"Who cares" oder die Logik des Misslingens bei der Debatte über den Pflegepersonalmangel! Ansprache, gehalten von Max Mäder, Warth, anlässlich der Diplomfeier des Bildungsgangs Pflege HF 08/11, am Bildungszentrum für Gesundheit BfG, Weinfelden vom 07. 09. 2011 1. Einführung in das Thema Der Begriff "Who cares" bedeutet: Wen kümmert es, oder, wen interessiert es. Eine Wanderausstellung zum Thema "Geschichte und Alltag der Krankenpflege" im Medizinhistorischen Museum in Berlin hat mich auf diesen Titel gebracht. Sie zeigt berufsspezifische und gesellschaftliche Aspekte der Krankenpflege des 19. Jahrhunderts bis heute. Der Deutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler Dr. Philipp Rösler hat in seiner Festrede auf kritische Aspekte, wie das Pflegeberufsimage, die eigenständigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und die Anerkennung der Verantwortung der Pflege hingewiesen. Es sind dies genau dieselben Themen wie sie uns auch in der Schweiz beschäftigen. "Who cares": Wen soll es also interessieren, wenn immer alles trotzdem funktioniert, wenn die dipl. Pflegefachpersonen keine Stimme und wenig Rechte haben, wenn sie schlecht beruflich und politisch organisiert sind und sie sich bis zum Burnout einsetzen? Im Titel habe ich auch die "Logik des Misslingens" genannt. In den letzten Jahren war unkorrekterweise immer vom Pflegepersonalmangel die Rede. Was aber zunehmend zu einem Qualitätsrisiko führt, ist der Mangel an Pflegeleistungen in den verschiedenen Berufsfeldern. Dieser hat viel weiterreichende Ursachen als ein zahlenmässiger Mangel an dipl. Pflegefachpersonen. Ich verweise z.B. auf veraltete Tagesabläufe und Organisationsstrukturen, überlieferte Hierarchiesysteme und die fehlende rechtliche Anerkennung der Verantwortung der Pfleg im Krankenversicherungsgesetz KVG. Wer nur auf den zahlenmässigen Mangel schaut, tappt unweigerlich in eine logische Falle und in den Teufelskreis der Symptombekämpfung. Die "Logik des Misslingens": Wie sollen also vernetzte Lösungen gefunden werden, wenn in einer Zeit der Ökonomisierung die Pflege nur unter dem Aspekt der Personalkosten angeschaut wird und wenn deren Wertschöpfung unbeachtet bleibt? 2. Meine Sicht der aktuellen Situation Ich gehe auf fünf stark vernetzte Bezugsaspekte ein. Diese sind: 2.1 Der Bezug zum Bedarf an Pflegeleistungen In der Schweiz wächst der Pflegebedarf. Es kümmert vor allem die Wohnbevölkerung wenn es um das Angebot an Pflegeleistungen geht. Sie schätzt die hohe Qualität der Spezialisierung im Gesundheitswesen. Sie erkennt aber auch deren Grenzen. Sie will einen Wechsel von der fragmentierten Organ- bzw. Spezialistensicht hin zu einer integrierten, patientenzentrierten Gesamtsicht. Sie will für die jeweils erforderliche Situation die dafür bestqualifizierte Fachperson. Sie will keine Doppelspurigkeiten und kein Gezänk zwischen den Gesundheitsberufen. Sie will, dass kooperiert wird und, dass die Leistung zweckmässig, wirksam und wirtschaftlich erbracht wird. 2.2 Der Bezug zur Branche bzw. zum Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen steht vor prägenden Herausforderungen. Die Umstellung auf die Fallkostenpauschale DRG, der schleichende Hausärztemangel, die Kostenentwicklung, der wissenschaftliche Fortschritt und die Forderungen der Wohnbevölkerung nach mehr Mitentscheidung, sind nur einige Beispiele dafür. Pflege ist eine marktentscheidende, unentbehrliche Dienstleistung. Krankheit betrifft immer Systeme wie Familien, Nachbarn oder Arbeitsteams und nicht isoliert Einzelpersonen. Folglich braucht es vernetzte Angebote und Leistungserbringer, welche in neuen Kooperationsmodellen wie Gemeinschafts- oder Gesundheitspraxen gleichwertig zusammenarbeiten. Dabei ist dringend zu fordern, dass die Fachführung für die Pflege auch dipl. Pflegefachpersonen übertragen wird. 2.3 Der Bezug zu den Gesundheitsberufen Die verschiedenen Gesundheitsberufe haben sich rasant entwickelt und die Fachpersonen erbringen eine hohe Ergebnisqualität. Längst ist Teamarbeit die entscheidende Form zur Leistungssicherung. Allerdings haben sich unter dem Druck von Innovations- und Marktkräften immer wieder Verschiebungen von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten ergeben. Oft wurden dipl. Pflegefachpersonen Aufgaben übertragen welche nichts mit deren Kerngeschäft zu tun hatten. Gleichzeitig und "unanständigerweise" wurde dann aber der Vorwurf laut, dipl. Pflegefachpersonen sässen nur noch im Büro und hätten keine Zeit für Gespräche und Zuwendung. Das Kerngeschäft der Pflege ist das Kranksein und nicht die Krankheit. Wenn der Arzt nichts mehr machen kann oder machen muss, gibt es für die Pflege noch sehr viel zu tun. Mit einem exakten Grade- und Skillmix über alle Berufsgruppen müssen den entsprechend ausgebildeten Fachpersonen genaue Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitsbereiche "massgeschneidert" werden. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW fordert in ihrem Bericht über die zukünftigen Berufsbilder von Ärzten und dipl. Pflegefachpersonen diese Neuverteilung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten. (1) 2.4 Der Bezug zum Pflegeberuf Studien überschlagen sich mit Prognosen über den zu erwartenden Mangel an dipl. Pflegefachpersonen. Dabei ist zu beachten, dass diese Studien nur Schätzungen liefern und lediglich eine Bandbreite möglicher Entwicklungen aufzeigen. Zudem werden diese Zahlen in der Öffentlichkeit meist unreflektiert verwendet. Sie fördern die Gefahr eines "Alarmismus" der wiederum zu vorschnellen, eingleisigen Lösungen verleitet. Im Zeitalter der Ökonomisierung kann Produktivitätssteigerung nicht das "Allerheilmittel" für die Lösung der fehlenden Pflegeleistungen sein. Ebenso erachte ich es als katastrophal, wenn für die fehlende professionelle Pflege einfach weniger gut ausgebildete Personen beigezogen werden. Eine solche Scheinlösung erhöht die Versorgungsrisiken und zerstört das Pflegeberufsimage. Anstelle der sinnentleerten Technisierung der Pflege müssen dipl. Pflegefachpersonen für eine integrierte, patientenzentrierte Pflege kämpfen. Die Entscheidungsträger müssen flexible Strategien entwickeln. Gut ausgebildete dipl. Pflegefachpersonen müssen sich in die Problemlösung einschalten und innovative Lösungen mitentwickeln. (2) 2.5 Der Bezug zur Politik Auch in der Politik führt gelegentlich die Not zur Einsicht. Die Pflegepersonalfrage hat daher an Bedeutung gewonnen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Europäische Union EU und das Eidgenössische Parlament stellen einen hohen Handlungsbedarf fest. Im Nationalrat wurde eine parlamentarische Initiative zur rechtlichen Anerkennung der Verantwortung der Pflege im Krankenversicherungsgesetz KVG eingereicht. Sie wird demnächst in der zuständigen Kommission behandelt. Diese Initiative will nachvollziehen was de facto längst Pflegepraxis ist. Dipl. Pflegefachpersonen müssen oft eigenverantwortlich handeln, nur die rechtliche Absicherung fehlt bis heute. Es ist unglaublich, aber es besteht rechtlich noch immer ein Hilfsberufsstatus. Das, obwohl die Berufsausbildung und die Berufspraxis mit anderen Gesundheitsberufen längst gleichwertig sind. Im heutigen Gesundheitswesen bestehen viele Baustellen. Ohne die rechtlich anerkannte Mitwirkung der dipl. Pflegefachpersonen werden aber keine nachhaltigen Fortschritte zu erzielen sein. 3. Résumé Wer in Zukunft Pflegeleistungen will muss den dipl. Pflegefachpersonen "Rechte" geben, mit ihnen verhandeln und nicht einfach über ihre Köpfe hinweg entscheiden. Die Weiterentwicklung der professionellen Pflege hängt wesentlich von guten, praxisorientierten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten auf der Tertiärstufe ab. Attraktive Karrieremöglichkeiten sorgen für längere Berufsverweildauern. Die klinisch orientierte Pflegewissenschaft ist zu fördern. Nun dürfen wir aber nicht glauben, dass Andere unsere Probleme lösen werden. Wer nicht für die Berufsentwicklung kämpft, wird die Defizite bald in der täglichen Pflegearbeit schmerzhaft zu spüren bekommen. Dipl. Pflegefachpersonen müssen daher: - zukunftsfähige Lösungen mitentwickeln und proaktive Partner in der Gesundheits- und Berufspolitik sein. - das Kerngeschäft der Pflege und die Berufsrolle in der Öffentlichkeit mit Nachdruck verdeutlichen. - die Weiterentwicklung der Pflege und speziell die klinisch orientierte Pflegewissenschaft fördern und fordern. - sich auf verschiedenen Hierarchiestufen in Unternehmen und Organisationen einmischen und engagieren. - für die Anerkennung der Verantwortung der Pflege durch die Politik kämpfen und bei den nächsten Wahlen die richtigen Namen auf die Liste schreiben. 4. Schluss Liebe Diplomandinnen und Diplomanden wenn sie nun das BfG verlassen sind sie gut ausgebildet, sie haben einen hohen Marktwert, ihnen stehen viele Türen offen. Die Wohnbevölkerung ist auf ihre Dienstleistung angewiesen. Ich habe viel Vertrauen, dass sie den Pflegeberuf zielführend weiterentwickeln werden. Mischen sie sich ein, vernetzen sie sich und argumentieren sie über die Pflege als hochwertiges Produkt in der Gesundheitsversorgung. Die Chancen sind gut: Denn die wesentliche Grenze im Gesundheitswesen ist nicht das fehlende Geld sondern das grösste Risiko sind die fehlenden dipl. Pflegefachpersonen, mit ihrer professionellen Pflegekompetenz und mit ihren qualifizierten Pflegeleistungen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (1) "Die zukünftigen Berufsbilder von Ärztinnen/Ärzten und Pflegenden in der ambulanten und klinischen Praxis. Arbeitsgruppe "Berufsbilder" SAMW, (2) Professionelle Pflege Schweiz: "Perspektive 2020" Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK