53. Bundeskongress des Verbandes der Diätassistenten Deutscher Bundesverband e.V. in Kooperation mit dem Bundersverband Deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM) Ernährung und Medizin 2011 Wissensupdate in Diätetik und Medizin - aktuell und patientennah - Fast Track "Aktuelles" aus der Viszeralchirurgie multimodale Therapiekonzepte Dr. Antonio Lelli Facharzt für Chirurgie / Viszeralchirurgie Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Visceral- und Thoraxchirurgie Klinikum Leverkusen Fast Track Seite |2 Einführung Ein in den letzten Jahren häufig gebrauchter Begriff in der Viszeralchirurgie, insbesondere in der Kolonchirurgie, der in besonderem Maß auch Ernährungstherapeuten betrifft, ist "Fast Track" Chirurgie. Man kann sagen, dass er seit ca. 5-6 Jahren in aller Munde ist. Ist es aber auch ein "aktuelles" Thema? Sieht man es historisch dann handelt es sich um "kalten Kaffee". Die Prinzipien der multimodalen Rehabilitation nach chirurgischen Eingriffen (ERAS - Enhanced Recovery After Surgery) wurden vorwiegend von der dänischen Arbeitsgruppe um Henrik Kehlet schon in den 90 Jahren erarbeitet1, einige Aspekte waren bereits um 1982 wissenschaftlich belegt2 3. Seit dem Jahr 2000 mehrten sich die Publikationen darüber. Mittlerweile sind die meisten Chirurgen überzeugt, dass die Prinzipien der multimodalen Rehabilitation wirksam sind und zu einer besseren und auch schnelleren Genesung der Patienten führen. Sieht man dieses Therapiekonzept aber unter dem Aspekt der Verbreitung und der Durchdringung seiner Prinzipien in der chirurgischen Alltagspraxis, so muss man erkennen, dass alle darüber reden, viele sich damit beschäftigen, aber nur wenige es wirklich anwenden4. Dies obwohl kaum ein Behandlungspfad so gut wissenschaftlich untermauert ist, wie die multimodale Rehabilitation (Stichwort "evidence based medicine"). Daher ist die multimodale Rehabilitation doch ein sehr aktuelles Thema. Während ein früher Begriff für diesen Behandlungspfad (Enhanced Recovery After Surgery; ERAS als Akronym) Sinn und Zweck beinhaltete, nämlich die beschleunigte Erholung nach Operationen, hat sich speziell in Deutschland eher der unglückliche Begriff "Fast-Track-Chirurgie" eingebürgert. Der Begriff kommt ursprünglich aus der Bauindustrie und wurde erstmals in der Zeitschrift Businness Week 1976 veröffentlicht. Damit war ein Bauverfahren gemeint, bei dem mit den Bauarbeiten begonnen wurde, noch bevor die Pläne vollständig waren. Kein gutes Prinzip für die Chirurgie. Ganz zu schweigen von der Mißverständlichkeit des Begriffs für all jene Deutsche, die kein oder nur schlecht Englisch verstehen und das sind über 50%. Daher wird in diesem Beitrag von ERAS oder multimodaler Rehabilitation die Rede sein. Was verändert, bzw. was ist neu an diesem Konzept? Traditionelles perioperatives Patientenmanagement Um die letzte Frage beantworten zu können, sollte man sich zunächst die traditionelle Vorgehensweise in der perioperativen Behandlung der Patienten vor Augen führen. Kenneth Fearon, Exponent des ERAS Konzeptes in England und Professor für Chirurgie an der Universität Edinburgh, hat auf dem ESPEN Kongress 2004 in Lissabon während eines Vortrages die provokante Umschreibung der Prinzipien in der traditionellen perioperativen Behandlung beschrieben mit Starve (verhungern lassen) Stress (seelische und körperliche Belastung) Drown (ertrinken lassen)5 Fast Track Seite |3 Starve Im traditionellen perioperativen Konzept wird den Patienten in aller Regel die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme ab 0:00 Uhr des Operationstages verboten. Dieses Vorgehen lässt sich zurückführen auf die Erstbeschreibung eines Aspirationstodes unter Chloroformnarkose im Jahr 18626. Trotzdem wurde "Nüchternheit ab Mitternacht" erst in den 1960er Jahren zu einem weltweiten Anästhesiedogma7. Eine wissenschaftliche Basis dafür war aber zu keiner Zeit gegeben. Im Gegenteil sind schon lange die negativen Effekte längerfristiger präoperativer Nüchternheit bekannt. Es kommt zum Volumenmangel (ca. 1 L)8, der symptomatisch sein kann (Durst, Schwindel, Unwohlsein, Schläfrigkeit). Auf jeden Fall erhöht er die negativen Faktoren Angst und Stress für den Patienten. Auch bekannt ist, dass durch die Nüchternheitsperiode die Glykogenspeicher der Leber entleert werden, was zum Mangel an kurzfristig verfügbaren Zuckerreserven während der Operation führt, also dann, wenn der Patient sie am nötigsten hätte9. Außerdem kommt es dadurch zu einer Verschlimmerung der postoperativen Insulinresistenz10. In der postoperativen Phase setzt sich der "Hungerstatus" durch verzögerten Kostaufbau fort. Jeder kennt die traditionellen Schemata 1 - 3 - 5 bzw. 3 - 5 - 7, wobei die Ziffern für die postoperativen Tage stehen, an denen die Patienten ihre erste Flüssigkeit, erste Suppe und erste feste Nahrung erhalten. Auch hier gibt es keine wissenschaftlichen Belege für Vorteile solcher Vorgehensweisen. Vielmehr sind negative Effekte beschrieben, die von der Verlängerung des postoperativen Ileus11 bis zur Begünstigung des Übertritts von Bakterien bzw. deren Giftstoffen vom Darmlumen ins Blut gehen.12 Stress Im traditionellen Konzept der perioperativen Behandlung spielen viele Faktoren ineinander, die zur Steigerung der ohnehin vorhandenen Stresssituation der Patienten führen. Dazu zählen die mangelhafte Information der Patienten über den normalen Verlauf vor, in und nach der Operation und den damit verbundenen Maßnahmen, was sie dem Stress der Ungewissheit und der damit verbundenen Angst vermehrt aussetzt. Dafür konzentriert sich die Aufklärung auf die Risiken und negativen Aspekte einer Operation, was zwar juristisch nötig ist, aber für sich alleine die Angst steigert. Hunger und Durstgefühl (s.o.) sind weitere Stressfaktoren vor der Operation. Eine nicht zu unterschätzende Belastung ist auch in der sogenannten Darmvorbereitung zu sehen. Die dazu vorgesehenen Abführmaßnahmen reichen von der Darmspülung, über mehrere Liter Elektrolyt- oder Makrogollösungen bis zur Einnahme von Bisacodyl und Sennapräparaten (z.B. XPrep). Dadurch sollte der Darm "gereinigt" und somit die Rate der Anastomoseninsuffizienzen und der septischen Komplikationen gesenkt werden. Wir wissen heute, dass die Darmvorbereitung auf diese Komplikationen keinen Einfluss hat13, dafür aber die Ausgangslage der Patienten verschlechtert, da sie dadurch in Wasser- und Elektrolytstörungen14 getrieben werden können und die Prozedur die Patienten insgesamt schwächt. Nach der Operation setzt sich der Stress fort durch das postoperative Erbrechen (PONV) und den Beschwerden, die durch Magensonde und diverse Katheter und Drainagen bedingt sind15. Der wichtigste Stressfaktor nach der Operation ist aber der postoperative Schmerz. Er ist immer noch ein wichtiges Thema in deutschen Krankenhäuser, da allen Bemühungen zum Trotz das schmerzfreie Krankenhaus weiterhin fernab der Realität ist. Entsprechende Arbeiten zeigen, dass häufig ein einheitliches Konzept der postoperativen Schmerztherapie fehlt, die Schmerzintensität nicht erfasst wird und Pat. ganz allgemein schmerztherapeutisch mangelhaft versorgt sind16 17 18 Fast Track Seite |4 Drown Der relative Volumenmangel der Patienten in den traditionellen präoperativen Konzepten führt meist dazu, dass das Volumen bei Narkoseeinleitung ausgeglichen werden muss, um den Kreislauf stabil zu halten. Dies führt dazu, dass Patienten in relativ kurzer Zeit, zu einem ungünstigen Zeitpunkt (operatives Trauma) eine hohe Menge Flüssigkeit bekommen, von der ein Teil ins Gewebe diffundiert und zunächst dort liegen bleibt. Die Patienten zeigen somit regelhaft eine Gewichtszunahme von 3-5 Litern, die sich, wie wir heute wissen, ungünstig auf den postoperativen Verlauf auswirkt19. Jedes Trauma, somit auch das operative, führt mehr oder minder zu einem Postaggressions-Syndrom (siehe Anhang). In den traditionellen perioperativen Behandlungskonzepten wird dies als gegeben hingenommen, nur ungenügend bekämpft und in mancher Hinsicht sogar durch die Behandlungsmaßnahmen verstärkt. Multimodale Rehabilitation ERAS-Konzepte hingegen setzen auf der Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse (Evidence Based Medicine) alles daran, dieses Postaggressions-Syndrom zu vermeiden und zu bekämpfen. Damit stehen die ERAS Prinzipien fest: Optimiere die Funktion des Verdauungstraktes Optimiere die Kontrolle des Schmerzes Optimiere die Mobilisation Die ineinander wirkenden Maßnahmen des ERAS-Konzeptes einmal grafisch dargestellt: Fast Track Seite |5 Optimiere die Funktion des Verdauungstraktes Die Optimierung beginnt schon präoperativ. Unter Berücksichtigung der Datenlage, dass klare Flüssigkeiten nach 90 Minuten aus dem Magen entleert sind und feste Nahrung (wozu auch Milch gezählt werden muss) nach spätestens 6 Stunden, ist es den Patienten im ERAS-Konzept bis 2 Stunden vor geplanter Narkoseeinleitung erlaubt, klare und zuckerhaltige Flüssigkeiten zu trinken. Darunter sind Tee, schwarzer Kaffee, Wasser, klare Obstsäfte zu rechnen. Bis 6 Stunden vor Narkoseeinleitung darf der Pat. leichte Kost haben20. Daher dürfen die Patienten auch bei Operationen, die eine eingeschränkte Darmvorbereitung vorsehen, selbst nach Beginn der Abführmaßnahmen flüssige Kost (Joghurt, Sondennahrung ohne Ballaststoffe etc.) zu sich nehmen Eine metabolische Konditionierung ist in den ERAS Konzepten ebenfalls vorgesehen. Dazu erhalten die Patienten, die keinen Diabetes als Begleiterkrankung haben, einen kohlenhydratreichen Drink (z.B. ProvideXtra oder preOP) spätestens zwei Stunden vor Narkoseeinleitung. Dies sorgt auch dafür, dass unabhängig vom Durstgefühl zusätzlich zu den Kohlenhydraten Volumen zugeführt wird und ein gut hydrierter Patient den Operationssaal erreicht21. Der Optimierung des Verdauungstaktes dient auch der Verzicht auf eine ausgiebige Darmvorbereitung, entweder ganz oder teilweise. Damit wird ein weiterer Stessfaktor vermindert. Postoperativ setzt sich die Optimierung der Funktion des Verdauungstraktes fort. Eine gute Schmerzausschaltung, die mit möglichst wenig darmlähmenden Opioiden arbeitet, ist ein wesentlicher Faktor. Auch die konsequente Bekämpfung der postoperativen Übelkeit und des postoperativen Erbrechens (PONV) gehört dazu. Sie schaffen die Voraussetzungen, dass die Patienten dazu angehalten werden können, sobald sie genügend aus der Narkose erwacht und klar sind (ca. 2 Stunden nach Narkoseausleitung), gezuckerten Tee oder sonstige klare Flüssigkeiten zu trinken. Werden die Getränke gut vertragen, werden den Patienten Naturjoghurts zu essen angeboten. Die Infusionsmenge wird möglichst auf 500 ml begrenzt. Am ersten postoperativen Tag werden die Patienten angehalten ca. 1500 ml Flüssigkeit zu sich zu nehmen und dürfen Schonkost essen, zumindest aber Energydrinks und möglichst Sondennahrung. Ab dem 3. Tag postoperativ wird dann Normalkost angeboten. Optimiere die Schmerztherapie Eine wesentliche Bedeutung für die Verminderung des perioperativen Stress ist die möglichst komplette Ausschaltung von Schmerzen. Sie ist auch eine wesentliche Voraussetzung, um die Patienten rasch und vollständig zu mobilisieren. Hierzu müssen alle Möglichkeiten der modernen Anästhesie eingesetzt werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die rückenmarksnahe Anästhesie in Höhe der Brustwirbelsäule (thorakale Periduralanästhesie). Damit ist eine gute Schmerzausschaltung der gesamten Bauchregion zu erreichen mit minimalen Wirkungen auf die Beine und die Blasenfunktion. Dadurch wird die Mobilisation sehr erleichtert. Hinzu kommt, dass durch die Blockade der Schmerzweiterleitung ins Gehirn eine sogenannte dynamische Schmerzausschaltung erreicht wird. Damit ist gemeint, dass die Schmerzen ausgeschaltet werden, unabhängig davon, ob der Patient ruht oder sich bewegt. Dies kann mit einer i.v. Schmerztherapie nicht erreicht werden.22 Außerdem ist die thorakale Periduralanästhesie eine Säule, um das Postaggressionssyndrom zu vermeiden und zu bekämpfen, da es die sogenannte neurohumorale Achse weitestgehend blockiert (siehe dazu den Anhang über das Postaggressionssyndrom). Fast Track Seite |6 Zusätzlich zur Periduralanästhesie muss bedarfsgerecht eine systemische Schmerztherapie mit einer Kombination von peripher wirksamen Schmerzmitteln (z.B. Paracetamol, Metamizol, Ibuprofen, Celecoxib) und einer möglichst geringen Dosis von Morphinderivaten erfolgen. Damit soll einerseits eine gute Schmerzausschaltung erreicht, andererseits der Verdauungstrakt so wenig wie möglich von den darmlähmenden Morphinderivate beeinflußt werden. Optimiere die Mobilisation Wie schon erwähnt, gehört hierzu ganz wesentlich die gute Schmerzausschaltung, da nur diese es den Patienten ermöglicht, sich ohne großes Leid zu bewegen und somit zu einer möglichst raschen Autonomie zurückzukehren. Aber auch die intensive Betreuung und Hilfe bei der Mobilisation in den ersten postoperativen Tagen muss fest in ERAS Konzepte vorgesehen werden (Personal). Im einzelnen sieht das ERAS Konzept die ersten Schritte aus dem Bett schon am Abend des Operationstages vor, die Patienten sollten 4-6 Stunden nach Op bereits in einen bequemen Stuhl gesetzt werden und möglichst 2 Stunden aus dem Bett verbringen. Am ersten postoperativen Tag werden 8 Stunden außerhalb des Bettes angestrebt, die in z.B. 2 Stunden-Phasen eingeteilt werden können, mit entsprechenden Ruhepausen im Bett. Bereits am zweiten Tag ist die vollständige Mobilisation der Patienten angestrebt, die spätestens am 3. Tag erreicht sein sollte. Dabei sollen die Patienten nur zur Nachtruhe und einem Mittagsschlaf im Bett sein. Multidisziplinäres und interprofessionelles Konzept Ein solche Konzept erfordert die enge Kooperation zwischen Fachdisziplinen und auch den verschiedenen Berufsgruppen, die alle zusammen am Ziel arbeiten müssen, den Patienten möglichst rasch wieder zu einem selbstbestimmten und autonomen Leben nach einer auch schweren Operation zu gelangen. Hierzu müssen alte Strukturen und Denkweisen abgelegt und die Prinzipien des ERASKonzeptes angenommen werden. Ohne ein Hand in Hand arbeiten aller an der Patientenversorgung beteiligten Personen sind die hervorragenden Ergebnisse der perioperativen Behandlung nach ERASKonzepten nicht zu erreichen. Widmet man sich dieser modernen Behandlungsform chirurgischer Patienten kann man aber die Rate der Thrombosen und Embolien, der postoperativen Lungenentzündungen und der postoperativen Herzinfarkte dramatisch senken 15. Fast Track Seite |7 Literaturhinweise 1 Kehlet H (1997) Multimodal approach to control postoperative pathophysiology and rehabilitation. 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(2002) Effect of postoperative epidural analgesia on surgical outcome. Minerva Anestesiol.68:157-61 Anhang Das Postaggressionssyndrom Allgemeines Unter Postaggressionssyndrom versteht man eine Reaktion des Körpers auf Bedrohung und Verletzung und damit auch auf eine Operation. Es ist eine stereotype Reaktion, die sich im Laufe der Evolution herausgebildet hat und die Überlebenswahrscheinlichkeit junger Individuen in lebensbedrohlichen Stresssituationen erhöhen soll. Dafür kommt es zu einer Reihe pathophysiologischer Vorgänge, die das Ziel haben, den Blutdruck aufrecht zu erhalten, damit die lebenswichtigen Organe Herz, Lunge und Gehirn bei Blut-und Flüssigkeitsverlusten weiterhin durchblutet werden. Außerdem sollen durch eine katabole Stoffwechsellage dem Körper Energieträger bereitgestellt werden, vorzugsweise die schnell und gut verwertbare Glucose. Diese Energieträger dienen akut der Kampf- und Fluchtreaktion, auf längere Sicht den Gewebsreparaturvorgängen. Leider hat diese Reaktion aber auch eine Reihe von Wirkungen, die bei längerem Bestehen dem Körper schaden anstatt ihm zu nutzen. Daher ist die Antwort auf die Frage, ob das Postaggressionssyndrom dem Körper nutzt oder schadet, davon abhängig, ob es sich schnell und phasenartig zurückbildet oder in der Frühphase bestehen bleibt und letztendlich zum Organversagen führt. Das Postaggressionssyndrom kann man grafisch vereinfacht wie folgt darstellen: Anhang S e i t e | II Auslöser Die Gewebeverletzung durch eine Operation ist der zentrale Reiz, der über eine Kette von verschiedenen Signalen eine Kaskade an Reaktionen auslöst, die den oben bereits angesprochenen Zielen dienen. Dabei kann man in der Grafik zwei unterschiedliche Wege unterscheiden. Links des zentralen Ereignisses (Messer durchtrennt Gewebe) ist die durch das Nervensystem vermittelte Reaktionskaskade (neurohormonale Achse) dargestellt. Rechts davon findet sich die durch chemische Botenstoffe vermittelte Reaktionskaskade (humorale Achse). Die neurohormonale Achse Die Verletzung des Körpers durch den Operationsvorgang ist der Reiz, der die Nervenrezeptoren für Schmerz aktiviert. Diese melden - auch wenn der Patient in Narkose liegt und nichts davon ins Bewusstsein dringt - den Schmerz über afferente Nervenfasern an das Gehirn. Eine Verstärkung dieses Reizes entsteht, wenn zuvor Stressfaktoren wie Angst, Hunger, Durst und Volumenmangel diese Kette bereits teilweise aktiviert hatten. Die Reaktion im Gehirn ist einerseits die direkte Beeinflussung der Leber, die das in ihr gespeicherte Glykogen zur Bereitstellung von Zucker ausschüttet und gleichzeitig die Zuckerbildung aus Aminosäuren aktiviert (Glukoneogenese). Andererseits kommt es zu einer Ausschüttung des Hormons ACTH (Adrenokortikotropes Hormon), das die Nebenniere beeinflusst und diese dazu veranlasst, einer Reihe weiterer Hormone auszuschütten. Die wichtigsten davon sind die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin, das Cortisol und das Aldosteron. Die Wirkung dieser Hormone erklärt die zu beobachtenden Körperreaktionen. Adrenalin und Noradrenalin Diese Substanzen führen zu einer Steigerung von Herzfrequenz, Herzminutenvolumen und Blutdruck. Gleichzeitig führt das zu einem erhöhten Sauerstoffverbrauch aber auch zu einer schlechteren Sauerstoffverwertung (es stehen somit günstige Effekte ungünstigen gegenüber). Das Pankreas wird angeregt Insulin auszuschütten, damit die bereitgestellte Glukose besser in die Muskelzellen eindringen kann (Flucht- und Kampfreaktion). Gleichzeitig werden aber die Insulinwirkungen in den peripheren Zellen gehemmt (Insulinresistenz), was zu einer Steigerung des Blutzucker führt, obwohl Insulin sogar im Übermaß vorhanden ist (Hyperinsulinismus). Cortisol Das Cortisol beeinflusst wesentlich die Vorgänge um eine Bereitstellung von Energie. Es aktiviert die Glukoneogenese, die Lipolyse (Fettabbau), die Proteolyse (Eiweißabbau) und führt zu einer Insulinresistenz. Dem Körper werden dadurch Glukose, freie Fettsäuren und Aminosäuren kurzfristig zur Verfügung gestellt, die er zur Energiegewinnung nutzen kann. Gleichzeitig schwächt das Cortisol aber die Immunabwehr. Aldosteron Dieses Hormon gehört zum Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, das dadurch aktiviert wird. Die Folge ist, das der Körper Wasser und Salz zurückzuhalten versucht, um die mit einer Verletzung einhergehenden Verluste an Blut und Flüssigkeit zu kompensieren. Anhang S e i t e | III Die humorale Achse Der zweite Reaktionsweg im Postaggressionswechsel wird durch chemische Signalträger vermittelt, die aus verletztem Gewebe freigesetzt werden. Man spricht vom Komplementsystem. Dieses aktiviert die Körperabwehrzellen, was wiederum zur Ausschüttung von weiteren Botenstoffen führt (Zytokine). Diese führen dazu, dass die Blutgefäße im Verletzungsgebiet weitgestellt (bessere Durchblutung) und durchlässiger werden für die Abwehrzellen (Leukozyten), die der Bekämpfung des Gewebeschadens und der eindringenden Keime dienen. Außerdem werden die Blutplättchen (Thrombozyten) aktiviert, um die Blutgerinnung anzustoßen und Blutungen zum Stillstand zu bringen. Diese an sich sinnvollen Vorgänge laufen aber leider nicht nur am Ort der Verletzung ab, sondern im ganzen Körper. Werden sie nicht zeitig genug wieder zurückgefahren, schädigen sie die gesunden Organe, was dann zur Funktionsstörung (Organdysfunktion) und letztendlich zum Organversagen führen kann. Verlauf Das Postaggressionssyndrom verläuft phasenhaft in vier Stadien: Aggressionsphase Diese Phase wird auch Akutphase genannt und schließt sich dem Trauma direkt an. Sie dauert etwa 12-72 Stunden. Durch Schmerz und Blutverlust besteht ein erhöhter Sympathikotonus, der bewirkt, dass der Körper mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Glucagon, Cortison und Katecholaminen reagiert (Fluchtreaktion, s.o.). Diese Hormone fördern die Gluconeogenese, um eine ausreichende Menge an Glucose im Blut zu gewährleisten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Organe (Zentrales Nervensystem, Nierenmark, Blutzellen), die ausschließlich auf die Energiebereitstellung aus Glucose angewiesen sind, weiterarbeiten können. Organe die nicht auf Glucose als Energieträger angewiesen sind, entwickeln eine durch die o.g. Hormone vermittelte Insulinresistenz und können so den Blutzucker nicht mehr verwerten. Dadurch wird die Konzentration von Glucose im Blut weiter erhöht. Diese Organe (z. B. Muskulatur) werden mit freien Fettsäuren (FFS) als Energielieferanten versorgt. FFS stehen durch die gesteigerte Lipolyse in vermehrtem Maße zur Verfügung. Postaggressionsphase Diese zweite Phase wird auch als katabole Phase bezeichnet. Sie dauert einige Tage bis wenige Wochen an und ist durch einen gesteigerten Ruheumsatz charakterisiert. Die Glycogenvorräte des Körpers wurden bereits in der Akutphase (nach 24 Std.) verbraucht, so dass eine andere Energiequelle genutzt werden muss. Um daher die Zuckerversorgung aufrecht zu erhalten, wird weiterhin die Gluconeogenese genutzt, die auf Aminosäuren angewiesen ist. Damit muss körpereigenes Eiweiß abgebaut werden, das aus der Muskulatur oder aus anderen Quellen (z. B. Enzyme) herangezogen werden muss. Das hat unweigerlich einen Körpersubstanzverlust zur Folge. Die Insulinwirkung wird weiter durch antiinsulinäre Hormone gehemmt, wenn auch nicht so stark wie in der Aggressionsphase. Anhang S e i t e | IV Reparationsphase Der Hypermetabolismus und die Wirkung der Stresshormone gehen in dieser Phase allmählich zurück. Die Insulinwirkung greift wieder und die Blutzuckerwerte fallen auf ein normales Maß. Mit dem Abklingen der Entzündungsreaktion des Körpers ist der Stoffwechsel nicht mehr darauf aus, aus Eiweiß Zucker herzustellen, sondern das verlorene Eiweiß wieder aufzubauen. Diese Phase kann Wochen bis Monate dauern. In dieser Phase haben Patienten weiterhin einen hohen Energie- und Eiweißbedarf, der in den Reparationsvorgängen in den Zellen (Muskelaufbau) und der zunehmenden körperlichen Aktivität (Mobilisation, Rehabititationsmaßnahmen) begründet ist. Diese Phase dauert auch nach der Entlassung aus der Klinik in eine Rehabilitationseinrichtung oder in die häusliche Umgebung weiter an. ERAS und Postaggressionsstoffwechsel Die Maßnahmen in den ERAS Protokollen zielen alle darauf, die negativen Einflussfaktoren auf den Postaggressionsstoffwechsel entweder ganz auszuschalten oder zu minimieren. Angst, Hunger und Volumenmangel soll vorgebeugt werden durch die entsprechenden Ernährungsregeln (siehe Hauptvortrag). Die großzügige Anwendung der thorakalen Periduralanästhesie kontrolliert nicht nur den Schmerz, sondern blockiert zu einem wesentlichen Teil auch die neurohormonale Achse, indem die entsprechenden Reize nicht bis zum Gehirn gelangen und somit die Hormonausschüttungen - theoretisch ganz - ausbleiben. Das ERAS-Konzept bemüht sich daher den Postaggressionsstoffwechsel zu vermeiden und ihn frühzeitig zu bekämpfen. Das ist vielleicht auch der wesentliche Unterschied zum traditionellen perioperativen Behandlungskonzept, das den Postaggressionsstoffwechsel als unvermeidbare Begleiterscheinung der Operation akzeptierte und nur dessen Auswirkungen zu behandeln versuchte und somit den pathophysiologischen Vorgängen hinerherlief, anstatt ihnen zuvor zu kommen.