuchung eines Polio-Patienten in der Eisernen Lunge während der Epidemie auf Rhode Island 1960 (Foto: CDC) Rechts: Geöffnete Eiserne Lunge aus den 1950er Jahren (Foto: CDC/GHO/Mary Hilpertshauser) Asphyxie.[6] Nach dem Tod seines neugeborenen Sohnes aufgrund von Atemproblemen beschäftigte sich sogar der Erfinder des Telefons, Alexander Graham Bell, mit diesem Thema und entwarf 1881 eine eiserne Vakuumjacke zur Erleichterung der Atmung.[7] Den Durchbruch für die künstliche Beatmung brachten schließlich 1928 der Chemie-Ingenieur Philip Drinker und der Pädiater Charles F. McKhann mit dem erfolgreichen Einsatz des „Drinker-Respirators“ bei der Langzeitbeatmung eines Poliomyelitispatienten.[8] Das später als „Eiserne Lunge“ bekannte Gerät war für kleine Kinder ebenso geeignet wie für Erwachsene mit einer Länge von bis zu zwei Metern und einem Gewicht von bis zu 110 Kilogramm. Beatmungsparameter wie Atemfrequenz und -volumen ließen sich einstellen, der Gummikragen um den Hals ermöglichte eine gute Abdichtung der Druckkammer bei höchstmöglichem Komfort für den Patienten, zur Pflege und Untersuchung ließ sich das Bett aus der Druckkammer herausziehen.[8] Eiserne Lungen kamen vor allem bei Polio-Patienten zum Einsatz, von denen viele die Atemunterstützung nur in der Akutphase benötigten. Einige Patienten benutzten die Maschine nur über Nacht, andere über lange Zeit. In Leipzig gab es in den 1950erJahren sogar eine ganze Station mit Eisernen Lungen. Die Polio-Impfung und neue Beatmungstechniken ließen die Eiserne Lunge beinahe aus dem medizinischen Repertoire verschwinden, die Produktion wurde 1970 eingestellt, Wartung und Ersatzteilversorgung 2004. Doch noch immer leben in den USA rund 40 Überlebende der Polioepidemie in Eisernen Lungen, so wie Dianne Odell aus Jackson. Odell erkrankte mit drei Jahren an Poliomyelitis und ist seit 58 Jahren rund um die Uhr auf ihre Eiserne Lunge angewiesen, die im Haus ihrer Eltern steht.[9] Literatur [1] Gen 2, 7 [2] 1 Kön 17, 8-24 [3] 2 Kön 4, 18-37 [4] Keith A. The mechanism underlying the various methods of artificial respiration. Lancet 1909; 1: 745-9 [5] Stofft H. La mort apparente du nouveau-né en 1781 et en 1806. L'oeuvre de François Chaussier. Hist Sci Med. 1997 Oct-Dec; 31 (3-4): 341-9. [6] Woollam CH. (1976) The development of apparatus for intermittent negative pressure respiration (1) 1832-1918. Anaesthesia. 1976; 31 (4): 537-47. [7] Baskett TF. Alexander Graham Bell and the vacuum jacket for assisted respiration. Resuscitation. 2004; 63 (2): 115-7. [8] Drinker P, McKhann CF. The use of a new apparatus for the prolonged administration of artificial respiration: I. A fatal case of poliomyelitis. JAMA. 1929; 92 (20): 1658-60. [9] http://www.wthfoundation.org