Regierungspräsidium Gießen Leitfaden Kurzfassung „Strategien zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur bei rückläufigen Bevölkerungszahlen im ländlichen Raum“ Foto: Heiko Stock im Rahmen des Modellvorhabens der Raumordnung (MORO) Langfassung unter: https://umweltministerium.hessen.de/umwelt-natur/wasser/gewaesserschutz/kommunales-abwasser Gefördert von Hessisches Ministerium für Gemeinde Lautertal Umwelt, Klimaschtuz, Landwirtschaft (Vogelsberg) und Verbraucherschutz in Zusammenarbeit mit Veranlassung und Grundzüge des Leitfadens Ein grundlegender Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge ist die Siedlungswasserwirtschaft. Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung werden in den kommenden Jahren insbesondere in dünn besiedelten ländlichen Räumen aufgrund der Folgen des demografischen Wandels unter erheblichen Anpassungsdruck gelangen. Denn immer mehr Kommunen kämpfen bereits jetzt bei sinkenden Bevölkerungszahlen mit steigenden Kosten für den Erhalt der Abwasserinfrastruktur. Umso wichtiger ist es, für diese Räume regional angepasste Konzepte zu entwickeln. Foto: RP Gießen I Die Abwasserentsorgung im ländlichen Raum stellt die Kommunen häufig vor besondere Herausforderungen. Einerseits liegen ländliche Kommunen häufig in ökologisch sehr schützenswerten Regionen. Die Gewässer haben häufig eine besonders gute und schützenswerte Gewässergüte und Gewässerstrukturgüte. Auch werden an die betroffenen Regionen zum Teil erhebliche Anforderungen im Rahmen des Maßnahmenprogramms zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie in Hessen gestellt, die zu entsprechenden finanziellen Belastungen führen. Andererseits haben viele Kommunen insbesondere im ländlichen Raum hohe finanzielle Belastungen bei anstehenden Erneuerungen nach Ende der Nutzungsdauer sowie aufgrund erforderlicher Sanierungen von Abwasserableitungssystemen (Kanäle) und Kläranlagen zu tragen. Aufgrund des Kostendeckungsgebotes sind die Kommunen angehalten, ihre Aufwendungen für die Abwasserentsorgung über Beiträge und Gebühren zu erheben. Eine Auswertung von Abwassergebühren in Hessen, die von der Technischen Hochschule Mittelhessen vorgenommen wurde, hat einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der Höhe der Abwassergebühren und der Einwohnerzahl in den Kommunen ergeben. Dieser Zusammenhang ist allerdings nicht signifikant. So sind die höchsten Belastungen eines Haushaltes aus Abwassergebühren bei kleinen Kommunen mit weniger als 10.000 Einwohnern zu finden. Allerdings gibt es auch verschiedene kleine Kommunen mit vergleichsweise geringen Abwassergebühren, wie sie eher bei Kommunen mit mehr als 30.000 Einwohnern ermittelt wurden. Die Analyse bisheriger Abhandlungen zu den Themen „Demografischer Wandel“, „Rückbau technischer Infrastruktur“ usw. zeigt, dass in der Regel eher isoliert fachspezifische Betrachtungen erfolgen. Die Umsetzung von Rückbaumaßnahmen im Bereich der Technischen Infrastruktur erfordert jedoch sowohl städtebaulich als auch siedlungswasserwirtschaftlich, vergleichbar mit der Neuplanung einer städtebaulichen Anlage, eine eingehende Analyse des Ausgangszustandes, der prognostizierten Entwicklung, der Entwicklung von alternativen Szenarien sowie einem abwägenden Vergleich der Szenarien. Im Rahmen dieses Leitfadens werden exemplarisch für die gesamte Infrastruktur Wege aufgezeigt, wie die kostenintensive Abwasserentsorgung für Regionen des „Ländlichen Raums“, die besonderes vom Bevölkerungsrückgang betroffen sind, weiterentwickelt werden kann. Neben konkreten Vorschlägen empfehlen Wissenschaftler der Technischen Hochschule Mittelhessens den Kommunen, auch Lösungsansätze wie den Rückbau in Betracht zu ziehen, um so mehr Handlungsspielräume für zukunftsfähige Systeme zu gewinnen. 2 II Anforderungen des Gewässerschutzes und der Siedlungswasserwirtschaft In den betroffenen Kommunen sind Strategien zu entwickeln, wie einerseits die erforderlichen Leistungen der Abwasserentsorgung an die sich wandelnde Bevölkerungsstruktur angepasst werden können und andererseits der zum Schutz der Umwelt erforderliche Standard gehalten und ggf. noch ausgebaut werden kann. Die grundsätzlichen Anforderungen an den Gewässerschutz sind im Art. 4 der EU-Wasserrahmenrichtlinie mit der Forderung nach Schaffung eines guten ökologischen und chemischen Zustands der Gewässer sowie im § 27 Wasserhaushaltsgesetz (WHG) mit dem „Verschlechterungsverbot“ und dem „Zielerreichungsgebot“ formuliert. Die Anforderungen an die Einleitung von Abwasser in Gewässer wird in § 57 WHG beschrieben, wonach die Menge und die Schädlichkeit des Abwassers so gering wie möglich zu halten ist und die Einleitung mit den Anforderungen der Gewässereigenschaften vereinbar sein muss. Die zur Erreichung der Bewirtschaftungsziele nach WHG und der EU-Wasserrahmenrichtlinie durchzuführenden Maßnahmen und Vorgaben sind für die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie in Hessen in dem „Bewirtschaftungsplan Hessen“ und dem „Maßnahmenprogramm Hessen“ enthalten. Diese Pläne werden alle sechs Jahre überarbeitet und fortgeschrieben (2009, 2015,…) und sind für alle Planungen und Maßnahmen der öffentlichen Planungsträger verbindlich. Übergeordnete Zielsetzung der Siedlungswasserwirtschaft muss es sein, die Veränderungen des natürlichen Wasserhaushaltes durch Siedlungsaktivitäten in mengenmäßiger und stofflicher Hinsicht so gering zu halten, wie es technisch, ökologisch und wirtschaftlich vertretbar ist (DWA-A100, 2006). Die grundsätzlichen Anforderungen der Siedlungswasserwirtschaft können danach wie folgt zusammengefasst werden: • Entsorgungssicherheit zur Aufrechterhaltung hygienischer Verhältnisse in den Siedlungen: - schadlose Abwasserableitung - Abwasserbehandlung zum Schutz der Gewässer - Schutz vor Überflutungen in den Siedlungen • Gewässerschutz (Ziel: guter chemischer und ökologischer Zustand) - Oberflächengewässer -Grundwasser • Nutzungssicherung der Gewässer in Bezug auf - hygienische Beschaffenheit - ästhetische Beeinträchtigungen - Wasserführung • Sonstige Belange wie z. B. - Kosteneffizienz -Bodenschutz -Naturschutz -Geruch Die hier formulierten Anforderungen des Gewässerschutzes und der Siedlungswasserwirtschaft müssen Priorität bei zukünftigen Maßnahmen zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur bei rückläufigen Bevölkerungszahlen im ländlichen Raum haben. 3 III Städtebauliche Anforderungen an die Grundstruktur und Ausstattung eines funktionierenden Ortes Aus städtebaulicher Sicht müssen die Anforderungen an die Grundstruktur und Ausstattung eines funktionierenden Ortes formuliert werden. Dabei gilt es nicht nur, die vorhandene Infrastruktur und die Verkehrsanbindungen zu erhalten und ggf. auszubauen, sondern auch die Identität des Ortes zu berücksichtigen sowie das gesellschaftliche Leben zu stärken. 3.1 Identität Neben der Bewahrung des Grundmusters eines dörflichen Siedlungsgebildes mit Ortsmittelpunkt, in Form von Platz, Baum, Brunnen, Kirche usw. gilt es, das örtliche „Alleinstellungsmerkmal“ zu identifizieren. Dies können beispielsweise geschichtliche Spuren, Gebäude und naturräumliche Besonderheiten sein, die im besonderen Maße bei den Szenarien zur Anpassung an rückläufige Bevölkerungszahlen zu berücksichtigen sind. Bei Bedarf können diese zu bewahrenden Kulturmerkmale wieder mit neuem Leben erfüllt werden. 3.2 Infrastruktur Der Mittelpunkt dörflichen Lebens war bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in seiner Beschaffenheit durch die alles überragenden Kirchenbauten sichtbar. Das Gemeinwesen wurde wesentlich durch kirchliche Einflüsse wie Kirchspiel, Kirche, Kapelle usw. geprägt. Heute gelten gesellschaftliche Einrichtungen wie Feuerwehrhaus, Gemeindehaus und Bürgerhaus als unabdingbare infrastrukturelle Notwendigkeit. Bei allen städtebaulichen Planungen ist daher besonderes Augenmerk auf den Erhalt und die Pflege dieser baulichen Anlagen zu legen. Wünschenswert ist darüber hinaus eine Grundversorgung mit Artikeln des täglichen Bedarfs. 3.3 Einwohnerzahl Ausgehend von einer Hierarchie bildet die Nachbarschaft den Grundbaustein aller städtebaulichen Gebilde. Aufbauend auf einer Anzahl von mehreren Nachbarschaften ergibt sich in der städtebaulichen Hierarchie eine dörfliche Siedlung bzw. ein Dorf. In diesem Gebilde sind Vereine die Basis des gesellschaftlichen und emotionalen Zusammenlebens. Da auch Vereine zum Erhalt ihrer Vitalität über eine Mindestanzahl von Mitgliedern verfügen sollten, wird deutlich, dass ein nachhaltig funktionierendes Dorf bzw. Siedlung über eine Mehrzahl an Nachbarschaften verfügen sollte. Dies schafft einerseits räumliche Nähe und steht andererseits für ein intaktes Gemeinwesen. 3.4 Verkehrsanbindung Durch den Rückgang landwirtschaftlicher und gewerblicher Arbeitsplätze im ländlichen Raum ist die Mehrzahl der hier lebenden Erwerbstätigen auf eine gute Erreichbarkeit von Regionen mit Arbeitsplatzangeboten angewiesen. Die Zukunftsfähigkeit ländlicher Siedlungsräume ist somit unmittelbar abhängig von der Qualität der Erschließung durch Straße und Schiene. So erklärt sich auch, wenn räumlich eng verbundene, erschließungstechnisch jedoch sehr unterschiedliche bediente Nachbargemeinden völlig entgegengesetzte Entwicklungen zu verzeichnen haben. 4 IV Vorgehen und Matrix Schwerpunkt des Leitfadens ist eine Matrix mit verschiedenen Bearbeitungsschritten aus der Sicht des Städtebaus sowie der Siedlungswasserwirtschaft mit dem Ziel, Strategien für die Kommunen im ländlichen Raum zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur bei rückläufigen Bevölkerungszahlen zu erarbeiten. Aufbauend auf den fachspezifischen Betrachtungsebenen der Bereiche Städtebau und Siedlungswasserwirtschaft erfolgt eine stufenweise Bearbeitung (Abschichtung) der Themenebenen (siehe Abb. 4-1). Anhand der Matrix können Entscheidungsträger in den Kommunen die verschiedenen erforderlichen Bearbeitungsschritte konzipieren und mit den erforderlichen Fachplanern koordinieren. Abb. 4-1: Matrix zur stufenweisen Bearbeitung der Themenebenen 5 4.1 Bestandsaufnahme (Arbeitsschritt 1) Innerhalb der Bestandaufnahmen für die fachspezifischen Ebenen erfolgt zunächst eine detaillierte Zusammenstellung der erforderlichen Parameter. Die in der Matrix erstellte Auflistung von Untersuchungsinhalten umfasst zunächst den Mindestumfang der zu untersuchenden Inhalte und ist je nach konkreter Situation zu erweitern. Insbesondere sind zu erfassen: I. aus Sicht des Städtebaus • Historie • Identität • Siedlungsstruktur • Denkmalschutz • Nutzungsstruktur • Bevölkerungsstruktur • Zustand Gebäude • Städtebauliche Infrastruktur • Sozialstruktur • Nachbarschaften II. aus Sicht der Wasserwirtschaft und Siedlungswasserwirtschaft • Oberflächengewässer • Schutzgebiete • Abwassermengen, Abwasserarten, Abwasserzusammensetzung • Kanalnetz (Beschreibung, baulicher Zustand, hydraulischer Zustand, Sanierungskonzept (bereits durchgeführte bzw. kurzfristig geplante Sanierungen) • Regenwasser- und Mischwasserbehandlungsanlagen • Abwasserbehandlungsanlagen (Beschreibung, baulicher Zustand, technischer Zustand, klärtechnischer Zustand, Sanierungskonzept (bereits durchgeführte bzw. kurzfristig geplante Sanierungen) • Altlasten / Deponien 4.2 Analyse (Arbeitsschritt 2) Aufbauend auf den Ergebnissen der Bestandsaufnahme erfolgt im nächsten Arbeitsschritt eine Analyse der erhobenen Daten und Inhalte mit Aussagen zu einer künftigen Entwicklung und Relevanz für die Örtlichkeit. 4.3 Projektionsmodelle (Arbeitsschritt 3) Unter Verwendung der erstellten Bestandsaufnahme und Einarbeitung der entsprechenden Analyseergebnisse erfolgt im Arbeitsschritt „Projektionsmodelle“ die entwurfliche Erarbeitung alternativer Rückbauszenarien getrennt durch die Fachdisziplinen Städtebau und Siedlungswasserwirtschaft. Es werden verschiedene technische Möglichkeiten zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur (Abwasserfassung, -sammlung, -ableitung und –behandlung) vorgestellt (Beispiele in Abb. 4-2 und Abb. 4-3). 6 Abb. 4-2: Beispiel zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur als dezentrales Trennsystem mit dezentraler Versickerung von Regenwasser und dezentralen Kläranlagen (hier Kleinkläranlage < 50 EW und kleine Kläranlagen > 50 EW) (verändert, nach Temann, 2012, in WB Studium „Wasser- und Umwelt“, 2013) Abb. 4-3: Beispiel zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur als „Neuartiges Sanitärsystems“ (NASS) in einem Teil-Ortsbereich mit 2-Stoffstromtrennung: • Niederschlagswasser wird getrennt gefasst, abgeleitet oder versickert, • Schwarzwasser wird in einer Biogasanlage verwertet • Grauwasser wird mit weiteren Schmutzwässern in einer kleinen Kläranlage behandelt 7 Abb. 4-4: Beispiel zur Erarbeitung alternativer städtebaulicher Szenarien mit vergleichender Gegenüberstellung als Abwägungsgrundlage für die geplante Entwicklung eines Ortes: • zeichnerische Darstellung von 5 alternativen Szenarien, • Auflistung von Entscheidungskriterien • Bewertung der einzelnen Kriterien • Bewertung der Szenarien (ohne Gewichtung der Kriterien) 4.4 Abgleich Projektionsmodelle Städtebau / Siedlungswasserwirtschaft (Arbeitsschritt 4) Nach Erarbeitung und Wertung alternativer Rückbauszenarien als Ergebnis des Arbeitsschrittes „Projektionsmodelle“ erfolgt ein erster Abgleich/Vergleich der aus fachspezifischer Sicht entwickelten Modelle. (Beispiel für eine vergleichende Gegenüberstellung städtebaulicher Szenarien siehe Abb. 4-4) Hierbei wird ein gemeinsam getragenes und die jeweilig fachspezifischen Anforderungen erfüllendes Szenario erarbeitet und der weiteren Betrachtung zu Grund gelegt. 4.5 Mindestkriterium „Sicherstellung der Anforderungen des Gewässerschutzes“ (Arbeitsschritt 5) Im Hinblick auf den Rückbau von Abwasseranlagen ist bei der Prüfung des erarbeiteten Szenarios das Mindestkriterium „Sicherstellung der Anforderungen des Gewässerschutzes“ unabdingbare Voraussetzung für Genehmigungs- und somit Zukunftsfähigkeit des geplanten Rückbausystems. Bei allen Maßnahmen zur Anpassung der Abwasserentsorgung müssen das „Verschlechterungsverbot“ und das „Zielerreichungsgebot“ des § 27 Wasserhaushaltsgesetz (WHG) bzw. des Art. 4 der EU-Wasserrahmenrichtlinie sowie die weiteren Vorgaben des WHG berücksichtigt werden. Wird dieses Mindestkriterium nicht erfüllt, führt dies zu einer Wiederholung von Arbeitsschritt 4 und ggf. auch von Arbeitsschritt 3 zur Erlangung weiterer Szenarien. 8 4.6 Feststellung der größten Übereinstimmung (Arbeitsschritt 6) Nach Feststellung der Erfüllung des Mindestkriteriums (erfolgreiches Durchlaufen von Arbeitsschritt 5) kann im folgenden Schritt eine weitere Bearbeitung und Durcharbeitung des fachübergreifenden Szenarios erfolgen. Hierbei werden jeweils die Teilbausteine mit der größten Übereinstimmung gewählt und der weiteren Bearbeitung zu Grunde gelegt. 4.7 Entwicklungsmodell (Arbeitsschritt 7) Als Ergebnis aus den vorangegangenen Arbeitsschritten entsteht innerhalb von Schritt 7 ein bausteinartiges Entwicklungskonzept zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur an den erwarteten Bevölkerungsrückgang in der untersuchten Gemeinde. 4.8 Maßnahmenkataloge (Arbeitsschritt 8) Auf Basis des in Arbeitsschritt 7 erstellten Entwicklungskonzeptes werden im abschließenden Schritt jeweils aus fachspezifischer Sicht (Städtebau und Siedlungswasserwirtschaft) Maßnahmenkataloge erstellt, innerhalb derer notwendige Arbeiten, die zur fachgerechten und rechtlich Umsetzung des Konzeptes erforderlich sind, aufgeführt. V Möglichkeiten zur Kostenstabilisierung Neben den technischen Möglichkeiten zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur werden weitere Möglichkeiten insbesondere zur Stabilisierung bzw. ggf. auch zur Reduzierung der Kosten vorgestellt: • Anpassung der Organisationsform • interkommunale Kooperation • Reduzierung der Betriebskosten, insbesondere durch Verbesserung der Energieeffizienz Es wird besonders darauf hingewiesen, dass alle Maßnahmen zur Optimierung der Abwasserentsorgung bei rückläufigen Bevölkerungszahlen nach dem Gebot der Wirtschaftlichkeit betrachtet werden müssen. Dies bedingt in der Regel eine Gegenüberstellung verschiedener Varianten zur Umsetzung des Ziels „Abwasserbeseitigung“. Dieser Variantenvergleich muss nach den Grundprinzipien des dynamischen Kostenvergleichs unter Berücksichtigung von Betriebskosten sowie von prognostizierten Kostensteigerungen innerhalb der Nutzungsdauer durchgeführt werden. Ein einfacher statischer Kostenvergleich oder gar ein Vergleich ausschließlich von Investitionskosten ist nicht ausreichend. Foto: RP Gießen 9 VI Auswirkungen auf die städtebauliche Attraktivität der Ortsteile und auf die Bauleitplanung Maßnahmen zur Anpassung der Abwasserinfrastruktur an rückläufige Bevölkerungszahlen können zum Teil erhebliche Auswirkungen auf die städtebauliche Attraktivität sowie die Siedlungsentwicklung haben. Dabei bietet die Einhaltung der im Leitfaden dargestellten Anforderungen an die Grundstruktur und Ausstattung eines funktionierenden Ortes die Grundlage zum Erhalt der städtebaulichen Attraktivität der Ortsteile. So sollte zur Verbesserung der städtebaulichen Attraktivität darauf hingewirkt werden, dass in der Regel Ortsbereiche rückgebaut werden, die städtebaulich keiner Relevanz mehr unterstehen. Im Zuge von Rückbauplanungen bietet sich dann die Chance, diese Infrastruktur ebenfalls auf das für die künftige Ortsgröße erforderliche Maß rückzubauen und zukunftssicher zu machen. Die Betriebs- und Unterhaltskosten können gesenkt werden und das soziale und gesellschaftliche Leben der Ortsteile – als wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der Orte – bleibt bezahlbar und attraktiv. Analog zu städtebaulichen Wachstumsprozessen erfordern auch städtebauliche Schrumpfungsprozesse eine geordnete Entwicklung. Diese wird durch die Anwendung des Baugesetzbuches (BauGB), insbesondere die Vorschriften zur Bauleitplanung, vollzogen. Hierbei entfaltet der Flächennutzungsplan als vorbereitender Baupleitplan eine steuerende Wirkung. So können z. B. bei der Rücknahme von für die Bebauung vorgesehene Flächen, die Siedlungsaktivitäten auf verbleibende Gemeindebereiche gelenkt und konzentriert werden. Der Bebauungsplan enthält als verbindlicher Bauleitplan die rechtsverbindlichen Festsetzungen für die städtebauliche Ordnung. Im Zuge jeder Rückbauplanung ist zu prüfen, ob die Änderung oder Aufhebung bestehender oder die Aufstellung von neuen Bebauungsplänen zur bauplanungsrechtlichen Sicherung der Planungsziele erforderlich werden. Über diese Instrumente hinaus bietet die Planungspraxis weitere, erprobte Maßnahmen und Instrumente an, die bezogen auf den jeweiligen Fall hinsichtlich ihrer zweckmäßigen Anwendung zu prüfen sind. Dazu gehören: • Städtebauliche Umlegung nach § 44 ff und § 80 ff BauGB •Flurbereinigung • Städtebauliche Verträge (zur Bodenordnung) nach § 1 und § 124 BauGB • Vorkaufsrecht nach § 5 BauGB • Bau- und Anpassungsgebot nach § 176 BauGB • Modernisierungs- und Instandsetzungsgebot nach § 177 BauGB • Rückbau- und Entsiegelungsgebot nach § 179 BauGB. • Erhaltungssatzung nach § 172 BauGB. Über diese, auf gesetzlichen Bestimmungen des Bundes (BauGB) beruhenden Maßnahmenmöglichkeiten hinaus, bieten auch die Landesgesetze im Rahmen der Landesbau- 10 ordnung (Hessen: HBO) die Grundlagen, die bauliche Entwicklung der Gemeinden zu steuern. Ein Beispiel hierfür ist die Gestaltungssatzung, mittels derer Gemeinden u. a. Vorgaben zur äußeren Gestaltung sowie zur Einhaltung besonderer Anforderungen an bauliche Anlagen erlassen können, um ein der Örtlichkeit angemessenes Erscheinungsbild von Architektur und Freiraum zu sichern. Über die Anwendung formeller Verfahren hinaus nimmt der Stellenwert informeller Verfahren (informelle Beteiligungsverfahren) bei Rückbauprozessen einen besonderen Stellenwert ein. Es besteht eine besondere Herausforderung in der Verzahnung beider Prozesse. Die in informellen Planungsprozessen erarbeiteten Leitbilder und Ziele müssen anschließend im Rahmen der genannten Instrumente planungsrechtlich fixiert werden, so dass sie eine bindende Wirkung entfalten. VII Anhang: Anwendung des Leitfadens Im Anhang wird die Systematik des Leitfadens und insbesondere der oben aufgeführten Matrix am Beispiel der Ortsteile Dirlammen und Eichelhain der Gemeinde Lautertal (Vogelsberg) angewendet. In beiden Ortsteilen der Gemeinde ist ein deutlicher Rückgang der Bevölkerungszahlen zu verzeichnen. Bereits heute stehen vereinzelt Häuser leer, mittelfristig kann es zu einer Auflassung einzelner Bereiche in den Orten kommen. Da es für viele Liegenschaften keine Nachnutzung geben wird, werden der Rückbau einzelner Bereiche sowie die Konzentration innerhalb der Ortsteile sowohl aus städtebaulicher als auch aus siedlungswasserwirtschaftlicher Sicht erforderlich. Ausgehend von dem vorhandenen Mischsystem mit Teichkläranlage wird vorgeschlagen, zukünftig die Abwasserentsorgung über ein dezentrales Trennsystem mit dezentralen Kleinkläranlagen zu realisieren, an die jeweils mehrere Liegenschaften angeschlossen werden. Sanierungsbedürftige Regenwasserkanäle, die zur Ableitung von Oberflächenwasser aus Außengebieten genutzt werden, können bereichsweise durch offene Gräben ersetzt werden, wodurch Sanierungskosten entfallen. Vorhandene Mischwasserkanäle werden zur Ableitung des Niederschlagswassers aus befestigten Bereichen genutzt. Die laut Immissionsbetrachtung ggf. erforderliche Behandlung von Niederschlagswasser aus innerörtlichen befestigten Flächen kann in der vorhandenen Teichkläranlage erfolgen, die als Niederschlagswasserbehandlungsanlage umgenutzt wird. Sofern an dem bisherigen Mischsystem festgehalten würde, wäre in beiden Ortsteilen eine zum Teil umfangreiche Sanierung der Mischwasserkanäle erforderlich. Diese kann bei zukünftiger Nutzung als Regenwasser- oder Oberflächenwasserkanal deutlich einfacher und kostengünstiger ausfallen. Auch die Sanierung der Teichkläranlagenanlagen, die bei Beibehaltung des bisherigen Konzeptes der Mischwasserentsorgung erforderlich wäre, kann bei diesem Konzept entfallen. 11 Impressum: Regierungspräsidium Gießen Landgraf-Philipp-Platz 1 - 7 35390 Gießen Ansprechpartner: Dipl.-Ing. Frank Reißig (Arbeitsgruppensprecher) Dezernat 41.3 Telefon: 0641 303-4225 Telefax: 0641 303-4103 E-Mail: [email protected] Autoren/Bearbeitung: Technische Hochschule Mittelhessen, Prof. Dr. Theilen, Prof. Jahnen in Zusammenarbeit mit Ingenieurbüro Heß, Lauterbach Auftraggeber: Gemeinde Lautertal Gefördert vom Hessischen Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Stand: Juli 2014