WISSEN UND WISSENSCHAF T Sicherere Medikamente für Kinder Illustration: © Sebastian Kaulitzki, Fotolia.com Kaum ein Medizinsektor ist so schlecht untersucht wie der Arzneimittelbereich für Kinder. Die Hälfte aller Verordnungen in Schweizer Kinderkliniken erfolgen off label. Oft fehlen für Kinder geeignete Arzneiformen. Forschung tut not. Ethische Fragen, tiefe Patientenzahlen und zu geringe Anreize für die Industrie sind die wichtigsten Hemmnisse. Dr. med. Markus Meier Besonderheiten des kindlichen Organismus Körper allgemein Der Wasseranteil des Körpers ist erhöht. niedrigere Plasmakonzentration hydrophiler Substanzen Lunge Lungenaufbau und Lungenvolumen sind anders. veränderte Aufnahme von inhalativen Arzneistoffen Die Rezeptoren sind oft noch nicht vollständig ausgeprägt oder in geringerer Anzahl vorhanden. eingeschränkte Wirkung der Arzneistoffe Leber Die Aktivität der Leber-Enzyme entwickelt sich sehr unterschiedlich (z.B. Cytochrom-P-450). deutliche Unterschiede beim Abbau von Wirkstoffen Magen Niere Der ph-Wert ist höher. Ionisation oder Stabilität der Säure-instabilen Substanzen wird beeinflusst mehr oder auch weniger Wirkstoff ist aufnehmbar Die Nieren reifen vor allem im 1. Lebensjahr. verzögerte Ausscheidung von Wirksubstanzen und auch von deren Abbauprodukten über die Niere Darm Die Darmflora muss zuerst aufgebaut werden und kann sich verändern. Einfluss auf die Resorption von Arzneimitteln Nerven Bis zum 2. Lebensjahr sind die Nerven noch unvollständig myelinisiert. empfindlichere Reaktion auf Lokalanästhetika Blut Die Plasmaproteine sind weniger stark gebunden. mehr ungebundene Arzneisubstanz, die für die Wirkung zur Verfügung steht (= grössere Wirkung) Haut Die Haut ist dünner. grössere Stoffaufnahme bei kutaner Applikation Das Verhältnis Körperoberfläche zu Körpergewicht ist erhöht. über die Haut wird verhältnismässig mehr Substanz pro Gewichtseinheit aufgenommen Eine junge Frau gibt dem Apotheker ein Antibiotikum-Rezept für ihre zwölfmonatige Tochter und sagt: «Dasselbe Medikament musste mein Grosser schon vor einer Woche nehmen. Jetzt hat es die Kleine erwischt. Sie ist etwa halb so schwer und muss wohl die halbe Dosis nehmen, oder?». Diese Szene aus dem Alltag zeigt, dass es auch für Laien nachvollziehbar ist, dass eine medikamentöse Therapie bei Säuglingen anders verlaufen muss als bei Kleinkindern und Erwachsenen. Entscheidend sind aber nicht nur Grösse und Gewicht, sondern auch die komplexen Entwicklungsprozesse, die grossen Einfluss auf die Wirkung von Arzneistoffen haben. Beispiele sind hier in einer frühen Lebensphase noch unreife Rezeptoren oder das Cytochrom- 52 OTX World | Nr. 96 | September 2013 Immunsystem Die Immunabwehr ist noch nicht ausgereift. Allergien können je nach Alter unterschiedlich auftreten (teilweise mit zuerst negativen Allergie-Tests, wie z. B. Prick) Impf-Plan muss darauf abgestimmt sein (1. Impfung im Alter von zwei Monaten gemäss BAG; siehe www.bag.admin.ch) P-450-Enzym, das erst später richtig funktioniert (siehe Grafik). So kann der Arzneistoffabbau bei Säuglingen und Kleinkindern ganz anders verlaufen als bei Erwachsenen. Täglicher Kampf mit Kinderdosierungen Die Arzneimitteltherapie bei Kindern stellt Arzt und Apotheker jeden Tag vor grosse Herausforderungen. Oft existieren keine für Kinder geeigneten Arzneiformen wie orale Lösungen, Tropfen oder Suppositorien. Deshalb müssen viele Arzneimittel importiert oder selber hergestellt werden (Magistralrezepturen). Kein Wunder erfolgen ca. 50 Prozent aller Arzneimittelverordnungen in Schweizer Kinderspitälern nicht ge- mäss behördlich genehmigter Fachinformation, also off label. Und: Hospitalisierte Kinder sind aufgrund von Medikationsfehlern dreimal häufiger von unerwünschten Arzneimittelwirkungen betroffen als Erwachsene. Das Wissen über Dosierung, Wirksamkeit und Nebenwirkungen ist häufig ungenügend. Vielfach wird ein Pädiater zur Rate gezogen, um die «korrekte» Kinderdosierung eines Arzneimittels zu evaluieren. Der Kinderarzt musste sich bis anhin diese Informationen aus sicheren und weniger guten Quellen zusammensuchen, bei denen nicht klar war, welche Evidenz hinter einer Angabe steckt. Diese Wissenslücken schliesst nun eine Datenbank für Kinderdosierungen. Sie ging 2012 online und erhielt kürzlich einen begehrten Preis. KO LU M N E Swiss Quality Award 2013 Dieser Award wurde Mitte Juni anlässlich des Nationalen Symposiums für Qualitätsmanagement in der Kategorie Patientensicherheit an www.kinderdosierungen.ch vergeben. Der Swiss Quality Award zeichnet herausragende Ideen aus, welche die Qualität im Schweizer Gesundheitswesen verbessern. Hinter www.kinderdosierungen.ch steht der Pharmazeutische Dienst des Kinderspitals Zürich. Er startete schon 2008 mit der Entwicklung einer KinderdosierungsDatenbank. 2009 gab das Kinderspital Zürich dann ein Booklet heraus und aktualisierte es bis in die 4. Auflage. Jetzt werde aber keine Neuauflage mehr gedruckt, wie auf der Homepage zu lesen ist. Denn 2012 wurde die jetzt prämierte Website www.kinderdosierungen.ch lanciert. Sie wird 2014 auch noch eine für Smartphones kompatible Internetversion erhalten. Zielgruppe dieser Medikamenten- und Dosierungs-Datenbank sind Kinderspitäler, Pädiater, andere Fachärzte sowie Apotheker. Ihnen allen steht diese innovative Entwicklung kostenlos zur Verfügung. Die Nutzer erhalten Informationen des Herstellers, neue Forschungserkenntnisse sowie Erfahrungen aus der klinischen Praxis des Kinderspitals Zürich. Und sie können die Medikamentendosierungen für Kinder einfach berechnen. Dazu dient ein elektronischer Kalkulator, der die spezifische Dosierung aufgrund der individuellen Kinderdaten (z. B. Körpergewicht, Geburtsdatum und Körperoberfläche) berechnet. Beim Start Ende 2012 waren ca. 3000 Datensätze zu 330 Wirkstoffen in der Datenbank integriert. Diese Daten werden nun laufend aktualisiert und erweitert, damit die Datenbank alle neuen Erkenntnisse der Forschung sowie die Erfahrungen aus der klinischen Praxis beinhaltet. Gute Zusammenarbeit zwischen Spitälern und Industrie Damit sich die offiziellen Medikamenten-Fachinformationen und Angaben aus www.kinderdosierungen.ch jeweils unmittelbar ergänzen, kooperiert das Kinderspital Zürich mit Do­ cumed und e-mediat. Alle Einträge sind über die «direct deep links» anwenderfreundlich mit www.compendium.ch der Documed verbunden. Von einem Produkt in diesem Kompendium aus ist im Gegenzug ebenfalls ein direkter Zugriff auf die Information desselben Produktes auf www.kinderdosierungen.ch möglich. Und die Kinderspital-Daten werden über die HospINDEX-Datenbank der e-mediat allen Schweizer Spitälern und Kinderspitälern zur Prozessintegration in ihre elektronische Verordnung bereitgestellt. Bereits im Februar 2013 fand die Gründungsversammlung des Vereins SwissPedNet statt. Seitdem bilden die Kinderkliniken in Aarau, Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen und Zürich ein Forschungsnetzwerk. Erster Präsident des Vorstandes ist Prof. Dr. med. David Nadal vom Kinderspital Zürich. Forschungsnetz im Dienste der Kinder SwissPedNet soll die im Vergleich zur Erwachsenenmedizin bisher ungenügend ausgebaute klinische Forschung in der Pädiatrie unterstützen. Dazu bauen die Kinderspitäler Clinical ­Pediatric Hubs (Plattformen) auf, um multizentrische Studien durchzuführen. Diese Hubs gliedern sich an die bereits bestehenden klinischen Studienzentren in den Universitätsspitälern und am Kantonsspital St. Gallen an. Sie sind eine Anlaufstelle für Forschende und helfen bei der Planung, Durchführung und Auswertung von Studien nach verbindlichen nationalen und internationalen Richtlinien. Die pädiatrische Forschung ist im Vergleich zur Forschung in der Erwachsenenmedizin benachteiligt: Die Patientenzahl ist kleiner, Krankheiten treten je nach Alter unterschiedlich auf und es existieren viele seltene angeborene Erkrankungen. Im Weiteren gibt es ethische, soziale, psychologische und organisatorische Schwierigkeiten bei der Planung und Durchführung von Studien. Deshalb sind die Datengrundlagen, speziell für die Pharmakotherapie im Kindesalter, immer noch mangelhaft. Das SwissPedNet muss als Non-Profit-Organisation hart um seine Finanzierung kämpfen. Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) unterstützt den Verein, indem er die Stelle einer nationalen Koordinatorin bezahlt, die bei der Swiss Clinical Trial Organisation in Basel angesiedelt ist. Ebenfalls zum Patronatskomitee gehört die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Was passiert politisch? Die ganze Welt unternimmt Anstrengungen, damit mehr kindergerechte Arzneimittel auf den Markt kommen. 2007 trat die EU-Verordnung über Kinderarzneimittel in Kraft. Die EU hatte schon damals erkannt, dass zur Verbesserung der Situation ein System nötig ist, das sowohl Verpflichtungen als auch Anreize umfasst. Die Schweiz legte 2010 mit einem Verfassungsartikel über die Forschung am Menschen und dem neuen, am 1. Januar 2014 in Kraft tretenden Humanforschungsgesetz (HFG) wichtige Grundlagen für die Forschung – auch mit Kindern. Die Zukunft wird es zeigen, wie viel unsere Jüngsten davon profitieren. Gesundheit will gelernt sein Wenn wir uns Monat für Monat mit der Zukunft des Gesundheitswesens befassen, darf dabei ein Gedanke an diejenigen, die unsere Zukunft am meisten interessiert, nicht fehlen: unsere Kinder und die Jugendlichen. Was sie heute lernen, werden sie morgen anwenden. Im Guten und im Schlechten wird dies einen Einfluss haben auf die Gesundheit dieser Kinder und auf die künftige Volksgesundheit insgesamt. Erstaunlich, dass wir trotz dieser banalen Erkenntnis noch kein Primarschulfach Gesundheit kennen. Es ist zwar anzuerkennen, dass das eine oder andere in die Fächer einfliesst, doch bei den ganz Kleinen fehlt der Umgang mit dem Thema fast vollständig. Da ist es nicht getan, dass man mehr oder weni­ger fragwürdige Sexualkundethemen (was irgendwie auch zur Gesundheit gehört) eingeführt hat. Und mit dem Verbot von Schoggi auf dem Pausenplatz und dem Moralfinger, es seien nur ganz, ganz gesunde Znünis erlaubt, ist es auch noch nicht getan. Auch nicht mit der Laustante und dem Zahnbürstenonkel. Anstatt stundenlang mathematische Banalitäten hinunterzuleiern und mittelmässig Englisch sprechende Lehrer auf die armen Kinder loszulassen, könnte man die eine oder andere Stunde für Gesundheitsausbildung investieren, was vom Verständnis für den menschlichen Körper, über die Ernährung bis hin zu praktischen Erlebnissen wie dem Besuch eines Alters- oder Pflegeheims reichen könnte. Utopisch? Die Zukunft würde es uns auf jeden Fall danken, wenn wir auch beim Thema Gesundheit auf «früh übt sich» setzen würden. Das Schulheft zum Thema könnte man dann ja «OTX World-li» nennen. Daniel M. Späni OTX World | Nr. 96 | September 2013 53