Aufklärung à la Ragwurz (Seiten 34-39)

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NATUR Wandern mit WWF
Aufklärung
Die Geschichte von der Blume
und der Biene ist bekannt.
Die Hummelragwurz verblüfft
mit einer gerissenen
Variante der alten
Erzählung – ein Pilz
spielt darin eine
tragende Rolle.
Foto: Bildagentur Waldhäusl
Text: Andreas Krebs
Wandern mit WWF NATUR
à la Ragwurz
N
un wissen Sie, wieso mich Orchideen faszinieren», sagt JeanPierre Brütsch. Der leidenschaftliche Hobby-Botaniker, der viel
zu erzählen wüsste, von Bastarden und
Griechenland, von Jungfernzeugung und
Gen-Defekten – ist Präsident der Aargauer
Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen
(Ageo), die Besitzerin des Orchideenlehrpfades im solothurnischen Erlinsbach ist.
Dort blühen von April bis Juni 15 bis 20
verschiedene Arten der formen- und farbenreichen Blumen.
Expertenstreit um Zuordnung
Betrachten wir die Hummelragwurz
(Ophrys holoserica) näher: Innerhalb der
Orchideen gehört sie zur Gattung der
Das WWF-Alpenprogramm
Für die Serie «Wandern mit
WWF» arbeiten WWF und
«Natürlich» zusammen.
In der Serie werden Tiere und
Pflanzen vorgestellt, die in
Naturgebieten und sogenannten Smaragd-Gebieten vorkommen.
Smaragd-Gebiete sind Lebensräume, die im
Rahmen des WWF-Alpenprogramms als
besonders schützenswert erachtet werden.
Mit dem Smaragd-Netzwerk wird die langfristige Erhaltung von bedrohten Arten und
Lebensräumen angestrebt sowie Naturschutzlücken geschlossen.
Weitere Infos: www.wwf.ch/alpen
Bisher erschienen:
6-06: Ringelnatter, Mastrilser Auen GR
7-06: Adonislibelle, Les Grangettes VD
8-06: Murmeltier, Fellital UR
9-06: Hirsch, Schwägalp AI
10-06: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert GE
11-06: Gämse, Stockhorn BE
12-06: Kolbenente, Ermatinger Becken TG
1-07: Biber: Chablais de Cudrefin/Fanel NE
2-07: Wasseramsel: Val Müstair GR
3-07: Feuerwanze: Bois-de-l’Hôpital NE
Ragwurzen (Ophrys), sie wachsen auf
Magerwiesen und Halbtrockenrasen mit
kalkigem Grund, «im November und
Dezember stösst die Hummelragwurz
ihre Rosetten mit irrsinniger Kraft aus
dem Boden», schwärmt Brütsch.
Die mehrjährige Pflanze wächst
schlank, aber kräftig und hat vier bis sieben grundständige, lanzettenförmige,
blaugrüne Laubblätter, die vier bis zehn
Zentimeter lang werden. Von Mai bis Juni
blühen vier bis zwölf locker am Stängel
verteilte Blüten. Zeichnung und Färbung
sind von Pflanze zu Pflanze recht variabel:
die drei Kelchblätter (Sepalen) und zwei
Kronblätter (Petalen) sind weisslich bis
hellrot, die Lippe (Labellum) dunkelbraun
und trapezförmig 8 bis 12 Millimeter lang,
12 bis 18 Millimeter breit, leicht gehöckert
und am Rande pelzig behaart; an der Lippenspitze wächst ein recht grosses Anhängsel. Es sind äusserst verführerische
Lippen, wie wir bald sehen werden.
Von anderen Orchideen lassen sich
Ragwurzen leicht anhand ihrer auffälligen
Lippen unterscheiden – sie ähneln einer
auf einer Blüte sitzenden Stechimme (Hymenopteren) so stark, dass viele nach ihnen benannt sind: Bei uns heimisch sind
Fliegen-, Bienen-, Kleine Spinnen-, Spinnen-, Spätblühende Hummel- und Hummelragwurz; weltweit kennt man 62 Ragwurz-Arten. Zu den Stechimmen gehören
übrigens Honigbienen, Hummeln, Wespen, Hornissen, aber auch Ameisen.
Insekten –
die wahren Experten?
Die Bestimmung innerhalb der Gattung
ist äusserst schwierig, denn «keine Blüte
gleicht der anderen», weiss Brütsch:
Wenn man die Extreme einer Art zusammensuche, könne man meinen, es handle
sich um verschiedene Pflanzen, «bei der
Zuordnung nehmen sich sogar Experten
fast am Wickel».
Fragen wir einen Experten. Der Botaniker Stefan Schwegler schreibt gerade
eine Doktorarbeit über die Hummelragwurz, er erklärt: «Unsere Einteilung erfolgt nach morphologischen Gesichts-
punkten, die Pflanzen werden also nach
ihrem Aussehen zugeordnet. Seit ein paar
Jahren ist auch eine genetische Sichtweise
möglich. Diese führte dazu, dass bestimmte Orchideen zu einer anderen Gattung zugeordnet wurden.» So wurde mit
dem Fortschritt der Technik aus der
Aceras anthropophorum (Ohnhorn) eine
Orchis anthropophora – dem Ohnhorn ist
das wahrscheinlich egal, nicht aber den
Botanikern.
Der Evolutionsbiologe Hannes Paulus
beschrieb neue Ragwurzarten anhand der
bestäubenden Insekten – «diese Methode
führte dazu, dass der Mensch die Arten
nicht mehr unterscheiden konnte», weiss
Schwegler.
Interessant aber, wie Paulus überhaupt
auf die Idee mit den Insekten kam: Fast alle
Ragwurzen sind auf Gedeih und Verderb
auf Insekten angewiesen, die sie bestäuben.
Im Laufe der Evolution hat sich jede Ragwurz-Art je nach Habitat auf einige nahe
verwandte Insekten konzentriert, die Hummelragwurz auf die Langhornbiene, eine
hummelartige Wildbiene mit äusserst langen Fühlern. Im Gegensatz zu Honigbienen leben Wildbienen nicht sozial und
kaum sind sie geboren, machen sich die
einzelgängerischen Männchen auf die Suche nach einer Partnerin. Bienenweibchen
schlüpfen jedoch meist einige Tage bis
wenige Wochen später. Diese Zeit nutzen
Ragwurzen listig aus.
Verführerischer Duft
Im Laufe der Evolution haben sie gelernt
«genau das gleiche Pheromon zu produzieren, mit dem das Insektenweibchen
das Männchen verführt», staunt Brütsch.
Paulus hat Original und Imitat mittels
Gaschromatografie untersucht. Er kam
zum Schluss: Die Duftstoff-Mimikry ist
perfekt. Das Sexualparfüm der weiblichen Biene und das Orchideen-Generika
bestehen aus etwa 200 verschiedenen
Duftstoffmolekülen, die zwölf für die
Anlockung entscheidenden sind identisch. Jedoch: «Sobald Weibchen fliegen,
hat die Ragwurz keine Chance mehr»,
sagt Schwegler.
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Fotos: Andreas Krebs
Wandern mit WWF NATUR
Das Schutzgebiet von nationaler Bedeutung umfasst 19 000
Quadratmeter, 6500 sind öffentlich zugänglich. Den Besucher erwarten 15 bis 20 Orchideenarten auf prächtigen
Trocken- und Magerwiesen an steilem Hang; der Kalkboden
trocknet im Sommer stark aus, bei Regen ist der Besuch
nicht empfehlenswert. Das Gebiet ist auch ein Paradies für
Schmetterlinge (37 Arten wurden gezählt), Brutvögel,
Fledermäuse, Feuersalamander und viele Arten mehr.
Von April bis Anfang Juni bietet die Ageo Gruppenführungen an. Im Herbst mähen Mitglieder und andere Interessierte die Grasflächen und schneiden Sträucher zurück, so
verhindern sie die Verbuschung, die grösste Gefahr für
Orchideen.
Wanderung zum Lehrpfad
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA071143)
Vom Bahnhof Aarau aus ist man in 20 Minuten an der
Aare – wenn man nicht in der schmucken Altstadt
verweilt. Der Aare flussaufwärts folgen Richtung Erlinsbach (Wegweiser). Die Uferauen sind überraschend
wild, es gibt Schilf, menschengrosse Weidenrosen und
Kiesbänke mit gestürzten Stämmen, auf denen Entenfamilien sitzen. Das Wasser ist abwechselnd tümpelig
ruhig und rauschend eilig. Von Zeit zu Zeit erhascht
man einen Blick auf den Jura, am Horizont tauchen
Belchen, Homberg und Allerheiligenberg auf. Nach
knapp drei Kilometern erreicht man das Stauwehr von
Schönenwerd, dort trennt sich der Kanal von der alten
Aare, dahinter ist der Fluss nun wieder komplett.
Wir aber überqueren die Aare beim Stauwehr und verlassen sie Richtung Norden, wo wir bald nach Erlinsbach kommen. Nun müssen wir 1,5 Kilometer durch das
Dorf gehen, bis zur Bushaltestelle Sagi. Ab dort weisen
Schilder den Weg zum Orchideenlehrpfad; der wird
gepflegt von der Aargauer Arbeitsgruppe Einheimische
Orchideen (Ageo).
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Die Wiesen wurden nie angesalbt, heisst, «wir geben einfach Sorge
zu dem, was hier natürlich vorkommt», sagt Brütsch. Eine der
seltensten hier gedeihenden Pflanzen sei die unauffällige Natterzunge (Ophioglossum vulgatum), sie gehört zu den Farnen, «eine
extrem urtümliche Pflanze».
Vom Lehrpfad aus kann man entweder auf demselben Weg nach
Aarau zurückkehren oder man wandert weiter nach Küttigen. Von
dort fährt ebenfalls ein Bus nach Aarau.
Hinweise:
• Bei schlechtem Wetter ist der Besuch nicht ratsam
• Markierte Wege nicht verlassen
• Beim Fotografieren Nachbarpflanzen schonen
• Hunde müssen an dafür vorgesehenen Pfosten unterhalb des Lehrpfades angebunden werden
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■ Orchideenlehrpfad Obererlinsbach
➊ Bahnhof, Bus Nr. 1 nach Küttigen, Bus Nr. 2 nach Obererlinsbach
➋ Bushaltestelle Sagi, Obererlinsbach
➌ Bushaltestelle Post, Küttigen
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Foto: Bildagentur Waldhäusl
Fotos: Arco images
Bis 40 Zentimeter hoch:
Fliegen-Ragwurz
Hummel-Ragwurz (Ophrys holosericea)
In der konkurrenzfreien Zeit jedoch
kann das Männchen der Ragwurz nicht
widerstehen. Zuerst wittert es den verlockenden Duft, schnell findet es die
Quelle der Betörung, entdeckt die wohlgeformten Umrisse einer vermeintlichen Partnerin und summdiwupp landet das paarungswillige Männchen auf
der Ragwurz. Mit ihrer behaarten Lippe
imitiert die sogar den Haarstrich der
Biene, an dem sich das Männchen bei
der Begattung ausrichtet, «immer mit
dem Kopf nach vorne», weiss Schwegler. Und dann: vor und zurück, vor
und zurück. «Zwei bis dreimal», sagt
Brütsch, «dann merkt die Biene, dass
etwas nicht stimmt.» Der Ragwurz
reicht das. Sie hat dem Männchen eines
ihrer Pollinarien an den Kopf geklebt,
das sind zwei bis vier Millimeter lange
Fäden, an denen ein Beutelchen (Bursiculae) voller Pollen hängt.
Irrtümer der Tierwelt
Das getäuschte Männchen fliegt gehörnt
auf und davon, auf der Suche nach einer
neuen Partnerin – oder eben einer anderen Ragwurz.
Erneut entdeckt es eine Duftspur.
Das Männchen summt hin zur Quelle
der Betörung, verführerische Lippen, in
Form und Farbe einem Langhornbienenweibchen gleich, schon wieder, das Männchen ahnt nichts, landet, richtet sich aus –
vor und zurück, vor und zurück. Bis es
merkt, dass es schon wieder einem Trugbild aufgesessen ist, hat das Männchen
schon neues Leben gezeugt, doch nicht
seine Gene hat es weitergegeben, sondern
die der listigen Ragwurz.
Wandern mit WWF NATUR
Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera)
Fliegen-Ragwurz (Ophrys insectifera)
Im Detail betrachtet ging das so: Etwa
fünf Minuten nachdem die erste Ragwurz
der Biene das Pollinarium angeklebt hat,
bog sich der dünne Faden um rund
90Grad nach unten, «so schiebt die Biene
beim nächsten Kopulationsversuch die
Pollensäckchen genau in die Narbenlinie
der Orphys», erklärt Brütsch.
Beziehung
auf Gedeih und Verderb
Schiebt die Biene die Pollen in die
Narbenhöhle einer anderen Art, können
Hybriden entstehen, «die meisten Hybriden pflanzen sich nicht fort», weiss
Brütsch, «die der Ophrys oft aber schon.»
Tatsächlich ist bei Orchideen die Bastardisierung weit verbreitet, selbst Mehrfachhybriden sind möglich. Das sei für die
Evolution der Gattung wichtig, erklärt
Schwegler, denn so entstünden neue
Arten, manche setzten sich gegenüber
den Eltern durch und könnten sie gar
verdrängen. «Orchideen sind die jüngste
Spinnen-Ragwurz (Ophrys sphegodes)
Pflanzenfamilie überhaupt, sie suchen
ihre Form noch.» Die bestäubte Ragwurz
bildet Samenkapseln aus, «das kostet die
Pflanze sehr viel Energie», weiss Schwegler: «Wenn sie in einem Jahr drei Kapseln
bildet, wird sie im nächsten Jahr oft nicht
so gross. Und sie stirbt früher.» In jeder
Kapsel sind staubfeine Samen, Schwegler
hat sie gezählt, drei- bis viertausend bei
der Hummelragwurz. «Viele enthalten
jedoch keinen Embryo», sagt er, Nährstoffe fehlen sowieso, «der Same besteht
nur aus der Geninformation und einem
netzartigen Gewebe.»
So kann er nur spriessen, wenn ihn der
Wind zu einem bestimmten Pilz trägt und
der in den Samen hineinwächst und so
Nährsalze und Wasser liefert; der Pilz erhält später einen Teil der Assimilate, die die
Orchidee mittels Photosynthese erzeugt.
Man nennt diese Beziehung Symbiose. Bisher wurden bei Orchideen über 35 verschiedene Pilze nachgewiesen. Bei vielen
Arten ist es eine lebenslange Beziehung,
mitunter eine problematische: «Ist der Pilz
zu stark, tötet er die Ragwurz, ist er zu
schwach, kann er sie nicht ernähren», erklärt Brütsch.
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gab es 2003 etwa 216 Hektaren überglaste Anbaufläche für die Produktion von Orchideen; im selben
Jahr betrug in den USA der Umsatz durch getopfte
Orchideen 121 Millionen US-Dollar; in der Schweiz
verkauft der grösste kommerzielle Züchter, Hanspeter Meyer aus Wangen ZH, rund 400 000 dieser
exotischen Blütenpflanzen jährlich. In 16 000 Quadratmeter Gewächshäusern stehen eine halbe Million Pflanzen, insgesamt über 200 Sorten.
Während viele tropische Orchideen auf Bäumen
wachsen (Epiphyten), sind die etwa 75 Arten der
Schweiz alle bodenständig. «Es ist die einzige
Familie, die bei uns unisono geschützt ist», sagt
Stefan Schwegler. Wie sinnvoll das ist, sei fraglich,
denn Artenschutz alleine bringe nicht viel, «die
Biotope müssen geschützt werden».
«Orchideen sind angewiesen auf ein funktionierendes extrem komplexes Netz», bestätigt JeanPierre Brütsch. Viele Orchideen sind gefährdet,
einige stehen kurz vor dem Aussterben. Wer zu
ihrem Schutz beitragen will, melde Standorte der
Ageo, «die haben eine gut geführte Datenbank»,
sagt Schwegler. Und: «Solchen Arbeitsgruppen
kann man bei den Pflegemassnahmen helfen.»
I N FO B OX
Adressen
Ageo, Jean-Pierre Brütsch, Steinbühlweg 10,
4123 Allschwil, www.ageo.ch
Literatur zum Thema
• Lehrpfad-Heft, 10 Franken, bestellen bei
Jean-Pierre Brütsch, Telefon 061 481 41 11,
[email protected]
• Wartmann: «Die Orchideen der Schweiz –
Ein Feldführer mit 20 praktischen Exkursionsvorschlägen», Edition Sternenvogel
2006, ISBN 3-907876-03-2, Fr. 44.80
• Reinhard/Gölz/Peter: «Die Orchideen der
Schweiz und angrenzender Gebiete»,
Schweizer Naturschutzbund 1991,
ISBN 3-905647-01-3, Fr. 86.90
• Baumann/Künkele/Lorenz: «Orchideen
Europas», Ulmer Naturführer 2006,
ISBN 3-8001-4162-3, Fr. 34.90
• Presser: «Die Orchideen Mitteleuropas und
der Alpen», Verlag Ecomed 2000,
ISBN 3-609-65602-1, Fr. 150.–
Orchideen
Weltweit sind 20 000 bis 35 000 Orchideenarten
bekannt, keine andere Familie hat ein derart breites Spektrum an Farben und Formen hervorgebracht – und Natur und Mensch tüfteln weiter.
Waren im 19. Jahrhundert Orchideen ein Luxus
betuchter Menschen, sind sie heute für fast jeden
erschwinglich. Züchter haben aus den anspruchsvollen Exoten zimmertaugliche Geduldswunder
entwickelt – ein Milliardengeschäft: Von 1991 bis
2000 hat sich die Menge der in Deutschland invitro produzierten Orchideen von 2,5 Millionen auf
über 12 Millionen Pflanzen gesteigert; in Holland
Natürlich | 4-2007 39
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