2001, Heft 2: Diabetes - Schweizerischer Versicherungsverband

Werbung
2001/2
Mitteilungen der
Lebensversicherer an die
Schweizer Ärzteschaft
Diabetes
Beilage der Schweizerischen Ärztezeitung • Nr. 51/52, 19.12.2001
2
Inhalt
Diabetes – Epidemie
des 21. Jahrhunderts?
4
Die Genetik
des Typ-1-Diabetes
9
Diabetes mellitus
in der Versicherungsmedizin
24
Der Praktische Fall
28
Diagnose des Diabetes mellitus
und der verminderten
15
Glukosetoleranz
Impressum
Herausgeber
SVV
Schweizerischer
Versicherungsverband
1941 – 1998: herausgegeben
von den Lebensversicherern
Die für die Herausgabe der
«Mitteilungen» verantwortliche Kommission setzt sich
wie folgt zusammen:
• Josef Kreienbühl, PAX,
Präsident
• Karl Ehrenbaum, Zürich
• Udo Hohmann, Basler
• Dr. med. Thomas Mall,
Basler
• Dr. med. Jan von Overbeck,
Swiss Re
• Dr. med. Walter Sollberger,
Berner
• Peter Suter, Winterthur
• Dr. med. André Weissen,
PAX
Redaktion
Dr. Jörg Kistler
C. F.-Meyer-Strasse 14
8022 Zürich
Telefon 01- 208 28 28
E-mail [email protected]
Druck
Dürrenmatt Druck AG
3074 Muri -Bern
Auflage
11000 Exemplare
3
Editorial
Dr. Jörg Kistler
Diabetes eine Volkskrankheit?
Liebe Leserin, lieber Leser
Diabetes ist eine weit verbreitete und gut erforschte Krankheit.
Gerade dies ist der Anlass, sie zum Thema dieser Ausgabe der Mitteilungen an die Ärzteschaft zu machen. Denn weit verbreitet heisst auch,
dass die Lebensversicherer sich intensiv Gedanken machen müssen,
wie die Risiken eines an Diabetes erkrankten Menschen zu bewerten
sind.
In einem Grundsatzartikel machen sich Prof. Dr. Felix Gutzwiller
und Prof. Dr. Thomas D. Szucs Gedanken zur volkswirtschaftlichen
Bedeutung der Diabetes und errechnen Gesamtkosten für die Schweiz
von über 1 Milliarde Franken.
Mit der Genetik der Diabetes befasst sich Prof. Dr. Michael Morris
von der Universität Genf. Professor Morris untersucht insbesondere
die Aussagekraft der bereits existierenden Gentests sowohl unter
dem Blickwinkel der Zuverlässigkeit der Testergebnisse als auch demjenigen der praktischen Wirkung dieser Tests.
Prof. Dr. Ulrich Keller und cand. med. Lela Hakemi behandeln
beeinflussbare und nicht beeinflussbare Risikofaktoren des Diabetes
und untersuchen, wann ein Screening Sinn macht.
Neben der medizinischen Sicht soll auch der Versicherungsstandpunkt
nicht zu kurz kommen. In seinem Artikel bewertet Dr. André Weissen die
Parameter auf dem Versicherungsfragebogen nach ihrer Aussagekraft
für die Versicherer.
Schliesslich dient der praktische Fall der konkreten Darlegung
der Überlegungen, welche eine Versicherungsgesellschaft sich bei
der Analyse der Versicherbarkeit machen muss.
Liebe Leserin, lieber Leser ich möchte mich an dieser Stelle recht
herzlich für die vielen positiven Reaktionen bedanken, die wir
auf die letzte Nummer erhalten haben und hoffen, dass auch diese
Ausgabe der «Mitteilungen an die Ärzteschaft» Ihr Interesse
findet.
4
Diabetes – Epidemie
des 21. Jahrhunderts?
Felix Gutzwiller,
Prof. Dr. med.,
Institut für Sozial- und
Präventivmedizin der
Universität Zürich,
Sumatrastr. 30,
8006 Zürich;
Thomas D. Szucs,
Prof. Dr. med.
Hirslanden Research,
Münchhaldenstr. 33,
8008 Zürich
Diabetes:
Was kommt auf uns zu?
Der Typ-2-Diabetes mellitus zählt
zu den weltweit am meisten verbreiteten Zivilisationskrankheiten.
Gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) litten im Jahr 1995 rund
135 Mio. Menschen an der chronischen Stoffwechselerkrankung.
Schätzungen zufolge werden es
2025 bereits mehr als doppelt so
viele sein. Allein in der Schweiz
geht man heute von 250 000 Typ-2Diabtetikern aus – 20 000 Betroffene kommen laut Aussagen der
Schweizerischen Diabetes-Gesellschaft jedes Jahr neu dazu. Die
Auswirkungen von Diabetes auf die
Gesundheit und die volkswirtschaftlichen Kosten sind enorm.
Die im Volksmund Altersdiabetes genannte Krankheit entwickelt sich ab dem 45. Altersjahr
meist schleichend und bleibt deshalb in vielen Fällen über einen
längeren Zeitraum unerkannt. Die
Diagnose «Typ-2-Diabetes» erfolgt
so nicht selten erst nach dem Eintritt schwerer Folgeerkrankungen
wie beispielsweise Herzinfarkt,
Retinopathie, Nierenversagen, Gefässerkrankungen oder Neuropathie.
Deutliche Zunahme von
Diabetes
Schätzungen der WHO veranschaulichen die enorme Bedeutung
von Diabetes für die Weltgesundheit. So wird sich die Anzahl
der weltweit an Diabetes erkrankten Personen bis in 25 Jahren ver-
doppeln – von 150 auf 300 Millionen (siehe Diagramm 1). Besonders
drastisch wird der Anstieg in Entwicklungsländern sein, wo Diabetes, Herzkrankheiten und Krebs
bald zu den wichtigsten Ursachen
für Behinderung, Krankheit und
Tod zählen werden.
In Industrienationen sind für
diese Zunahme unter anderem
Langlebigkeit und Alterung der
Gesellschaft, schlechte Ernährungsgewohnheiten, Übergewicht
und Bewegungsmangel verantwortlich.
Diabetes:
ein universales Problem
Die Diabetesprävalenz variiert
zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen und Ländern. Typ-1-Diabetes ist eine der häufigsten chronischen Krankheiten im Kindesalter. Die Inzidenz ist in Nordeuropa
am höchsten. Typ-2-Diabetes (80 –
90%) der Diabetesfälle in Europa)
tritt vorwiegend bei älteren Erwachsenen auf; zwei Drittel der
Betroffenen sind Frauen. In den
USA und Europa wird Typ 2 mittlerweile auch zunehmend bei Jugendlichen diagnostiziert, im Einklang mit der steigenden Zahl Adipöser in dieser Altersgruppe. Bei
ihnen kommt es vielfach bereits zu
diabetischen Spätkomplikationen,
während sie noch aktiv und erwerbstätig sind. Dies stellt Gesellschaft und Gesundheitswesen
langfristig vor grosse soziale und
ökonomische Probleme. In einem
weiteren Teil dieser Arbeit wird auf
5
Diagramm 1: Entwicklung der weltweiten Diabetesprävalenz von 1995 bis 2025
Gemäss Schätzungen der WHO entwickelt sich Diabetes zu einer neuen Lebensstil-Epidemie. Zur massiven Zunahme der weltweiten
Anzahl Diabetesfälle wird insbesondere der grosse Zuwachs in Entwicklungsländern, vor allem in Asien und Afrika, beitragen. Dort ziehen zunehmende Industrialisierung, Verstädterung und Modernisierung wirtschaftliche und sozialpolitische Veränderungen nach sich,
welche für die steigende Prävalenz von Bedeutung sind.
Ausgewählte Regionen im Jahr 2000 (Zahlen in 1000)
Zahlen in 1000
300 000
250 000
200 000
150 000
100 000
50 000
USA
15 009
China
18 637
Europa
35 469
Indien
22 878
Afrika
3997
Schweiz
118*
0
1995
1997
2000
2025
geschätzt
Industrienationen
* Die Schweizerische Diabetes-Stiftung und die Schweizerische
Diabetes-Gesellschaft gehen von Werten um 250 000 aus.
Quelle: WHO/OMS, 2000
Entwicklungsländer
die Kosten des Diabetes mellitus
in der Schweiz zurückzukommen
sein.
Übergewicht:
ein zentraler Risikofaktor
Ohne Zweifel gehört das Übergewicht, oft verbunden mit Bewegungsmangel, zu den wichtigsten
Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes.
In vielen westlichen Ländern liegt
der Anteil der Bevölkerung mit zu
hohem Körpergewicht (BMI ≥ 25)
bei mehr als 50%. Das relative
Risiko nimmt mit dem Alter deutlich zu (siehe Diagramm 2).
Für die Schweiz stammen
Daten zum Übergewicht aus der
Diagramm 2: BMI und relatives Risiko für Typ-2-Diabetes
relatives Risiko in % 70
Colditz GA, et al. Am J Epidemiol.
1990; 132:504,505.
Nurses’Health Study.
60
50
40
30
20
10
0
< 22
22 –
22,9
23 –
23,9
24 –
24,9
25 –
26,9
27 –
28,9
29 –
30,9
31 –
32,9
33 –
34,9
35 +
BMI
6
Diabetes – Epidemie des 21. Jahrhunderts?
repräsentativen «Schweizerischen
Gesundheitsbefragung», die 1992/
1993 vom Bundesamt für Statistik
durchgeführt wurde. 7930 Männer
und 7358 Frauen (Teilnehmerquote 71%) ab 15 Jahren wurden
(mehrheitlich) telefonisch befragt.
Übergewicht wurde definiert als
BMI von 25 oder mehr, in Übergewicht Grad I (25,00 – 29,99), Grad II
(30,00 – 39,99), und Grad III (BMI
≥ 40,00) unterteilt und nach Geschlecht, Alter usw. analysiert. Die
BMI-Werte aller Perzentilen und
Altersgruppen liegen für Frauen
tiefer als für Männer, zu einer
Angleichung kommt es nur bei den
über 55-jährigen in der 90. Perzentile. 33,1% der Männer und
17,1% der Frauen weisen Übergewicht Grad I auf; für Grad II sind
dies 5,8% bzw. 4,5% für Grad III
0,3% bzw. 0,2%. Damit sind 21,8%
der Frauen und 39,2 der Männer
übergewichtig. Die Männer erreichen mit 55 – 64 Jahren die höchsten Prozentsätze Übergewichtiger,
bei den Frauen nimmt das Übergewicht mit dem Alter kontinuierlich
zu. Frauen aller Altersklassen sind
seltener übergewichtig als Männer.
Kostenfolgen
von Altersdiabetes
Zur Bewertung der Kosten einer
Erkrankung sind Krankheitskostenstudien gefragt. Solche Studien
werden durchgeführt, um die ökonomischen Belastungen, die mit
häufigen Krankheiten verbunden
sind, zu erfassen. Sie tragen damit
zur Einschätzbarkeit der relativen
Bedeutung dieser Krankheiten bei
und stellen eine wichtige Grundlage für weiterführende klinische
und epidemiologische Forschungsarbeiten dar.
Für den Typ-2-Diabetes wurde in der Schweiz noch keine solche
Untersuchung durchgeführt. Kostendaten aus anderen Ländern
sind aufgrund der Unterschiedlichkeit der Gesundheitssysteme nicht
ohne weiteres auf hiesige Verhältnisse übertragbar. In einer breitangelegten Studie erfassten wir den
Verbrauch von Gesundheitsressourcen und mögliche Einflussgrössen von insgesamt 1479 Patienten mit Typ-2-Diabetes mellitus bei
111 in der Grundversorgung tätigen Ärzten in der deutschen und
französischen Schweiz. Die Erhebung erfolgte retrospektiv über
12 Monate.
Die durchschnittlichen direkten Behandlungskosten des Diabetes mellitus Typ 2 belaufen sich im
schweizerischen Durchschnitt auf
etwa CHF 3500.– pro Patient und
Jahr. Diese Zahl berücksichtigt die
Subventionierung der Spitäler
durch die Kantone. Durch Arbeitsunfähigkeitstage entstehen zusätzliche indirekte Kosten von etwa
CHF 650.–. In der Summe entstehen durchschnittliche Gesamtkosten von über CHF 4150.– pro
Patient und Jahr. Bei den indirekten Kosten sind die Kosten für Invalidität, vorzeitige Pensionierung
bzw. vorzeitigen Tod aufgrund der
Erkrankung sowie die Arbeitsausfälle, die Dritten aufgrund der
7
Pflege diabeteskranker Angehöriger entstehen, noch nicht berücksichtigt.
Bei den direkten Kosten stellen die stationären Kosten mit fast
53% den grössten Anteil dar. An
zweiter Stelle stehen die Medikamentenkosten mit 30%. Die restlichen 17% verteilen sich auf die
Konsultationskosten (8%), auf die
Kosten der Labordiagnostik (5%)
sowie auf spezielle diagnostische
Verfahren und ambulante Operationen bei Spezialärzten (4%)
(siehe Tabelle 3).
Hochrechnung auf die gesamte
Schweiz
Die Schweizerische Diabetes-Gesellschaft schätzt die Zahl der Typ2-Diabetikerinnen und -Diabetiker
in der Schweiz auf etwa 250 000,
was etwa 3,5% der Bevölkerung
entspricht. Hieraus errechnen sich
Gesamtkosten von über 1 Milliarde
CHF.
Ein Grossteil der durch Diabetes verursachten Krankheitskosten wird durch die typischen Komplikationen des Diabetes verursacht. Zu diesen zählen die mikrovaskulären Erkrankungen Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie sowie die makrovaskulären
Erkrankungen (insb. arterielle
Tabelle 3: Kostenstruktur von Patienten mit Typ-2-Diabetes (in CHF pro Jahr)
Kostenart
Mittelwert
95%
% aller
Vertrauens- direkten
intervall
Kosten
% der
Gesamtkosten
Gesamtkosten
4144
3670 – 4618
00–
100
Direkte medizinische Kosten
3508
3140 – 3876
100
084,7
Ambulante Leistungen
davon Arztbesuche
davon Laboruntersuchungen
0592
0295
0172
0559 – 625
0282 – 308
0166 – 178
016,9
012,0
004,9
014,3
007,1
004,2
Hospitalisationen
1856
1509 – 2203
052,9
044,8
Medikamente
1059
1010 – 1108
030,2
025,6
Indirekte Kosten (Arbeitsunfähigkeit)
0636
0375 – 897
00–
015,3
8
Diabetes – Epidemie des 21. Jahrhunderts?
Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und periphere
arterielle Verschlusskrankheit),
die bei langjährigen Diabetikern
stark gehäuft auftreten. Diese treten selbstverständlich auch bei
Personen ohne Diabetes auf, ihre
Wahrscheinlichkeit ist aber im Falle einer Diabeteserkrankung stark
erhöht. In unserer Studienpopulation lag bei etwa 42% der berücksichtigten Personen eine Erkrankung des mikrovaskulären Formenkreises vor. Knapp 27% litten
zum Zeitpunkt der Datenerhebung
an einer makrovaskulären Erkrankung.
Erste Schätzungen auf der
Basis unseres Zahlenmaterials,
die allerdings um andere mögliche
Einflussfaktoren, wie z. B. das
Alter, noch nicht korrigiert sind,
zeigen für das Vorliegen mindestens einer mikrovaskulären Komplikation jährliche Mehrkosten von
etwa CHF 2300.– und für das Vorliegen mindestens einer makrovaskulären Erkrankung Mehrkosten in der Grössenordnung von
CHF 5000.–. Hieraus lässt sich
hochrechnen, dass etwa 57% der
gesamten von uns errechneten
Kosten des Typ-2-Diabetes durch
die genannten Komplikationen verursacht werden: Etwa CHF 970.–
pro Person oder 24% der Gesamtkosten werden durch mikrovaskuläre Prozesse verursacht. Die
makrovaskulären Erkrankungen
tragen sogar CHF 1350.– pro Person oder etwa 33% zu den Gesamtkosten des Typ-2-Diabetes bei.
Diese Zahlen zeigen, dass die
Bekämpfung der Diabeteskomplikationen, speziell auch der makrovaskulären, nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht eine zentrale Aufgabe
darstellt.
Fazit
Es ergibt sich klar, dass die epidemiologischen und wirtschaftlichen
Folgen des Typ-2-Diabetes in der
Schweiz und weltweit künftig von
grosser Bedeutung sein werden.
Dies unterstreicht einerseits die
Bedeutung der Prävention, insbesondere zur Bekämpfung des Übergewichtes, aber auch der Bewegungsarmut. Zudem wird klar,
welch grossen Einfluss die Komplikationen, insbesondere die makrovaskulären, auf die Gesamttherapiekosten haben. Es wird deshalb
künftig entscheidend sein, neben
einer effizienten Prävention vermittels einer modernen Pharmakotherapie das Auftreten von makrovaskulären Komplikationen zu vermindern oder zu vermeiden.
9
Die Genetik
des Typ-1-Diabetes
Der Typ-1-Diabetes (früher Jugenddiabetes oder IDDM, insulinabhängiger Diabetes mellitus genannt) ist
eine autoimmune Krankheit, die
zur Zerstörung der insulinproduzierenden Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse führt. Er wird durch
das Vorhandensein von Autoantikörpern charakterisiert, die sich
gegen verschiedene Antigene der
Zellen der Langerhans-Inseln richten und durch seine klassischen
Symptome von Polydipsie, Polyphagie, Polyurie gefolgt von sekundären Symptomen wie der Neuropathie, der Retinopathie, der Nephropathie und weiteren mikro- und
makrovaskulären Komplikationen,
welche die wichtigsten Krankheitsund Todesursachen darstellen. Die
Krankheit tritt normalerweise in
der Kindheit auf und die Patienten
benötigen eine lebenslange kontrollierte Insulinzufuhr.
Der genetische Teil der Krankheit
Die Genetik des Typ-1-Diabetes ist
sehr komplex, kann aber vielleicht
besser definiert werden als andere
multifaktorielle Krankheiten. Der
wichtige Beitrag genetischer Faktoren ist seit langem bekannt und
von zahlreichen Beobachtungen
gestützt. Vorerst wären die Vergleichsstudien bei eineiigen Zwillingen zu nennen, da diese die gleichen genetischen Erbanlagen
haben. Diese Studien zeigen beim
Typ 1 eine Übereinstimmung von
50%, bei den zweieiigen Zwillingen, welche die Hälfte der geneti-
schen Erbanlagen teilen, ist die
Übereinstimmung weniger gross
und liegt bei 5% bis 10%. Dieser
Vergleich erlaubt es, sich auf den
Einfluss der Gene zu konzentrieren
(unter der Annahme, dass die beiden Zwillingstypen im Uterus und
in den ersten Lebensjahren mehr
oder weniger äquivalente Lebensbedingungen hatten): Der Vergleich zeigt, dass die genetischen
Bestimmungsfaktoren einen sehr
wichtigen Beitrag bei der Krankheitsentstehung spielen, er zeigt
aber auch, dass noch andere Faktoren beim Krankheitsausbruch
eine Rolle spielen, so die Umgebung, das Verhalten und eventuell
sogar der Zufall.
Auf der andern Seite haben
die Verwandten des ersten Grades
aufgrund gleicher Gene ein erhöhtes Krankheitsrisiko. (Allerdings
müssen wir uns daran erinnern,
dass sie auch Umweltsrisikofaktoren teilen können). Dieses
Risiko lässt sich genau beziffern
auf 2,9% für die Eltern, 6,6% für
Brüder und Schwester und 4,9%
für die Kinder.
Die Existenz einer angeborenen (genetischen) Veranlagung
wird auch durch die grossen Inzidenzunterschiede zwischen Volksgruppen gestützt. Die Inzidenz in
Finnland ist dreimal höher als die
auf Island. Im übrigen ist die Verbreitungsrate des Typs 1 auf Sardinien eine der höchsten der Welt
(30 auf 100 000 Kinder pro Jahr).
Dies ist 4-mal häufiger als in der
benachbarten italienischen Region
Dr. med.
Michael Morris,
Abteilung
für medizinische
Genetik, Universitätsspital Genf
10
Die Genetik des Diabetes Typ 1
Latium. Bei sardischen Familien,
die in Latium wohnen ist die Verbreitung ebenso hoch, was vermuten lässt (auch ohne es formell zu
beweisen), dass die Ursache eher
genetisch als umweltbedingt ist.
Dennoch ist der genetische
Faktor weder ausreichend (Übereinstimmungsfaktor bei eineiigen
Zwillingen von unter 100%) noch
zwingend: ungefähr 80% der Fälle
sind sporadisch ohne familiengeschichtlichen Hintergrund. Die
Häufigkeit des Typ-1-Diabetes
nimmt zu und das durchschnittliche Alter in welchem zum ersten
Mal Symptome auftreten, nimmt ab.
Diese Phänomene sind auf Umwelteinflüsse und nicht auf genetische
Veränderungen zurückzuführen.
Die Identifikation der Gene,
welche für die Veranlagung oder
die Anfälligkeit für Typ-1-Diabetes
verantwortlich sind, ist seit mehreren Jahren eines der wesentlichsten Forschungsziele und eine signifikante und reproduzierbare
Assoziation wurde für zwei Regionen des Genoms nachgewiesen.
Der erste und wegen seiner Auswirkungen bei weitem wichtigste
Faktor ist die HLA-Region des
Chromosoms 6p21, dessen Rolle
zum ersten Mal 1973 identifiziert
wurde.
IDDM1 (HLA)
Die im Kontext des Typ-1-Diabetes
IDDM1 genannte Region enthält
verschiedene Gene, die für die
Histokompatibilitätsantigene kodieren. Der entfernteste Teil der
Region (am entferntesten vom
Centrometer) enthält die Gene für
die Beta-Ketten der Antigene der
Klasse I (HLA-A, B und C), die dazu
dienen, die zytoxischen (CD8+) TLymphozyten zu aktivieren, indem
sie ihnen peptidische Antigene präsentieren. Der nächstgelegene Teil
enthält die Gene der Ketten und der Klasse II, HLA-DR, DQ und DP,
welche den Lymphozyten CD4 + Th
peptidische Antigene (Helfer) zur
Verfügung stellen.
Obwohl die Entzündung der
Inseln (Insulitis) und der Tod der
Beta-Zellen beide Arten der Lymphozyten und damit potentiell
beide Klassen der Antigene HLA
betreffen, konnte nachgewiesen
werden, dass die Gene HLA-DQA/B
(Alpha- und Beta-Ketten) und DRB
(Beta-Kette) auf das Risiko Typ-1Diabetes zu entwickeln, den stärksten Einfluss haben. Gewisse Haplotypen beinhalten ein sehr grosses
Risiko, speziell der DR3 DQ2 und
der DR4 DQ8 Typ. Andere Haplotypen haben eine schützende Wirkung, die sehr stark sein kann und
die Auswirkungen der Veranlagung überwiegen kann, ein beinahe einzigartiges Phänomen unter
den multifaktoriellen Krankheiten.
Das beste Beispiel liefert der schützende Haplotyp DR2 (DQB1*0602)
den etwa 20% der Europäer auf-
11
weisen, der aber bei weniger als
1 Prozent der Kinder mit Typ-1Diabetes vorkommt. Erinnern wir
uns daran, dass die von den verschiedenen HLA-Genen produzierten Antigene keine Alternativen
sind, sondern in Zellen co-exprimiert sind, und dass die Gene sehr
polymorph sind (d. h. sie unterscheiden sich von einem Individuum zum andern) mit zahlreichen
Allelen, die sich in ihrer DNA-Sequenz und damit in Sequenz und
Zusammensetzung des Antigens
unterscheiden. Die totale Unterstützung des Superlocus HLA widerspiegelt damit die Kombination der
Wirkungen individueller Gene.
Ausserhalb der HLA-Gene
der Klassen I und II sind andere
Gene, die in der gleichen Chromosomenregion (TNF, DAXX, TAP 1⁄2)
lokalisiert sind, involviert, ohne
dass für die von ihnen gespielte
Rolle ein formeller Beweis auf dem
Tisch läge.
Unsere Kenntnisse der Sequenzen und seit kurzem der dreidimensionalen Struktur der verschiedenen Allele ermöglichen
einen Teil der biologischen Erklärung für verschiedene dieser Assoziationen. Die Identität der Aminosäure an Position 57 der DQ-Kette
hat eine starke Korrelation mit dem
Risiko an Typ-1-Diabetes zu erkranken. So hat die grosse Mehrheit der Allele DQB und DRB an dieser Position (Asp 57) eine Aspartatsäure, die gewisse Eigenschaften
der Peptidbindung überträgt, des
Teils des HLA-Proteins, der die pep-
tidischen Antigene darstellt und
mit den Lymphozyten verbindet. Im
DQ8 wie auch bei der Maus NOD,
welche eine starke Veranlagung
zum Typ-1-Diabetes hat, ist die
Aminosäure 57 modifiziert und der
Bindungsort wechselt den Besitzer
und erlangt die Fähigkeit, ein vom
Insulin abgeleitetes Peptid mit sehr
hoher Affinität zu binden. Folglich
ergibt sich eine bessere Präsentation des Insulins (und wahrscheinlich des GADA, eines Enzyms der
Bauchspeicheldrüse, das ein sehr
wichtiges Autoantigen des Typ-1Diabetes ist) als Autoantigen. Im
Ganzen wurden so rund zehn spezielle Aminosäuren des DRB, DQA
und DQB als wichtige Risikofaktoren identifiziert.
Die Assoziation zwischen den
Allelen DQ «non Asp 57» und Typ1-Diabetes ist auf zwei Ebenen verblüffend. Die Häufigkeit von Personen mit non-Asp-Allelen beträgt in
der Gesamtbevölkerung 25 – 30
Prozent; unter den Patienten sind
über 90 Prozent homozygot. Im
weiteren korreliert die Häufigkeit
von non-Asp-Allelen in verschiedenen Populationen sehr gut mit ihrer
Anfälligkeit auf Typ-1-Diabetes. Je
nach Bevölkerungsgruppe beträgt
des relative Risiko der non-AspHomozygoten (im Verhältnis zu den
Asp-Homozygoten) 14 zu 111.
Fasst man alle ihre Wirkungen zusammen, so scheinen die
Gene der HLA-Region rund die
Hälfte unserer genetischen Veranlagung auf Typ-1-Diabetes zu bestimmen.
12
Die Genetik des Diabetes Typ 1
IDDM2 (Insuline)
Der zweite Ort, der durch sämtliche
Studien identifiziert wurde, ist
derjenige, der das Insulin (INS)
kodiert. Im Gegensatz zu den HLAGenen sind die wichtigen polymorphen Varianten nicht in der
Sequenz und damit der Struktur
der Proteine, sondern in der Region
des Gens, welches seine Expression
reguliert. Effektiv existiert ein
Polymorphismus des Typs VNTR
(variable number of tandem repeats) oberhalb des Gens INS, welches durch eine spezielle DNASequenz wiedergegeben wird, die
zwischen 26- und 210-mal im Tandem wiederholt wird. Diese Varianten sind in drei Klassen eingeteilt:
I, < 50 Wiederholungen; II von 50
bis 200 Wiederholungen (eine bei
Menschen europäischen Ursprungs
sehr seltene Form) und III > 200.
Sind die Allele der Klasse 1 homozygot, so sind sie mit einem erhöhten Risiko des Typ-1-Diabetes verbunden. Die Allele der Klasse III
sind demgegenüber Protektoren,
sogar wenn sie heterozygot sind,
was vermuten lässt, dass die auf
diesen Locus zurückzuführende
Veranlagung rezessiv ist.
Das Insulin-Gen wird nicht
nur in der Bauchspeicheldrüse
exprimiert, sondern auch ausserhalb im Thymus, wo die T-Lymphozyten produziert werden. Die
Allele der III Klassen steuern die
Expression im Thymus. Diese ist
zwei bis dreimal höher als jene
der Klasse I, was den schützenden
Effekt erklären könnte, entweder
durch erhöhte Vernichtung der
autoreaktiven
T-Lymphozyten,
welche in der Lage sind, das Insulin
zu erkennen oder durch die Produktion von spezifischen Unterdrückungszellen.
Andere Gen-Kandidaten
Quer durch die parallelen Studien
bei Menschen und Mäusen wurden
rund zwanzig Gene oder Chromosomenregionen als mögliche Determinanten für die Anfälligkeit bestimmt, aber bei allen untersuchten Populationen wurde abgesehen
von IDDM1 oder 2 keinem Gen ein
signifikanter oder reproduzierbarer Effekt zugeschrieben. Um die
Schwierigkeiten dieser Vorgehensweise zu illustrieren, wurde das
IDDM12 in verschiedenen Studien
zur Familiengeschichte als mit der
Krankheit assoziiert identifiziert
(indem man zum Beispiel Gene verglich, die betroffenen Brüdern und
Schwestern gemeinsam sind). Diese Chromosomen-Region enthält
das Gen CTLA4, das in den aktivierten T-Lymphozyten exprimiert
und dessen Produkt beim programmierten Tod der T-Zellen eine Rolle
spielt, aber ebenso das CD28, das
sowohl in den Lymphozyten aber
auch in anderen Genen exprimiert
wird.
Eine kürzlich unter Leitung
von Dr. Concannon durchgeführte
grosse multizentrische Studie zeigte sieben Chromosomenregionen,
welche potentiell bei der Anfälligkeit auf Diabetes eine Rolle spielen
(darunter im besonderen IDDM1
13
und 2). Sie zeichnete sich aber insbesondere dadurch aus, dass sie
Patienten aus verschiedenen grossen Untersuchungsregionen zusammenführte. Es bleibt zu hoffen,
dass diese Vorgehensweise in den
kommenden Jahren Früchte tragen wird.
Obwohl ein grosser Teil der
Anstrengungen der Forscher auf
die Identifikation der Gene ausgerichtet ist, welche unsere Anfälligkeit auf Typ-1-Diabetes bestimmt,
gibt es epidemologische und (vielleicht vor allem) anekdotische
Anzeichen, die suggerieren, dass
der Schweregrad und sogar das
Auftauchen von Komplikationen,
die sich aus der lang dauernden
Hyperglykämie ableiten, zumindest partiell genetisch bedingt sein
könnten. Wenige Studien haben
diese spezifische Frage untersucht,
mit einigen Hinweisen auf die
Bedeutung gewisser Gene des
Renin-Angiotensinen-Systems in
der Entstehung von Nierenkomplikationen.
Bis heute liegt keine grosse
auf dieses Problem fokussierende
Studie vor. Dennoch scheinen die
Resultate darauf hinzudeuten, dass
die Wirkungen, so es sie überhaupt
gibt, im Verhältnis zum Hauptfaktor, der Kontrolle der Glykämie,
eher schwach zu sein scheinen.
Schlussfolgerungen
1965 beschrieb Dr. James V. Neel
den Zucker-Diabetes als einen
«Alptraum für einen Genetiker».
Heute ist der Diabetes des Typs 1
vielleicht die meist studierte und
am besten verstandene multifaktorielle Krankheit und der Genforscher schläft besser. Zwei Hauptloci, das HLA-System und das Insulin-Gen wurden identifiziert und
ihre Wirkungen auf der assoziativen und biologischen Ebene gut beschrieben. Zahlreiche andere Loci
mit weniger wichtigen Wirkungen
wurden mit einbezogen und werden gegenwärtig untersucht. Diese
genetischen Fortschritte zusammen mit vergleichbaren Fortschritten in epidemologischen und
immunologischen Studien haben
enorm viel zu unserem Verständnis
der Pathogenese des Typ-1-Diabetes beigetragen.
Dennoch nimmt die Krankheitshäufigkeit stark zu und die
Symptome machen sich früher und
früher bemerkbar. Die gegenwärtigen Kenntnisse der Genetik mit den
Allelen IDDM1 und 2 für die Veranlagung und den Schutz mit mehr
oder weniger stark ausgeprägter
Wirkung sind wahrscheinlich ausreichend um Anfälligkeitstests für
Risikogruppen zur Verfügung zu
stellen, zumindest in bestimmten
Familien oder Populationen. Leider
haben diese Tests heute keine
praktische Wirkung: Es gibt keine
präventive Intervention oder nützliche frühzeitige Behandlung. Auch
wurde kein krankheitsauslösender
14
Die Genetik des Diabetes Typ 1
Umweltfaktor definitiv identifiziert. Vor diesem Hintergrund werden und dürfen solche Tests nicht
angeboten werden: Gentest sollen
nicht etikettieren, sondern helfen.
Der Gen-Diabetologe muss
sich damit begnügen, Zahlen des
empirischen Risikos zu zitieren (sie
wurden in der Einleitung zitiert)
und seine Patienten gut zu überwachen. Zu dem Zeitpunkt, da präventive Massnahmen möglich werden, muss der Genetiker (der medizinische dieses Mal) von neuem
erwachen.
15
Diagnose des Diabetes
mellitus und der verminderten
Glukosetoleranz
Der Diabetes mellitus umfasst eine
Gruppe von metabolischen Störungen, welche durch absoluten oder
relativen Insulinmangel gekennzeichnet sind.
Als Folge der resultierenden
chronischen Hyperglykämie und
weiteren Stoffwechselstörungen
treten nach längerer Krankheitsdauer Schäden an Blutgefässen
und Nervensystem auf, und es entstehen spezifische Organkomplikationen.
Seit 1997 gibt es von der American-Diabetes-Association (ADA)
neue Diagnoserichtlinien, sowie
ein neues Klassifikationsschema
für den Diabetes mellitus (1).
1999 hat sich auch die World
Health Organization (WHO) mit
diesem Thema befasst.
In diesem Artikel sollen diese
Richtlinien zusammengefasst werden (2).
Risikofaktoren für Diabetes
mellitus (3)
Nicht beeinflussbare:
Positive Familienanamnese
(das Risiko bei Kindern
mit einem Elternteil mit Typ-2Diabetes beträgt zirka 50%.)
Zugehörigkeit zu einer
bestimmten Rasse/ethnischen
Gruppe (z. B. Asiaten, Afroamerikaner)
Vorhandensein von Störungen,
die mit Insulinresistenz assoziiert sind (Hypertonie, Dyslipidämie, Polycystisches Ovar
Syndrom, Acanthosis nigricans)
Beeinflussbare:
Übergewicht (definiert als ein
BMI ≥ 25 kg/m2), Hypertonie,
Dyslipidämie
Bewegungsmangel
Rauchen
ungesunde Ernährung
( z.B. faserarme Nahrung,
wenig ungesättigte Fettsäuren)
Alkoholabstinenz (ein mässiger
Alkoholkonsum von zirka 10 g/d
senkt das Risiko)
nach Gestationsdiabetes; nach
Entbindung eines Kindes mit
Geburtsgewicht > 4500 g
erhöhte Blutzuckerwerte in der
Anamnese
Screening bei erhöhtem Risiko
Screening unterscheidet sich von
diagnostischem Vorgehen dadurch,
dass asymptomatische Individuen
einer Risikogruppe (in diesem
Falle Personen, bei denen für das
Vorliegen eines Diabetes mellitus
eine erhöhte Wahrscheinlichkeit
vorliegt) untersucht werden, wohingegen eine diagnostische Untersuchung bei Vorliegen von Symptomen der Erkrankung oder bei
einem positiven Screening indiziert
ist.
Die Diabetesform mit der
höchsten Prävalenz, der Typ-2Diabetes, ist gleichzeitig die Form,
welche in frühen Stadien oft symptomlos verläuft, weshalb sie häufig
über Jahre hinweg nicht erkannt
wird. Somit stellt sich die Frage
nach adäquaten Screening-Tests
heute vorwiegend beim Typ-2-Diabetes. Untersucht werden sollten
Prof. Dr. med.
Ulrich Keller,
cand. med.
Lela Hakemi,
Abt. Endokrinologie,
Diabetologie und
Klinische Ernährung,
Kantonsspital Basel
16
Diagnose des Diabetes mellitus und der verminderten Glukosetoleranz
Personen ab dem 45. Lebensjahr in
Abständen von zirka drei Jahren;
wenn sie zur Gruppe der Risikopersonen gehören, sollen sie bereits in
jüngeren Jahren und mit geringeren Zeitabständen untersucht werden.
Für den Typ-1-Diabetes wird
wegen der akuten und symptomatischen Erstmanifestation von der
ADA ein Screening nicht empfohlen. Darüber hinaus ist die Inzidenz
relativ niedrig (zirka zehn Mal niedriger als die des Typ-2-Diabetes)
und es gibt auch keinen Konsens
darüber, welches die Konsequenzen im Falle eines positiven Ergebnisses von Risikomarkern (zum
Beispiel Nachweis von Inselzellantikörpern) wären.
Die Bestimmung der Nüchternplasmaglukose ist der von der
ADA empfohlene Screening-Test;
die Durchführung eines oralen Glukosetoleranztests (oGTT) ist in Einzelfällen indiziert, so auch in der
Schwangerschaft. Allgemein ist der
oGTT jedoch wegen des damit verbundenen Zeit- und Kostenaufwands und der relativ schlechten
Reproduzierbarkeit für die klinische Praxis nicht empfohlen.
In Finnland hat eine Studie
gezeigt, dass Probanden mit gestörter Glukosetoleranz mittels
einer Beratung zur Lebensstiländerung (Ernährungsberatung und
Aufforderung zu mehr Bewegung)
nach 4 – 5 Jahren wesentlich seltener einen manifesten Diabetes entwickelten als die Kontrollgruppe
ohne Lebensstiländerung (4). Neu-
erdings zeigte auch eine gross angelegte Studie in den USA (Diabetes
Prevention Program), dass durch
eine Lebensstiländerung (Ernährung, mehr Bewegung) das Diabetesrisiko um mehr als 50% reduziert werden kann (noch nicht veröffentlicht).
Diagnose des Diabetes mellitus
und der Zwischenstadien
Diabetes wird aufgrund einer
erhöhten Blutglukosekonzentration diagnostiziert. Die Situation ist
einfach, wenn eine ausgeprägte
Hyperglykämie vorliegt; die Abklärung muss standardisiert vorgenommen werden, wenn es sich um
eine asymptomatische Person mit
Blutglukosewerten, die sich nur
geringfügig unterhalb des diagnostischen cut-off-Wertes befinden,
handelt.
Generell gibt es drei Möglichkeiten, einen manifesten Diabetes
zu diagnostizieren:
Plasmaglukose zu einem beliebigen Zeitpunkt ≥ 11,1 mmol/l
(≥ 200 mg/dl) sowie Symptome
eines Diabetes (Polyurie,
Polydipsie oder ungeklärter
Gewichtsverlust)
erhöhte Nüchternplasmaglukose (siehe Tabelle 1). Nüchtern bedeutet, dass mindestens
in den letzten acht Stunden
keine Kalorien aufgenommen
worden sind
pathologischer 2-Stunden-Wert
im oralen Glukose-ToleranzTest (siehe Tabelle 1)
17
Tabelle 1: Referenzwerte für Blutglukose in mmol/l zur Definition von Störungen
des Glukosestoffwechsels (1)
Nüchtern
2 Stunden nach
oraler GlukoseBelastung
(oGTT)*
Vollblut venös
Vollblut kapillär
Plasma venös
Gestörte
Nüchtern-Glukose
≥ 5,6 und < 6,1
≥ 5,6 und < 6,1
≥ 6,1 und < 7,0
Diabetes
Mellitus
≥ 6,1
≥ 6,1
≥ 7,0
Gestörte
Glukose-Toleranz
≥ 6,7
≥ 7,8
≥ 7,8
Diabetes
Mellitus
≥ 10,0
≥ 11,1
≥ 11,1
– Für diagnostische Zwecke sind Messungen mittels Blutzuckerteststreifen ungenügend genau.
– Aufgrund eines pathologischen Wertes darf lediglich eine provisorische Diagnose gestellt werden,
die aber an einem anderen Tag durch einen der drei oben genannten Tests bestätigt werden muss.
– Der Unterschied zwischen Vollblut und Plasma ist zu beachten – die tieferen Werte sind durch
den glukosefreien Anteil der zellulären Elemente des Blutes bedingt.
* Der oGTT wird für die klinische Routinediagnostik nicht empfohlen.
Gestörte Nüchternglukose,
gestörte Glukosetoleranz
Das Zwischenstadium der so genannten Gestörten Glukosetoleranz bezeichnet den Zustand
zwischen
normaler
GlukoseHomöostase und Diabetes.
Der Begriff «Gestörte Glukosetoleranz» (Impaired Glucose
Tolerance) wurde 1979 durch die
National Diabetes Data Group
(NDDG) eingeführt.
Er beschreibt einen Zustand,
bei dem die Plasmaglukosewerte
während des oGTT über dem Norm-
wert liegen (d. h. ≥ 6,7 mmol/l)
jedoch unter den Werten, die einen
Diabetes diagnostizieren lassen
(d. h. < 10,0 mmol/l in venösem
Vollblut).
1997 wurde von der ADA
ein verwandter Begriff, «Gestörte
Nüchternglukose» (Impaired Fasting Glucose) eingeführt, der sich
auf Blutzuckerwerte bezieht, die
zwischen «normal» und «Diabetes» liegen.
Die Stadien der «Impaired
Glucose Tolerance» und der «Impaired Fasting Glucose» sind Risi-
18
Diagnose des Diabetes mellitus und der verminderten Glukosetoleranz
kofaktoren für einen manifesten
Diabetes mellitus und für kardiovaskuläre Erkrankungen.
So ist die gestörte Nüchternglukose häufig mit dem metabolischen Syndrom assoziiert. Auf
diese Weise ist sie indirekt an der
Pathogenese kardiovaskulärer Erkrankungen beteiligt; sie geht einher mit anderen Elementen des
metabolischen Syndroms (z. B.
Dyslipidämie, Insulinresistenz), die
eigenständige Risikofaktoren für
kardiovaskuläre Erkrankungen
(z. B. koronare Herzkrankheit) darstellen.
Welcher Test
ist für die Diagnose geeignet?
Unterschiedliche Ansichten
der WHO und der ADA
Bei WHO und ADA besteht Konsens
darüber, dass die Diagnose des Diabetes mellitus prinzipiell sowohl
durch oGTT als auch durch Bestimmung der Nüchterplasmaglukose
(NPG) gestellt werden kann. Die
WHO empfiehlt jedoch, die Diagnose des Diabetes mellitus nur dann
anhand der NPG zu stellen, wenn
die Durchführung eines oGTT nicht
praktikabel ist, wohingegen die
ADA den oGTT (wegen des damit
verbundenen Zeit- und Kostenaufwandes) – ausser in speziellen
Situationen – nicht befürwortet
und die Nüchternplasmaglukose
zur Diagnosestellung empfiehlt. Als
1997 die Diagnoserichtlinien für
den Diabetes mellitus von der ADA
verändert wurden, wurden die
Richtwerte für oGTT und IGT beibehalten. Der cut-off-Wert für die
Nüchternplasmaglukose
wurde
von 7,8 mmol/l auf 7,0 mmol/l
gesenkt, weil bei diesen Werten
die Prävalenz diabetesspezifischer
mikrovaskulärer Komplikationen
bereits zunimmt.
Die ADA verwendet für ihre
Argumentation u. a. Studien an
Pima-Indianern. Diese haben ergeben, dass Nüchternplasmaglukosewerte um 7,0 mmol/l und 2-Stunden-Werte um 11.0 mmol/l im oGTT
gleich häufig mit Retinopathie
assoziiert sind. Diese Ergebnisse
wurden durch Studien in Ägypten
und den Third National Health and
Nutrition Examination Survey
(NHANES III) bestätigt.
Auch findet die Paris Prospective Study in den Richtlinien
der ADA Erwähnung. In dieser
wurden Aussagekraft der NPG und
des oGTT hinsichtlich der Inzidenz
von koronarvaskulärer Morbidität
untersucht, und festgestellt, dass
diese ab einer Nüchternplasmaglukose von 6,9 mmol/l, bzw. einem
2-Stunden-Wert über 7,8 mmol/l im
oGTT deutlich zunimmt.
Insgesamt liegt aber die Problematik darin, dass Nüchternplasmaglukose und oGTT nicht
dieselben Personengruppen identifizieren.
Es zeigte sich, dass einerseits
einige Patienten mit einer gestörten Nüchternglukose nach Durchführung eines oGTT als Diabetiker
einzustufen wären, andererseits
haben gleichzeitig Studien von
19
Mc Cance et al. und Charles et al.
ergeben, dass ein erhöhtes Risiko
mikrovaskulärer und makrovaskulärer Erkrankungen bei Personen
mit einer NPG von ≥ 7,0 mmol /l
besteht, auch wenn die 2-StundenWerte im oGTT unter 7,8 mmol/l
liegen.
Die ADA ist der Ansicht, dass
die geringfügig höhere Sensitivität
des oralen Glukosetoleranz-Tests
gegenüber der Nüchternplasmaglukose den Aufwand mit dem er
verbunden ist, nicht rechtfertigt,
denn die Durchführung ist kostenund zeitaufwendig und für die
Patienten nicht sehr angenehm.
Zudem ist die Reproduzierbarkeit
des oGTT signifikant schlechter als
die der NPG, was die Diagnosestellung kompliziert.
Demgegenüber argumentiert
die so genannte DECODE-Studie für
die Stellungnahme der WHO, da sie
zeigte, dass die gestörte Glukosetoleranz (IGT) einen deutlicheren
Risikofaktor für kardiovaskuläre
Erkrankungen darstellt als die
gestörte Nüchternglukose (IFG) (5).
Aus diesen Gründen wurde und
wird der oGTT in der Praxis – sogar
in unklaren Fällen – kaum angewandt (6).
Die Nüchternplasmaglukose
ist somit der entscheidende Test für
die Diagnose eines Diabetes mellitus, denn er ist einfach, ausreichend und kostengünstig.
Der HbA1c-Wert ist der Blutglukosebestimmung in Hinblick auf
Spezifität in einzelnen Fällen nahezu gleichwertig, wird jedoch im
Moment wegen ungenügender Sensitivität und Standardisierung allgemein nicht empfohlen (7).
Einteilung des Diabetes
mellitus
Die bisherige, erstmals 1979 von
der National Diabetes Data Group
(NDDG) eingeführte und später von
der World Health Organization
(WHO) nachbearbeitete Klassifikation des Diabetes (2) teilte diesen – ungeachtet seiner Entwicklung – aufgrund seiner Behandlung
ein.
Unter Bemängelung dieser
Tatsache hat die American-Diabetes-Association (ADA) im Jahre
1997 ein neues Klassifikationsschema vorgeschlagen in welchem
dieser anhand seiner Ätiologie eingeteilt wird (1).
So wurden die Begriffe «insulinabhängig» (insulin-dependent
diabetes mellitus: IDDM) und
«insulinunabhängig» (non-insulin-dependent diabetes mellitus:
NIDDM) zugunsten «Typ 1» und
«Typ 2» aufgegeben. Dies spiegelt
die Tatsache wieder, dass viele
Typ-2-Diabetiker mit der Zeit insulinbedürftig werden. Die Einteilung
in Typ 1 oder Typ 2 ist nicht immer
mit Sicherheit möglich – es braucht
gelegentlich Zeit, Abklärungen und
Verlaufsbeobachtungen.
Auch wurden die Begriffe
Jugend- oder Altersdiabetes eliminiert, was sich dadurch begründen
lässt, dass sich bei etwa der Hälfte
der Patienten der Typ-1-Diabetes
mellitus nach dem 20. Lebensjahr
20
Diagnose des Diabetes mellitus und der verminderten Glukosetoleranz
manifestiert und danach die Inzidenz des Typ-1-Diabetes in jeder
Lebensdekade ungefähr gleich ist.
Zudem nimmt die Inzidenz von
Typ-2-Diabetes mellitus (ebenso
wie das Übergewicht) bei Kindern
und Jugendlichen zu.
Typ-1-Diabetes
Zirka 10% der Diabetiker haben
einen Typ-1-Diabetes.
Zugrunde liegt eine auf Autoimmunprozessen beruhende Zerstörung der insulinproduzierenden
-Zellen des Pankreas mit resultierender verminderter InsulinSekretion, wobei genetische Faktoren eine prädisponierende Rolle
spielen (20% der Typ-1-Diabetiker
haben eine positive Familienanamnese [mit Typ-1-Diabetes] und
> 90% der Betroffenen haben die
Merkmale HLA-DBQ1 und HLADRB1).
Typ-2-Diabetes
Bei dem Typ-2-Diabetes handelt es
sich um die Diabetesform mit der
höchsten Prävalenz. Etwa 90% der
Diabetiker sind davon betroffen.
Eine Vielzahl der Betroffenen
haben andere Komponenten des
metabolischen Syndroms (InsulinResistenz-Syndrom, Wohlstandssyndrom), das laut WHO-Definition
gekennzeichnet ist durch das
Zusammentreffen von:
Insulinresistenz; kompensatorischem Hyperinsulinismus (zur
Aufrechterhaltung der GlukoseHomöostase)
Dyslipoproteinämie (Triglyzeride, HDL-Cholesterin )
stammbetonte Adipositas
Hypertonie
Definition des Matabolischen
Syndroms (nach 8)
Ein Metabolisches Syndrom liegt
nach WHO vor, wenn zusätzlich zu
Diabetes mellitus, verminderte
Glukosetoleranz oder einer Insulinresistenz mindestens 2 der 4
Komponenten, Stammfettsucht,
Mikroalbuminurie, Dyslipidämie
oder Hypertonie, vorliegen.
Stammfettsucht
BMI > 30 kg/m2
Mikroalbuminurie
AER > 20 µg/min
Dyslipidämie
HDL < 1,0 mmol/l
und/oder
Triglyzeride > 1,7
DM, IGT
oder
InsulinResistenz
Hypertonie
RR > 160/90 mmHG
Spezifische Diabetestypen
Genetischer Defekt der Betazellfunktion (z. B. MODY:
Maturity Onset Diabetes of the
Young)
Genetischer Defekt in der Insulinwirkung
Erkrankungen des exokrinen
Pankreas (pankreatopriver Diabetes)
Endokrinopathien (z. B. Akromegalie, M. Cushing)
21
Tabelle 2: Merkmale des Typ-1- und Typ-2-Diabetes
Merkmale
Typ 1
Typ 2
Bevorzugtes Manifestationsalter
< 30 Jahre (ca. 3⁄4 der Betroffenen)
> 50 Jahre (ca. 3⁄4 der Betroffenen)
Vererbung
assoz. mit bestimmten HLA-Typen
rezessiv oder dominant
Immunologische Marker
Autoantikörper gegen Inselzellen
oder Glutaminsäuredecarboxylase
Ø
Insulinsensivität
mehr oder weniger normal
vermindert (Resistenz)
Insulinsekretion
vermindert bis fehlend
variabel relativ vermindert
Körpergewicht
unauffällig
aktuell oder in Vorgeschichte
Übergewicht
Lipide
bei guter Einstellung normal
oft Triglyzeride und HDL
Blutdruck
wie bei Nichtdiabetikern
(ausser bei Nephropathie)
häufig erhöht (ca. 50%)
Beginn
oft rasch, mit Gewichtsverlust
meist schleichend,
ohne Gewichtsverlust
Ketoazidose
möglich, vor allem bei fehlender
Insulinrestsekretion
selten (evtl. bei Infekt)
Glukosestoffwechsel
oft labil
eher stabil
Medikamenteninduziert
(z. B. Glukokortikoide)
Infektionen
Seltene Formen des immunogenen Diabetes
Andere genetische Syndrome,
welche mit Diabetes assoziiert
sind
Diagnostik des Gestationsdiabetes
Wegen der oft fehlenden klinischen
Symptomatik und der weit reichenden Konsequenzen wird heute bei
allen Schwangeren mit erhöhtem
Risiko für Gestationsdiabetes ein
Screening empfohlen.
22
Diagnose des Diabetes mellitus und der verminderten Glukosetoleranz
Tabelle 3: Zeitpunkt des Screenings für Gestationsdiabetes mittels 50 g oGTT
Risikogruppe
Risikofaktoren für
Gestationsdiabetes (GDM)
Blutzuckerscreening
Zeitpunkt
Nieder
Alter < 25 Jahre; BMI < 27 kg/m2;
keine persönliche oder familiäre
Belastung mit Diabetes;
keine Anamnese für Makrosomie
24. – 28. SSW
Mittel
Alter > 25 Jahre oder bei Übergewicht;
BMI > 27, < 32 kg/m2
oder bei erhöhtem Risiko
24. – 28. SSW
Hoch
Erhebliche Adipositas; BMI
> 32 kg/m2 oder bei früherem
GDM, oder bei familiärer Belastung mit Diabetes; bei Glukosurie
Erste Konsultation,
bei Diagnose der SS
Für diesen Test ist keine Vorbereitung erforderlich. Die Patientin
muss nicht nüchtern sein.
Bei einem Blutzucker > 7,7
mmol/l (> 140 mg/dl, kapilläres
Vollblut) eine Stunde nach Glukosebelastung mit 50 g Glukose (bzw.
Oligosaccharidgemisch) besteht
der Verdacht auf Gestationsdiabetes. Die weitere Abklärung erfolgt
mittels standardisiertem 100 g
oGTT.
100 g oGTT zur Diagnose des
Gestationsdiabetes
Pathologische Werte (venöses Plasma) (Falls zwei oder mehr Werte
erhöht sind, handelt es sich um
einen Gestationsdiabetes):
–
–
–
–
nüchtern:
1. Std.:
2. Std.:
3. Std.:
>15,3 mmol/l
>10,0 mmol/l
>18,6 mmol/l
>17,8 mmol/l
(>196 mg/dl)
(> 180 mg/dl)
(> 155 mg/dl)
(> 140 mg/dl)
23
Zusammenfassung
• Screening: bei allen Personen
über 45 Jahre sollte ein Screening
für Diabetes durchgeführt werden.
Falls hierbei die Plasmaglukose im
Referenzbereich ist, sollte dieses
alle drei Jahre wiederholt werden.
Personen, die einer Risikogruppe
angehören, sollten in jüngeren
Jahren und in kürzeren Intervallen
untersucht werden. Der geeignete
Test ist hierbei die Nüchternplasmaglukose.
• Diagnose: die Diagnose des Diabetes mellitus kann anhand folgender Kriterien erfolgen:
– Plasmaglukose zu einem beliebigen Zeitpunkt ≥ 11.1 mmol/l und
Symptome eines Diabetes mellitus
– Plasmaglukose nüchtern ≥ 7.0
mmol/l (nach über 8 Std. Fasten)
– Plasmaglukose ≥ 11.1 mmol/l
2 Stunden nach oralem Glukosetoleranz-Test (Empfohlen wird die
Bestimmung der Nüchternplasmaglukose). Der oGTT ist in der Regel
nicht notwendig.
• Klassifikation: Der Diabetes mellitus wird nach der neuen Klassifikation eingeteilt in: Typ-1-Diabetes (zirka 10% der Betroffenen),
Typ-2-Diabetes (zirka 90% der Betroffenen) und in die spezifischen
Diabetestypen, die selten sind.
• Gestationsdiabetes: Bei allen
schwangeren Frauen, auch ohne
Risiko für einen Gestationsdiabetes ist ein Screening erforderlich.
Bei Risikopersonen sollte bereits
vor der 24. Schwangerschaftswoche ein Screening durchgeführt
werden.
Literatur
11 The expert committee on the diagnosis and classification
of diabetes mellitus. Report of the expert committee on
the diagnosis and classification of diabetes mellitus.
Diabetes care 2001; 24; Supplement 1
12 Alberti KGMM, Zimmet PZ for the WHO Consultation.
Definition, diagnosis and classification of diabetes mellitus
and ist complications. Part 1: diagnosis and classification
of diabetes mellitus. Provisional report of a WHO Consultation. Diabet Med 1998; 15: 539 – 553.
13 Hu FB, Manson JE, Stampfer MJ, Colditz G, Liu S, Solomon
CG, Willett WC. Diet, Lifestyle, and the Risk of Type 2
Diabetes mellitus in Women. N Engl J Med 2001, 345:
790 – 797
14 Tuomilehto J, Lindstrom J, Eriksson JG, Valle TT,
Hamalainen H, Ilanne-Parikka P, Keinanen-Kiukaanniemi S,
Laakso M, Louheranta A, Rastas M, Salminen V, Uusitupa
M. Prevention of type 2 diabetes mellitus by changes in
lifestyle among subjects with impaired glucose tolerance.
N Engl J Med 2001 May 3; 344(18): 1343 – 50.
15 DECODE Study Group: Glucose tolerance and mortality:
comparison of WHO and American Diabetic Association
diagnostic criteria. The Lancet 1999; 354: 617 – 621
16 Stolk RP, Orchard TJ, Grobbee DE. Why use the oral glucose
tolerance test? Diabetes Care 1995, 18: 1045 – 1049
17 McCance DR, Hanson RL, Charles MA, Jacobsson LTH,
Pettitt DJ, Bennett PH, Knowler WC. Comparison of tests for
glycated haemoglobin and fasting and two hour plasma
glucose concentrations as diagnostic methods for diabetes.
BMJ 1994, 308: 1323 –1328
18 Groop L, Orho-Melander M. The dysmetabolic syndrome.
J intern med. 2001, 250: 105 –120
19 Metzger BE, Coustand DR. Summary and Recommendations
of the Fourth International Workshop-Conference on
Gestational Diabetes Mellitus. Diabetes Care 1998, 21:
B161– 167
10 Lehmann R, Brändle M. Diagnostik und Management des
Gestationsdiabetes. Schweiz Med Forum 2001 20: 526 – 531
24
Diabetes mellitus
in der Versicherungsmedizin
Dr. med.
André Weissen, Basel
Innere Medizin FMH –
Schwerpunkt Diabetologie
Gesellschaftsarzt
PAX Leben, Basel
Die Aussagekraft von
verschiedenen prognostischen Faktoren
Einleitung
Die Lebensversicherungen versichern nicht nur Gesunde, sondern
versuchen auch Kunden mit einem
bestehenden Leiden einen Versicherungsschutz zu offerieren. Dies
ist natürlich nicht zu den gleichen
Bedingungen möglich wie bei
Antragstellern, bei denen bisher
keine Krankheit bekannt ist. Ob
jemand einen Prämienzuschlag zu
zahlen hat, eine Ausschlussklausel
akzeptieren muss oder gar als nicht
mehr versicherbar abgelehnt wird,
wird durch die professionellen Risikoprüfer beurteilt. Der Underwriter resp. Tarifikator (so die Fachbezeichnung für den Risikoprüfer)
muss sich auf Grund von zu beschaffenden Unterlagen ein möglichst genaues Bild über das bestehende Leiden und vor allem über
dessen weitere Prognose machen.
Dabei geht es nicht um einige wenige Jahre, sondern oft sogar um
Jahrzehnte. Die Lebens- und Invaliditätsversicherungen laufen z. B.
bei Männern meist bis Endalter 65,
also mehr als 30 Jahre. Somit sind
also auch spät und sehr spät auftretende Komplikationen und Spätfolgen in die Risikoprüfung mit einzubeziehen.
Diabetes in der Lebensversicherung
Das Vorliegen eines Diabetes mellitus bei einem Antragsteller für eine
Lebensversicherung ist heute zum
Alltag geworden. Und wenn die
WHO Recht behält, wird dieser Fall
weiter zunehmen. Vor allem ist zu
erwarten, dass die Zahl der zu Versichernden mit einem Diabetes
mellitus Typ 2 wachsen wird, u. a.
weil das Alter bei Diagnose des
Diabetes ständig sinkt. Es ist also
wichtig, dass für eine korrekte
Risikoprüfung möglichst viele und
möglichst aussagekräftige Parameter vorliegen, die etwas über
den zukünftigen Verlauf der Erkrankung aussagen können. Zusätzlich sind auch laufend die prospektiven Studien über den natürlichen Verlauf und den Verlauf
unter verschiedenen Behandlungsstrategien zu berücksichtigen.
Neue Medikamente können möglicherweise die Prognose des Diabetes entscheidend beeinflussen.
Der Diabetes-Fragebogen
Gibt ein Antragsteller in der Gesundheitserklärung bei Vertragsabschluss bekannt, dass bei ihm ein
Diabetes mellitus vorliegt, muss
der Risikoprüfer aktiv werden und
Unterlagen über die aktuelle Situation des Kunden sammeln. Der Einfachheit halber benutzen dazu fast
alle Versicherungsgesellschaften
einen speziellen Diabetes-Fragebogen. Darin stellen die meisten
Versicherer auch die gleichen Fragen. Viele dieser Fragen sind klar
25
und der Zusammenhang mit der
langjährigen Prognose für jeden
Arzt erkennbar, darunter fallen
Angaben wie
Alter
Geschlecht
Grösse
Gewicht
Diabetes-Typ
Diabetesdauer
aktuelles HbA1c
derzeitige Behandlung
Blutzucker nüchtern
Blutzucker postprandial
Glucosurie
Acetonurie
Blutdruck
Cholesterin
Rauchen usw.
Auf einige spezielle Parameter aus
diesem Versicherungs-Fragebogen
möchte ich hier näher eintreten, da
sie für die prüfenden Gesellschaftsärzte von besonderer Bedeutung
sind. Diese Laborwerte und deren
Geschichte sind auch ein Spiegel
der Geschichte des Diabetes, vor
allem aber sind sie ein Abbild des
derzeitigen Wissensstands in der
Diabetologie allgemein. Man erkennt auch, dass sich die Versicherungsmedizin nicht nur um die
Zukunft der potentiellen Versicherten, sondern auch um die Zukunft
der Medizin (hier der Diabetologie)
kümmert.
HbA1c
Eine Risikobeurteilung ohne ein
aktuelles HbA1c ist heute kaum
mehr vorstellbar. Das Glycohämoglobin ist der derzeitige Goldstandard der Qualitätsbeurteilung der
Diabeteseinstellung. Leider sagt es
aber nur etwas über den IstZustand aus, über die aktuelle
Compliance des Diabetikers und
die Güte der Behandlung in den
letzten 2 – 3 Monaten. Daraus allein
kann noch keine Risikobeurteilung
für die ganze Laufzeit einer Versicherung (wie einleitend erwähnt
oft mehr als 30 Jahre) abgeleitet
werden. Trotzdem gehen wir meist
davon aus, dass eine jetzt gute
Compliance auch in Zukunft so
bleibt (und umgekehrt). Leider sind
hier Fehleinschätzungen in beide
Richtungen möglich, und bedauerlicherweise sind diese nach dem
Zustandekommen eines Versicherungsvertrags nicht mehr korrigierbar, weder zu Gunsten des
Patienten noch zu Gunsten des Versicherers.
Nüchtern-Blutzucker
Der Nüchtern-Blutzucker korreliert am besten mit dem HbA1c.
Eine Reihe von solchen BlutzuckerWerten hat für die Prognose in etwa
die gleiche Aussagekraft wie eine
HbA1c-Bestimmung. Interessant ist
höchstens eine deutliche Divergenz
von Nüchtern-BZ und Glycohämoglobin, was auf Complianceprobleme oder Schwierigkeiten bei der
Diabetes-Einstellung hinweisen
kann.
26
Diabetes mellitus in der Versicherungsmedizin
Postprandialer Blutzucker
Der postprandiale (p. p.) Blutzucker hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Speziell nach der UKPDS-Studie
von 1999 scheint er ein eigenständiger Risikofaktor für die makrovaskulären Spätkomplikationen zu
sein. Dies ist in der Risikoprüfung
insofern von grosser Bedeutung, da
gerade diese Spätfolgen oft Ursache von Invalidität oder frühem Tod
sind. Noch können wir zu wenig auf
diese Werte Rücksicht nehmen, da
bei Einzelbestimmungen die prognostische Aussagekraft reduziert
ist und ein HbA 1c-Äquivalent für
postprandialen Blutzucker (noch?)
nicht existiert. Der postprandiale
Blutzucker ist ein wichtiger Faktor
in der Beurteilung und Behandlung
des Diabetes geworden, seine Normalisierung ist heute ein wichtiges
Behandlungsziel. Seinen Platz in
der Risikoprüfung muss der «Blutzucker p. p.» aber erst noch finden.
Oraler Glucosetoleranz-Test
(oGTT)
Auch der orale GlucosetoleranzTest gibt uns nur eine Momentanaufnahme ohne grosse prognostische Bedeutung, obwohl die Höhe
des 2-Stunden-Werts schon mal
in die Richtung der Spätkomplikationen verweisen kann (siehe
postprandialer Blutzucker). Gelegentlich wird anlässlich eines oGTT
ein bisher unbekannter Diabetes
mellitus neu entdeckt.
Andere Diabetes-Parameter
Wir fragen auch nach verschiedenen weiteren Laborwerten, wie
Proteinurie, Mikroalbuminurie usw.
Hier geht es aber eigentlich bereits
um die Frage nach dem Vorliegen
von Spätkomplikationen. Mehr dazu finden sich im folgenden Abschnitt. Speziell interessant in diesem Zusammenhang ist aber der
Raucher-Status des Antragstellers,
da ja Diabetes und Nikotin ein sehr
gefährliches Duo sind, dessen Vorhandensein die Risikoprüfer einer
Versicherungsgesellschaft speziell
vorsichtig werden lässt.
Indikatoren der diabetischen
Spätkomplikationen
Eine bedeutend strengere Beurteilung des prognostischen Risikos
ergibt sich natürlich, wenn bereits
Spätkomplikationen vorliegen. Unter gewissen Umständen ist ein Antragsteller dann nämlich gar nicht
mehr versicherbar, weil die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts
(Tod oder Invalidität) viel zu hoch
ist. Es interessieren in diesem Zusammenhang alle möglichen Hinweise auf das Vorliegen von
makrovaskulären Spätfolgen
(Blutdruck, Lipidstatus, bestehende CHK)
mikrovaskulären Spätfolgen
Nephropathie (u. a. Mikroalbuminurie und Proteinurie)
Retinopathie
Neuropathie (peripher
und/oder autonom).
27
Zusammenfassung
Die Risikoprüfung in der Lebensversicherung kann nur dann einigermassen korrekt ausfallen, wenn
genügend Angaben zur bestehenden Krankheit, deren aktuellem
Status und allenfalls bereits vorliegenden Spätfolgen vorhanden sind.
Dies gilt selbstverständlich nicht
nur für den Diabetes mellitus, sondern alle Krankheiten. Der Diabetes ist aber ein schönes Musterbeispiel, das zeigt, worauf die Entscheide der Versicherungsärzte
basieren können. Aus dem oben
Geschriebenen lässt sich gut erkennen, wie wichtig alle Details zum
Krankheitsverlauf sind und wie
sehr die Versicherer auf eine
getreue Mitarbeit der behandelnden Ärzte beim Beantworten der
Anfragen und Formulare angewiesen sind.
28
Der Praktische Fall
François Ohl,
Rentenanstalt/
Swiss Life
Ein 43-jähriger Mann stellte folgenden Antrag zu einer Lebensversicherung:
Reine Todesfallversicherung
von CHF 100 000.–
Jährliche Rente bei Erwerbsunfähigkeit von CHF 16 000.–
Prämienbefreiung bei Erwerbsunfähigkeit
Versicherungsdauer von
22 Jahren
Rezidivierende lumbovertebrale Schmerzen bei Haltungsinsuffizienz der Wirbelsäule
welche mit Physiotherapie und
Analgetika angegangen werden
Nicht konsequente Einhaltung
der ärztlichen Anordnungen
und Medikamenteneinnahme
Im Rahmen der durchgeführten
Untersuchungen, keine
Komplikationen erkennbar
Weitere Angaben über den
Antragsteller
Seit zirka 10 Jahren in der
Schweiz ansässig
Von Beruf Chauffeur
Versicherungsmedizinische
Überlegungen
Auf den ersten Blick zeigt sich hier
ein häufig anzutreffendes Bild
unserer Wohlstandsgesellschaft.
Leichtes Übergewicht, sitzender
Beruf und ein Diabetes mellitus
Typ 2. Der zweiter Blick aber, zeigt
einen schwierig einzuschätzenden
Fall. Beginnen wir mit dem am
einfachsten einzuordnenden, den
rezidivierenden lumbosakralen
Schmerzen. Die Leistungen bei
Erwerbsunfähigkeit könnten mit
einer diesbezüglichen Ausschlussklausel gewährt werden. In Anbetracht der anderen Risikofaktoren
treten die Rückenbeschwerden
aber völlig in den Hintergrund und
spielen bei der weiteren Einschätzung keine Rolle mehr. Im Vordergrund steht die nicht optimal eingestellte diabetische Stoffwechsellage. Die mangelnde Disziplin des
Patienten stellt einen zusätzlichen
Risikofaktor dar. Dass die berufliche Tätigkeit für eine konsequente Diät keinen grossen Spielraum
offen lässt, musste auch berücksichtigt werden. Die fehlende Fa-
In den Gesundheitsfragen
deklarierte Gesundheitsstörung
Behandlung mit Diät und
1 Tablette «Glutril®» pro Woche
wegen erhöhtem Blutzucker
Die Angabe des Kunden, dass er
«1 Tablette wöchentlich» wegen
dem erhöhten Blutzucker einnehme erschien uns unwahrscheinlich, ein Grund mehr, den behandelnden Arzt anzufragen.
Angaben des behandelnden
Arztes
Diabetes mellitus Typ 2 seit
1991 bekannt, gelegentliche
Kontrollen deswegen
Behandlung mit Diät und oralen
Antidiabetika
letztes HbA1 10,5%
BMI 28,3
Nikotinkonsum von 3 Zigaretten
täglich
29
milienanamnese und die mangelhaften Angaben über die persönliche Krankengeschichte haben wir
als weiteren erschwerenden Punkt
gewertet.
Risikoeinschätzung
Bei diesem nicht unproblematischen Patienten werteten wir das
Risiko einer Erwerbsunfähigkeit
etwas höher ein als jenes des frühzeitigen Ablebens. Die Wahrscheinlichkeit, dass berufliche
Anforderungen als Chauffeur, z. B
gute Sehfähigkeit, Konzentration
und Reaktionsvermögen, durch die
diabetische Erkrankung beeinträchtigt werden, ist nicht unerheblich. Die Versicherungsdauer
von 22 Jahren spielte bei unserer
Einschätzung eine erhebliche Rolle. Deshalb haben wir sämtliche
Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit
abgelehnt. Bei der Einschätzung
des Todesfallrisikos sind wir von
einem typischen Diabetes mellitus
Typ 2 ausgegangen. Fehlende Ergebnisse weiterer Abklärungen wie
Urinbefund, Ergometrie, Blutfettund Leberwerte sowie die mangelnde Compliance, haben unsere
Einschätzung wesentlich beeinflusst.
Schliesslich konnten wir ein
Angebot mit dreifacher Risikoprämie vorschlagen.
Auf die Anordnung von weitergehenden Abklärungen haben
wir verzichtet, da die zu erwartenden Kosten in keinem Verhältnis
zur Prämie standen.
Schweizerischer Versicherungsverband
Association Suisse d’Assurances
Associazione Svizzera d’Assicurazioni
Herunterladen