NATUR Wandern mit WWF Aufklärung Die Geschichte von der Blume und der Biene ist bekannt. Die Hummelragwurz verblüfft mit einer gerissenen Variante der alten Erzählung – ein Pilz spielt darin eine tragende Rolle. Foto: Bildagentur Waldhäusl Text: Andreas Krebs Wandern mit WWF NATUR à la Ragwurz N un wissen Sie, wieso mich Orchideen faszinieren», sagt JeanPierre Brütsch. Der leidenschaftliche Hobby-Botaniker, der viel zu erzählen wüsste, von Bastarden und Griechenland, von Jungfernzeugung und Gen-Defekten – ist Präsident der Aargauer Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen (Ageo), die Besitzerin des Orchideenlehrpfades im solothurnischen Erlinsbach ist. Dort blühen von April bis Juni 15 bis 20 verschiedene Arten der formen- und farbenreichen Blumen. Expertenstreit um Zuordnung Betrachten wir die Hummelragwurz (Ophrys holoserica) näher: Innerhalb der Orchideen gehört sie zur Gattung der Das WWF-Alpenprogramm Für die Serie «Wandern mit WWF» arbeiten WWF und «Natürlich» zusammen. In der Serie werden Tiere und Pflanzen vorgestellt, die in Naturgebieten und sogenannten Smaragd-Gebieten vorkommen. Smaragd-Gebiete sind Lebensräume, die im Rahmen des WWF-Alpenprogramms als besonders schützenswert erachtet werden. Mit dem Smaragd-Netzwerk wird die langfristige Erhaltung von bedrohten Arten und Lebensräumen angestrebt sowie Naturschutzlücken geschlossen. Weitere Infos: www.wwf.ch/alpen Bisher erschienen: 6-06: Ringelnatter, Mastrilser Auen GR 7-06: Adonislibelle, Les Grangettes VD 8-06: Murmeltier, Fellital UR 9-06: Hirsch, Schwägalp AI 10-06: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert GE 11-06: Gämse, Stockhorn BE 12-06: Kolbenente, Ermatinger Becken TG 1-07: Biber: Chablais de Cudrefin/Fanel NE 2-07: Wasseramsel: Val Müstair GR 3-07: Feuerwanze: Bois-de-l’Hôpital NE Ragwurzen (Ophrys), sie wachsen auf Magerwiesen und Halbtrockenrasen mit kalkigem Grund, «im November und Dezember stösst die Hummelragwurz ihre Rosetten mit irrsinniger Kraft aus dem Boden», schwärmt Brütsch. Die mehrjährige Pflanze wächst schlank, aber kräftig und hat vier bis sieben grundständige, lanzettenförmige, blaugrüne Laubblätter, die vier bis zehn Zentimeter lang werden. Von Mai bis Juni blühen vier bis zwölf locker am Stängel verteilte Blüten. Zeichnung und Färbung sind von Pflanze zu Pflanze recht variabel: die drei Kelchblätter (Sepalen) und zwei Kronblätter (Petalen) sind weisslich bis hellrot, die Lippe (Labellum) dunkelbraun und trapezförmig 8 bis 12 Millimeter lang, 12 bis 18 Millimeter breit, leicht gehöckert und am Rande pelzig behaart; an der Lippenspitze wächst ein recht grosses Anhängsel. Es sind äusserst verführerische Lippen, wie wir bald sehen werden. Von anderen Orchideen lassen sich Ragwurzen leicht anhand ihrer auffälligen Lippen unterscheiden – sie ähneln einer auf einer Blüte sitzenden Stechimme (Hymenopteren) so stark, dass viele nach ihnen benannt sind: Bei uns heimisch sind Fliegen-, Bienen-, Kleine Spinnen-, Spinnen-, Spätblühende Hummel- und Hummelragwurz; weltweit kennt man 62 Ragwurz-Arten. Zu den Stechimmen gehören übrigens Honigbienen, Hummeln, Wespen, Hornissen, aber auch Ameisen. Insekten – die wahren Experten? Die Bestimmung innerhalb der Gattung ist äusserst schwierig, denn «keine Blüte gleicht der anderen», weiss Brütsch: Wenn man die Extreme einer Art zusammensuche, könne man meinen, es handle sich um verschiedene Pflanzen, «bei der Zuordnung nehmen sich sogar Experten fast am Wickel». Fragen wir einen Experten. Der Botaniker Stefan Schwegler schreibt gerade eine Doktorarbeit über die Hummelragwurz, er erklärt: «Unsere Einteilung erfolgt nach morphologischen Gesichts- punkten, die Pflanzen werden also nach ihrem Aussehen zugeordnet. Seit ein paar Jahren ist auch eine genetische Sichtweise möglich. Diese führte dazu, dass bestimmte Orchideen zu einer anderen Gattung zugeordnet wurden.» So wurde mit dem Fortschritt der Technik aus der Aceras anthropophorum (Ohnhorn) eine Orchis anthropophora – dem Ohnhorn ist das wahrscheinlich egal, nicht aber den Botanikern. Der Evolutionsbiologe Hannes Paulus beschrieb neue Ragwurzarten anhand der bestäubenden Insekten – «diese Methode führte dazu, dass der Mensch die Arten nicht mehr unterscheiden konnte», weiss Schwegler. Interessant aber, wie Paulus überhaupt auf die Idee mit den Insekten kam: Fast alle Ragwurzen sind auf Gedeih und Verderb auf Insekten angewiesen, die sie bestäuben. Im Laufe der Evolution hat sich jede Ragwurz-Art je nach Habitat auf einige nahe verwandte Insekten konzentriert, die Hummelragwurz auf die Langhornbiene, eine hummelartige Wildbiene mit äusserst langen Fühlern. Im Gegensatz zu Honigbienen leben Wildbienen nicht sozial und kaum sind sie geboren, machen sich die einzelgängerischen Männchen auf die Suche nach einer Partnerin. Bienenweibchen schlüpfen jedoch meist einige Tage bis wenige Wochen später. Diese Zeit nutzen Ragwurzen listig aus. Verführerischer Duft Im Laufe der Evolution haben sie gelernt «genau das gleiche Pheromon zu produzieren, mit dem das Insektenweibchen das Männchen verführt», staunt Brütsch. Paulus hat Original und Imitat mittels Gaschromatografie untersucht. Er kam zum Schluss: Die Duftstoff-Mimikry ist perfekt. Das Sexualparfüm der weiblichen Biene und das Orchideen-Generika bestehen aus etwa 200 verschiedenen Duftstoffmolekülen, die zwölf für die Anlockung entscheidenden sind identisch. Jedoch: «Sobald Weibchen fliegen, hat die Ragwurz keine Chance mehr», sagt Schwegler. Natürlich | 4-2007 35 Fotos: Andreas Krebs Wandern mit WWF NATUR Das Schutzgebiet von nationaler Bedeutung umfasst 19 000 Quadratmeter, 6500 sind öffentlich zugänglich. Den Besucher erwarten 15 bis 20 Orchideenarten auf prächtigen Trocken- und Magerwiesen an steilem Hang; der Kalkboden trocknet im Sommer stark aus, bei Regen ist der Besuch nicht empfehlenswert. Das Gebiet ist auch ein Paradies für Schmetterlinge (37 Arten wurden gezählt), Brutvögel, Fledermäuse, Feuersalamander und viele Arten mehr. Von April bis Anfang Juni bietet die Ageo Gruppenführungen an. Im Herbst mähen Mitglieder und andere Interessierte die Grasflächen und schneiden Sträucher zurück, so verhindern sie die Verbuschung, die grösste Gefahr für Orchideen. Wanderung zum Lehrpfad Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA071143) Vom Bahnhof Aarau aus ist man in 20 Minuten an der Aare – wenn man nicht in der schmucken Altstadt verweilt. Der Aare flussaufwärts folgen Richtung Erlinsbach (Wegweiser). Die Uferauen sind überraschend wild, es gibt Schilf, menschengrosse Weidenrosen und Kiesbänke mit gestürzten Stämmen, auf denen Entenfamilien sitzen. Das Wasser ist abwechselnd tümpelig ruhig und rauschend eilig. Von Zeit zu Zeit erhascht man einen Blick auf den Jura, am Horizont tauchen Belchen, Homberg und Allerheiligenberg auf. Nach knapp drei Kilometern erreicht man das Stauwehr von Schönenwerd, dort trennt sich der Kanal von der alten Aare, dahinter ist der Fluss nun wieder komplett. Wir aber überqueren die Aare beim Stauwehr und verlassen sie Richtung Norden, wo wir bald nach Erlinsbach kommen. Nun müssen wir 1,5 Kilometer durch das Dorf gehen, bis zur Bushaltestelle Sagi. Ab dort weisen Schilder den Weg zum Orchideenlehrpfad; der wird gepflegt von der Aargauer Arbeitsgruppe Einheimische Orchideen (Ageo). 3 2 Die Wiesen wurden nie angesalbt, heisst, «wir geben einfach Sorge zu dem, was hier natürlich vorkommt», sagt Brütsch. Eine der seltensten hier gedeihenden Pflanzen sei die unauffällige Natterzunge (Ophioglossum vulgatum), sie gehört zu den Farnen, «eine extrem urtümliche Pflanze». Vom Lehrpfad aus kann man entweder auf demselben Weg nach Aarau zurückkehren oder man wandert weiter nach Küttigen. Von dort fährt ebenfalls ein Bus nach Aarau. Hinweise: • Bei schlechtem Wetter ist der Besuch nicht ratsam • Markierte Wege nicht verlassen • Beim Fotografieren Nachbarpflanzen schonen • Hunde müssen an dafür vorgesehenen Pfosten unterhalb des Lehrpfades angebunden werden 1 ■ Orchideenlehrpfad Obererlinsbach ➊ Bahnhof, Bus Nr. 1 nach Küttigen, Bus Nr. 2 nach Obererlinsbach ➋ Bushaltestelle Sagi, Obererlinsbach ➌ Bushaltestelle Post, Küttigen Natürlich | 4-2007 37 Foto: Bildagentur Waldhäusl Fotos: Arco images Bis 40 Zentimeter hoch: Fliegen-Ragwurz Hummel-Ragwurz (Ophrys holosericea) In der konkurrenzfreien Zeit jedoch kann das Männchen der Ragwurz nicht widerstehen. Zuerst wittert es den verlockenden Duft, schnell findet es die Quelle der Betörung, entdeckt die wohlgeformten Umrisse einer vermeintlichen Partnerin und summdiwupp landet das paarungswillige Männchen auf der Ragwurz. Mit ihrer behaarten Lippe imitiert die sogar den Haarstrich der Biene, an dem sich das Männchen bei der Begattung ausrichtet, «immer mit dem Kopf nach vorne», weiss Schwegler. Und dann: vor und zurück, vor und zurück. «Zwei bis dreimal», sagt Brütsch, «dann merkt die Biene, dass etwas nicht stimmt.» Der Ragwurz reicht das. Sie hat dem Männchen eines ihrer Pollinarien an den Kopf geklebt, das sind zwei bis vier Millimeter lange Fäden, an denen ein Beutelchen (Bursiculae) voller Pollen hängt. Irrtümer der Tierwelt Das getäuschte Männchen fliegt gehörnt auf und davon, auf der Suche nach einer neuen Partnerin – oder eben einer anderen Ragwurz. Erneut entdeckt es eine Duftspur. Das Männchen summt hin zur Quelle der Betörung, verführerische Lippen, in Form und Farbe einem Langhornbienenweibchen gleich, schon wieder, das Männchen ahnt nichts, landet, richtet sich aus – vor und zurück, vor und zurück. Bis es merkt, dass es schon wieder einem Trugbild aufgesessen ist, hat das Männchen schon neues Leben gezeugt, doch nicht seine Gene hat es weitergegeben, sondern die der listigen Ragwurz. Wandern mit WWF NATUR Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera) Fliegen-Ragwurz (Ophrys insectifera) Im Detail betrachtet ging das so: Etwa fünf Minuten nachdem die erste Ragwurz der Biene das Pollinarium angeklebt hat, bog sich der dünne Faden um rund 90Grad nach unten, «so schiebt die Biene beim nächsten Kopulationsversuch die Pollensäckchen genau in die Narbenlinie der Orphys», erklärt Brütsch. Beziehung auf Gedeih und Verderb Schiebt die Biene die Pollen in die Narbenhöhle einer anderen Art, können Hybriden entstehen, «die meisten Hybriden pflanzen sich nicht fort», weiss Brütsch, «die der Ophrys oft aber schon.» Tatsächlich ist bei Orchideen die Bastardisierung weit verbreitet, selbst Mehrfachhybriden sind möglich. Das sei für die Evolution der Gattung wichtig, erklärt Schwegler, denn so entstünden neue Arten, manche setzten sich gegenüber den Eltern durch und könnten sie gar verdrängen. «Orchideen sind die jüngste Spinnen-Ragwurz (Ophrys sphegodes) Pflanzenfamilie überhaupt, sie suchen ihre Form noch.» Die bestäubte Ragwurz bildet Samenkapseln aus, «das kostet die Pflanze sehr viel Energie», weiss Schwegler: «Wenn sie in einem Jahr drei Kapseln bildet, wird sie im nächsten Jahr oft nicht so gross. Und sie stirbt früher.» In jeder Kapsel sind staubfeine Samen, Schwegler hat sie gezählt, drei- bis viertausend bei der Hummelragwurz. «Viele enthalten jedoch keinen Embryo», sagt er, Nährstoffe fehlen sowieso, «der Same besteht nur aus der Geninformation und einem netzartigen Gewebe.» So kann er nur spriessen, wenn ihn der Wind zu einem bestimmten Pilz trägt und der in den Samen hineinwächst und so Nährsalze und Wasser liefert; der Pilz erhält später einen Teil der Assimilate, die die Orchidee mittels Photosynthese erzeugt. Man nennt diese Beziehung Symbiose. Bisher wurden bei Orchideen über 35 verschiedene Pilze nachgewiesen. Bei vielen Arten ist es eine lebenslange Beziehung, mitunter eine problematische: «Ist der Pilz zu stark, tötet er die Ragwurz, ist er zu schwach, kann er sie nicht ernähren», erklärt Brütsch. ■ gab es 2003 etwa 216 Hektaren überglaste Anbaufläche für die Produktion von Orchideen; im selben Jahr betrug in den USA der Umsatz durch getopfte Orchideen 121 Millionen US-Dollar; in der Schweiz verkauft der grösste kommerzielle Züchter, Hanspeter Meyer aus Wangen ZH, rund 400 000 dieser exotischen Blütenpflanzen jährlich. In 16 000 Quadratmeter Gewächshäusern stehen eine halbe Million Pflanzen, insgesamt über 200 Sorten. Während viele tropische Orchideen auf Bäumen wachsen (Epiphyten), sind die etwa 75 Arten der Schweiz alle bodenständig. «Es ist die einzige Familie, die bei uns unisono geschützt ist», sagt Stefan Schwegler. Wie sinnvoll das ist, sei fraglich, denn Artenschutz alleine bringe nicht viel, «die Biotope müssen geschützt werden». «Orchideen sind angewiesen auf ein funktionierendes extrem komplexes Netz», bestätigt JeanPierre Brütsch. Viele Orchideen sind gefährdet, einige stehen kurz vor dem Aussterben. Wer zu ihrem Schutz beitragen will, melde Standorte der Ageo, «die haben eine gut geführte Datenbank», sagt Schwegler. Und: «Solchen Arbeitsgruppen kann man bei den Pflegemassnahmen helfen.» I N FO B OX Adressen Ageo, Jean-Pierre Brütsch, Steinbühlweg 10, 4123 Allschwil, www.ageo.ch Literatur zum Thema • Lehrpfad-Heft, 10 Franken, bestellen bei Jean-Pierre Brütsch, Telefon 061 481 41 11, [email protected] • Wartmann: «Die Orchideen der Schweiz – Ein Feldführer mit 20 praktischen Exkursionsvorschlägen», Edition Sternenvogel 2006, ISBN 3-907876-03-2, Fr. 44.80 • Reinhard/Gölz/Peter: «Die Orchideen der Schweiz und angrenzender Gebiete», Schweizer Naturschutzbund 1991, ISBN 3-905647-01-3, Fr. 86.90 • Baumann/Künkele/Lorenz: «Orchideen Europas», Ulmer Naturführer 2006, ISBN 3-8001-4162-3, Fr. 34.90 • Presser: «Die Orchideen Mitteleuropas und der Alpen», Verlag Ecomed 2000, ISBN 3-609-65602-1, Fr. 150.– Orchideen Weltweit sind 20 000 bis 35 000 Orchideenarten bekannt, keine andere Familie hat ein derart breites Spektrum an Farben und Formen hervorgebracht – und Natur und Mensch tüfteln weiter. Waren im 19. Jahrhundert Orchideen ein Luxus betuchter Menschen, sind sie heute für fast jeden erschwinglich. Züchter haben aus den anspruchsvollen Exoten zimmertaugliche Geduldswunder entwickelt – ein Milliardengeschäft: Von 1991 bis 2000 hat sich die Menge der in Deutschland invitro produzierten Orchideen von 2,5 Millionen auf über 12 Millionen Pflanzen gesteigert; in Holland Natürlich | 4-2007 39