Heinrich Richard Schmidt Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Konfessionen in der Frühen Neuzeit und die Art, wie sie Raum gestalten, also selber verräumlichen. Damit soll versucht werden, eine Brücke zur modernen Humangeographie zu schlagen, die ihrerseits längst die Position der alten „Erdkunde“ verlassen hat, welche Raum als Container verstand.1 „Regionen“ werden etwa von Blotevogel und Weichhart als Tätigkeits- oder Identitätsräume definiert, also sozial und kulturell konzipiert.2 Ich werde nach den Interferenzen suchen, welche zwischen tradierten Raumbezügen, etwa einem „Regionalbewusstsein“, und den Konfessionen entstehen. Ich werde dabei zwei Varianten untersuchen: Fälle, in denen die Konfession die Region oder den lokalen Raum spaltet, und dann solche, in denen sie die Region oder überregionale Räume stärkt. Ich werde in 1 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Ute Wardenga/ Judith Miggelbrink, Zwischen Realismus und Konstruktivismus. Regionsbegriffe in der Geographie und anderen Humanwissenschaften, in: Hans-Werner Wollersheim/ Sabine Tzschaschel/ Matthias Middell (Hg.), Region und Identifikation, Leipzig 1998, S. 3346, hier: S. 35. 2 Hans Heinrich Blotevogel, Auf dem Weg zu einer “Theorie der Regionalität”. Die Region als Forschungsobjekt in der Geographie, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 44-68; Peter Weichhart, Die Region – Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 91 den folgenden Kapiteln jeweils mit Beispielen beginnen, die ein bestimmtes Gebiet in den Blick nehmen, bevor ich versuche, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. 1. Die Spaltung der Region durch die Konfession 1.1 Graubünden Graubünden war ein Staatenbund aus Gerichtsgemeinden.3 Sie bestanden ihrerseits aus Nachbarschaften, die etwa Dörfern oder Weilern entsprechen, die sich selbst über Dorfmeister verwalteten, Steuern erhoben und auch die niedere Polizei besorgten.4 Die rätischen Bünde übten nur die Kompetenzen aus, die ihnen die Gemeinden, die ihre Glieder waren, zuwiesen, v.a. außenpolitische Befugnisse. Gesamtbündnerische Gemeindereferendum. Besonders Beschlüsse im Gerichtswesen unterlagen dem zeigt die sich republikanische Unabhängigkeit der einzelnen Gerichtsgemeinden. Lediglich der Graue Bund verfügte über einen gemeinsamen Appellationsgerichtshof für zivilrechtliche Streitfälle.5 Peter Liver spricht deshalb von einer „GemeindenReferendumsdemokratie“.6 „Der Zusammenschluß der rätischen Bünde hatte einen freiheitlichen, republikanischen Föderativstaat begründet, dessen Grundlage die Souveränität und Egalität der Bündner Gerichtsgemeinden war.“7 Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 25-43. Silvio Färber, Der bündnerische Herrenstand im 17. Jahrhundert. Politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte seiner Vorherrschaft, zugleich Diss. phil. Zürich, Zürich 1983, S. 27-42. 4 Ebd., S. 24-27. 5 Andreas Wendland, Der Nutzen der Pässe und die Gefährdung der Seelen. Spanien, Mailand und der Kampf ums Veltlin 1620-1641, Zürich 1995, S. 21. 6 Peter Liver, Die Stellung des Gotteshausbundes in der bischöflichen Feudalherrschaft und im Freistaat Gemeiner Drei Bünde, in: Festschrift 600 Jahre Gotteshausbund, Chur 1967, zitiert nach Färber, Herrenstand (wie Anm. 3), S. 21. 7 Andreas Wendland, Pässe (wie Anm. 5), S. 22. 3 92 Heinrich Richard Schmidt Die freie Selbstbestimmung des Konfessionsstands stützte die politische Selbständigkeit der Gemeinden.8 Seit den Ilanzer Artikeln von 1524 und 1526 hatte jede Gerichtsgemeinde das Recht, ihre Religion frei zu bestimmen. Die Kirchgemeinden stellten ihre Pfarrer auf Vertragsbasis an und säkularisierten die Güter ihrer Pfründen, und zwar nicht nur die reformierten, sondern auch die katholischen.9 In Graubünden stoppte die Konfessionalisierung also zunächst auf der Gerichtsgemeindeebene. Das Gericht war als weitgehend autonome Republik durchaus - wenn auch von der Größe her eher einem Amt eines Territorialstaates vergleichbar - äquivalent mit deutschen Territorialstaaten. Graubünden praktizierte also eine republikanische Variante des cuius regio eius religio.10 Die Protestanten und Katholiken lebten im 16. Jahrhundert in friedlicher Koexistenz und partizipierten an einer einzigen politischen und sozialen Struktur.11 D.h. die einzelnen Gemeinden waren konfessionell einheitlich, die Regionen, die Teilbünde wie der Gesamtbund aber bereits konfessionell gespalten. Zunächst funktionierte die Kooperation über die Grenzen der Gemeinden hinweg, jedoch nur bis an den Anfang des 17. Jahrhunderts. Zwei antagonistische Konfessionen hatten ihren Monopolanspruch nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Besonders die reformierte Mehrheit, immer stärker nicht von politisch-pragmatischen, sondern von religiös-radikalen Ansichten geprägt und immer mehr unter die Führung von Predigern geraten, kündigte das 8 Paul Gillardon, Geschichte des Zehngerichtebundes, Davos 1936, S. 90: Die Reformation war hier "nicht eine Reform von oben herab, sondern eine solche von unten herauf"; ebd., S. 96 zur Entfaltung der Reformation im "ständigen Gegensatz zu Österreich". 9 Immacolata Saulle-Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden 1400-1600 (Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte 7) Chur 1997, S. 286-288, Zitat 288. 10 Vgl. Randolph C. Head, Early Modern Democracy in the Grisons. Social Order and Political Language in a Swiss Mountain Canton, 1470-1620, Cambridge 1995, S. 68-80, 90. 11 Randolph C. Head, Catholics and Protestants in Graubünden: Confessional Discipline and Confessional Identities without an Early Modern State?, in: German History 17 (1999) S. 329, 333. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 93 Agreement auf. Eine mehr oder weniger gewaltsame Protestantisierung begann. Schließlich kam es soweit, dass selbst Gemeinden geteilt wurden. „Popular identities divided formerly unified communities into mutally hostile denominational camps and inspired systematic and widespread resistance to efforts to change confession, thus annoying that religious identity might be separate from political loyality.“12 Wie tief die Spaltung der Region gehen konnte, zeigt der Fall der Vier Dörfer: Sie bildeten ein gemeinsames Gericht, waren aber selbst Nachbarschaften mit eigenen Pfarrkirchen, Zizers besaß darüberhinaus eine kleinere Kapelle. Die Entscheidung für oder gegen die Reformation fiel hier schon von Anfang an nicht auf der Gesamtgerichtsebene, sondern auf derjenigen der Nachbarschaften oder Dörfer. Erst als auch deren Einheit, die ja auch eine Einheit des Gottesdienstes, also eine sakramentale Einheit, war, gefährdet wurde, kam es zu Tumulten. 1611, nach fast einem Jahrhundert der religiösen Ruhe, erlebten die wohlhabenden, in der Nähe von Chur gelegenen Dörfer Undervaz, Trimmis und Zizers eine Serie von Konflikten wegen der Konfession, die rasch in Krawalle, feindliche Übergriffe benachbarter Gemeinden, Vandalismus und Gewalt zwischen der katholischen Mehrheit und der reformierten Minderheit ausartete.13 In Undervaz und Trimmis versuchten protestantische Minderheiten nämlich, einen Anteil an der Dorfkirche zu erlangen.14 Das Problem wurde 12 Ebd., S. 333. Randolph C. Head, Religious Coexistence and Confessional Conflict in the Vier Dörfer: Practices of Toleration in Eastern Switzerland, 1525-1615, in: John Christian Laursen/ Cary J. Nederman (Hg.), Beyond the Persecuting Society. Religious Toleration before the Enlightenment, Philadephia 1998, S. 145. 14 Randolph C. Head, Catholics (wie Anm. 11), S. 337-339. 13 94 Heinrich Richard Schmidt verschärft durch die mittlerweile klar protestantische Politik des Bundes oder einzelner Bünde wie des Gotteshausbundes oder des Oberen Bundes15, in dem die Reformierten die Mehrheit hatten. 1611 wurde in Untervaz den Protestanten durch die protestantische Mehrheit des Gotteshausbundes das Recht auf einen eigenen Gottesdienst zugestanden. Das Kirchengut sollte prozentual aufgeteilt werden. Das verstieß klar gegen das Mehrheitsprinzip. Der Bundestag hob sogar den Untervazer Eid auf, der Neuzuzüger verpflichtete, sich in religiösen Dingen zurückzuhalten. Der reformierte Pfarrer von Chur Georg Saluz kam in Begleitung von Militär in das Dorf. Die Angst der Katholiken wuchs, und als Johann à Porta im Mai 1612 predigte, wurde er von den katholischen Dorffrauen in den Brunnen geworfen. Durch Vermittlung des französischen Botschafters konnten die Katholiken dazu gebracht werden, ein Simultaneum zu akzepieren. Das Kirchenvermögen sollte aufgeteilt werden, und die Protestanten erhielten das Recht auf ein Viertel der Sitze im Dorfrat und auf das Ammeisteramt alle drei Jahre.16 Im nächsten Jahr griff der Konflikt auf Trimmis über und eskalierte da weiter. Der reformierte Landammann von Trimmis verlangte die größere Kirche für die Protestanten. Die katholische Mehrheit weigerte sich, worauf die Protestanten wieder den Bundestag anriefen, der offenbar seine Rolle als neutraler Schlichter verlassen hatte und die protestantische Sache betrieb. Der Kompromiss nach Untervazer Vorbild beruhigte die Gemüter nicht. Der erzwungene Kompromiss von 1613 verschärfte nur die Spannungen und machte deutlich, dass das Dorf tief in zwei religio-politische Faktionen zerfallen war, die beide Verbündete 15 16 Randolph C. Head, Coexistence (wie Anm. 13), S. 154. Der Graue Bund war mehrheitlich katholisch. Ebd., S. 154f. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 95 außerhalb suchten. Im Mai 1614 drang eine bewaffnete Bande von Protestanten, begleitet vom Prediger Saluz, in das Dorf ein, versuchte vergeblich, Einlass in die größere Kirche zu erhalten und schlug dann die Tür der Kapelle der Heiligen Emerita ein. In der kurz später erfolgenden Wahlperiode kam es zu heftigen Wortwechseln. Drohungen, die Protestanten als Häretiker zu verbrennen, wurden laut, ihre Äcker verwüstet.17 Randolph Head, der gegenwärtig beste Kenner der Graubündener Konflikte im 17. Jahrhundert, spricht von einem „vollständigen Zusammenbruch der kommunalen Solidarität“.18 Die Mitbürger waren in Trimmis zu Häretikern geworden, und das kommunale Bürgerrecht hielt die streitigen religiösen Parteien nicht länger zusammen. Zizers, die größte katholische Gemeinde der Vier Dörfer, erlaubte der Minderheit zunächst die Nutzung der kleineren Kirche. Als die Reformierten jedoch dem Prediger Johann à Porta ohne Rücksprache mit den Katholiken das Bürgerrecht gewährten, eskalierte die noch friedliche Situation; nun forderten die Protestanten die große Kirche für sich. 1616 wurde eine Übereinkunft getroffen, die die Widersprüche zwischen einem älteren Verständnis und der neuen Situation zeigt: Beide Konfessionen sollten frei sein, und es sollten keine zwei Parteien, sondern eine Kommune sein - im Folgenden wurden aber Einzelbestimmungen erlassen, die eine völlige Trennung der Kirchen und der Gemeinden in zwei religiöse Einheiten festlegten. Die konfessionelle Differenz wurde nun stärker empfunden als die kommunale Gemeinsamkeit.19 17 Ebd., S. 156f. Randolph C. Head, Catholics (wie Anm. 11), S. 339 – übersetzt von H.R.S. 19 Ebd., S. 339f. Vgl. Randolph C. Head, Coexistence (wie Anm. 13), S. 158f. 18 Heinrich Richard Schmidt 96 Am Ende war eine Lösung also in allen Fällen nur dadurch zu finden, dass die religiöse von der politischen Gemeinde getrennt wurde. Die politische Gemeinde wurde säkularisiert. Damit weist Graubünden weit voraus auf die gleichen Tendenzen wie nach den großen Religionskriegen in Frankreich, als eine an nicht mehr konfessionellen Leitlinien orientierte Politik dominant wurde.20 Die Tatsachen zeigen aber auch, dass eine überlokale, überregionale Solidarität aller Reformierten entstanden war - wofür ja auch die Voten des Bundestages sprechen. Neben die Spaltung selbst der allerkleinsten Einheit, der Kirchgemeinde, trat also gleichzeitig und untrennbar damit verbunden die Stiftung einer ideologischen Einheit jenseits der Region. Es kam in Graubünden, so kann man sagen, im 17. Jahrhundert zu einem Wechsel von den kommunalen zu konfessionellen Identitäten.21 Dies bedeutete zwar nicht das Ende der Gemeinde als eines zentralen Verbandes des Bündner Selbstverständnisses und seiner politischen Organisation. Aber es kam zu einer Entsakralisierung dieser Organisation. Man kann von einer doppelten Identität sprechen: einer politisch-regionalen und einer konfessionell-überregionalen. Entscheidend war dabei nicht die Spaltung der Religion als solche, sondern die Tatsache, dass es den Predigern und Pfarrern gelungen war, ein immer schärfer gefasstes konfessionelles Weltbild zu verbreiten, das in den Köpfen der gemeinen Leute wie der Oligarchen dominant wurde. 20 21 Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 35-79. Randolph C. Head, „Nit alß zwo Gmeinden, oder Partheyen, sonder ein Gmeind“: Kommunalismus zwischen den Konfessionen in Graubünden, in: Beat Kümin (Hg.), Kirche, Kultur und kommunale Entwicklung. Studien zur Geschichte der Landgemeinde im Zeitalter der Reformation (Bauer und Reformation), Zürich Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 97 1.2 Thurgau Der Thurgau ist ein Beispiel für eine gemischtkonfessionelle abhängige Landschaft. Die Herren der „gemeinen Herrschaft“ waren - verschiedenkonfessionelle - Stände der Eidgenossenschaft. Nach anfänglich starker Protestantisierung von Zürich aus brachte schon der 2. Kappeler Frieden von 1531 einen Endpunkt. Nach der Niederlage der Protestanten - und dem Tod Zwinglis auf dem Schlachtfeld - wurde durch diesen Frieden beschlossen, den Status quo festzuschreiben, ausgenommen in den sogenannten „Freien Ämtern“ Mellingen, Bremgarten, Rapperswil, Uznach, Gaster und Wesen. Hier wurde die Gegenreformation wirksam und die Reformation rückgängig gemacht. Im Thurgau, Rheintal, Sargans und der Grafschaft Baden wurden auf Veranlassung der katholischen Orte neue Abstimmungen über den Glauben vorgenommen und dem Katholizismus überall dort das Monopol gegeben, wo er ein Mehr fand. Die Reformierten mussten in diesen Orten auf ihre Glaubensrechte verzichten. War dagegen die Mehrheit protestantisch, behielt die katholische Minderheit das Recht auf katholischen Gottesdienst. Das Kirchengut wurde hier zwischen Mehrheit und Minderheit geteilt. Die Situation ist also der in den gemischtkonfessionellen Regionen Graubündens in etwa vergleichbar. Über das Zusammenleben in dieser Region erfahren wir mehr am Beispiel des gemischtkonfessionellen Städtchens Bischofszell. Die Protestanten des Städtchens gedachten jedes Jahr zu Ostermontag in einer Prozession der Einführung der Reformation in ihrer Stadt. Aus der zweiten Hälfte des 17. 2004, S. 21-57, hier: S. 23. Heinrich Richard Schmidt 98 Jahrhunderts sind handgreifliche Auseinandersetzungen mit Katholiken überliefert, die sich durch die ostentative Darstellung der reformierten Mehrheit, noch dazu unter Benutzung katholisierend-ironisierender Formen, provoziert fühlten.22 Ähnliche Auseinandersetzungen werden von katholischen Fronleichnamsprozessionen berichtet, als die Protestanten durch „Übertreibung der Devotionsgeste, mit dem Trinken, dem Spielen und Lachen die katholische Handlung lächerlich zu machen“ versuchten.23 Angesichts von Rekatholisierungsmaßnahmen des Bischofs von Konstanz gewannen die Auseinandersetzungen im 17. Jahrhundert an Brisanz.24 Zunächst gingen die Katholiken aber einer Konfrontation noch aus dem Weg. Sie nahmen zwar ein altes katholisches Fest zum Dank für die Errettung vor einer Feuersbrunst wieder auf, verlegten es aber auf einen Termin, der mit der Prozession der Reformierten nicht kollidierte.25 Die Protestanten ihrerseits begannen – angesichts der als bevorstehend empfundenen katholischen Offensive –, die Katholiken offen zu provozieren, zu verhöhnen und zu entehren. Die Details können hier außen vorbleiben, weil sie sich von den Vorgängen in Graubünden nicht wesentlich unterscheiden. Wichtiger scheinen mir die von Frauke Volkland, die den Konfessionalisierungsprozess im Thurgau untersucht hat, beschriebenen Fälle von Konversionen. In der gemischten Landschaft Thurgau stand jedem Bürger oder Untertanen die Wahl der Konfession durch persönliche Entscheidung frei. Einzelne seltene Fälle von Glaubensübertritten finden sich, vor allem aus der 22 Frauke Volkland, Konfessionelle Grenzen zwischen Auflösung und Verhärtung. Bikonfessionelle Gemeinden in der Gemeinen Vogtei Thurgau (CH) des 17. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 5 (1997) S. 370387, hier: S. 370. 23 Ebd., S. 384 f. 24 Ebd., S. 371. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 99 zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts berichtet Volkland von solchen Ereignissen. Die Konversionen zeigen im Detail, wie sehr die nicht konvertierenden Familienmitglieder diesen Schritt als existentielle Trennung des Konvertiten von seiner Familie wahrnahmen.26 Ein konvertierter Bürger von Bischofszell wurde nicht mehr als Sohn oder Bruder oder Gatte betrachtet.27 Das zeigt, welche enorme Bedeutung die „unsichtbare Grenze“ besaß und dass es keineswegs leicht war, sie zu überschreiten.28 „In dem genannten Beispiel bedeutete ein Übertritt zum Katholizismus die Aufkündigung aller verwandtschaftlichen Beziehungen zu der betroffenen Person. Vor allem der noch engere Bereich der Familie wurde konfessionell definiert, und eine Konversion zog unweigerlich das Auseinanderfallen der Familie nach sich.“29 Die Konfessionalität ist deshalb als eine sehr mächtige, ja dominante Prägekraft für die Identität von Menschen anzusehen, die selbst elementare Solidaritäten wie die innerhalb einer Familie, also wesentlich engere Bindungen als die in einer Region, sprengen konnte. Konfessionsverschiedenheit hieß Fremdheit, Feindschaft. Modi vivendi konnten nur in der Separation der Feinde gefunden werden, wie das ja schon die Graubündener Beispiele gezeigt hatten. Das Eindringen des konfessionellen Gegensatzes in die „sakrosankten“ elementaren 25 Ebd., S. 370. Ebd., S. 380-383. 27 Ebd., S. 381. 28 Die Annahme Volklands, konfessionelle Grenzen verhärteten sich nur, wenn politische oder soziale Faktoren mit ins Gewicht fielen, überzeugt nicht. Sie wird argumentativ nur gebraucht, um die nicht bewiesene Leichtigkeit der Konversion und die berichteten „schweren sozialen Sanktionen“ miteinander verbinden zu können. In der Tat scheint die Konversion selbst trennend gewirkt zu haben, bisherige Gruppenbeziehungen gekappt und neue konstituiert zu haben. Hier verwechselt m.E. der Verf. die rechtlichen Gegebenheiten und die sozialen Tatsachen. 29 Ebd., S. 382. 26 100 Heinrich Richard Schmidt Sozialisierungsformen wie die Kirchgemeinde und nun im Thurgau das Haus und die Familie führte auch hier zur Spaltung. 1.3 Appenzell Der Kanton Appenzell30 trennte sich im Jahre 1597 in zwei Teile. „Das institutionelle Gerüst als Landsgemeinde und Landrat war nicht in der Lage, die politische und konfessionelle Einheit zu wahren.“31 Appenzell Innerrhoden wurde durch Beschluss der es konstiuierenden Gemeinden katholisch, Appenzell Außerrhoden reformiert.32 Beide Teilstaaten bildeten vollständige Verfassungsorgane aus, die denen des ehedem einigen Landes nachgebildet waren. Die Minoritäten wanderten in die Gegend aus, wo ihr Glauben vorherrschte. So entstanden konfessionell einheitliche Räume, die sich allmählich auch in der Mentalität und der Arbeitsorganisation (in Außerrhoden Textilgewerbe, in Innerrhoden Viehzucht) herausbildeten. Damit ist Appenzell ein Beispiel für Regionalisierung durch Konfessionalisierung.33 Denn es gab bisher keine Grenze innerhalb des Kantons. Erst die Konfession schuf hier eine solche Grenze, an der sich Regionen trennten. „War bisher die Verfassung allein prägend für die mentale Einheit der Appenzeller, so kam jetzt die Religion überlagernd hinzu.“34 Während die Reformierten sich im Laufe der Zeit immer stärker dem Textilgewerbe zuwandten und zu dem protoindustriellen Zentrum der Schweiz 30 Peter Blickle, Verfassung Religion. Voraussetzungen und Folgen der Landesteilung des Appenzell 1597, in: ZRG, GA 115 (1998) S. 339-360. 31 Ebd., S. 349. 32 Ebd., S. 350. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 353. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 101 wurden,35 blieben die Innerrhodener agrarisch (Viehzucht) orientiert. Mehr als nur regional trennte die Konfession hier auch mental und stiftete eine Lebenshaltung, die ein gutes Beispiel für Max Webers These vom Zusammenhang zwischen Protestantismus und dem Geist des Erwerbsstrebens sein könnte. Appenzell steht also einmal für die separierende, Grenzen ziehende Rolle der Konfession, zum andern verweist es auf die Mentalität als konfessionell geprägte Dimension Regionalbewusstsein des wird Lebens. hier das Mehr ganze als nur Bewusstsein Region oder konfessionell durchgeformt. 1.4 Augsburg Besonders gut erforscht ist die „unsichtbare Grenze“ im Fall der gemischtkonfessionellen, paritätischen Stadt Augsburg. Zwischen 1580 und 1618 „kam es auf beiden Seiten zur Herausbildung eines konfessionellen (Selbst-) Bewusstseins, das mit einer Verfestigung der innerkirchlichen Strukturen Hand in Hand ging.“36 Konversionen und gemischtkonfessionelle Ehen gingen nun stark zurück.37 Seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges kühlte sich das bis dahin erträgliche Verhältnis der Konfessionen ab, allerdings ohne dass es zu einem scharfen Bruch gekommen wäre. Der Krieg selbst endete 35 Vgl. Albert Tanner, Spulen-Weben-Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell Ausserrhoden, Zürich 1982. Paul Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648, Wiesbaden 1983, S. 389 f. 37 Ebd., S. 390. 36 Heinrich Richard Schmidt 102 mit der Durchsetzung der numerischen Parität in allen politischen Gremien der Stadt.38 Die Trennung in der Einheit erfasste aber nicht nur Ratssitze. Die tatsächlich gegebene unterschiedliche landsmannschaftliche oder regionale Herkunft vermischte sich in Augsburg mit der konfessionellen in einer Weise, dass sie Zeitgenossen geradezu ins Auge gesprungen zu sein scheint. Friedrich Nicolai berichtet von einer Reise nach Augsburg: „Die Einwohner von Augsburg haben etwas sehr auffallendes Unterscheidendes in ihrer Physiognomie: sie ist gleichsam aus der schwäbischen und bairischen (sic!) Physiognomie gemischt. Es scheint mir, daß die Protestanten in Augsburg mehr der schwäbischen Nationalphysiognomie, und die Katholiken der bairischen sich nähern. Schon Bianconi (selbst ein Katholik) hat bemerkt, daß man in Augsburg die Katholiken und die Protestanten am Gesichte und an den Manieren unterscheiden kann. Der Unterschied ist in der That für jeden aufmerksamen Beobachter höchst auffallend, welches um so viel weniger zu verwundern ist, da man fast sagen möchte, daß die Katholiken in Augsburg katholischer sind, als irgendwo. Sonderlich der katholische Mann ist äusserst von dem protestantischen gemeinen Mann unterschieden. Jener ist viel finstrer und in sich gekehrter; dieser gesprächiger und auch industriöser. Jener ist fleischiger und röther im Gesichte, und die Farbe des Gesichts nicht so hoch. Ich ging kurz hintereinander in eine katholische und eine protestantische Kirche, und konnte mich nicht genug verwundern, wie äusserst unterschieden der Schnitt vom Gesichte bey den gemeinen Weibspersonen war. Bey den katholischen gemeinen Weibspersonen sah ich gewiß zehn perpendikulare und spitze Stirnen 38 Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität (1584-1648), Göttingen 1989, bes. S. 92 f., 133. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 103 gegen eine runde, und bei den protestantischen gemeinen Weibern war es gerade umgekehrt. Es kann zu fortdauernder Unterhaltung dieses frappanten Unterschiedes in der That etwas beytragen, daß beide Parteyen sich nur unter ihren Glaubensgenossen verheirathen. Vielleicht stammen auch mehrere Katholiken wirklich aus Baiern her.“39 Auch die Häuser waren katholisch oder lutherisch. Bei Katholiken zeigten die Fassaden ostentativ durch Heiligenbilder u.ä. die Konfession des Besitzers an. Aber auch bei der Wohnungseinrichtung unterschied sich das schmucklose protestantische Mobiliar von der barocken, auch von barocker Frömmigkeit geprägten katholischen Einrichtung. „Die sakrale Überschwemmung der Innenausstattung katholischer Häuser steht im Gegensatz zur protestantischen Strenge und Schmucklosigkeit“.40 Schließlich stellte die Frauenkleidung ein drittes äußeres Unterscheidungsmerkmal dar.41 Diese „Abgrenzungslogik“42 „gehorcht eigenen, von dogmatischen Unterschieden unabhängigen Gesetzen und macht usprünglich belanglose Dinge wie eine Haube, einen Rock oder ein Mieder zu Erkennungszeichen, die die Konfessionszugehörigkeit sofort sichtbar werden lassen und deshalb mit einer starken affektiven und symbolischen Bedeutung befrachtet sind.“43 Étienne François folgert: „Ihre existentielle Wirklichkeit, ihren entscheidenden gesellschaftlichen Einfluß und ihre Langlebigkeit verdankt die Bikonfessionalität nicht in erster Linie dem Vorhandensein unterschiedlicher 39 Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, 12 Bde., Berlin/Stettin 1783/1795, hier: Bd. VII, S. 63-65 - zitiert nach Étienne François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806, Sigmaringen 1991, S. 63 f. 40 Étienne François, Grenze (wie Anm. 39), S. 238. 41 Ebd., S. 188. 42 Ebd., S. 189. 43 Ebd., S. 189. Heinrich Richard Schmidt 104 Glaubensinhalte. Sie verdankt sie vor allem der Tatsache, daß die Konfessionszugehörigkeit zur damaligen Zeit untrennbar mit drei Realitätsebenen verbunden ist, in denen sie wurzelt und die ihr Sinn verleihen. Die erste - und bei weitem wichtigste - ist die Familie […]. Die zweite Realitätsebene ist der Raum im weiteren Sinn des Wortes: Wenn Katholiken und Lutheraner sich voneinander unterscheiden und einander als verschiedenartig empfanden, dann deshalb, weil ihre geographische Herkunft und ihre familiären ‘Networks’ nicht die gleichen sind, daß die Kirchen, in denen sie getauft, getraut und ausgesegnet werden und in die sie regelmäßig gehen, nicht dieselben sind, daß die Bücher, die sie lesen, nicht von denselben Autoren stammen, nicht in denselben Städten veröffentlicht und auch nicht in derselben Sprache verfaßt sind.“44 Die Spaltung ist aber nicht die einzige Wahrheit. Die Gemeinsamkeit ist die andere. Beide Konfessionen lebten in einer Stadt, miteinander. Sie kooperierten in der Stadtführung. Die Parität trennte, um ein Zusammenleben zu ermöglichen. Die unsichtbare Grenze wurde zur Demarkationslinie, die in ihrer Klarheit die Gruppen auch von den Gefahren des Niemandslandes abhielt.45 Politische Entscheidungen hatten immer zu berücksichtigen, dass sie das Einverständnis beider Parteien brauchten. „Auf die institutionelle Ebene wird so jene strukturelle Verflechtung beider Konfessionen übertragen, für die die jeweils katholischen und protestantischen Doppelkirchen St. Ulrich und Heilig Kreuz bis in unsere Tage das anschaulichste Beispiel liefern.“46 Auch im praktischen Leben waren die Konfessionen in Augsburg nicht räumlich, nicht sozioprofessionell oder wirtschaftlich getrennt, sondern vielfach pragmatisch 44 Ebd., S. 221 f. Ebd., S. 227. 46 Ebd., S. 25. 45 Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 105 aufeinander bezogen.47 Das zeigt sich etwa darin, dass protestantische Goldschmiede, die katholische Kultgegenstände nicht herstellen durften, das als Subunternehmer formell verantwortlicher katholischer Kollegen doch taten. Hier spielte die ökonomisch motivierte Solidarität. Die konfessionell geprägten Gebiete des Alltagslebens, so zahlreich sie auch sein mochten, machen doch nur einen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus.48 1.5 Die Niederlande Die Niederlande sind wie Belgien in ihrer eigenstaatlichen Gestalt selbst ein Produkt der Konfessionalisierung.49 Ähnlich wie bei der Teilung des Appenzells konstituierte die Konfession die ein staatsrechtlich einheitliches Territorium sprengende Ideologie. In den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts erreichte der Calvinismus von Frankreich her die Niederlande. 1566 erfasste dann eine calvinistisch beeinflusste Volksbewegung das ganze Land, wobei systematisch Bilder und Heiligenstatuen vernichtet, Reliquien geschändet und andere Symbole der alten Kirche zerstört wurden. Der Adel unterstützte den Bildersturm in seinem Bemühen, die Zentralregierung zu schwächen. Der Sturm begann auf dem Land, in Flandern, und griff danach auf die Städte über. In Antwerpen wurde 1561 die Confessio Belgica als Glaubensbekenntnis für die Niederlande beschlossen. Als die nördlichen Staaten eine gewaltsame Calvinisierung begannen, gelang es dem Statthalter Farnese, die Südprovinzen wieder unter spanische Obödienz zu 47 Ebd., S. 228. Ebd., S. 228. 49 Vgl. zu den Niederlanden auch Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989, 349-364. 48 Heinrich Richard Schmidt 106 bringen. Die radikalen Gruppen im Norden (Calvinisten) und Süden (Katholiken) konnten sich zunehmend das Zusammenleben mit Anderskonfessionellen nicht mehr vorstellen: Sie wollten die Alleinherrschaft ihres Glaubens und zwangen die starke Mittelpartei in ihre Konfrontation hinein. Am 6.1.1579 schlossen die Gesandten Westflanderns, des Artois und des Hennegaus die (katholische) Union von Arras. Brabant und der weitere Süden traten später bei. Spanien bot ihnen ständische Selbstregierung, verlangte aber Anerkennung des Königs und Treue zum Katholizismus.50 Auf dieser Basis schlossen beide (katholischen) Seiten am 17. Mai 1579 Frieden. Als Reaktion darauf entstand die Union von Utrecht (23.1.1579), welche Holland, Utrecht, Geldern, Seeland und eine Region um Groningen umfaßte. Später waren insgesamt 7 Provinzen vereinigt. Große südliche Städte, die sich anfangs angeschlossen hatten, wurden gewaltsam mit dem katholischen Süden vereinigt. Damit war die Teilung der Niederlande besiegelt. In den Nordprovinzen trug die protestantische Lehre mit ihrer Betonung der Mitwirkung der Betroffenen - wie in der Kirche, so im Staat - den Aufstand ideologisch. Wilhelm von Oranien formulierte in einer „Apologie“ die Volkssouveränität, um seinen Kampf gegen den König von Spanien zu legitimieren. Die sogenannte monarchomachische Lehre, dass man einen schlechten Fürsten notfalls beseitigen dürfe, wurde von den Hugenotten in die Niederlande getragen. Hier wurde 1579 ihre Kampfschrift „Vindiciae contra tyrannos“ gedruckt. Die Haager Unabhängigkeitserklärung nahm Gedanken der Monarchomachen auf und formulierte eine Staatskonzeption, in der der König der Diener des Staates wie in der Kirche der Bischof oder Pfarrer Diener der 50 Zu diesen Ereignissen vgl. Ernst W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556-1648 (Propyläen Geschichte Europas 2) Frankfurt a.M./Berlin 1982, S. 119 f. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 107 Gemeinden ist. Erfüllt er seine Aufgabe nicht, muss er abgelöst werden. So setzten die protestantischen Provinzen den König ab und wählten sich einen neuen. In einem langen Krieg siegte hier - anders als in Frankreich, Böhmen oder Österreich - die Opposition gegen den Absolutismus. Eine Republik etablierte sich. Der zwölfjährige Waffenstillstand 1609, faktisch das Kriegsende, schrieb die Teilung der 17 Provinzen der Niederlande fest, endgültig bestätigt im Westfälischen Frieden. Die sieben nördlichen wurden von Spanien faktisch unabhängig. Im südlichen Teil triumphierte nach 1600 die katholische Konfessionalisierung, die das spätere Belgien prägen sollte. Protestantische Minderheiten wurden verfolgt, zur Konversion oder Auswanderung gezwungen. In den Nordprovinzen herrschte zwar der Calvinismus, er erfasste aber zahlenmäßig weniger als 50 % der Bevölkerung. Öffentliche Ämter blieben jedoch einzig Calvinisten vorbehalten. In dieser Spannungssituation war Toleranz ein Gebot des Überlebens. Es stellte sich insgesamt eine Situation ein, die der Graubündens vor den Wirren des 17. Jahrhunderts sehr ähnlich war. Auf der Basis einer weitgehenden Selbstverwaltung von Kommunen und Regionen unter dem losen Dach eines eher bündischen Gesamtstaates entschärfte sich der Konflikt: Erst die einzelnen Dörfer waren monokonfessionell.51 „Die Gottesdienstregelung wurde bereits in [einem] … frühen Stadium [1579] von einer General- zur Provinzsache. Was schließlich als überprovinziale Gemeinsamkeit blieb, war die Kompromißformel der landesweit geltenden Gewissensfreiheit. Sie ließ Platz für provinzspezifische Interpretationen des 51 Olaf Mörke, „Konfessionalisierung“ als politisch-soziales Strukturprinzip? Das Verhältnis von Religion und Staatsbildung in der Republik der Vereinigten Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert, in: Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis 16 (1990) S. 31-60, hier: S. 50-56. 108 Heinrich Richard Schmidt Grades dieser Gewissensfreiheit, schuf aber gleichzeitig die Voraussetzung für die bevorrechtigte Rolle der calvinistischen Öffentlichkeitskriche in einem organisatorischen Rahmen, der jeweils von den lokalen Autoritäten, in den Gebieten mit ausgeprägtem Urbanisierungsgrad von den städtischen Regenten, abgesteckt wurde.“52 Es bestand, wie das Olaf Mörke gesagt hat, „Konsens über die Legitimität des Dissenses in einem zentralen Bereich gesellschaftlichen Handelns“. Und das „war die einzige Möglichkeit, auf Dauer den innerstaatlichen Frieden zu stabilisieren.“53 Die Tatsache, dass nichtprivilegierte Konfessionen fortbestanden, ohne dass eine Situation wie in Rätien eingetreten wäre, hängt sicher mit der nichtaggressiven Haltung der Nichtprotestanten in den Niederlanden zusammen und mit der Erfahrung eines gemeinsam durchgestandenen langen Krieges. So hat letzten Endes doch wieder die nationale Gemeinsamkeit auch die konfessionellen Gegensätze gemildert, obwohl an der Wiege dieser Nation gerade die konfessionellen Gegensätze gestanden hatten. 2. Die Festigung der Region oder die Verklammerung von Regionen durch die Konfession Die Konfession konnte aber auch territoriale Gebilde fester verklammern, wenn sie einheitlich war und sich damit als Identitätsstifter anbot. Sie festigte Regionen oder band sie in einen überregionalen Raum stärker ein. 52 53 Ebd., S. 46 f. Ebd., S. 49. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 109 2.1 Deutsche Reichs-Territorien Das uns allen wohl am besten bekannte Beispiel für eine Konfessionalisierung auf territorialer Basis, das Reich, kann hier eher knapp abgehandelt werden. „Die in einem Territorium eingeführte Konfession bildete das wichtigste Instrument zur Formierung seiner Identität.“54 Heinz Schilling hält deshalb fest: „Im Unterschied zu den großen Einheitsmonarchien in West- und Nordeuropa ging es in Deutschland nie um eine Verbindung der Konfessionalisierung mit einer Nationalstaats-, sondern stets nur um deren Verbindung mit der Territorialstaatsbildung.“55 In gesteigertem Maß gilt dies für solche Fälle, wo unterschiedliche Konfessionen in der jeweiligen Staatswerdung konfrontiert wurden, wo z.B. ein katholisches Territorium mit lutherischen oder reformierten Teilgebieten oder Städten zu tun hatte.56 Gelang es in der Auseinandersetzung, die TerritorialKonfession durchzusetzen, dann schwächte das auch die Autonomie der Städte. Das Hochstift Würzburg ist ein Beispiel für die integrative Funktion der katholischen Konfessionalisierung für den Territorialstaat gegen die autonomen und protestantischen Städte.57 54 Peter Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500-1800, Berlin 1988, S. 36. Heinz Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt 1991, S. 192-252, hier: S. 227. 56 Olaf Mörke, Integration und Desintegration. Kirche und Stadtentwicklung in Deutschland vom 14. bis ins 17. Jahrhundert, in: La ville, la bourgeoisie et la genèse de l’État moderne (XIIe-XVIIIe siècles), Paris 1988, S. 297-321, hier: S. 315. 57 Ebd., S. 319. Vgl. dazu Hans-Christoph Rublack, Reformatorische Bewegungen in Würzburg und Bamberg, in: Bernd Moeller, Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1978, S. 109-124. Vgl. auch Dens., Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen 55 Heinrich Richard Schmidt 110 Die konfessionelle Durchdringung des Territoriums und seine Abgrenzung von fremdkonfessionellen Nachbarn stärkten beide die territoriale Identität. „Die Abgrenzung des territorialen Staatsgebietes und Untertanenverbandes, die innerhalb ein und desselben Landes naturgemäß besonders schwer fiel, wurde durch die Konfessionsunterschiede entscheidend gefördert - etwa im westfälischen Raum zwischen den katholischen Hochstiften Münster und Paderborn, der lutherischen Grafschaft Ravensberg sowie den calvinistischen Grafschaften Lippe, Rheda, Tecklenburg und Bentheim. Angesichts des territorialen Zuschnitts aller frühneuzeitlichen Kirchenordnungen ergab sich diese Differenzierung sogar zwischen glaubensgleichen Nachbarterritorien. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verliehen die konfessionell geprägten Heiratsmuster der politischen Territorialgliederung Deutschlands gesellschaftliche Festigkeit.“58 Diese Abgrenzung, die einem Territorium stärkere Identität verlieh, konnte zugleich auch eine ehemals kohärente Region spalten – denken wir an Westfalen oder Franken. Mit Paul Münch muss man sich einer zu sehr vom heutigen Nationalstaat geprägten Sicht verweigern und darf nicht das Reich als logischen Fluchtpunkt der deutschen Entwicklung ansehen. Das Reich war nur ein lockerer Verband, wie es die Eidgenossenschaft oder Graubünden waren: ein Staatenbund. Münch sagt: „Entsprechend artikulierte sich in allen Ländern und Städten ein Lokalund Territorialpatriotismus, während das Reichsbewußtsein im Schwinden begriffen war. Wer im 18. Jahrhundert von seinem ‘Vaterland’ sprach, meinte nicht das Reich, sonder das Territorium, in dem er geboren war, bisweilen sogar seine Heimatstadt. Abgesehen von wenigen übergreifenden, dem Reich 58 geistlichen Städten, Stuttgart 1978. Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 240; vgl. Peter Schöller, Territorialgrenze, Konfession und Siedlungsentwicklung, in: Westfälische Forschungen 6 (1943-1952) S. 116-129. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 111 verbliebenen Funktionen waren die wichtigsten staatlichen Hoheitsrechte in den Ländern konzentriert.“59 2.2 Nationalstaatsbildung mit Hilfe der Konfession: Frankreich60 Die angesprochene Ambivalenz von Spaltung und Kohärenzstiftung begegnet auch in anderen Staaten – vielleicht kann man sagen, dass „Spaltung“ und „Verklammerung“ eigentlich stets zusammengegangen sind. Die folgenden Beispiele zeigen eindrücklich eine zeitlich gestaffelte Konstellation: Zuerst wurde in einem bestimmten Gebiet eine Konfession herrschend, stärkte dieses Gebiet und grenzte es vom Restterritorium ab. Spaltung drohte. In einer Gegenbewegung wurde dann die Religionsabweichung gewaltsam rückgängig gemacht, um den Gesamtstaat zu erhalten und zu festigen, was in dem Maße gelang, wie die konfessionelle Einheitlichkeit effektiv erreicht werden konnte. Ein klassisches Beispiel sind Frankreich und Österreich/Habsburg. Frankreich war noch davon entfernt, ein einheitlicher Nationalstaat zu sein. In den Städten und Provinzen lebten Traditionen eigener Identität, die gegen den Zentralismus des Königtums gerichtet waren. Diese Traditionen verbanden sich z.T. mit der Religion, so dass in der Zeit der religiösen Bürgerkriege von 15621598 eine Spaltung des Staates nicht ausgeschlossen schien. Ernst Walter Zeeden spricht davon, „daß angesichts der Schwäche des Königtums sich einzelne 59 60 Landesteile politisch und militärisch Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 34. Janine Garrisson, Protestants du Midi 1559-1598, Toulouse 2. Aufl. 1991. in hohem Grad 112 Heinrich Richard Schmidt verselbständigten.“61 Verbunden war diese Entwicklung mit dem Bemühen konkurrierender Adelsparteien, politische Mitsprache gegen den werdenden Absolutismus zu behaupten.62 Die französischen Religionskriege endeten vorläufig mit dem Frieden durch Segregation, also Spaltung: Das Edikt von Nantes von 1598 sicherte den Protestanten die Gewissensfreiheit zu, schränkte aber das Recht, evangelischen Gottesdienst zu halten, auf die Orte ein, wo er bereits bestand, sowie auf einen zusätzlichen Ort pro Amt und auf die in adligem Besitz befindlichen Kirchen. Die Hugenotten mussten die katholischen Bräuche achten und den Zehnten zahlen, hatten aber alle bürgerlichen Rechte und konnten alle öffentlichen Ämter erlangen.63 Geheimartikel garantierten ihnen sogenannte Sicherheitsplätze, das Recht, politische Versammlungen abzuhalten und ihre Geistlichen zu entlohnen. Ausgedehnte Gebiete im Westen und Süden des Landes gingen in die Hand der Protestanten über. „Hier bildeten sie einen Staat im Staate.“64 Die Gefahr einer Spaltung des Landes war offensichtlich. Die Wiederaufnahme der Religionskriege hat das faktisch verhindert. Durch Louis XIV., den Sonnenkönig, wurde 1685 das Edikt von Nantes förmlich wieder aufgehoben. Viele hundert Protestanten traten danach zum Katholizismus über. Viele andere flohen nach Genf, Deutschland, England, die Schweiz und Amerika. Wer in Frankreich blieb, musste von nun an mit Verfolgung rechnen oder zu einem Geheimprotestantismus (wie in den Cevennen) Zuflucht nehmen. 61 Ernst W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556-1648 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 2) Frankfurt/Berlin 1982, S. 151. 62 Ebd., S. 253. 63 Marc Venard, Frankreich und die Niederlande, in: Ders. (Hg.), Die Zeit der Konfessionen (Die Geschichte des Christentums 8) Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 447-523, hier: S. 484. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 113 Die Stärkung des Nationalstaats war also hier ebenfalls erst das Endprodukt eines Kampfes, der auch anders hätte ausgehen und dann die Abspaltung einer protestantischen hugenottischen Republik, der "Provinces-Unies du Midi",65 hätte bringen können. Aber auch ein anderer als ein Königssieg zugunsten des Katholizismus hätte nicht unbedingt ein starkes, auf dem Weg zum Absolutismus befindliches Königtum und damit keinen zentralistischen Nationalstaat hervorgebracht. So waren es in Frankreich konfessionelle und spezifisch damit verwobene verfassungspolitische Komponenten, die dazu führten, dass letzten Endes die gallikanische Konfessionalisierung zur Stärkung des vorhandenen Territoriums führte. 2.3 Böhmen und Österreich In Böhmen hatte der Hussitismus in zwei Gestalten, derjenigen der Brüderunität und derjenigen des Utraquismus, schon seit hundert Jahren gewirkt und an der Bildung einer eigenen Identität der böhmischen Nation mitgewirkt, als auch er in den Strudel des Doppelkampfes von ständischen und protestantischen Überzeugungen gegen absolutistische und katholische Aspirationen des Königtums gerissen wurde. Ähnlichkeiten mit dem französischen Fall sind nicht von der Hand zu weisen.66 Der Utraquismus, die größte böhmische Konfession, stützte die ständischen Mit- und Selbstregierungsbestrebungen; er stand und fiel aber zugleich mit ihnen.67 64 Ernst W. Zeeden, Hegemonialkriege (wie Anm. 61), S. 167. Vgl. Janine Garrisson, Protestants (wie Anm. 60), S. 177-224. 66 Winfried Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevolutionären Hussitismus, in: František Šmahel, Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter, München 1998, S. 213-238, hier: S. 229. 67 Winfried Eberhard, Entwicklungsphasen und Probleme der Gegenreformation und katholischen Erneuerung in Böhmen, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 84 (1989) S. 235-257, hier: S. 235; vgl. Joachim Bahlcke, Calvinism and estate liberation movements in Bohemia and 65 Heinrich Richard Schmidt 114 Als die Stände den Einzug der Gegenreformation durch einige protestantenfeindliche Maßnahmen des Königs befürchteten, brach ein offener Aufstand aus. Die böhmischen Stände vertrieben die Jesuiten und den Erzbischof von Prag aus dem Land und übernahmen selbst die Macht. Nach dem Tod Kaiser Matthias’ am 20. März 1619 vereinigten sie sich mit den Ständen Mährens, Schlesiens und der Lausitz zu einer Art Bundesstaat („Konföderation“). Am 16. August schlossen sich die Stände Ober- und Niederösterreichs an. Danach erklärten die Böhmen die 1617 erfolgte Wahl Ferdinands zu ihrem König für ungültig und wählten eine neue Staatsspitze: den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz. Die Ständemacht in Böhmen, Mähren, Nieder- und Oberösterreich ging in einer einzigen Schlacht frühabsolutistische verloren. 1627 „verneuerte erließ der siegreiche König eine Landesordnung“ für Böhmen und die Nebenländer, die die Krone erblich machte und den König zum alleinigen Herrschaftszentrum werden ließ. Die Stände verloren ihr Gesetzgebungsrecht. Mit dem Königtum Ferdinands II. siegte die Gegenreformation, die den Hussitismus praktisch ebenso ausrottete wie das Luthertum in Österreich. Die Aufrührer wurden einem strengen Rachegericht zugeführt. Als Hochverräter verloren sie ihr Land und ihr Leben.68 Dieses Beispiel steht einmal für die Identität stiftende Rolle der Konfession, insofern sich ethnisch-nationale mit ständischen und hussitischen Elementen 68 Hungary (1570-1620), in: Karin Maag (Hg.), The Reformation in Eastern and Central Europe, Aldershot 1997, S. 72-91, hier: S. 84 f. Heinrich Richard Schmidt, Vom Fundamentalismus zum Vernunftglauben. Absolutismus und Aufklärung, 1600-1799, in: Chronik des Christentums, Gütersloh, München 1997, S. 272-321, hier: S. 282. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 115 vermischten. Die Ständekonfessionalisierung69 Böhmens bildet damit einen paradigmatischen Alternativentwurf zum obrigkeitlich-monarchischen Modell der Verbindung von Staatswerdung und Konfession. Andererseits ist Böhmen auch ein Beispiel für die Unifizierung eines Staates durch eine gewaltsame Aktion, die alle drei Identitätsebenen zugleich auszuschalten versucht. In Böhmen ist dieser Prozess zumindest äußerlich erfolgreich gewesen - bis ins Zeitalter des Nationalismus, in dem auch die Erinnerung an die eigene hussitische Tradition ihrerseits wieder identitätsbildend wirkte. In Österreich selbst wurde die Ständemacht und der das halbe Land beherrschende Protestantismus in ähnlicher Weise vernichtet wie in Böhmen. Hier, d.h. in Nieder- und Oberösterreich, in Kärnten und der Steiermark ist es aber dennoch nicht zu einem vollständigen Sieg der Gegenreformation gekommen (Stichwort: Geheimprotestantismus).70 Hier lebte die Konfession länger als die - vor allem vom Adel getragene - ständische Opposition. 2.4 Spanien In Spanien vollzog sich eine etwas andere Entwicklung, weil hier keine Gegenreformation nötig war, sondern der Katholizismus unbestritten blieb. Seine Akzentuierung – auch gegen fremde Religionen (Islam, Judentum) trug wesentlich dazu bei, den Gesamtstaat zu verklammern - ohne die Regionalismen endgültig abzutöten, wie unser Jahrhundert zeigt. Dies hängt mit der 69 70 Winfried Eberhard, Qualität (wie Anm. 66). Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen der Konfessionalisierbarkeit, in: Ders./ Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 7: Bilanz - Forschungsperspektiven - Register, Münster 1997, S. 9-44, hier: S. 22. 116 Heinrich Richard Schmidt „katholischen Konfessionalisierung des 16. und 17. Jahrhunderts [zusammen], die Katalanen und Kastiliern eine gemeinsame sozio-kulturelle Identität gab. Es entstand ein Wir-Bewußtsein, durch das sich die Spanier von den protestantischen, aber auch von den weniger entschiedenen katholischen Nationen Europas absetzten, beruhend auf dem Stolz reiner, nie befleckter Katholizität, die aufs engste mit der berühmten limpieza de sangre, der gegen Mauren, Juden und zuletzt eben auch gegen nordeuropäische Häretiker bewahrten Reinheit des spanischen Blutes, zusammenhing“.71 Die Religion bildete den Kern der nationalen Identität Spaniens.72 Das ideologische Band der Religion für die Gesellschaft war besonders deshalb wichtig, weil die spanischen Königreiche während der Frühen Neuzeit institutionell getrennt blieben.73 Die einzige gesamtspanische Institution war die 1478 auf Bitten der Spanier von Papst Sixtus IV. eingerichete staatlich-religiöse Inquisition. Von den einzelnen spanischen Königtümern Aragon, Kastilien, Navarra und Granada aus betrachtet hat die katholische Konfessionalisierung also sogar eigentlich mehr getan als nur eine Region identitätsmäßig zu befestigen. Es hat Regionen zu einem - ja heute noch spürbar nicht spannungsfreien - Korpus zusammengebunden und damit nationsbildend gewirkt, Nation hier verstanden als überregionale Einheit. In Spanien ist das Muster der Vereinheitlichung durch gewaltsame konfessionelle Säuberung nur auf den ersten Blick nicht zu erkennen, hat es doch hier keine wirklich nennenswerte protestantische Bewegung gegeben. Dennoch wird das gleiche Schema erkennbar, einmal, weil der nachkonziliare 71 Heinz Schilling, Europa und der Norden auf dem Weg in die Neuzeit, in: Europa und der Norden. Bericht über das 7. deutsch-norwegische Historikertreffen in Tromsø, Juni 1994, Oslo 1995, S. 51-71, hier: S. 67 f. 72 Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 211. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 117 Katholizismus, wo auch immer, stets eine bewusst antiprotestantische Konfiguration darstellt.74 Zum andern wird aber auch in Spanien das System der Verdrängung angewandt, nur hier gegen fremde Religionen wie das Judentum oder den Islam gerichtet. Auch Spanien ist durch die katholische Konfessionalisierung geprägt und durch die damit verbundene Ausmerzung des Fremden. 2.5 England, Schottland, Irland England hatte schon vor der Reformation seine nationale Einheit erlangt.75 Doch schuf auch hier die Reformation eine Identität über kulturelle Gegensätze (keltisch [Wales, Schottland] versus germanisch), über politische und soziale Schranken hinweg.76 Das gilt, weil der Anglikanismus als reformierte Konfession trotz aller auch kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den reformierten Filiationen (Puritaner vs. gemäßigte Anglikaner) für alle eine Klammer blieb, und zwar so stark, dass in der Glorious Revolution 1688 der bevorstehende Konfessionswechsel des Königshauses den Grund für die Amtsenthebung des Königs darstellte. Die Stände setzten ihren König ab und hoben seinen Schwiegersohn, Wilhelm III. von Oranien, auf den Thron. Die konfessionelle Identität war hier Sache der Stände - gegen den König, der dem Parlament untergeordnet wurde. Sie versicherten sich seiner Garantien für die Regierung des Parlaments und den Schutz der anglikanischen Kirche. Wilhelms Bannerspruch lautet entsprechend „Pro religione protestante et pro libero 73 Ebd. Klaus Ganzer, Das Konzil von Trient und die Volksfrömmigkeit, in: Hansgeorg Molitor/ Heribert Smolinsky (Hg.), Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Münster 1994, S. 17-26, hier: S. 25. 75 Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 222 f. 76 Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 233. 74 118 Heinrich Richard Schmidt parlamento [= Für die protestantische Religion und für ein freies Parlament]“.77 Am 23. Februar 1689 erlangte dann die sogenannte „Bill of Rights“ Rechtskraft. Sie legte fest, dass künftig weder das religiöse Bekenntnis noch die persönlichen Freiheiten beeinträchtigt werden dürfen, und beschränkte den König in seiner Macht, weil er für die Erhebung von Steuern und die Formierung eines Heeres der Zustimmung des Parlamentes bedurfte. In Schottland war die Entwicklung der Reformation nicht vom König ausgegangen. Hier hielt auch die in England unterlegene puritanische Fraktion der Presbyterianer durch ihre militärische und politische Stärke ihr System aufrecht, während es in England zu einer Restitution der Bischofskirche und der königlichen Kirchenleitung kam.78 Hier stärkte also die abweichende Konfession und Kirchenverfassung die relative Unabhängigkeit und das Regionalbewusstsein, obwohl schottische und englische Kirche sich beide als „protestantisch“ und damit „verwandt“ betrachteten. Dennoch hat, wie Margo Todd es formuliert, Schottland durch die presbyterianische Kirche mit ihrer von den Gemeinden selbst getragenen „highly visible and rigorous social discipline“ eine Kultur entwickelt, welche die schottische Gesellschaft klar von der englischen unterschied – „a nation bonded by religious conviction“.79 Irland ist dagegen ein Fall einer gescheiterten Uniformierung. Hier führte der Versuch einer Protestantisierung im Gegenteil zu einer starken Katholisierung und einer Identifizierung von „irisch“ und „katholisch“.80 In Irland erfolgte die Nationsbildung „auf dem Weg konfessioneller Opposition und 77 Robert Mandrou, Staatsräson und Vernunft. 1649-1775 (Propyläen Geschichte Europas 3) Frankfurt/Berlin/Wien 1982, S. 100. 78 Viviane Barrie-Curien, Die Reformation auf den Britischen Inseln, in: Marc Venard (Hg.), Die Zeit der Konfessionen (Die Geschichte des Christentums 8) Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 524-572. 79 Margo Todd, The Culture of Protestantism in Early Modern England, New Haven/ London 2002, S. 402. 80 Heinz Schilling, Konfession und politische Identität im Europa der werdenden Neuzeit, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 6 (1995) S. 480-486, hier: S. 481 f. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 119 Konfrontation“.81 Dass die Reformation im Gegensatz zu Wales und Schottland, den anderen beiden keltischen Randgebieten, scheiterte, lag darin begründet, dass Staatsbildung und Konfessionalisierung gegen die lokalen Eliten erfolgte. „Nur in Irland traf eine von außen aggressiv an das Land herangetragene frühmoderne Staatsbildung auf eine nicht ‘domestizierte’ und nicht zur Unterwerfung bereite lokale Elite. So wurde die katholische Konfession rasch zum Dreh- und Angelpunkt des Widerstandes gegen eine mit dem Protestantismus identifizierte Staatsbildung.“82 Es kam nirgends zu einer Inkulturation der neuen Lehre. Sie wurde, sprachlich fremd, von Fremden im Auftrag eines auswärtigen Herrschers mangelhaft verbreitet, nirgends, nicht einmal bei den Altengländern, den eingewanderten Kolonisten aus dem Mutterland, aufgenommen. Nur Neueinwanderer in die Provinz Ulster – etwa aus Schottland – bildeten einen wirklichen protestantischen Brückenkopf im Land. Sogar die Old English solidarisierten sich in der Phase der Konfessionalisierung gegen die New English mit den Kelten und schufen so eine neue irische Identität auf der Basis der Konfession.83 Die Jesuiten, die nun illegal vom Kontinent kamen, um die Seelsorge der unterdrückten katholischen Kirche zu sichern, waren Söhne meist angloirischer Eltern aus dem Pale, die ihr Missionswerk in ihrer engeren Heimat begannen.84 Im Falle der englischen Herrschaft handelt es sich um Kolonialismus ohne 81 Heinz Schilling, Europa (wie Anm. 71), S. 67. Karl S. Bottigheimer/ Ute Lotz-Heumann, The Irish Reformation in European Perspective, in: ARG 89 (1998) S. 268-309, hier: S. 153 f., 308. 83 Ute Lotz-Heumann, Die doppelte Konfessionalisierung in Irland. Konflikt und Koexistenz im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe; 13) Tübingen 2000, S. 317334. 84 Ebd., S.128 82 Heinrich Richard Schmidt 120 Macht; statt Inkulturation Oktroi, aber ohne wirklichen Willen oder der Fähigkeit, den Oktroi durchzusetzen. 2.6 Skandinavien Eher unproblematische Wege zur Identifikation von Territorium oder Reich und Konfession sind die skandinavischen Staaten gegangen. 1604 setzte der Reichstag von Schweden seinen rechtmäßigen König Sigismund III. ab, weil er von ihm eine Rekatholisierung des Landes befürchtete. Er wählte statt seiner Karl IX. zum neuen schwedischen König. 1593 wurde eine Nationalsynode in Uppsala einberufen, welche die schwedische Kirche an die Augsburger Konfession band.85 Schwedisch und lutherisch wurden seitdem fast zu Synonymen.86 Die bindende Kraft der Konfession für die territoriale Integration wird auch an Dänemark-Norwegen sichtbar.87 Die Konfessionalisierung schuf hier vergleichbar enge Klammern wie zwischen Aragon und Kastilien.88 Es handelte sich bei der lutherischen Konfessionalisierung Norwegens an sich um eine „koloniale Konfessionalisierung“, vergleichbar der irischen, allerdings erfolgreicher.89 Die Konfessionalisierung zerstörte die norwegische Identität so weit, dass ausgangs des 18. Jahrhunderts Norwegisch als Verkehrs- und Schriftsprache zugunsten des Dänischen verschwunden war und im 19. Jahrhundert geradezu neu erfunden werden musste.90 85 Heinrich Richard Schmidt, Fundamentalismus (wie Anm. 68), S. 279. Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 214. 87 Ebd., S. 213. 88 Heinz Schilling, Europa (wie Anm. 71), S. 67 f. 89 Ebd., S. 62. 86 Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 121 2.7 Fazit: Verdrängung und Abgrenzung - Identität aus der Abstoßung fremder Konfession/Religion Obwohl wir hier große und zusammenhängende Territorien betrachtet haben, die sich auf der Basis einer gemeinsamen Konfession festigen, ist sichtbar geworden, dass auch hier Verdrängung und Abgrenzung eine Rolle gespielt haben, wenn es auch nicht zu einer Spaltung gekommen ist. Die Glaubensabweichler wurden vielmehr „außer Landes geschafft“ und so konfessionelle Einheit hergestellt. Es hat sich gezeigt, dass Spaltungstendenzen dennoch bestanden haben und immer eine Alternative zum Einheitsstaat waren, so in Frankreich oder Österreich-Böhmen-Ungarn. Böhmen und Irland haben sogar gezeigt, dass Identitätsbildung in einem umgrenzten kulturellen und staatsrechtlichen Raum auch in bewusster Antihaltung gegen fremdkonfessionelle Zwänge entstehen konnte. Außerdem zeigen sie, dass die Konfessionalisierung auch auf Ständebasis vonstatten gehen konnte und nicht immer eine Sache der Monarchie war. Wenn Henning Arnisaeus 1610 schreibt: „Nichts verbindet die Gemüter der Menschen inniger und festigt das Gemeinwesen stärker als die Religion“,91 dann stellt er eine Verbindung von „Gemeinwesen“ und Religion her, die wir in den beiden vorangehenden Kapiteln immer wieder angesprochen haben. Das führt uns zu theoretisierenden Schlussüberlegungen. 90 91 Ebd., S. 66. Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 39. 122 Heinrich Richard Schmidt 3. Theoretische Überlegungen zum Raum als konfessionelle Lebenswelt Konfession gestaltet Raum. Das Gotteshaus war bei den Katholiken ein Prunkraum.92 Es herrschte der Überschwang des Barock. Prunkvolle Messen93 und Bruderschaften94 als Räume der katholischen Gemeinschaftsfrömmigkeit wurden typisch für die Lebenswelt der katholischen Bevölkerung. Prozessionen und Wallfahrten erlebten und gestalteten die Welt als liturgischen Raum.95 Der Gottesdienst der Protestanten war auf das Wort gegründet, nüchtern, der Kult karg, Feste reduziert, Wallfahrten u.a. verboten.96 Das Liedgut, der Katechismus, die Gebetbücher wie die Leichenpredigten prägten die Lutheraner durch die gemütvolle Tonlage, ausgerichtet auf den persönlichen Glauben an die geschenkte Gnade eines barmherzigen Vaters.97 Gebete unterschieden die Gruppen. Von der bei den Katholiken fortbestehenden und noch intensivierten Anrufung der Heiligen wich die lutherische Frömmigkeit ab; Gebete erhielten eine therapeutische Funktion. Der Totenkult wurde vollständig ersetzt durch Gebete während der Krankheit, um die Hoffnung auf Heil und ewiges Leben aus der geschenkten Gnade zu stärken.98 Im 17. und 18. Jahrhundert waren verschiedene Lebenseinstellungen mit verschiedenen Konfessionen im Sinne eines Habitus verbunden bis hinein in 92 Peter Thaddäus Lang, „Ein grobes, unbändiges Volk.“ Visitationsberichte und Volksfrömmigkeit, in: Hansgeorg Molitor/ H., Smolinsky (Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), hier: S. 53. 93 Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 38. 94 Bernhard Schneider, Wandel und Beharrung. Bruderschaften und Frömmigkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Hansgeorg Molitor/ Heribert Smolinsky(Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), S. 65-87. 95 Hansgeorg Molitor, Mehr mit den Augen als mit den Ohren glauben. Frühneuzeitliche Volksfrömmigkeit in Köln und Jülich-Berg, in: Ders./ Heribert Smolinsky, (Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), S. 89-105, hier: S. 91. 96 Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 38. 97 Bernd Vogler, Volksfrömmigkeit im Luthertum deutschsprachiger Länder, in: Hansgeorg Molitor/ Heribert Smolinsky (Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), S. 37-48, hier: S. 43-45. Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa 123 elementare Lebensäußerungen wie die Bevorzugung von Kaffee oder Schokolade als Getränk: „auf der einen Seite der am Tisch getrunkene, ernüchternde mental stimulierende, antierotische und körperfeindliche bürgerliche Kaffee, Sinnbild leistungsbezogener protestantischer Askese, auf der anderen Seite die nährende, potenzsteigernde, aristokratische Schokolade, Symbol barock-katholischer Körperlichkeit.“99 Ganz verschiedene Konfessionskulturen standen sich gegenüber, die den Alltag der Gläubigen prägten.100 Pfarrer101 und Gläubige bildeten konfessionsspezifische Rollen aus, spezifische Gebräuche, die im Laufe der Zeit zu einer lokalen Tradition wurden und in die regionale Identität integriert wurden.102 Konfession prägt.103 Wollen wir die Ebene fassen, auf der diese Prägung geschieht, dann müssen wir wohl von „Lebenswelt“ oder „Lebensführung“ sprechen. Geographisch ist diese Lebenswelt nur annähernd zu fassen. Sie wird nur räumlich sichtbar, weil Menschen mit der gleichen konfessionellen Lebenseinstellung am gleichen Ort oder im gleichen Gebiet wohnen. Werden sie mobil, tragen sie ihre Einstellung in ihren Köpfen mit sich. Dort ist der Sitz der Konfession. Indem sich Konfessionalität in Handlungen niederschlägt, Kir- 98 Ebd., S. 45. Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 282. 100 Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 38. 101 Luise Schorn-Schütte, Culture confessionnelle et identité régionale. Réflexions sur leur évolution dans l’Empire à la fin du XVIe et au XVIIe siècle, in: Rainer Babel/ Jean-Marie Moeglin (Hg.), Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du Moyen Age à l’époque moderne (Beihefte der Francia 39) Sigmaringen 1997, S. 167-175, hier: S. 170. 102 Bernd Vogler, Volksfrömmigkeit (wie Anm. 97), S. 37. Vgl. Luise Schorn-Schütte, Culture confessionnelle (wie Anm. 101), S. 172. 103 Inwieweit das zu einer Disziplinierung führt, ist Gegenstand neuerer Untersuchungen: Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart, Jena, New York 1995. Vgl. die neueste Zusammenfassung der Diskussion in Ders., Sozialdisziplinierung? Ein 99 Heinrich Richard Schmidt 124 chen baut, Sittenzucht betreibt, Wallfahrtskapellen errichtet, wird sie äußerlich sichtbar, sozusagen strukturbildend. Winfried Schulze hat die Nation „ein System […] kultureller Weltdeutung“ und ein „kulturelles System“ genannt. Ich möchte diese Idee auf die Region und das Territorium als potentiell überregionale Einheit übertragen. Region als „soziokulturellen Raum“ zu fassen, scheint mir in der Tat eine Chance für die Begegnung von Geographie und Geschichte. Besonders die Strukturationstheorie des finnischen Geographen Anssi Paasi ist hier zu erwähnen. Seine Aussage liest sich wie ein Schlusswort zur konfessionellen Lebensweltgestaltung: „’Regionen’ sind […] solche räumlichen Strukturen in der Gesellschaft, die eine explizit kollektive Dimension haben, auf institutionelle Praktiken bezogen sind und als historische Produkte über die auf der lebensweltlichen Ebene individuellen Handelns, Wahrnehmens und Bewertens vollzogenen Formen der ‚Räumlichkeit’ hinaus verfestigt werden.“104 Die Region entsteht aus dem Bewusstsein der in ihr lebenden Menschen als ein kohärenter Bezugsrahmen. Sie ist Handlungsraum. In diesem Verständnis weist Kulturgeschichte, Regionalgeschichte zur einen Umweltgeschichte, engen zur Bezug auf Alltags- zur und Mentalitätsgeschichte und zu einer politischen Geschichte, die ‚Politik’ als Praxis untersucht. 104 Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265 (1997) S. 639-682. Anssi Paasi, The institutionalization of regions: a theoretical framework for understanding the emergence of regions and the constitution of regional Identity, in: Fennia 146 (1986) S. 105-146. Das Paasi zusammenfassende Statement von Wardenga, Miggelbrink, Realismus (wie Anm. 1), S. 40.