Pyrus nivalis 16.03.2006 9:49 Uhr Seite 1 Pyrus nivalis III-2 Pyrus nivalis JACQ., 1774 syn.: Pyrus communis LINNÉ ssp. nivalis (JACQ.) GAMS Schneebirne engl.: Snow pear franz.: Poirier sauger ital.: Pero nivale Familie: Rosaceae Unterfamilie: Maloideae Sektion: Argyromalon Abb. 1: Pyrus nivalis. Solitär im natürlichen Areal Enzyklopädie der Holzgewächse – 12. Erg.Lfg. 6/98 1 Pyrus nivalis 16.03.2006 9:49 Uhr Seite 2 Pyrus nivalis III-2 70° 60° 50° 40° 30° 20° 10° 0° 10° 20° 30° 40° 50° 60° 70° 80° 90° 100° 50° 50° Atlantik 40° 40° 30° 30° 0 10° 500 1000 km 0° 10° 20° 30° 40° 50° Abb. 2: Natürliches Verbreitungsgebiet (nach TERPÓ, 1960) Pyrus nivalis, ein sommergrüner, kleiner Baum, ist gekennzeichnet durch dauerhaft filzig-behaarte Blätter, dunkel blutrote Herbstverfärbung und intensive Ausschlagfähigkeit. Die in Mittel- und Südosteuropa verbreitete Art läßt sich von anderen Pyrus-Arten mit weiß-filzigen Laubblättern nur schwer trennen. Ihre gegenwärtigen Biotope liegen ausnahmslos in der Nachbarschaft künstlicher Anbauten, so daß Verwilderung aus Kultur nicht auszuschließen ist. P. nivalis befindet sich in allen Arealteilen im Rückzug und ist ohne Schutz vom Aussterben bedroht. Sie hat keinerlei wirtschaftliche Bedeutung. Ihre Namen beziehen sich darauf, daß die Früchte erst nach den ersten Frösten eßbar sind. Verbreitung Das natürliche Areal von Pyrus nivalis und ihren eng verwandten Arten liegt in Mittel- und Südosteuropa. Im einzelnen findet man die Schneebirne im mittleren und östlichen Teil Frankreichs, in der Schweiz, in Norditalien und Österreich sowie in Süd-Mähren und der Süd-Slowakei. 2 Enzyklopädie der Holzgewächse – 12. Erg.Lfg. 6/98 Weiterhin in den ungarischen Mittelgebirgen, in der Hügellandschaft Westungarns, in Rumänien (vor allem in Transsilvanien und der Dobrudscha), im einstigen Jugoslawien sowie in den Bergen Griechenlands und der Türkei. Angaben über ihr Vorkommen auf der Balkan-Halbinsel und in Kleinasien sind allerdings skeptisch zu beurteilen, da P. nivalis häufig mit anderen im Süden vorkommenden Birnenarten verwechselt wird [3]. In allen angeführten Regionen wächst P. nivalis sowohl in Kultur als auch in natürlicher Umgebung. Vermutlich ist sie im letztgenannten Fall aus Kultur verwildert, denn stets findet man wildlebende Bäume in der Nachbarschaft von aufgelassenen Wein- und Obstgärten, an Grenzrainen oder Waldrändern. Möglicherweise hat man die Art gleichzeitig mit dem Wein nach Mitteleuropa eingeführt. Später wurde sie dann zu einem subspontanen Florenelement. Diskutiert wird überdies, daß sie zu den Elternarten der heutigen Kulturbirne gehört. Ihre gegenwärtigen Biotope sind ausnahmslos trockenwarme, sonnenexponierte, neutrale, meist kalkreiche Standorte, was wiederum auf ihre südliche Herkunft hinweist [5, 8]. Pyrus nivalis 16.03.2006 9:49 Uhr Seite 3 Pyrus nivalis III-2 Beschreibung Pyrus nivalis erreicht Höhen von 8 bis 15 m, bildet mehr oder weniger gerade, sich früh verzweigende Stämme (BHD 25 bis 35 cm) und entwickelt eine kugelförmige Krone mit starren, aufwärts gerichteten Ästen. Das Verzweigungssystem setzt sich aus Lang- und Kurztrieben zusammen. Dornen kommen nicht vor. Die längsrissige Borke hat eine hell grau-braune Farbe. Geradezu kennzeichnend ist die große Zahl von WurzelSchößlingen. Das relativ kräftige Wurzelsystem verzweigt sich wenig. Knospen, Blätter, junge Triebe Lang- und Kurztriebe schließen mit einer alleinstehenden Terminalknospe ab. Generell sind die Winterknospen dunkelbraun, kegelförmig und relativ groß (Terminalknospen 6 bis 9 mm, Lateralknospen 5 bis 7 mm). Sie haben dreieckige Tegmente, von denen die äußeren filzig behaart, die inneren kahl sind. Lateralknospen stehen vom Trieb ab. Die wechselständig angeordneten, verkehrt eiförmigen, kurz gestielten (10 bis 20 mm) Laubblätter werden 4 bis 8 cm lang und 3 bis 4 cm breit. Meist sind sie ganzrandig, gelegentlich an der Spitze fein gekerbt. Sie haben eine keilförmig in den Blattstiel übergehende Spreitenbasis und einen stumpfen Apex, der allerdings eine winzige Spitze aufweist. Junge Blätter sind beiderseits grauweiß filzig behaart; während die Oberseite später verkahlt, behalten die Unterseite und der Blattstiel die Behaarung bei. Vorhanden sind außerdem zwei kleine, fädige, sehr bald abfallende Nebenblätter. Abb. 4: Austreibende Winterknospe und weißfilzig behaarte junge Blätter Die Schneebirne treibt relativ spät aus. Ihre Blätter erscheinen 5 bis 10 Tage nach den Blüten. Die sehr attraktive Herbstverfärbung setzt mit einem leuchtenden Goldgelb ein und endet mit einem dunklen Weinrot. Die auffallend dicken (Durchm.: 8 bis 10 mm), anfangs weiß filzigen, jungen Triebe nehmen später eine braunschwarze Farbe an. Kurztriebe weisen sehr dicht stehende, schmale Blattnarben auf. Blüten, Früchte, Samen Abb. 3: Stammborke von Pyrus nivalis (links) und Pyrus austriaca (rechts) P. nivalis blüht später als P. pyraster. Sie bildet relativ große (Durchm.: 30 bis 40 mm), fünfzählige, weiße Zwitterblüten, von denen 10 bis 15 in einer traubigen Infloreszenz (Doldentraube) an der Spitze von Kurztrieben stehen. Die 5 genagelten, schaufelförmigen Kronblätter sind 14 bis 16 mm lang und 12 bis 14 mm breit. Bis zur Anthese haben sie rosafarbene Spitzen. Auch die dreieckigen Kelchblätter (6 bis 8 mm lang; 3 bis 4 mm breit), der Blütenboden und der Blütenstiel weisen eine filzige Behaarung auf. Enzyklopädie der Holzgewächse – 12. Erg.Lfg. 6/98 3 Pyrus nivalis 16.03.2006 9:49 Uhr Seite 4 Pyrus nivalis III-2 Abb. 7: Pyrus nivalis. Blütenstand Abb. 5: Dunkel blutrote Herbstverfärbung Abb. 6: Pyrus nivalis. Früchte in situ 4 Enzyklopädie der Holzgewächse – 12. Erg.Lfg. 6/98 Abb. 8: Beblätterter Trieb und Frucht von Pyrus austriaca Pyrus nivalis 16.03.2006 9:49 Uhr Seite 5 Pyrus nivalis III-2 Taxonomie Die 30 Staubblätter stehen in drei Kreisen und haben weiße, vor dem Aufblühen nach innen gekrümmte Filamente und dunkelrote Antheren. Die 5 freistehenden Griffel sind an der Basis behaart und werden von einem ringförmigen Wulst des Blütenbodens umgeben. Die Blüten riechen nach Trimethylamin (Käse-ähnlich). Die Taxonomie der Gattung Pyrus gilt als kompliziert. Gleiches trifft für P. nivalis zu. Weil die meisten Arten der Sektion Argyromalon zur Entwicklung von Kultursorten herangezogen wurden, findet man subspontane Pyrus-Populationen auch außerhalb ihrer natürlichen Areale. Zudem bastardieren die Arten häufig miteinander und oft kommt es zu Introgressionen [9]. Reife Früchte haben einen Durchmesser von 2,5 bis 4 cm, sind von gelblich grüner Farbe, selten auch mit roten Punkten versehen und variieren stark in der Form. Der Kelch bleibt erhalten und der filzig behaarte Fruchtstiel hat etwa die selbe Länge wie die Frucht. Manche Fachleute sprechen der Schneebirne den Status einer selbständigen Art ab. Andere fassen sie als eine kultivierte mitteleuropäische Form von Pyrus elaeagnifolia, wieder andere als einen Bastard zwischen P. communis und P. amygdaliformis auf. In der Tat erweist sich die Differenzierung von letzterer oft als sehr problematisch [7]. Die Reifezeit liegt im September/Oktober. Nach den ersten Frösten werden die Birnen eßbar, wenn auch nicht wohlschmeckend. Das Fruchtfleisch enthält Steinzellen und umschließt zahlreiche glänzend schwarze Samen [2, 4, 8]. Zum engsten Verwandtschaftskreis von P. nivalis rechnet man heute die nicht immer leicht von ihr zu trennenden Arten Pyrus salvifolia und P. austriaca. Sie haben folgende kennzeichnende Merkmale: P. nivalis P. salvifolia1) P. austriaca2) Gesamthöhe 8-15 m oft strauchförmig 12-18 m BHD 25-35 cm 15-25 cm bis 50 cm Blatt, Form verkehrt eiförmig elliptisch länglich elliptisch ganzrandig ganzrandig oder gesägt Rand länglich gekerbt Länge 4–8 cm 4–7 cm 6–9 cm Apex stumpf mit winziger plötzlich zugespitzt plötzlich zugespitzt 1–2 cm lang 2–5 cm lang 1,5–6 cm lang dick, unbedornt dünn, bedornt dünn, unbedornt Spitze Stiel Trieb Pathologie P. nivalis wird von gefährlichen pilzlichen Pathogenen weitgehend verschont. Auffällige, aber wenig gravierende Veränderungen der Blätter rufen die orangefarbenen Aecidienlager des Gitterrostes der Birne (Gymnosporangium sabinae [DICKS.] WINTER) hervor. Starker Befall führt zur Schwächung des Baumes. Kleinere, blasenartige Auftreibungen der Blattoberseite werden durch Taphrina bullata (BERKELEY et BROOME) TULASNE hervorgerufen. Venturia pyrina ADERHOLD, der Erreger des Birnenschorfes, verursacht auf Blättern und Früchten dunkle, schorfige Flecken und überwintert in den Zweigen. Gefährlicher als Pilze sind mehrere Insektenarten. Dazu gehören vor allem der Schwammspinner Lymantria dispar L. sowie mehrere Gallmilben. Blütenknospen werden von den Larven des Apfelblütenstechers Anthonomus pomorum L. angefressen und Blattknospen durch Anthonomus pyri KOLL. zerstört. P. nivalis ist nicht durch Fröste gefährdet. 1) 2) Entstehung umstritten: Evtl. Bastard P. communis x P. nivalis oder P. nivalis x P. amygdaliformis Möglicherweise aus P. pyraster x P. nivalis entstanden. Enzyklopädie der Holzgewächse – 12. Erg.Lfg. 6/98 5 Pyrus nivalis 16.03.2006 9:49 Uhr Seite 6 Pyrus nivalis III-2 Weiterführende Literatur Abb. 9: Typischer Lebensraum: Blühende Schneebirnen in einem aufgelassenen Weingarten Verschiedenes – Die Früchte der Schneebirne eignen sich in erster Linie zur Schnapsbrennerei [1, 6], werden aber auch als Trockenobst genutzt. – Wegen der prachtvollen Herbstfarben ihres Laubes sollte P. nivalis mehr als bisher als Ziergehölz Verwendung finden. In allen von ihr besiedelten Biotopen ist ihre Zahl so stark rückläufig, daß sie konsequent unter Schutz gestellt werden müßte. Der Autor: Prof. Dr. DÉNES BARTHA Universität Sopron Lehrstuhl für Botanik Bajcsy – Zs. u. 4. H-9401 Sopron Ungarn 6 Enzyklopädie der Holzgewächse – 12. Erg.Lfg. 6/98 [1] BELL, R., 1990: Pears (Pyrus). In: MOORE, J.N.; BALLINGTO, J.R., Jr. (Hrsg.): Genetic resources of temperate fruit and nut crops. – Acta Horticulturae 290, 655–697. [2] BUIA, A., 1956: Pyrus. In: SAVULESCU, TR.; NYÅRÅDY, E.J. (Hrsg.): Flora Republicii Populare Romine IV. – Bucuresti, S. 203–216. [3] DIAPULIS, CH., 1933: Beiträge zur Kenntnis der orientalischen Pomaceen (Pyrus, Sorbus, Crataegus). – Fedde’s Repertorium spec. nov. regni veg. 34, 29–72. [4] FEDOROV, A., 1954: Grusa-Pyrus. In: SOKOLOV, S. (Hrsg.): Derevja i kusztarniki SSSR III. – Moskwa – Leningrad, S. 378–414. [5] FOLGNER, V., 1987: Beiträge zur Systematik und pflanzengeographischen Verbreitung der Pomaceen. – Öster. Bot. Z. 47, 153–178, 199–206. [6] PÉNZES, A., 1949: Adatok a vadkörték ismeretéhez. (Beiträge zur Kenntnis der Wildbirnen). – Ann. Acad. Horti- et Viticulturae (Budapest) 13, 66-74. [7] TERPó, A., 1956: A Pyrus genus félkultúr és kultúr alakjainak természetes elöfordulásai. (Die natürlichen Vorkommen der Halbkultur- und Kulturformen der Gattung Pyrus.) – Ann. Acad. Horti- et Viticulturae (Budapest) 20, 1–30. [8] TERPó, A., 1960: Magyarország vadkörtéi. Pyri Hungariae. – Ann. Acad. Horti- et Viticulturae (Budapest) 22, 1–258. [9] WITASEK, J., 1904: Über die Herkunft von Pirus nivalis JACQ. – Verhandlungen der zoologisch-botanischen Gesellschaft 57, 624–630.