Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa

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Heinrich Richard Schmidt
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die Konfessionen in der Frühen
Neuzeit und die Art, wie sie Raum gestalten, also selber verräumlichen. Damit
soll versucht werden, eine Brücke zur modernen Humangeographie zu schlagen,
die ihrerseits längst die Position der alten „Erdkunde“ verlassen hat, welche
Raum als Container verstand.1 „Regionen“ werden etwa von Blotevogel und
Weichhart als Tätigkeits- oder Identitätsräume definiert, also sozial und
kulturell konzipiert.2 Ich werde nach den Interferenzen suchen, welche
zwischen tradierten Raumbezügen, etwa einem „Regionalbewusstsein“, und den
Konfessionen entstehen. Ich werde dabei zwei Varianten untersuchen: Fälle, in
denen die Konfession die Region oder den lokalen Raum spaltet, und dann
solche, in denen sie die Region oder überregionale Räume stärkt. Ich werde in
1
Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Ute Wardenga/ Judith Miggelbrink, Zwischen Realismus und
Konstruktivismus. Regionsbegriffe in der Geographie und anderen Humanwissenschaften, in: Hans-Werner
Wollersheim/ Sabine Tzschaschel/ Matthias Middell (Hg.), Region und Identifikation, Leipzig 1998, S. 3346, hier: S. 35.
2
Hans Heinrich Blotevogel, Auf dem Weg zu einer “Theorie der Regionalität”. Die Region als Forschungsobjekt
in der Geographie, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der
Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 44-68; Peter Weichhart, Die Region – Chimäre,
Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
91
den folgenden Kapiteln jeweils mit Beispielen beginnen, die ein bestimmtes
Gebiet in den Blick nehmen, bevor ich versuche, daraus Schlussfolgerungen zu
ziehen.
1. Die Spaltung der Region durch die Konfession
1.1 Graubünden
Graubünden war ein Staatenbund aus Gerichtsgemeinden.3 Sie bestanden
ihrerseits aus Nachbarschaften, die etwa Dörfern oder Weilern entsprechen, die
sich selbst über Dorfmeister verwalteten, Steuern erhoben und auch die niedere
Polizei besorgten.4 Die rätischen Bünde übten nur die Kompetenzen aus, die
ihnen die Gemeinden, die ihre Glieder waren, zuwiesen, v.a. außenpolitische
Befugnisse.
Gesamtbündnerische
Gemeindereferendum.
Besonders
Beschlüsse
im
Gerichtswesen
unterlagen
dem
zeigt
die
sich
republikanische Unabhängigkeit der einzelnen Gerichtsgemeinden. Lediglich
der Graue Bund verfügte über einen gemeinsamen Appellationsgerichtshof für
zivilrechtliche Streitfälle.5 Peter Liver spricht deshalb von einer „GemeindenReferendumsdemokratie“.6 „Der Zusammenschluß der rätischen Bünde hatte
einen
freiheitlichen, republikanischen Föderativstaat begründet, dessen
Grundlage die Souveränität und Egalität der Bündner Gerichtsgemeinden war.“7
Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 25-43.
Silvio Färber, Der bündnerische Herrenstand im 17. Jahrhundert. Politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte
seiner Vorherrschaft, zugleich Diss. phil. Zürich, Zürich 1983, S. 27-42.
4
Ebd., S. 24-27.
5
Andreas Wendland, Der Nutzen der Pässe und die Gefährdung der Seelen. Spanien, Mailand und der Kampf
ums Veltlin 1620-1641, Zürich 1995, S. 21.
6
Peter Liver, Die Stellung des Gotteshausbundes in der bischöflichen Feudalherrschaft und im Freistaat
Gemeiner Drei Bünde, in: Festschrift 600 Jahre Gotteshausbund, Chur 1967, zitiert nach Färber, Herrenstand
(wie Anm. 3), S. 21.
7
Andreas Wendland, Pässe (wie Anm. 5), S. 22.
3
92
Heinrich Richard Schmidt
Die freie Selbstbestimmung des Konfessionsstands stützte die politische
Selbständigkeit der Gemeinden.8 Seit den Ilanzer Artikeln von 1524 und 1526
hatte jede Gerichtsgemeinde das Recht, ihre Religion frei zu bestimmen. Die
Kirchgemeinden stellten ihre Pfarrer auf Vertragsbasis an und säkularisierten
die Güter ihrer Pfründen, und zwar nicht nur die reformierten, sondern auch die
katholischen.9 In Graubünden stoppte die Konfessionalisierung also zunächst
auf der Gerichtsgemeindeebene. Das Gericht war als weitgehend autonome
Republik durchaus - wenn auch von der Größe her eher einem Amt eines
Territorialstaates vergleichbar - äquivalent mit deutschen Territorialstaaten.
Graubünden praktizierte also eine republikanische Variante des cuius regio eius religio.10
Die Protestanten und Katholiken lebten im 16. Jahrhundert in friedlicher
Koexistenz und partizipierten an einer einzigen politischen und sozialen
Struktur.11 D.h. die einzelnen Gemeinden waren konfessionell einheitlich, die
Regionen, die Teilbünde wie der Gesamtbund aber bereits konfessionell
gespalten. Zunächst funktionierte die Kooperation über die Grenzen der
Gemeinden hinweg, jedoch nur bis an den Anfang des 17. Jahrhunderts. Zwei
antagonistische Konfessionen hatten ihren Monopolanspruch nicht aufgehoben,
sondern nur aufgeschoben. Besonders die reformierte Mehrheit, immer stärker
nicht von politisch-pragmatischen, sondern von religiös-radikalen Ansichten
geprägt und immer mehr unter die Führung von Predigern geraten, kündigte das
8
Paul Gillardon, Geschichte des Zehngerichtebundes, Davos 1936, S. 90: Die Reformation war hier "nicht eine
Reform von oben herab, sondern eine solche von unten herauf"; ebd., S. 96 zur Entfaltung der Reformation
im "ständigen Gegensatz zu Österreich".
9
Immacolata Saulle-Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden 1400-1600 (Quellen
und Forschungen zur Bündner Geschichte 7) Chur 1997, S. 286-288, Zitat 288.
10
Vgl. Randolph C. Head, Early Modern Democracy in the Grisons. Social Order and Political Language in a
Swiss Mountain Canton, 1470-1620, Cambridge 1995, S. 68-80, 90.
11
Randolph C. Head, Catholics and Protestants in Graubünden: Confessional Discipline and Confessional
Identities without an Early Modern State?, in: German History 17 (1999) S. 329, 333.
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Agreement auf. Eine mehr oder weniger gewaltsame Protestantisierung begann.
Schließlich kam es soweit, dass selbst Gemeinden geteilt wurden. „Popular
identities divided formerly unified communities into mutally hostile
denominational camps and inspired systematic and widespread resistance to
efforts to change confession, thus annoying that religious identity might be
separate from political loyality.“12
Wie tief die Spaltung der Region gehen konnte, zeigt der Fall der Vier Dörfer:
Sie bildeten ein gemeinsames Gericht, waren aber selbst Nachbarschaften mit
eigenen Pfarrkirchen, Zizers besaß darüberhinaus eine kleinere Kapelle. Die
Entscheidung für oder gegen die Reformation fiel hier schon von Anfang an
nicht auf der Gesamtgerichtsebene, sondern auf derjenigen der Nachbarschaften
oder Dörfer. Erst als auch deren Einheit, die ja auch eine Einheit des
Gottesdienstes, also eine sakramentale Einheit, war, gefährdet wurde, kam es zu
Tumulten.
1611, nach fast einem Jahrhundert der religiösen Ruhe, erlebten die
wohlhabenden, in der Nähe von Chur gelegenen Dörfer Undervaz, Trimmis und
Zizers eine Serie von Konflikten wegen der Konfession, die rasch in Krawalle,
feindliche Übergriffe benachbarter Gemeinden, Vandalismus und Gewalt
zwischen der katholischen Mehrheit und der reformierten Minderheit
ausartete.13 In Undervaz und Trimmis versuchten protestantische Minderheiten
nämlich, einen Anteil an der Dorfkirche zu erlangen.14 Das Problem wurde
12
Ebd., S. 333.
Randolph C. Head, Religious Coexistence and Confessional Conflict in the Vier Dörfer: Practices of
Toleration in Eastern Switzerland, 1525-1615, in: John Christian Laursen/ Cary J. Nederman (Hg.), Beyond
the Persecuting Society. Religious Toleration before the Enlightenment, Philadephia 1998, S. 145.
14
Randolph C. Head, Catholics (wie Anm. 11), S. 337-339.
13
94
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verschärft durch die mittlerweile klar protestantische Politik des Bundes oder
einzelner Bünde wie des Gotteshausbundes oder des Oberen Bundes15, in dem
die Reformierten die Mehrheit hatten. 1611 wurde in Untervaz den Protestanten
durch die protestantische Mehrheit des Gotteshausbundes das Recht auf einen
eigenen Gottesdienst zugestanden. Das Kirchengut sollte prozentual aufgeteilt
werden. Das verstieß klar gegen das Mehrheitsprinzip.
Der Bundestag hob sogar den Untervazer Eid auf, der Neuzuzüger verpflichtete,
sich in religiösen Dingen zurückzuhalten. Der reformierte Pfarrer von Chur
Georg Saluz kam in Begleitung von Militär in das Dorf. Die Angst der
Katholiken wuchs, und als Johann à Porta im Mai 1612 predigte, wurde er von
den katholischen Dorffrauen in den Brunnen geworfen. Durch Vermittlung des
französischen Botschafters konnten die Katholiken dazu gebracht werden, ein
Simultaneum zu akzepieren. Das Kirchenvermögen sollte aufgeteilt werden,
und die Protestanten erhielten das Recht auf ein Viertel der Sitze im Dorfrat und
auf das Ammeisteramt alle drei Jahre.16
Im nächsten Jahr griff der Konflikt auf Trimmis über und eskalierte da weiter.
Der reformierte Landammann von Trimmis verlangte die größere Kirche für die
Protestanten. Die katholische Mehrheit weigerte sich, worauf die Protestanten
wieder den Bundestag anriefen, der offenbar seine Rolle als neutraler Schlichter
verlassen hatte und die protestantische Sache betrieb. Der Kompromiss nach
Untervazer Vorbild beruhigte die Gemüter nicht. Der erzwungene Kompromiss
von 1613 verschärfte nur die Spannungen und machte deutlich, dass das Dorf
tief in zwei religio-politische Faktionen zerfallen war, die beide Verbündete
15
16
Randolph C. Head, Coexistence (wie Anm. 13), S. 154. Der Graue Bund war mehrheitlich katholisch.
Ebd., S. 154f.
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außerhalb suchten. Im Mai 1614 drang eine bewaffnete Bande von Protestanten,
begleitet vom Prediger Saluz, in das Dorf ein, versuchte vergeblich, Einlass in
die größere Kirche zu erhalten und schlug dann die Tür der Kapelle der
Heiligen Emerita ein. In der kurz später erfolgenden Wahlperiode kam es zu
heftigen Wortwechseln. Drohungen, die Protestanten als Häretiker zu
verbrennen, wurden laut, ihre Äcker verwüstet.17 Randolph Head, der
gegenwärtig beste Kenner der Graubündener Konflikte im 17. Jahrhundert,
spricht
von
einem
„vollständigen
Zusammenbruch
der
kommunalen
Solidarität“.18 Die Mitbürger waren in Trimmis zu Häretikern geworden, und
das kommunale Bürgerrecht hielt die streitigen religiösen Parteien nicht länger
zusammen.
Zizers, die größte katholische Gemeinde der Vier Dörfer, erlaubte der
Minderheit zunächst die Nutzung der kleineren Kirche. Als die Reformierten
jedoch dem Prediger Johann à Porta ohne Rücksprache mit den Katholiken das
Bürgerrecht gewährten, eskalierte die noch friedliche Situation; nun forderten
die Protestanten die große Kirche für sich. 1616 wurde eine Übereinkunft
getroffen, die die Widersprüche zwischen einem älteren Verständnis und der
neuen Situation zeigt: Beide Konfessionen sollten frei sein, und es sollten keine
zwei Parteien, sondern eine Kommune sein - im Folgenden wurden aber
Einzelbestimmungen erlassen, die eine völlige Trennung der Kirchen und der
Gemeinden in zwei religiöse Einheiten festlegten. Die konfessionelle Differenz
wurde nun stärker empfunden als die kommunale Gemeinsamkeit.19
17
Ebd., S. 156f.
Randolph C. Head, Catholics (wie Anm. 11), S. 339 – übersetzt von H.R.S.
19
Ebd., S. 339f. Vgl. Randolph C. Head, Coexistence (wie Anm. 13), S. 158f.
18
Heinrich Richard Schmidt
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Am Ende war eine Lösung also in allen Fällen nur dadurch zu finden, dass die
religiöse von der politischen Gemeinde getrennt wurde. Die politische
Gemeinde wurde säkularisiert. Damit weist Graubünden weit voraus auf die
gleichen Tendenzen wie nach den großen Religionskriegen in Frankreich, als
eine an nicht mehr konfessionellen Leitlinien orientierte Politik dominant
wurde.20
Die Tatsachen zeigen aber auch, dass eine überlokale, überregionale Solidarität
aller Reformierten entstanden war - wofür ja auch die Voten des Bundestages
sprechen. Neben die Spaltung selbst der allerkleinsten Einheit, der
Kirchgemeinde, trat also gleichzeitig und untrennbar damit verbunden die
Stiftung einer ideologischen Einheit jenseits der Region. Es kam in
Graubünden, so kann man sagen, im 17. Jahrhundert zu einem Wechsel von den
kommunalen zu konfessionellen Identitäten.21
Dies bedeutete zwar nicht das Ende der Gemeinde als eines zentralen
Verbandes
des
Bündner
Selbstverständnisses
und
seiner
politischen
Organisation. Aber es kam zu einer Entsakralisierung dieser Organisation. Man
kann von einer doppelten Identität sprechen: einer politisch-regionalen und
einer konfessionell-überregionalen. Entscheidend war dabei nicht die Spaltung
der Religion als solche, sondern die Tatsache, dass es den Predigern und
Pfarrern gelungen war, ein immer schärfer gefasstes konfessionelles Weltbild zu
verbreiten, das in den Köpfen der gemeinen Leute wie der Oligarchen dominant
wurde.
20
21
Gerhard Oestreich, Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates, in: Ders., Geist und Gestalt
des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 35-79.
Randolph C. Head, „Nit alß zwo Gmeinden, oder Partheyen, sonder ein Gmeind“: Kommunalismus zwischen
den Konfessionen in Graubünden, in: Beat Kümin (Hg.), Kirche, Kultur und kommunale Entwicklung.
Studien zur Geschichte der Landgemeinde im Zeitalter der Reformation (Bauer und Reformation), Zürich
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
97
1.2 Thurgau
Der Thurgau ist ein Beispiel für eine gemischtkonfessionelle abhängige
Landschaft.
Die
Herren
der
„gemeinen
Herrschaft“
waren
-
verschiedenkonfessionelle - Stände der Eidgenossenschaft. Nach anfänglich
starker Protestantisierung von Zürich aus brachte schon der 2. Kappeler Frieden
von 1531 einen Endpunkt. Nach der Niederlage der Protestanten - und dem Tod
Zwinglis auf dem Schlachtfeld - wurde durch diesen Frieden beschlossen, den
Status quo festzuschreiben, ausgenommen in den sogenannten „Freien Ämtern“
Mellingen, Bremgarten, Rapperswil, Uznach, Gaster und Wesen. Hier wurde
die Gegenreformation wirksam und die Reformation rückgängig gemacht. Im
Thurgau, Rheintal, Sargans und der Grafschaft Baden wurden auf Veranlassung
der katholischen Orte neue Abstimmungen über den Glauben vorgenommen
und dem Katholizismus überall dort das Monopol gegeben, wo er ein Mehr
fand. Die Reformierten mussten in diesen Orten auf ihre Glaubensrechte
verzichten. War dagegen die Mehrheit protestantisch, behielt die katholische
Minderheit das Recht auf katholischen Gottesdienst. Das Kirchengut wurde hier
zwischen Mehrheit und Minderheit geteilt. Die Situation ist also der in den
gemischtkonfessionellen Regionen Graubündens in etwa vergleichbar.
Über das Zusammenleben in dieser Region erfahren wir mehr am Beispiel des
gemischtkonfessionellen
Städtchens
Bischofszell.
Die Protestanten
des
Städtchens gedachten jedes Jahr zu Ostermontag in einer Prozession der
Einführung der Reformation in ihrer Stadt. Aus der zweiten Hälfte des 17.
2004, S. 21-57, hier: S. 23.
Heinrich Richard Schmidt
98
Jahrhunderts sind handgreifliche Auseinandersetzungen mit Katholiken
überliefert, die sich durch die ostentative Darstellung der reformierten
Mehrheit, noch dazu unter Benutzung katholisierend-ironisierender Formen,
provoziert fühlten.22 Ähnliche Auseinandersetzungen werden von katholischen
Fronleichnamsprozessionen berichtet, als die Protestanten durch „Übertreibung
der Devotionsgeste, mit dem Trinken, dem Spielen und Lachen die katholische
Handlung
lächerlich
zu
machen“
versuchten.23
Angesichts
von
Rekatholisierungsmaßnahmen des Bischofs von Konstanz gewannen die
Auseinandersetzungen im 17. Jahrhundert an Brisanz.24
Zunächst gingen die Katholiken aber einer Konfrontation noch aus dem Weg.
Sie nahmen zwar ein altes katholisches Fest zum Dank für die Errettung vor
einer Feuersbrunst wieder auf, verlegten es aber auf einen Termin, der mit der
Prozession der Reformierten nicht kollidierte.25 Die Protestanten ihrerseits
begannen – angesichts der als bevorstehend empfundenen katholischen
Offensive –, die Katholiken offen zu provozieren, zu verhöhnen und zu
entehren. Die Details können hier außen vorbleiben, weil sie sich von den
Vorgängen in Graubünden nicht wesentlich unterscheiden.
Wichtiger
scheinen
mir
die
von
Frauke
Volkland,
die
den
Konfessionalisierungsprozess im Thurgau untersucht hat, beschriebenen Fälle
von Konversionen. In der gemischten Landschaft Thurgau stand jedem Bürger
oder Untertanen die Wahl der Konfession durch persönliche Entscheidung frei.
Einzelne seltene Fälle von Glaubensübertritten finden sich, vor allem aus der
22
Frauke Volkland, Konfessionelle Grenzen zwischen Auflösung und Verhärtung. Bikonfessionelle Gemeinden
in der Gemeinen Vogtei Thurgau (CH) des 17. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 5 (1997) S. 370387, hier: S. 370.
23
Ebd., S. 384 f.
24
Ebd., S. 371.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
99
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts berichtet Volkland von solchen
Ereignissen. Die Konversionen zeigen im Detail, wie sehr die nicht
konvertierenden Familienmitglieder diesen Schritt als existentielle Trennung
des Konvertiten von seiner Familie wahrnahmen.26 Ein konvertierter Bürger von
Bischofszell wurde nicht mehr als Sohn oder Bruder oder Gatte betrachtet.27
Das zeigt, welche enorme Bedeutung die „unsichtbare Grenze“ besaß und dass
es keineswegs leicht war, sie zu überschreiten.28
„In dem genannten Beispiel bedeutete ein Übertritt zum Katholizismus die
Aufkündigung aller verwandtschaftlichen Beziehungen zu der betroffenen
Person. Vor allem der noch engere Bereich der Familie wurde konfessionell
definiert, und eine Konversion zog unweigerlich das Auseinanderfallen der
Familie nach sich.“29
Die Konfessionalität ist deshalb als eine sehr mächtige, ja dominante Prägekraft
für die Identität von Menschen anzusehen, die selbst elementare Solidaritäten
wie die innerhalb einer Familie, also wesentlich engere Bindungen als die in
einer Region, sprengen konnte. Konfessionsverschiedenheit hieß Fremdheit,
Feindschaft. Modi vivendi konnten nur in der Separation der Feinde gefunden
werden, wie das ja schon die Graubündener Beispiele gezeigt hatten. Das
Eindringen des konfessionellen Gegensatzes in die „sakrosankten“ elementaren
25
Ebd., S. 370.
Ebd., S. 380-383.
27
Ebd., S. 381.
28
Die Annahme Volklands, konfessionelle Grenzen verhärteten sich nur, wenn politische oder soziale Faktoren
mit ins Gewicht fielen, überzeugt nicht. Sie wird argumentativ nur gebraucht, um die nicht bewiesene
Leichtigkeit der Konversion und die berichteten „schweren sozialen Sanktionen“ miteinander verbinden zu
können. In der Tat scheint die Konversion selbst trennend gewirkt zu haben, bisherige Gruppenbeziehungen
gekappt und neue konstituiert zu haben. Hier verwechselt m.E. der Verf. die rechtlichen Gegebenheiten und
die sozialen Tatsachen.
29
Ebd., S. 382.
26
100
Heinrich Richard Schmidt
Sozialisierungsformen wie die Kirchgemeinde und nun im Thurgau das Haus
und die Familie führte auch hier zur Spaltung.
1.3 Appenzell
Der Kanton Appenzell30 trennte sich im Jahre 1597 in zwei Teile. „Das
institutionelle Gerüst als Landsgemeinde und Landrat war nicht in der Lage, die
politische und konfessionelle Einheit zu wahren.“31 Appenzell Innerrhoden
wurde durch Beschluss der es konstiuierenden Gemeinden katholisch,
Appenzell Außerrhoden reformiert.32 Beide Teilstaaten bildeten vollständige
Verfassungsorgane aus, die denen des ehedem einigen Landes nachgebildet
waren. Die Minoritäten wanderten in die Gegend aus, wo ihr Glauben
vorherrschte. So entstanden konfessionell einheitliche Räume, die sich
allmählich auch in der Mentalität und der Arbeitsorganisation (in Außerrhoden
Textilgewerbe, in Innerrhoden Viehzucht) herausbildeten. Damit ist Appenzell
ein Beispiel für Regionalisierung durch Konfessionalisierung.33 Denn es gab
bisher keine Grenze innerhalb des Kantons. Erst die Konfession schuf hier eine
solche Grenze, an der sich Regionen trennten. „War bisher die Verfassung
allein prägend für die mentale Einheit der Appenzeller, so kam jetzt die
Religion überlagernd hinzu.“34
Während die Reformierten sich im Laufe der Zeit immer stärker dem
Textilgewerbe zuwandten und zu dem protoindustriellen Zentrum der Schweiz
30
Peter Blickle, Verfassung Religion. Voraussetzungen und Folgen der Landesteilung des Appenzell 1597, in:
ZRG, GA 115 (1998) S. 339-360.
31
Ebd., S. 349.
32
Ebd., S. 350.
33
Ebd.
34
Ebd., S. 353.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
101
wurden,35 blieben die Innerrhodener agrarisch (Viehzucht) orientiert. Mehr als
nur regional trennte die Konfession hier auch mental und stiftete eine
Lebenshaltung, die ein gutes Beispiel für Max Webers These vom
Zusammenhang zwischen Protestantismus und dem Geist des Erwerbsstrebens
sein könnte.
Appenzell steht also einmal für die separierende, Grenzen ziehende Rolle der
Konfession, zum andern verweist es auf die Mentalität als konfessionell
geprägte
Dimension
Regionalbewusstsein
des
wird
Lebens.
hier
das
Mehr
ganze
als
nur
Bewusstsein
Region
oder
konfessionell
durchgeformt.
1.4 Augsburg
Besonders gut erforscht ist die „unsichtbare Grenze“ im Fall der
gemischtkonfessionellen, paritätischen Stadt Augsburg. Zwischen 1580 und
1618 „kam es auf beiden Seiten zur Herausbildung eines konfessionellen
(Selbst-) Bewusstseins, das mit einer Verfestigung der innerkirchlichen
Strukturen Hand in Hand ging.“36 Konversionen und gemischtkonfessionelle
Ehen gingen nun stark zurück.37 Seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges
kühlte sich das bis dahin erträgliche Verhältnis der Konfessionen ab, allerdings
ohne dass es zu einem scharfen Bruch gekommen wäre. Der Krieg selbst endete
35
Vgl. Albert Tanner, Spulen-Weben-Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell Ausserrhoden, Zürich 1982.
Paul Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in
den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648,
Wiesbaden 1983, S. 389 f.
37
Ebd., S. 390.
36
Heinrich Richard Schmidt
102
mit der Durchsetzung der numerischen Parität in allen politischen Gremien der
Stadt.38
Die Trennung in der Einheit erfasste aber nicht nur Ratssitze. Die tatsächlich
gegebene unterschiedliche landsmannschaftliche oder regionale Herkunft
vermischte sich in Augsburg mit der konfessionellen in einer Weise, dass sie
Zeitgenossen geradezu ins Auge gesprungen zu sein scheint. Friedrich Nicolai
berichtet von einer Reise nach Augsburg: „Die Einwohner von Augsburg haben
etwas sehr auffallendes Unterscheidendes in ihrer Physiognomie: sie ist
gleichsam aus der schwäbischen und bairischen (sic!) Physiognomie gemischt.
Es scheint mir, daß die Protestanten in Augsburg mehr der schwäbischen
Nationalphysiognomie, und die Katholiken der bairischen sich nähern. Schon
Bianconi (selbst ein Katholik) hat bemerkt, daß man in Augsburg die
Katholiken und die Protestanten am Gesichte und an den Manieren
unterscheiden kann. Der Unterschied ist in der That für jeden aufmerksamen
Beobachter höchst auffallend, welches um so viel weniger zu verwundern ist, da
man fast sagen möchte, daß die Katholiken in Augsburg katholischer sind, als
irgendwo.
Sonderlich
der
katholische
Mann
ist
äusserst
von
dem
protestantischen gemeinen Mann unterschieden. Jener ist viel finstrer und in
sich gekehrter; dieser gesprächiger und auch industriöser. Jener ist fleischiger
und röther im Gesichte, und die Farbe des Gesichts nicht so hoch. Ich ging kurz
hintereinander in eine katholische und eine protestantische Kirche, und konnte
mich nicht genug verwundern, wie äusserst unterschieden der Schnitt vom
Gesichte bey den gemeinen Weibspersonen war. Bey den katholischen
gemeinen Weibspersonen sah ich gewiß zehn perpendikulare und spitze Stirnen
38
Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen
Kalenderstreit und Parität (1584-1648), Göttingen 1989, bes. S. 92 f., 133.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
103
gegen eine runde, und bei den protestantischen gemeinen Weibern war es
gerade umgekehrt. Es kann zu fortdauernder Unterhaltung dieses frappanten
Unterschiedes in der That etwas beytragen, daß beide Parteyen sich nur unter
ihren Glaubensgenossen verheirathen. Vielleicht stammen auch mehrere
Katholiken wirklich aus Baiern her.“39
Auch die Häuser waren katholisch oder lutherisch. Bei Katholiken zeigten die
Fassaden ostentativ durch Heiligenbilder u.ä. die Konfession des Besitzers an.
Aber auch bei der Wohnungseinrichtung unterschied sich das schmucklose
protestantische Mobiliar von der barocken, auch von barocker Frömmigkeit
geprägten katholischen Einrichtung. „Die sakrale Überschwemmung der
Innenausstattung katholischer Häuser steht im Gegensatz zur protestantischen
Strenge und Schmucklosigkeit“.40 Schließlich stellte die Frauenkleidung ein
drittes äußeres Unterscheidungsmerkmal dar.41 Diese „Abgrenzungslogik“42
„gehorcht eigenen, von dogmatischen Unterschieden unabhängigen Gesetzen
und macht usprünglich belanglose Dinge wie eine Haube, einen Rock oder ein
Mieder zu Erkennungszeichen, die die Konfessionszugehörigkeit sofort sichtbar
werden lassen und deshalb mit einer starken affektiven und symbolischen
Bedeutung befrachtet sind.“43
Étienne François folgert: „Ihre existentielle Wirklichkeit, ihren entscheidenden
gesellschaftlichen
Einfluß
und
ihre
Langlebigkeit
verdankt
die
Bikonfessionalität nicht in erster Linie dem Vorhandensein unterschiedlicher
39
Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, 12 Bde.,
Berlin/Stettin 1783/1795, hier: Bd. VII, S. 63-65 - zitiert nach Étienne François, Die unsichtbare Grenze.
Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648-1806, Sigmaringen 1991, S. 63 f.
40
Étienne François, Grenze (wie Anm. 39), S. 238.
41
Ebd., S. 188.
42
Ebd., S. 189.
43
Ebd., S. 189.
Heinrich Richard Schmidt
104
Glaubensinhalte. Sie verdankt sie vor allem der Tatsache, daß die
Konfessionszugehörigkeit
zur
damaligen
Zeit
untrennbar
mit
drei
Realitätsebenen verbunden ist, in denen sie wurzelt und die ihr Sinn verleihen.
Die erste - und bei weitem wichtigste - ist die Familie […]. Die zweite
Realitätsebene ist der Raum im weiteren Sinn des Wortes: Wenn Katholiken
und
Lutheraner
sich
voneinander
unterscheiden
und
einander
als
verschiedenartig empfanden, dann deshalb, weil ihre geographische Herkunft
und ihre familiären ‘Networks’ nicht die gleichen sind, daß die Kirchen, in
denen sie getauft, getraut und ausgesegnet werden und in die sie regelmäßig
gehen, nicht dieselben sind, daß die Bücher, die sie lesen, nicht von denselben
Autoren stammen, nicht in denselben Städten veröffentlicht und auch nicht in
derselben Sprache verfaßt sind.“44
Die Spaltung ist aber nicht die einzige Wahrheit. Die Gemeinsamkeit ist die
andere. Beide Konfessionen lebten in einer Stadt, miteinander. Sie kooperierten
in der Stadtführung. Die Parität trennte, um ein Zusammenleben zu
ermöglichen. Die unsichtbare Grenze wurde zur Demarkationslinie, die in ihrer
Klarheit die Gruppen auch von den Gefahren des Niemandslandes abhielt.45
Politische Entscheidungen hatten immer zu berücksichtigen, dass sie das
Einverständnis beider Parteien brauchten. „Auf die institutionelle Ebene wird so
jene strukturelle Verflechtung beider Konfessionen übertragen, für die die
jeweils katholischen und protestantischen Doppelkirchen St. Ulrich und Heilig
Kreuz bis in unsere Tage das anschaulichste Beispiel liefern.“46 Auch im
praktischen Leben waren die Konfessionen in Augsburg nicht räumlich, nicht
sozioprofessionell oder wirtschaftlich getrennt, sondern vielfach pragmatisch
44
Ebd., S. 221 f.
Ebd., S. 227.
46
Ebd., S. 25.
45
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
105
aufeinander bezogen.47 Das zeigt sich etwa darin, dass protestantische
Goldschmiede, die katholische Kultgegenstände nicht herstellen durften, das als
Subunternehmer formell verantwortlicher katholischer Kollegen doch taten.
Hier spielte die ökonomisch motivierte Solidarität. Die konfessionell geprägten
Gebiete des Alltagslebens, so zahlreich sie auch sein mochten, machen doch nur
einen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus.48
1.5 Die Niederlande
Die Niederlande sind wie Belgien in ihrer eigenstaatlichen Gestalt selbst ein
Produkt der Konfessionalisierung.49 Ähnlich wie bei der Teilung des
Appenzells konstituierte die Konfession die ein staatsrechtlich einheitliches
Territorium sprengende Ideologie. In den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts
erreichte der Calvinismus von Frankreich her die Niederlande. 1566 erfasste
dann eine calvinistisch beeinflusste Volksbewegung das ganze Land, wobei
systematisch Bilder und Heiligenstatuen vernichtet, Reliquien geschändet und
andere Symbole der alten Kirche zerstört wurden. Der Adel unterstützte den
Bildersturm in seinem Bemühen, die Zentralregierung zu schwächen. Der Sturm
begann auf dem Land, in Flandern, und griff danach auf die Städte über. In
Antwerpen wurde 1561 die Confessio Belgica als Glaubensbekenntnis für die
Niederlande beschlossen.
Als die nördlichen Staaten eine gewaltsame Calvinisierung begannen, gelang es
dem Statthalter Farnese, die Südprovinzen wieder unter spanische Obödienz zu
47
Ebd., S. 228.
Ebd., S. 228.
49
Vgl. zu den Niederlanden auch Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München
1989, 349-364.
48
Heinrich Richard Schmidt
106
bringen. Die radikalen Gruppen im Norden (Calvinisten) und Süden
(Katholiken)
konnten
sich
zunehmend
das
Zusammenleben
mit
Anderskonfessionellen nicht mehr vorstellen: Sie wollten die Alleinherrschaft
ihres Glaubens und zwangen die starke Mittelpartei in ihre Konfrontation
hinein. Am 6.1.1579 schlossen die Gesandten Westflanderns, des Artois und
des Hennegaus die (katholische) Union von Arras. Brabant und der weitere
Süden traten später bei. Spanien bot ihnen ständische Selbstregierung, verlangte
aber Anerkennung des Königs und Treue zum Katholizismus.50 Auf dieser Basis
schlossen beide (katholischen) Seiten am 17. Mai 1579 Frieden.
Als Reaktion darauf entstand die Union von Utrecht (23.1.1579), welche
Holland, Utrecht, Geldern, Seeland und eine Region um Groningen umfaßte.
Später waren insgesamt 7 Provinzen vereinigt. Große südliche Städte, die sich
anfangs angeschlossen hatten, wurden gewaltsam mit dem katholischen Süden
vereinigt. Damit war die Teilung der Niederlande besiegelt. In den
Nordprovinzen trug die protestantische Lehre mit ihrer Betonung der
Mitwirkung der Betroffenen - wie in der Kirche, so im Staat - den Aufstand
ideologisch. Wilhelm von Oranien formulierte in einer „Apologie“ die
Volkssouveränität, um seinen Kampf gegen den König von Spanien zu
legitimieren. Die sogenannte monarchomachische Lehre, dass man einen
schlechten Fürsten notfalls beseitigen dürfe, wurde von den Hugenotten in die
Niederlande getragen. Hier wurde 1579 ihre Kampfschrift „Vindiciae contra
tyrannos“ gedruckt. Die Haager Unabhängigkeitserklärung nahm Gedanken der
Monarchomachen auf und formulierte eine Staatskonzeption, in der der König
der Diener des Staates wie in der Kirche der Bischof oder Pfarrer Diener der
50
Zu diesen Ereignissen vgl. Ernst W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556-1648 (Propyläen
Geschichte Europas 2) Frankfurt a.M./Berlin 1982, S. 119 f.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
107
Gemeinden ist. Erfüllt er seine Aufgabe nicht, muss er abgelöst werden. So
setzten die protestantischen Provinzen den König ab und wählten sich einen
neuen. In einem langen Krieg siegte hier - anders als in Frankreich, Böhmen
oder Österreich - die Opposition gegen den Absolutismus. Eine Republik
etablierte sich. Der zwölfjährige Waffenstillstand 1609, faktisch das
Kriegsende, schrieb die Teilung der 17 Provinzen der Niederlande fest,
endgültig bestätigt im Westfälischen Frieden. Die sieben nördlichen wurden
von Spanien faktisch unabhängig. Im südlichen Teil triumphierte nach 1600 die
katholische Konfessionalisierung, die das spätere Belgien prägen sollte.
Protestantische
Minderheiten
wurden
verfolgt,
zur
Konversion
oder
Auswanderung gezwungen.
In den Nordprovinzen herrschte zwar der Calvinismus, er erfasste aber
zahlenmäßig weniger als 50 % der Bevölkerung. Öffentliche Ämter blieben
jedoch einzig Calvinisten vorbehalten. In dieser Spannungssituation war
Toleranz ein Gebot des Überlebens. Es stellte sich insgesamt eine Situation ein,
die der Graubündens vor den Wirren des 17. Jahrhunderts sehr ähnlich war. Auf
der Basis einer weitgehenden Selbstverwaltung von Kommunen und Regionen
unter dem losen Dach eines eher bündischen Gesamtstaates entschärfte sich der
Konflikt: Erst die einzelnen Dörfer waren monokonfessionell.51 „Die
Gottesdienstregelung wurde bereits in [einem] … frühen Stadium [1579] von
einer General- zur Provinzsache. Was schließlich als überprovinziale
Gemeinsamkeit blieb, war die Kompromißformel der landesweit geltenden
Gewissensfreiheit. Sie ließ Platz für provinzspezifische Interpretationen des
51
Olaf Mörke, „Konfessionalisierung“ als politisch-soziales Strukturprinzip? Das Verhältnis von Religion und
Staatsbildung in der Republik der Vereinigten Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert, in: Tijdschrift voor
Sociale Geschiedenis 16 (1990) S. 31-60, hier: S. 50-56.
108
Heinrich Richard Schmidt
Grades dieser Gewissensfreiheit, schuf aber gleichzeitig die Voraussetzung für
die bevorrechtigte Rolle der calvinistischen Öffentlichkeitskriche in einem
organisatorischen Rahmen, der jeweils von den lokalen Autoritäten, in den
Gebieten mit ausgeprägtem Urbanisierungsgrad von den städtischen Regenten,
abgesteckt wurde.“52 Es bestand, wie das Olaf Mörke gesagt hat, „Konsens über
die Legitimität des Dissenses in einem zentralen Bereich gesellschaftlichen
Handelns“. Und das „war die einzige Möglichkeit, auf Dauer den
innerstaatlichen Frieden zu stabilisieren.“53
Die Tatsache, dass nichtprivilegierte Konfessionen fortbestanden, ohne dass
eine Situation wie in Rätien eingetreten wäre, hängt sicher mit der
nichtaggressiven Haltung der Nichtprotestanten in den Niederlanden zusammen
und mit der Erfahrung eines gemeinsam durchgestandenen langen Krieges. So
hat letzten Endes doch wieder die nationale Gemeinsamkeit auch die
konfessionellen Gegensätze gemildert, obwohl an der Wiege dieser Nation
gerade die konfessionellen Gegensätze gestanden hatten.
2. Die Festigung der Region oder die Verklammerung von Regionen durch
die Konfession
Die Konfession konnte aber auch territoriale Gebilde fester verklammern, wenn
sie einheitlich war und sich damit als Identitätsstifter anbot. Sie festigte
Regionen oder band sie in einen überregionalen Raum stärker ein.
52
53
Ebd., S. 46 f.
Ebd., S. 49.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
109
2.1 Deutsche Reichs-Territorien
Das uns allen wohl am besten bekannte Beispiel für eine Konfessionalisierung
auf territorialer Basis, das Reich, kann hier eher knapp abgehandelt werden.
„Die in einem Territorium eingeführte Konfession bildete das wichtigste
Instrument zur Formierung seiner Identität.“54 Heinz Schilling hält deshalb fest:
„Im Unterschied zu den großen Einheitsmonarchien in West- und Nordeuropa
ging es in Deutschland nie um eine Verbindung der Konfessionalisierung mit
einer Nationalstaats-, sondern stets nur um deren Verbindung mit der
Territorialstaatsbildung.“55
In gesteigertem Maß gilt dies für solche Fälle, wo unterschiedliche
Konfessionen in der jeweiligen Staatswerdung konfrontiert wurden, wo z.B. ein
katholisches Territorium mit lutherischen oder reformierten Teilgebieten oder
Städten zu tun hatte.56 Gelang es in der Auseinandersetzung, die TerritorialKonfession durchzusetzen, dann schwächte das auch die Autonomie der Städte.
Das Hochstift Würzburg ist ein Beispiel für die integrative Funktion der
katholischen Konfessionalisierung für den Territorialstaat gegen die autonomen
und protestantischen Städte.57
54
Peter Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500-1800, Berlin 1988, S. 36.
Heinz Schilling, Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Bernhard Giesen (Hg.),
Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit,
Frankfurt 1991, S. 192-252, hier: S. 227.
56
Olaf Mörke, Integration und Desintegration. Kirche und Stadtentwicklung in Deutschland vom 14. bis ins 17.
Jahrhundert, in: La ville, la bourgeoisie et la genèse de l’État moderne (XIIe-XVIIIe siècles), Paris 1988, S.
297-321, hier: S. 315.
57
Ebd., S. 319. Vgl. dazu Hans-Christoph Rublack, Reformatorische Bewegungen in Würzburg und Bamberg,
in: Bernd Moeller, Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1978, S. 109-124. Vgl. auch Dens.,
Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen
55
Heinrich Richard Schmidt
110
Die konfessionelle Durchdringung des Territoriums und seine Abgrenzung von
fremdkonfessionellen Nachbarn stärkten beide die territoriale Identität. „Die
Abgrenzung des territorialen Staatsgebietes und Untertanenverbandes, die
innerhalb ein und desselben Landes naturgemäß besonders schwer fiel, wurde
durch die Konfessionsunterschiede entscheidend gefördert - etwa im
westfälischen Raum zwischen den katholischen Hochstiften Münster und
Paderborn, der lutherischen Grafschaft Ravensberg sowie den calvinistischen
Grafschaften Lippe, Rheda, Tecklenburg und Bentheim. Angesichts des
territorialen Zuschnitts aller frühneuzeitlichen Kirchenordnungen ergab sich
diese Differenzierung sogar zwischen glaubensgleichen Nachbarterritorien. Bis
weit ins 19. Jahrhundert hinein verliehen die konfessionell geprägten
Heiratsmuster
der
politischen
Territorialgliederung
Deutschlands
gesellschaftliche Festigkeit.“58 Diese Abgrenzung, die einem Territorium
stärkere Identität verlieh, konnte zugleich auch eine ehemals kohärente Region
spalten – denken wir an Westfalen oder Franken.
Mit Paul Münch muss man sich einer zu sehr vom heutigen Nationalstaat
geprägten Sicht verweigern und darf nicht das Reich als logischen Fluchtpunkt
der deutschen Entwicklung ansehen. Das Reich war nur ein lockerer Verband,
wie es die Eidgenossenschaft oder Graubünden waren: ein Staatenbund. Münch
sagt: „Entsprechend artikulierte sich in allen Ländern und Städten ein Lokalund Territorialpatriotismus, während das Reichsbewußtsein im Schwinden
begriffen war. Wer im 18. Jahrhundert von seinem ‘Vaterland’ sprach, meinte
nicht das Reich, sonder das Territorium, in dem er geboren war, bisweilen sogar
seine Heimatstadt. Abgesehen von wenigen übergreifenden, dem Reich
58
geistlichen Städten, Stuttgart 1978.
Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 240; vgl. Peter Schöller, Territorialgrenze, Konfession und
Siedlungsentwicklung, in: Westfälische Forschungen 6 (1943-1952) S. 116-129.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
111
verbliebenen Funktionen waren die wichtigsten staatlichen Hoheitsrechte in den
Ländern konzentriert.“59
2.2 Nationalstaatsbildung mit Hilfe der Konfession: Frankreich60
Die angesprochene Ambivalenz von Spaltung und Kohärenzstiftung begegnet
auch in anderen Staaten – vielleicht kann man sagen, dass „Spaltung“ und
„Verklammerung“ eigentlich stets zusammengegangen sind. Die folgenden
Beispiele zeigen eindrücklich eine zeitlich gestaffelte Konstellation: Zuerst
wurde in einem bestimmten Gebiet eine Konfession herrschend, stärkte dieses
Gebiet und grenzte es vom Restterritorium ab. Spaltung drohte. In einer
Gegenbewegung wurde dann die Religionsabweichung gewaltsam rückgängig
gemacht, um den Gesamtstaat zu erhalten und zu festigen, was in dem Maße
gelang, wie die konfessionelle Einheitlichkeit effektiv erreicht werden konnte.
Ein klassisches Beispiel sind Frankreich und Österreich/Habsburg.
Frankreich war noch davon entfernt, ein einheitlicher Nationalstaat zu sein. In
den Städten und Provinzen lebten Traditionen eigener Identität, die gegen den
Zentralismus des Königtums gerichtet waren. Diese Traditionen verbanden sich
z.T. mit der Religion, so dass in der Zeit der religiösen Bürgerkriege von 15621598 eine Spaltung des Staates nicht ausgeschlossen schien. Ernst Walter
Zeeden spricht davon, „daß angesichts der Schwäche des Königtums sich
einzelne
59
60
Landesteile
politisch
und
militärisch
Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 34.
Janine Garrisson, Protestants du Midi 1559-1598, Toulouse 2. Aufl. 1991.
in
hohem
Grad
112
Heinrich Richard Schmidt
verselbständigten.“61 Verbunden war diese Entwicklung mit dem Bemühen
konkurrierender Adelsparteien, politische Mitsprache gegen den werdenden
Absolutismus zu behaupten.62 Die französischen Religionskriege endeten
vorläufig mit dem Frieden durch Segregation, also Spaltung: Das Edikt von
Nantes von 1598 sicherte den Protestanten die Gewissensfreiheit zu, schränkte
aber das Recht, evangelischen Gottesdienst zu halten, auf die Orte ein, wo er
bereits bestand, sowie auf einen zusätzlichen Ort pro Amt und auf die in
adligem Besitz befindlichen Kirchen. Die Hugenotten mussten die katholischen
Bräuche achten und den Zehnten zahlen, hatten aber alle bürgerlichen Rechte
und konnten alle öffentlichen Ämter erlangen.63 Geheimartikel garantierten
ihnen sogenannte Sicherheitsplätze, das Recht, politische Versammlungen
abzuhalten und ihre Geistlichen zu entlohnen. Ausgedehnte Gebiete im Westen
und Süden des Landes gingen in die Hand der Protestanten über. „Hier bildeten
sie einen Staat im Staate.“64
Die Gefahr einer Spaltung des Landes war offensichtlich. Die Wiederaufnahme
der Religionskriege hat das faktisch verhindert. Durch Louis XIV., den
Sonnenkönig, wurde 1685 das Edikt von Nantes förmlich wieder aufgehoben.
Viele hundert Protestanten traten danach zum Katholizismus über. Viele andere
flohen nach Genf, Deutschland, England, die Schweiz und Amerika. Wer in
Frankreich blieb, musste von nun an mit Verfolgung rechnen oder zu einem
Geheimprotestantismus (wie in den Cevennen) Zuflucht nehmen.
61
Ernst W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556-1648 (Propyläen Geschichte Europas, Bd. 2)
Frankfurt/Berlin 1982, S. 151.
62
Ebd., S. 253.
63
Marc Venard, Frankreich und die Niederlande, in: Ders. (Hg.), Die Zeit der Konfessionen (Die Geschichte des
Christentums 8) Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 447-523, hier: S. 484.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
113
Die Stärkung des Nationalstaats war also hier ebenfalls erst das Endprodukt
eines Kampfes, der auch anders hätte ausgehen und dann die Abspaltung einer
protestantischen hugenottischen Republik, der "Provinces-Unies du Midi",65
hätte bringen können. Aber auch ein anderer als ein Königssieg zugunsten des
Katholizismus hätte nicht unbedingt ein starkes, auf dem Weg zum
Absolutismus befindliches Königtum und damit keinen zentralistischen
Nationalstaat hervorgebracht. So waren es in Frankreich konfessionelle und
spezifisch damit verwobene verfassungspolitische Komponenten, die dazu
führten, dass letzten Endes die gallikanische Konfessionalisierung zur Stärkung
des vorhandenen Territoriums führte.
2.3 Böhmen und Österreich
In Böhmen hatte der Hussitismus in zwei Gestalten, derjenigen der Brüderunität
und derjenigen des Utraquismus, schon seit hundert Jahren gewirkt und an der
Bildung einer eigenen Identität der böhmischen Nation mitgewirkt, als auch er
in den Strudel des Doppelkampfes von ständischen und protestantischen
Überzeugungen gegen absolutistische und katholische Aspirationen des
Königtums gerissen wurde. Ähnlichkeiten mit dem französischen Fall sind nicht
von der Hand zu weisen.66 Der Utraquismus, die größte böhmische Konfession,
stützte die ständischen Mit- und Selbstregierungsbestrebungen; er stand und fiel
aber zugleich mit ihnen.67
64
Ernst W. Zeeden, Hegemonialkriege (wie Anm. 61), S. 167.
Vgl. Janine Garrisson, Protestants (wie Anm. 60), S. 177-224.
66
Winfried Eberhard, Zur reformatorischen Qualität und Konfessionalisierung des nachrevolutionären
Hussitismus, in: František Šmahel, Häresie und vorzeitige Reformation im Spätmittelalter, München 1998, S.
213-238, hier: S. 229.
67
Winfried Eberhard, Entwicklungsphasen und Probleme der Gegenreformation und katholischen Erneuerung in
Böhmen, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 84 (1989) S.
235-257, hier: S. 235; vgl. Joachim Bahlcke, Calvinism and estate liberation movements in Bohemia and
65
Heinrich Richard Schmidt
114
Als
die
Stände
den
Einzug
der
Gegenreformation
durch
einige
protestantenfeindliche Maßnahmen des Königs befürchteten, brach ein offener
Aufstand aus. Die böhmischen Stände vertrieben die Jesuiten und den
Erzbischof von Prag aus dem Land und übernahmen selbst die Macht. Nach
dem Tod Kaiser Matthias’ am 20. März 1619 vereinigten sie sich mit den
Ständen Mährens, Schlesiens und der Lausitz zu einer Art Bundesstaat
(„Konföderation“). Am 16. August schlossen sich die Stände Ober- und
Niederösterreichs an. Danach erklärten die Böhmen die 1617 erfolgte Wahl
Ferdinands zu ihrem König für ungültig und wählten eine neue Staatsspitze: den
calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz.
Die Ständemacht in Böhmen, Mähren, Nieder- und Oberösterreich ging in einer
einzigen
Schlacht
frühabsolutistische
verloren. 1627
„verneuerte
erließ
der siegreiche König eine
Landesordnung“ für
Böhmen
und
die
Nebenländer, die die Krone erblich machte und den König zum alleinigen
Herrschaftszentrum werden ließ. Die Stände verloren ihr Gesetzgebungsrecht.
Mit dem Königtum Ferdinands II. siegte die Gegenreformation, die den
Hussitismus praktisch ebenso ausrottete wie das Luthertum in Österreich. Die
Aufrührer wurden einem strengen Rachegericht zugeführt. Als Hochverräter
verloren sie ihr Land und ihr Leben.68
Dieses Beispiel steht einmal für die Identität stiftende Rolle der Konfession,
insofern sich ethnisch-nationale mit ständischen und hussitischen Elementen
68
Hungary (1570-1620), in: Karin Maag (Hg.), The Reformation in Eastern and Central Europe, Aldershot
1997, S. 72-91, hier: S. 84 f.
Heinrich Richard Schmidt, Vom Fundamentalismus zum Vernunftglauben. Absolutismus und Aufklärung,
1600-1799, in: Chronik des Christentums, Gütersloh, München 1997, S. 272-321, hier: S. 282.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
115
vermischten. Die Ständekonfessionalisierung69 Böhmens bildet damit einen
paradigmatischen Alternativentwurf zum obrigkeitlich-monarchischen Modell
der Verbindung von Staatswerdung und Konfession. Andererseits ist Böhmen
auch ein Beispiel für die Unifizierung eines Staates durch eine gewaltsame
Aktion, die alle drei Identitätsebenen zugleich auszuschalten versucht. In
Böhmen ist dieser Prozess zumindest äußerlich erfolgreich gewesen - bis ins
Zeitalter des Nationalismus, in dem auch die Erinnerung an die eigene
hussitische Tradition ihrerseits wieder identitätsbildend wirkte.
In Österreich selbst wurde die Ständemacht und der das halbe Land
beherrschende Protestantismus in ähnlicher Weise vernichtet wie in Böhmen.
Hier, d.h. in Nieder- und Oberösterreich, in Kärnten und der Steiermark ist es
aber dennoch nicht zu einem vollständigen Sieg der Gegenreformation
gekommen (Stichwort: Geheimprotestantismus).70 Hier lebte die Konfession
länger als die - vor allem vom Adel getragene - ständische Opposition.
2.4 Spanien
In Spanien vollzog sich eine etwas andere Entwicklung, weil hier keine
Gegenreformation nötig war, sondern der Katholizismus unbestritten blieb.
Seine Akzentuierung – auch gegen fremde Religionen (Islam, Judentum) trug
wesentlich dazu bei, den Gesamtstaat zu verklammern - ohne die Regionalismen
endgültig abzutöten, wie unser Jahrhundert zeigt. Dies hängt mit der
69
70
Winfried Eberhard, Qualität (wie Anm. 66).
Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen der Konfessionalisierbarkeit, in: Ders./ Walter Ziegler
(Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung. Land und
Konfession 1500-1650, Bd. 7: Bilanz - Forschungsperspektiven - Register, Münster 1997, S. 9-44, hier: S.
22.
116
Heinrich Richard Schmidt
„katholischen Konfessionalisierung des 16. und 17. Jahrhunderts [zusammen],
die Katalanen und Kastiliern eine gemeinsame sozio-kulturelle Identität gab. Es
entstand ein Wir-Bewußtsein, durch das sich die Spanier von den
protestantischen, aber auch von den weniger entschiedenen katholischen
Nationen Europas absetzten, beruhend auf dem Stolz reiner, nie befleckter
Katholizität, die aufs engste mit der berühmten limpieza de sangre, der gegen
Mauren, Juden und zuletzt eben auch gegen nordeuropäische Häretiker
bewahrten Reinheit des spanischen Blutes, zusammenhing“.71 Die Religion
bildete den Kern der nationalen Identität Spaniens.72 Das ideologische Band der
Religion für die Gesellschaft war besonders deshalb wichtig, weil die
spanischen Königreiche während der Frühen Neuzeit institutionell getrennt
blieben.73 Die einzige gesamtspanische Institution war die 1478 auf Bitten der
Spanier von Papst Sixtus IV. eingerichete staatlich-religiöse Inquisition.
Von den einzelnen spanischen Königtümern Aragon, Kastilien, Navarra und
Granada aus betrachtet hat die katholische Konfessionalisierung also sogar
eigentlich mehr getan als nur eine Region identitätsmäßig zu befestigen. Es hat
Regionen zu einem - ja heute noch spürbar nicht spannungsfreien - Korpus
zusammengebunden und damit nationsbildend gewirkt, Nation hier verstanden
als überregionale Einheit.
In Spanien ist das Muster der Vereinheitlichung durch gewaltsame
konfessionelle Säuberung nur auf den ersten Blick nicht zu erkennen, hat es
doch hier keine wirklich nennenswerte protestantische Bewegung gegeben.
Dennoch wird das gleiche Schema erkennbar, einmal, weil der nachkonziliare
71
Heinz Schilling, Europa und der Norden auf dem Weg in die Neuzeit, in: Europa und der Norden. Bericht über
das 7. deutsch-norwegische Historikertreffen in Tromsø, Juni 1994, Oslo 1995, S. 51-71, hier: S. 67 f.
72
Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 211.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
117
Katholizismus, wo auch immer, stets eine bewusst antiprotestantische
Konfiguration darstellt.74 Zum andern wird aber auch in Spanien das System der
Verdrängung angewandt, nur hier gegen fremde Religionen wie das Judentum
oder den Islam gerichtet. Auch Spanien ist durch die katholische
Konfessionalisierung geprägt und durch die damit verbundene Ausmerzung des
Fremden.
2.5 England, Schottland, Irland
England hatte schon vor der Reformation seine nationale Einheit erlangt.75
Doch schuf auch hier die Reformation eine Identität über kulturelle Gegensätze
(keltisch [Wales, Schottland] versus germanisch), über politische und soziale
Schranken hinweg.76 Das gilt, weil der Anglikanismus als reformierte
Konfession trotz aller auch kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den
reformierten Filiationen (Puritaner vs. gemäßigte Anglikaner) für alle eine
Klammer blieb, und zwar so stark, dass in der Glorious Revolution 1688 der
bevorstehende Konfessionswechsel des Königshauses den Grund für die
Amtsenthebung des Königs darstellte. Die Stände setzten ihren König ab und
hoben seinen Schwiegersohn, Wilhelm III. von Oranien, auf den Thron. Die
konfessionelle Identität war hier Sache der Stände - gegen den König, der dem
Parlament untergeordnet wurde. Sie versicherten sich seiner Garantien für die
Regierung des Parlaments und den Schutz der anglikanischen Kirche. Wilhelms
Bannerspruch lautet entsprechend „Pro religione protestante et pro libero
73
Ebd.
Klaus Ganzer, Das Konzil von Trient und die Volksfrömmigkeit, in: Hansgeorg Molitor/ Heribert Smolinsky
(Hg.), Volksfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Münster 1994, S. 17-26, hier: S. 25.
75
Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 222 f.
76
Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 233.
74
118
Heinrich Richard Schmidt
parlamento [= Für die protestantische Religion und für ein freies Parlament]“.77
Am 23. Februar 1689 erlangte dann die sogenannte „Bill of Rights“ Rechtskraft.
Sie legte fest, dass künftig weder das religiöse Bekenntnis noch die
persönlichen Freiheiten beeinträchtigt werden dürfen, und beschränkte den
König in seiner Macht, weil er für die Erhebung von Steuern und die
Formierung eines Heeres der Zustimmung des Parlamentes bedurfte.
In Schottland war die Entwicklung der Reformation nicht vom König
ausgegangen. Hier hielt auch die in England unterlegene puritanische Fraktion
der Presbyterianer durch ihre militärische und politische Stärke ihr System
aufrecht, während es in England zu einer Restitution der Bischofskirche und der
königlichen Kirchenleitung kam.78 Hier stärkte also die abweichende
Konfession und Kirchenverfassung die relative Unabhängigkeit und das
Regionalbewusstsein, obwohl schottische und englische Kirche sich beide als
„protestantisch“ und damit „verwandt“ betrachteten. Dennoch hat, wie Margo
Todd es formuliert, Schottland durch die presbyterianische Kirche mit ihrer von
den Gemeinden selbst getragenen „highly visible and rigorous social discipline“
eine Kultur entwickelt, welche die schottische Gesellschaft klar von der
englischen unterschied – „a nation bonded by religious conviction“.79
Irland ist dagegen ein Fall einer gescheiterten Uniformierung. Hier führte der
Versuch einer Protestantisierung im Gegenteil zu einer starken Katholisierung
und einer Identifizierung von „irisch“ und „katholisch“.80 In Irland erfolgte die
Nationsbildung „auf dem Weg konfessioneller Opposition und
77
Robert Mandrou, Staatsräson und Vernunft. 1649-1775 (Propyläen Geschichte Europas 3)
Frankfurt/Berlin/Wien 1982, S. 100.
78
Viviane Barrie-Curien, Die Reformation auf den Britischen Inseln, in: Marc Venard (Hg.), Die Zeit der
Konfessionen (Die Geschichte des Christentums 8) Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 524-572.
79
Margo Todd, The Culture of Protestantism in Early Modern England, New Haven/ London 2002, S. 402.
80
Heinz Schilling, Konfession und politische Identität im Europa der werdenden Neuzeit, in: Concilium.
Internationale Zeitschrift für Theologie 6 (1995) S. 480-486, hier: S. 481 f.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
119
Konfrontation“.81 Dass die Reformation im Gegensatz zu Wales und Schottland,
den anderen beiden keltischen Randgebieten, scheiterte, lag darin begründet,
dass Staatsbildung und Konfessionalisierung gegen die lokalen Eliten erfolgte.
„Nur in Irland traf eine von außen aggressiv an das Land herangetragene
frühmoderne Staatsbildung auf eine nicht ‘domestizierte’ und nicht zur
Unterwerfung bereite lokale Elite. So wurde die katholische Konfession rasch
zum Dreh- und Angelpunkt des Widerstandes gegen eine mit dem
Protestantismus identifizierte Staatsbildung.“82
Es kam nirgends zu einer Inkulturation der neuen Lehre. Sie wurde, sprachlich
fremd, von Fremden im Auftrag eines auswärtigen Herrschers mangelhaft
verbreitet, nirgends, nicht einmal bei den Altengländern, den eingewanderten
Kolonisten aus dem Mutterland, aufgenommen. Nur Neueinwanderer in die
Provinz Ulster – etwa aus Schottland – bildeten einen wirklichen
protestantischen Brückenkopf im Land. Sogar die Old English solidarisierten
sich in der Phase der Konfessionalisierung gegen die New English mit den
Kelten und schufen so eine neue irische Identität auf der Basis der Konfession.83
Die Jesuiten, die nun illegal vom Kontinent kamen, um die Seelsorge der
unterdrückten katholischen Kirche zu sichern, waren Söhne meist angloirischer
Eltern aus dem Pale, die ihr Missionswerk in ihrer engeren Heimat begannen.84
Im Falle der englischen Herrschaft handelt es sich um Kolonialismus ohne
81
Heinz Schilling, Europa (wie Anm. 71), S. 67.
Karl S. Bottigheimer/ Ute Lotz-Heumann, The Irish Reformation in European Perspective, in: ARG 89 (1998)
S. 268-309, hier: S. 153 f., 308.
83
Ute Lotz-Heumann, Die doppelte Konfessionalisierung in Irland. Konflikt und Koexistenz im 16. und in der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe; 13) Tübingen 2000, S. 317334.
84
Ebd., S.128
82
Heinrich Richard Schmidt
120
Macht; statt Inkulturation Oktroi, aber ohne wirklichen Willen oder der
Fähigkeit, den Oktroi durchzusetzen.
2.6 Skandinavien
Eher unproblematische Wege zur Identifikation von Territorium oder Reich und
Konfession sind die skandinavischen Staaten gegangen. 1604 setzte der
Reichstag von Schweden seinen rechtmäßigen König Sigismund III. ab, weil er
von ihm eine Rekatholisierung des Landes befürchtete. Er wählte statt seiner
Karl IX. zum neuen schwedischen König. 1593 wurde eine Nationalsynode in
Uppsala einberufen, welche die schwedische Kirche an die Augsburger
Konfession band.85 Schwedisch und lutherisch wurden seitdem fast zu
Synonymen.86
Die bindende Kraft der Konfession für die territoriale Integration wird auch an
Dänemark-Norwegen
sichtbar.87
Die
Konfessionalisierung
schuf
hier
vergleichbar enge Klammern wie zwischen Aragon und Kastilien.88 Es handelte
sich bei der lutherischen Konfessionalisierung Norwegens an sich um eine
„koloniale
Konfessionalisierung“,
vergleichbar
der
irischen,
allerdings
erfolgreicher.89 Die Konfessionalisierung zerstörte die norwegische Identität so
weit, dass ausgangs des 18. Jahrhunderts Norwegisch als Verkehrs- und
Schriftsprache zugunsten des Dänischen verschwunden war und im 19.
Jahrhundert geradezu neu erfunden werden musste.90
85
Heinrich Richard Schmidt, Fundamentalismus (wie Anm. 68), S. 279.
Heinz Schilling, Identität (wie Anm. 55), S. 214.
87
Ebd., S. 213.
88
Heinz Schilling, Europa (wie Anm. 71), S. 67 f.
89
Ebd., S. 62.
86
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
121
2.7 Fazit: Verdrängung und Abgrenzung - Identität aus der Abstoßung
fremder Konfession/Religion
Obwohl wir hier große und zusammenhängende Territorien betrachtet haben,
die sich auf der Basis einer gemeinsamen Konfession festigen, ist sichtbar
geworden, dass auch hier Verdrängung und Abgrenzung eine Rolle gespielt
haben, wenn es auch nicht zu einer Spaltung gekommen ist. Die
Glaubensabweichler wurden vielmehr „außer Landes geschafft“ und so
konfessionelle Einheit hergestellt. Es hat sich gezeigt, dass Spaltungstendenzen
dennoch bestanden haben und immer eine Alternative zum Einheitsstaat waren,
so in Frankreich oder Österreich-Böhmen-Ungarn. Böhmen und Irland haben
sogar gezeigt, dass Identitätsbildung in einem umgrenzten kulturellen und
staatsrechtlichen
Raum
auch
in
bewusster
Antihaltung
gegen
fremdkonfessionelle Zwänge entstehen konnte. Außerdem zeigen sie, dass die
Konfessionalisierung auch auf Ständebasis vonstatten gehen konnte und nicht
immer eine Sache der Monarchie war. Wenn Henning Arnisaeus 1610 schreibt:
„Nichts verbindet die Gemüter der Menschen inniger und festigt das
Gemeinwesen stärker als die Religion“,91 dann stellt er eine Verbindung von
„Gemeinwesen“ und Religion her, die wir in den beiden vorangehenden
Kapiteln immer wieder angesprochen haben. Das führt uns zu theoretisierenden
Schlussüberlegungen.
90
91
Ebd., S. 66.
Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 39.
122
Heinrich Richard Schmidt
3. Theoretische Überlegungen zum Raum als konfessionelle Lebenswelt
Konfession gestaltet Raum. Das Gotteshaus war bei den Katholiken ein
Prunkraum.92 Es herrschte der Überschwang des Barock. Prunkvolle Messen93
und Bruderschaften94 als Räume der katholischen Gemeinschaftsfrömmigkeit
wurden typisch für die Lebenswelt der katholischen Bevölkerung. Prozessionen
und Wallfahrten erlebten und gestalteten die Welt als liturgischen Raum.95
Der Gottesdienst der Protestanten war auf das Wort gegründet, nüchtern, der
Kult karg, Feste reduziert, Wallfahrten u.a. verboten.96 Das Liedgut, der
Katechismus, die Gebetbücher wie die Leichenpredigten prägten die Lutheraner
durch die gemütvolle Tonlage, ausgerichtet auf den persönlichen Glauben an
die geschenkte Gnade eines barmherzigen Vaters.97 Gebete unterschieden die
Gruppen. Von der bei den Katholiken fortbestehenden und noch intensivierten
Anrufung der Heiligen wich die lutherische Frömmigkeit ab; Gebete erhielten
eine therapeutische Funktion. Der Totenkult wurde vollständig ersetzt durch
Gebete während der Krankheit, um die Hoffnung auf Heil und ewiges Leben
aus der geschenkten Gnade zu stärken.98
Im 17. und 18. Jahrhundert waren verschiedene Lebenseinstellungen mit
verschiedenen Konfessionen im Sinne eines Habitus verbunden bis hinein in
92
Peter Thaddäus Lang, „Ein grobes, unbändiges Volk.“ Visitationsberichte und Volksfrömmigkeit, in:
Hansgeorg Molitor/ H., Smolinsky (Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), hier: S. 53.
93
Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 38.
94
Bernhard Schneider, Wandel und Beharrung. Bruderschaften und Frömmigkeit in Spätmittelalter und Früher
Neuzeit, in: Hansgeorg Molitor/ Heribert Smolinsky(Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), S. 65-87.
95
Hansgeorg Molitor, Mehr mit den Augen als mit den Ohren glauben. Frühneuzeitliche Volksfrömmigkeit in
Köln und Jülich-Berg, in: Ders./ Heribert Smolinsky, (Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), S. 89-105,
hier: S. 91.
96
Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 38.
97
Bernd Vogler, Volksfrömmigkeit im Luthertum deutschsprachiger Länder, in: Hansgeorg Molitor/ Heribert
Smolinsky (Hg.), Volksfrömmigkeit (wie Anm. 74), S. 37-48, hier: S. 43-45.
Raum und Religion im frühneuzeitlichen Europa
123
elementare Lebensäußerungen wie die Bevorzugung von Kaffee oder
Schokolade als Getränk: „auf der einen Seite der am Tisch getrunkene,
ernüchternde
mental
stimulierende,
antierotische
und
körperfeindliche
bürgerliche Kaffee, Sinnbild leistungsbezogener protestantischer Askese, auf
der anderen Seite die nährende, potenzsteigernde, aristokratische Schokolade,
Symbol barock-katholischer Körperlichkeit.“99
Ganz verschiedene Konfessionskulturen standen sich gegenüber, die den Alltag
der
Gläubigen
prägten.100
Pfarrer101
und
Gläubige
bildeten
konfessionsspezifische Rollen aus, spezifische Gebräuche, die im Laufe der Zeit
zu einer lokalen Tradition wurden und in die regionale Identität integriert
wurden.102
Konfession prägt.103 Wollen wir die Ebene fassen, auf der diese Prägung
geschieht, dann müssen wir wohl von „Lebenswelt“ oder „Lebensführung“
sprechen. Geographisch ist diese Lebenswelt nur annähernd zu fassen. Sie wird
nur räumlich sichtbar, weil Menschen mit der gleichen konfessionellen
Lebenseinstellung am gleichen Ort oder im gleichen Gebiet wohnen. Werden
sie mobil, tragen sie ihre Einstellung in ihren Köpfen mit sich. Dort ist der Sitz
der Konfession. Indem sich Konfessionalität in Handlungen niederschlägt, Kir-
98
Ebd., S. 45.
Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 282.
100
Peter Münch, Lebensformen (wie Anm. 54), S. 38.
101
Luise Schorn-Schütte, Culture confessionnelle et identité régionale. Réflexions sur leur évolution dans
l’Empire à la fin du XVIe et au XVIIe siècle, in: Rainer Babel/ Jean-Marie Moeglin (Hg.), Identité régionale
et conscience nationale en France et en Allemagne du Moyen Age à l’époque moderne (Beihefte der Francia
39) Sigmaringen 1997, S. 167-175, hier: S. 170.
102
Bernd Vogler, Volksfrömmigkeit (wie Anm. 97), S. 37. Vgl. Luise Schorn-Schütte, Culture confessionnelle
(wie Anm. 101), S. 172.
103
Inwieweit das zu einer Disziplinierung führt, ist Gegenstand neuerer Untersuchungen: Heinrich Richard
Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart,
Jena, New York 1995. Vgl. die neueste Zusammenfassung der Diskussion in Ders., Sozialdisziplinierung? Ein
99
Heinrich Richard Schmidt
124
chen baut, Sittenzucht betreibt, Wallfahrtskapellen errichtet, wird sie äußerlich
sichtbar, sozusagen strukturbildend.
Winfried Schulze hat die Nation „ein System […] kultureller Weltdeutung“ und
ein „kulturelles System“ genannt. Ich möchte diese Idee auf die Region und das
Territorium als potentiell überregionale Einheit übertragen. Region als
„soziokulturellen Raum“ zu fassen, scheint mir in der Tat eine Chance für die
Begegnung
von
Geographie
und
Geschichte.
Besonders
die
Strukturationstheorie des finnischen Geographen Anssi Paasi ist hier zu
erwähnen. Seine Aussage liest sich wie ein Schlusswort zur konfessionellen
Lebensweltgestaltung: „’Regionen’ sind […] solche räumlichen Strukturen in
der Gesellschaft, die eine explizit kollektive Dimension haben, auf
institutionelle Praktiken bezogen sind und als historische Produkte über die auf
der lebensweltlichen Ebene individuellen Handelns, Wahrnehmens und
Bewertens
vollzogenen
Formen
der
‚Räumlichkeit’
hinaus
verfestigt
werden.“104 Die Region entsteht aus dem Bewusstsein der in ihr lebenden
Menschen als ein kohärenter Bezugsrahmen. Sie ist Handlungsraum. In diesem
Verständnis
weist
Kulturgeschichte,
Regionalgeschichte
zur
einen
Umweltgeschichte,
engen
zur
Bezug
auf
Alltags-
zur
und
Mentalitätsgeschichte und zu einer politischen Geschichte, die ‚Politik’ als
Praxis untersucht.
104
Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: HZ 265 (1997) S. 639-682.
Anssi Paasi, The institutionalization of regions: a theoretical framework for understanding the emergence of
regions and the constitution of regional Identity, in: Fennia 146 (1986) S. 105-146. Das Paasi
zusammenfassende Statement von Wardenga, Miggelbrink, Realismus (wie Anm. 1), S. 40.
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