Staat, Kirche und Gesellschaft Anhalts im Zeitalter der Konfessionalisierung Aspekten dieser Sonderentwicklung. Im Mittelpunkt stehen Entwicklung und Profilierung der anhaltischen Landeskirche im 16. und 17. Jahrhundert unter und mit den Fürsten Georg III., Joachim Ernst und Christian I. von Anhalt-Bernburg auf der landesherrlichen Ebene sowie das Wirken maßgeblicher Theologen wie Johann Arndt und Wolfgang Amling. Durch den Vergleich mit anderen Territorien enthält der Band mit seinen zwölf Beiträgen auch eine gewisse komparatistische Komponente. Lück | Breul (Hrsg.) Im Jahr 2012 jährte sich zum 800. Mal die Erwähnung Anhalts als verfassungsgeschichtlich fassbares Territorium. Der kleine Territorialstaat in der Mitte Deutschlands weist eine interessante Kirchengeschichte auf, die unübersehbar mit der Theologie Melanchthons und calvinistischen Einflüssen verbunden ist. Die hier dokumentierte Tagung, welche in den Räumen des Gymnasiums »Francisceum«, dem einstigen Sitz der Hohen Schule zu Zerbst, stattfand, widmete sich verschiedenen ISBN 978-3-374-04173-2 9 783374 041732 EUR 68,00 [D] Heiner Lück | Wolfgang Breul (Hrsg.) Staat, Kirche und Gesellschaft Anhalts im Zeitalter der Konfessionalisierung Staat, Kirche und Gesellschaft Anhalts im Zeitalter der Konfessionalisierung Staat, Kirche und Gesellschaft Anhalts im Zeitalter der Konfessionalisierung Beiträge des Kolloquiums vom 19. bis 22. September 2012 in Zerbst Herausgegeben von Heiner Lück und Wolfgang Breul unter Mitarbeit von Martin Olejnicki und Anne-Marie Heil EVANGELISCHE VERLAGS ANSTALT Leipzig Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Landeskirche Anhalts und der LEUCOREA: Stiftung des öffentlichen Rechts an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany · H 7939 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Cover: Zacharias Bähring, Leipzig Coverabbildung: L ucas Cranach d. J., Abendmahl, Epitaphbild für Fürst Joachim von Anhalt, 1565, Johanniskirche Dessau © Evangelische Landeskirche Anhalts, Kirchengemeinden St. Johannis und St. Marien Dessau Satz: Peter Junkermann, Halle/Saale Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-374-04173-2 www.eva-leipzig.de Vorwort Jubiläen sind möglicherweise nur für denjenigen interessant, der sie feiert. Bei den ersten Planungen zum Jubiläum „Anhalt 800“ schien diese Erkenntnis bestimmend zu sein. Wer würde sich schon für einen längst nicht mehr existierenden Kleinstaat in der Mitte Deutschlands interessieren, der zwar noch namensgebend für das Bundesland Sachsen-Anhalt ist, dessen einzig bestehende öffentlich-rechtliche Form aber durch die Evangelische Landeskirche Anhalts repräsentiert wird. Im Zuge der Vorbereitungen wurde es für eine ganze Region immer wichtiger, mit Blicken in die reiche Geschichte der Region einen Beitrag zur Selbstidentifikation zu leisten. Der vorliegende Tagungsband zeigt exemplarisch, welche Themen der Geschichte ihre Relevanz auch in der Gegenwart nicht verloren haben – Bildung und Toleranz seien genannt. Zugleich stehen wir auch vor der Aufgabe, das Verhältnis zwischen Kirche und Staat immer wieder neu justieren zu müssen. Es wäre geschichtsvergessen, dabei historische Bezüge auszublenden. Gerade der religionsneutrale säkulare Staat bedarf einer Fundamentierung, die er selbst nicht geben kann. Die Perspektive eine fortschreitenden Laizität ist dabei keine Option. Der Diskurs der Tagung hatte diesen Horizont stets im Blick. Mit Genugtuung und Freude kann nun der Tagungsband vorgelegt werden, der gewiss eine interessierte Leserschaft finden wird und damit der eingangs geäußerten Vermutung widerspricht, Jubiläen interessierten nur die Jubilare. Zu danken ist allen, die die Mühen der Vorbereitung und Durchführung auf sich genommen haben, namentlich sei in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Heiner Lück (Juristische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Vikar Martin Olejnicki, Frau Rechtsreferendarin Kristin Kliemannel, Frau Rechtsreferendarin Carolin Krauel, Frau stud. theol. Sibylle Schneider (Evangelisch-Theologische Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz), dem Gymnasium Francisceum und seinem Förderverein, der Stadt Zerbst sowie dem Förderverein Schloss Zerbst gedankt. Joachim Liebig Kirchenpräsident der Evangelischen Landeskirche Anhalts im März 2015 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 9 Herman J. Selderhuis Die Faszination des Calvinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ulla Jablonowski Die anhaltische Landeskirche vom Tode des Fürsten Georg III. (1553) bis zum Tode des Fürsten Joachim Ernst (1586) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Joachim Castan Calvinismus und Philippismus an Anhalts erster Hochschule. Das Gymnasium illustre in Zerbst im konfessionellen Zeitalter . . . . . . . 51 Martin Olejnicki Konfessionswechsel in Anhalt. Beobachtungen anhand der Tätigkeit der Superintendenten Wolfgang Amling (1542–1606) und Johann Dürre (1613–1689) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Andreas Erb Das Anhaltische Gesamt-Archiv. Ein bedeutendes Quellencorpus zur Reformation und Konfessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Wolfgang Breul Johann Arndt (1555–1621) und der Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Erhard Hirsch Überwindung und Ende der „Konfessionalisierung“ in der anhalt-dessauischen Toleranzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 8 Inhaltsverzeichnis Holger Thomas Gräf Konfessionalisierung und das Werden des dynastischen Fürstenstaates. Hessen-Kassel im 16. und frühen 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Jan Brademann Geduldet und getrennt vereint. Zur gesellschaftlichen Praxis reformiert-lutherischer Koexistenz im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel Anhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Ulrike Ludwig Kursachsen und Anhalt. Personelle Verbindungen im konfessionellen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Klaus Voigtländer † Fürst Christian I. von Anhalt-Bernburg im Lichte seiner Untertanen . . 245 Heiner Lück Roland und „Butterjungfer“. Urbane Zeichen Zerbster Selbstbewusstseins und Identität. Mit einer Neuedition der Zerbster Gerade-Willkür von 1375 sowie deren Übertragung ins Neuhochdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der geographischen Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 333 Autorenverzeichnis Dr. Brademann, Jan c/o Prof. Dr. Suter, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie u. Theologie, PF 100131, 33501 Bielefeld e-mail: [email protected] Prof. Dr. Breul, Wolfgang Evangelisch-Theologische Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität, 55099 Mainz e-mail: [email protected] Dr. Dr. Castan, Joachim Hardinghausstr. 24, 49090 Osnabrück e-mail: [email protected] Dr. Erb, Andreas Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Dessau, Heidestr. 21, 06842 Dessau-Roßlau e-mail: [email protected] Prof. Dr. Gräf, Holger Thomas Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Wilhelm-Röpke-Str. 6C, 35032 Marburg e-mail: [email protected] Prof. Dr. Hirsch, Erhard Fischer-von-Erlach-Str. 11, 06108 Halle an der Saale e-mail: [email protected] Dr. Jablonowski, Ulla Linzer Str. 45, 06849 Dessau-Roßlau Dr. Ludwig, Ulrike Stiftung Leucorea, Collegienstr. 62, 06886 Lutherstadt Wittenberg e-mail: [email protected] 10 Autorenverzeichnis Prof. Dr. Lück, Heiner Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, 06099 Halle an der Saale e-mail: [email protected] Dipl.-Theol. Olejnicki, Martin Antoinettenstr. 14, 06366 Köthen (Anhalt) e-mail: [email protected] Prof. Dr. Selderhuis, Herman J. Theologische Universiteit Apeldoorn, Wilhelminapark 4, NL-7316 BT Apeldoorn e-mail: [email protected] Dr. Voigtländer, Klaus † Die Faszination des Calvinismus von Herman J. Selderhuis 1. Einführung Über den Titel meines Vortrages habe ich mich sehr gefreut. Ich darf das sagen, weil der Titel nicht von mir ist, sondern mir aufgegeben wurde. Oft nämlich passiert es, dass ich mich von Anfang an verteidigen muss gegen Karikaturen und apologetisch das Gute des Calvinismus hervorheben muss. Von dem letzten scheinen die Organisatoren dieser Tagung – so zeigt der Titel – also schon überzeugt zu sein und das war man hier in Anhalt auch schon lange, obwohl Johann Georg I. sich auch hat verteidigen müssen gegen Vorwürfe, das lutherische Erbe verraten zu haben. Er hat sich durchgesetzt, weil er vom Calvinismus fasziniert war. Oder war er so von seiner Frau Dorothea fasziniert, dass die Einführung des Calvinismus von ihrer Seite Ehebedingung war?1 Es hat ja immer – bis heute – Männer gegeben, die, um die Braut zu werben oder der Gattin zu gefallen, sehr weit gegangen sind. Und in Anhalt sind es sogar zwei calvinistische Frauen, da ja auch die Gräfin Anna von Bentheim-Tecklenburg Gattin von Fürst Christian wird, im gleichen Jahr 1595, in dem Georg und Dorothea, Tochter des Pfalzgrafen Johann Casimir, sich verheiraten. Ist das jetzt Frauen-Power oder Calvinismus-Faszination? War es die Liebe oder doch der Glaube, oder vielleicht noch Anderes, das den Fürsten zum Calvinismus brachte? 2. Keine Selbstverständlichkeit Selbstverständlich war es sicher nicht, dass man sich in diesem Zeitalter zum Calvinismus bekannte, denn besonders in vielen lutherischen Gebieten galten Calvinisten als Kriminelle und es gibt viele Beispiele von calvinistischen oder kryptocalvinistischen Theologen, die vertrieben oder zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Calvin war besonders wegen seiner Abendmahlslehre und seiner Prädestinationslehre verdächtig gemacht worden und unter Verdacht 1 Johann Georg hat bestätigt, „daß dieses Ereignis ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen ist.“ Joachim Castan, Hochschulwesen und reformierte Konfessionalisierung. Das Gymnasium Illustre des Fürstentums Anhalt in Zerbst, 1582–1652, Studien zur Landesgeschichte 2, Halle/Saale 1999, 72. Unklar ist, ob sich dies auch auf seine konfessionelle Position bezieht. 12 Herman J. Selderhuis standen also auch diejenigen, die von seiner Lehre fasziniert waren. Exemplarisch für das Verhältnis zu den Anhängern Calvins ist folgendes Zitat über Calvin: „Calvin, Verfolger, Feind, so muss ich dich jetzt nennen. Der Feindschaft schwarzes Gift, das finster Irrthum sendet, hat nun durch dich Calvin! Ihr schröcklich Werk vollendet.“ Dieses Urteil des Nürnberger Gelehrten Christoph Gottlieb von Murr (1733– 1811)2 hat eine alte Tradition, denn Ende des 16. Jahrhunderts meldete ein Bauer seinem lutherischen Pfarrer, er habe nachts eine Hexe um sein Haus fliegen sehen. Als er gebeten wurde, die Hexe zu beschreiben, erzählte er, sie habe verdächtige Ähnlichkeit mit Calvin gehabt. Im damaligen Calvinbild ist Calvin ein unbarmherziger und herzloser Mann, ein Ketzerjäger, der niemanden verschonte, der seine Feinde vor sich hertrieb, aber auch seinen Anhängern einen Lebensstil ohne jegliche Freude aufzwang. Das alles passte in die Kritik, dass Calvins Abendmahlslehre zwinglianisch und damit gefährlich, sogar ketzerisch war, dass seine Prädestinationslehre einen schrecklichen Gott und eine furchterregende Heilsungewissheit mit sich brachte und dass deshalb der Calvinismus nicht unter dem Schutz des Augsburger Religionsfriedens fallen könnte. Wichtig war vor allem, dass die Idee entstanden war, dass Calvin grundsätzlich von Luther abweiche und diese Idee wurde gefüttert durch die Beurteilung Melanchthons, der Calvins Positionen nahe stand und ja auch den Verdacht auf sich geladen hatte, nicht in Luthers Spur zu bleiben. Gerade die juristisch unsichere Position der Calvinisten im Reich sowie die vermeintliche Lebenshaltung, in der jeder Genuss Sünde und Gesetzesgehorsam von Kind an Tagesprogramm ist, macht fraglich, wieso es so viele gegeben hat – und noch gibt – die sich zum Calvinismus bekannten. Und ob es wegen Dorothea war oder nicht –, wieso hat Georg, der doch lebens- und glaubensfreudig war, diesen Calvinismus angenommen? Na eben, weil Calvinismus faszinierte und als eine fortschrittliche und kulturell und wirtschaftlich ertragreiche Konfession galt, aber auch, weil es viele gab, die die Theologie Calvins und besonders seine Abendmahlslehre für richtig hielten. Bevor ich aber auf die Faszination eingehe, muss jetzt erst klar gemacht werden, was unter Calvinismus zu verstehen sei, denn auch das ist ein wenig komplex. 2 Zitat in Johann Lorenz von Mosheim, Versuch einer unparteiischen und gründlichen Ketzergeschichte, Bd. 2, Helmstedt 1746, ND mit Einleitung hrsg. von Martin Mulsow, Hildesheim 1998, Einleitung, 9. Die Faszination des Calvinismus 3. 13 Verwirrung „Heutiges Tages wollen sie diesen Nahmen nicht gerne mehr hören […]“. Dieses Zitat aus dem bekannten Lexikon von Zedler stammt aus dem Jahre 1754.3 Zedler erklärt, was man unter dem Begriff „Calvinisten“ versteht und stellt fest, dass dessen Ursprung sowohl bei Zwingli als auch bei Calvin zu suchen ist, da Calvin nach Zwinglis Tod der Nachfolger von dessen, von Luther abweichender, Abendmahlslehre wird. Anschließend schreibt Zedler, dass Calvinisten in Frankreich Hugenotten und in England Puritaner heißen, aber dass sie im Deutschen Reich eher Reformierte genannt werden. Diese Erklärung von Zedler enthält in wenigen Worten alle Elemente der Komplexität, die augenscheinliche Unbrauchbarkeit und Unhaltbarkeit des Begriffs Calvinismus als Inbegriff dessen, was eigentlich reformierter Protestantismus heißen müsste. Die Worte im Lexikon zeigen übrigens sofort, dass es den so genannten Calvinisten Mitte des 18. Jahrhunderts noch lange nicht gelungen war, von diesem Namen und der damit verbundenen Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit loszukommen. Und gleichermaßen war es offensichtlich noch immer so, dass Nachschlagewerke sich noch immer leiten ließen von den 200 Jahre zuvor aufgestellten Stereotypen, für die Luther die Norm und die lutherische Abendmahlslehre ein Schibboleth ist. Dieser Luther-Norm, in der erst durch andere als Luther selbst festgelegt wurde, was und was nicht lutherisch sei und dass Luther und die Reformation eigentlich Synonyme seien, ist bereits der frühe Melanchthon zum Opfer gefallen4 und diesem Schicksal sind viele gefolgt. Ebenso wie das Wort „lutherisch“ von katholischer Seite als Schimpfname – insbesondere von Eck und Erasmus – für die Anhänger Luthers entstand, entstand von lutherischer Seite der Begriff „Calvinismus“, um zu verdeutlichen, dass man sich nachdrücklich von der reformierten Abendmahlsauffassung als nicht lutherisch und somit nicht-reformatorisch distanzieren wollte.5 Ausgehend von dieser Auffassung werden die Calvinisten im 16. Jahrhundert in Pamphleten und Illustrationen als gefährliche Ketzer, unbiblische Rationalisten und unglaubwürdige Kirchenpolitiker6 dargestellt, so dass der Calvinismus seither aus diesem Kontext vor allem in der gnesio-lutherischen Tradition nur negativ gedeutet werden kann. Die Karikaturen zeigten damals schon früh Ergeb3 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Suppl. 4, Leipzig 1754, 1290. 4 Melanchthon könnte alleine stehen, wenn es Luther nicht gegeben hätte. 5 Siehe u.a. Heinrich Heppe, Ursprung und Geschichte der Bezeichnungen „reformierte“ und „lutherische“ Kirche, Gotha 1859; Uwe Plath, Zur Entstehungsgeschichte des Wortes ‚Calvinist‘, in: ARG 66 (1976), 213–123. 6 Hellmut Zschoch, Das Bild des Calvinisten, Zur polemischen Publizistik im konfessionellen Zeitalter, in: Thomas K. Kuhn/Hans-Georg Ulrichs (Hrsg.), Reformierter Protestantismus vor den Herausforderungen der Neuzeit, Wuppertal 2008, 19–46. 14 Herman J. Selderhuis nisse, denn 1571 wurde die Frage gestellt, „ob die Calvinisten (wie sie genannt werden) als Christen und Brüder zu betrachten sind.“ Und es wurde die Meinung verbreitet, dass der Calvinismus noch riskanter als der Islam sei. Es ist also verständlich ist, dass die Calvinisten lieber nicht so benannt werden wollten. Gleichwie Luther Bedenken gegen den Namen „lutherisch“ hatte, hatte Calvin Bedenken gegen den Begriff „Calvinismus“.7 Bereits 1555 protestierten die Prediger in Lausanne gegen die Bezeichnung „Calvinisten“.8 Calvinisten in der Pfalz nannten sich stets ausdrücklich „reformiert“. So spricht Daniel Tossanus von „orthodoxen Kirchen, die von böswilligen Menschen gehässig calvinistisch genannt werden.“9 „Andere nennen uns Calvinisten, aber wir sind die katholische evangelische Kirche [...]“, so Tossanus.10 „Darüber hinaus sind wir weder im Namen Luthers, noch im Namen Calvins, sondern im Namen Christi getauft.“.11 Und David Pareus beklagt sich über die „Erwegung deren Theologen meynung, die sich nicht schewen, Evangelische Herrschaften zu bereden, dass sie lieber mit den Papisten, und dem Römischen Antichrist, als mit den Reformirten Evangelischen, die sie aus hass Calvinisch nenen, Gemeinschaft haben sollen“.12 Auch Abraham Scultetus spricht von sich selbst als reformiert, fügt allerdings noch hinzu, dass es die Lutheraner seien, die die Reformierten Calvinisten nennen.13 Dass es aus der Pfalz sowie aus Anhalt Widerstand gegen den Begriff gab, hatte auch mit der politischen Notwendigkeit zu tun, klarzustellen, dass man nicht zu einer von Luther abweichenden Gruppe gehörte, die aus dem Augsburger Religionsfrieden fiel und somit de facto illegal war. Der Begriff „Calvinismus“ sorgt also schon seit Jahrhunderten für viel Verwirrung und der Bedarf nach Aufklärung, wovon genau denn nun eigentlich die Rede ist, ist groß. Seit einigen Jahrzehnten ist allerdings wohl die Einsicht gewachsen, dass es von Belang ist, gut zu prüfen, ob und wann der Begriff gebraucht, theologisch, politisch, kulturell oder soziologisch belegt wird, denn in jeder dieser Kategorien bekommt „Calvinismus“ eine andere Brisanz und innerhalb jeder dieser Kategorien gibt es wieder eigene Diskussionen über den Wert und die Bedeutung des Begriffs. Man spricht nicht mehr von „Calvinismus“ sondern von „Calvinismen“, wobei das verbindende Element innerhalb dieser 7 Calvins Bedenken gegen den Begriff: CO IX, 41 (Secunda Defensio). 8 CO XV, 588 (br. 2195), vgl. 837 (br. 2331). 9 Daniel Tossanus, De ea parte praedestinationis divinae, quam reprobationem vocant. Theses Aplogeticae, Heidelberg 1586. 10 „… wider die genante Calvinianer/ das ist/ wider unsere Catholische Evangelische Kirche …“, Daniel Tossanus, Warhaffter Bericht, Von der Vorgenomenen verbesserung in Kirchen vnd Schulen der Churfürstlichen Pfaltz […], Neustadt/H. 1584, 16; „[…] Prediger der Catholischen Evangelischen (so sie odiose Calvinisch nennen) […]“, ebd., 101. 11 Ebd., 98. 12 Titel eines seinem Irenicum entnommenen Werks. David Pareus, Erwegung deren Theologen meynung, die sich nicht schewen […], Heidelberg 1620. 13 „… mit den reformierten, so sie Calvinisch nennen …“, Vialia 12. Die Faszination des Calvinismus 15 Vielfalt in der Ablehnung der Trienter Theologie liegt. So definiert F. W. Graf beispielsweise: „Calvinismus ist diejenige Sozialgestalt des neuzeitlichen Christentums, in dem der Gegenentwurf zum tridentinischen Katholizismus in theologischer Lehre, Kirchenordnung, gelebtem Ethos und auch idealer politischer Ordnung mit folgenreicher Konsequenz ausgearbeitet und immer neu heilsaktivistisch gelebt wurde.“.14 So interessant dieser Versuch auch ist, es erweist sich als problematisch, dass das hier Gesagte nicht allein für den Calvinismus gilt, sondern auch für die Wiedertäufer, den nichttridentinischen Katholizismus und selbst für das Luthertum. Obendrein wird in dieser Definition inhaltlich so wenig gesagt, dass die Unklarheit über den Begriff dadurch nicht geringer wird. Als dritter Einwand gegen diese Definition ist zu nennen, dass der Calvinismus hier als ausschließende Reaktion, also als Gegenentwurf gesehen wird. Um Calvinismus zu definieren, ist aber einfach mehr nötig, als ein langer Satz. Wenn aus dieser Unklarheit dann die Frage gestellt wird – und auch gestellt werden muss – ob der Begriff denn überhaupt brauchbar sei, wird von Graf angeführt, dass „Calvinismus als konfessionstypologischer Begriff unverzichtbar“ sei, wofür dann als Grund angegeben wird, dass er als ein Idealtypus gut brauchbar neben den beiden anderen frühneuzeitlichen Konfessionskulturen, nämlich dem Luthertum und dem tridentinischen Katholizismus, ist.15 Wie nachvollziehbar diese Argumentation auch sein mag, es besteht dennoch die Frage, ob auf der Grundlage der neueren Einzelstudien noch derart überzeugend von drei Konfessionskulturen gesprochen werden kann, als wären diese seinerzeit so verschiedenartig oder gar unschwer erkennbar gewesen. Und selbst wenn es so sein sollte, ist der Begriff „Calvinismus“ nach Meinung Einiger nicht unverzichtbar und sollte auch ersetzt werden können – und vielleicht sogar müssen – durch „reformierter Protestantismus“. Diese Lösung des Problems ist verständlich, auch wegen der Tatsache, dass die vielen und sehr wertvollen Studien, die in den letzten Jahren im Rahmen des Konfessionalisierungsparadigmas durchgeführt wurden, zu einem freien, undifferenzierten und manchmal verwirrenden Umgang mit der Bezeichnung „calvinistisch“ geführt haben. Trotzdem ist der Begriff „Calvinismus“ immer noch die beste Bezeichnung derjenigen Theologie, die sich von Luther aus über Melanchthon, Calvin und Bullinger zu einer dritten konfessionellen Lebenshaltung und Weltauffassung neben Katholizismus und Luthertum entwickelt hat. Calvin war ein Reformator der zweiten Generation und hatte daher die Möglichkeit, Elemente aus Luthers, Zwinglis und dem reformierten Protestantismus aufzunehmen und selbständig zu verarbeiten. 14 Friedrich Wilhelm Graf, Vorherbestimmt zu Freiheitsaktivismus. Transformationen des globalen Calvinismus, in: Ansgar Reiss/Sabine Witt (Hrsg.), Calvinismus: Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, 384–391, hier 384. 15 Ebd., 384. 16 Herman J. Selderhuis Wenn „Calvinismus“ als die Sicht auf Kirche, Theologie, Staatsgestaltung, Kunst und Kultur, die daraus hervorgegangen ist, gesehen wird, hat man in diesem Wort auch die volle Breite des ursprünglichen reformierten Protestantismus und de facto des gesamten Protestantismus. Aber nochmals, dann muss von Karikaturen des 16. Jahrhunderts ebenso abgesehen werden, wie von moderner und zeitgenössischer Beschränktheit. 4. Verbreitung Die Verbreitung des Calvinismus im 16. Jahrhundert ist bezogen auf Zeitraum und Umfang beachtlich zu nennen. So gab es 1554 etwa eine halbe Millionen Reformierte. 1600 waren es bereits zehn Millionen. Benedict nennt dies in seinem Übersichtswerk „nothing short of remarkable“16, eine Bemerkung, die impliziert, dass eine solche Ausbreitung eigentlich nicht zu erwarten war. Das ist in gewisser Hinsicht korrekt. Die Verfolgung von Reformierten in Frankreich, Italien und Spanien sowie der politische und auch militärische Druck, dem Reformierte im Deutschen Reich ausgesetzt waren, waren bedeutende Faktoren, die eine Verbreitung eigentlich unmöglich hätten machen sollen. Daneben sind die direkten Kontakte zwischen Calvin und den calvinistischen Gebieten oft sehr begrenzt. So hatte Calvin zum Beispiel keinen unmittelbaren Kontakt mit den Niederlanden. Seine Frau stammte aus den südlichen Niederlanden, er schrieb ein Werk gegen Coornhert und in Genf studierten niederländische Studenten – darauf beschränkt sich der Kontakt. Mit Deutschland verhielt es sich nicht viel anders und es war sogar so, dass die Reformierten in Deutschland oft ganz und gar nicht als Calvinisten bezeichnet werden wollten, obwohl sie es doch offensichtlich waren.17 Trotz Karikaturen, Verfolgung und beschränktem direkten Einfluss Calvins, hat sich der Calvinismus in Europa und seit dem 17. Jahrhundert weltweit also schnell verbreitet und ist nach dem Katholizismus heute noch die zweitgrößte christliche Konfession. Die geographische Ausbreitung des Calvinismus in Deutschland ist einer Zahl von aktiven und begeisterten Landesherren zu verdanken. Obwohl ihre Zahl und der Umfang ihrer Gebiete verhältnismäßig gering sind, war die Bedeutung dieser Fürsten und Gebiete für politische, kultu- 16 Philip Benedict, Christ's Churches Purely Reformed: A Social History of Calvinism, New Haven/London 2002, 281. Für einen Gesamtüberblick immer noch hilfreich: John T. McNeill, The History and Character of Calvinism, Oxford 1954. 17 Zur Geschichte des Calvinismus in der Pfalz: Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz. Neuzeit 2, Stuttgart 1992, 35–80. Die Faszination des Calvinismus 17 relle und kirchliche Entwicklungen unverhältnismäßig groß.18 Dazu kommt eine immense intellektuelle Ausbreitung, die sich über die calvinistischen Universitäten, Hohen Schulen und Akademien durchsetzte. Geografisch wie intellektuell ist Anhalt ein höchst interessantes Vorbild19 und die Frage ist, was Anhalt und andere Gebiete zum Calvinismus bewegte. Ich möchte jetzt deshalb einige Gründe nennen für die Faszination des Calvinismus.20 5. Rechtfertigung und Heiligung Angeregt durch die Kritik von sowohl Rom, als auch den Täufern, legt Calvin großen Nachdruck auf die Tatsache, dass es keine Iustificatio ohne Sanctificatio gibt. Er geht darin so weit, dass er in der Institutio die Heiligung noch vor der Rechtfertigung behandelt. Übereinstimmend mit Calvins Überzeugung, dass ein Mensch auf Erden ist, um Gott und dem Nächsten zu dienen, führt Calvin ein Plädoyer sowohl als aktives Bekenntnis zur Bekämpfung der Sünden als auch zu Gunsten eines geheiligten Lebens. Seine Mittel, die Predigt von Gesetz und Evangeliums-Gesetz, Pastorat in Form von Hausbesuchen, gründliche Katechese und die Aufsicht des Kirchenrates durch die Bußzucht, sind hinreichend bekannt. Das gilt weniger für die Tatsache, dass diese Kombination von Rechtfertigung und Heiligung, wobei Calvin im Grunde auf den Grundlagen Luthers, Melanchthons und Erasmus’ aufbaute, eine starke Anziehungskraft hatte in einem Europa, in dem viele, darunter viele Obrigkeiten, nach Wegen für eine ethische Reform und Wiederherstellung von Werten und Normen suchten. Die Bußzucht wurde dabei als ein praktisches Mittel angesehen die europäische Moral zu sanieren, vor allem mit dem säkularen Ziel, den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren, der wiederum für politische und wirtschaftliche Stabilität sorgen konnte. Aber auch für den Einzelnen war diese Verbindung interessant. Schon die modern erscheinende Art, wie Calvin Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis miteinander verbindet, wie etwa die eröffnenden Worte der Institutio hiervon Zeugnis geben, war zu seiner Zeit neu und attraktiv. Diese Beziehung intensiviert sich noch durch die Theologie des Bundes, bei dem Gott und der 18 Eine chronologische Übersicht bietet J. F. Gerhard Goeters, Genesis, Formen und Hauptthemen des reformierten Bekenntnisses in Deutschland. Eine Übersicht in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 195, Gütersloh 1986, 44–59. 19 Ein Überblick der Geschichte des Calvinismus in den verschiedenen Ländern gibt W. Stanford Reid (Hrsg.), John Calvin – His Influence in the Western World, Grand Rapids 1982. 20 Diesen Teil des Aufsatzes findet man auch in meinem Beitrag Calvinus non otiosus. Der unbewegte Beweger und seine Kinder, in: Irene Dingel, Herman J. Selderhuis (Hrsg.), Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, Göttingen 2011, 3–21. 18 Herman J. Selderhuis Mensch zwar nicht als gleichwertige Partner, wohl aber als selbstständige Parteien miteinander verbunden sind in einem innerlichen Vertragsverhältnis, resultierend in gegenseitigen Rechten und Pflichten. Auf diese Weise wird die vom Humanismus und der Renaissance geforderte Beachtung des Wertes des individuellen Menschen honoriert, ohne dass dies auf Kosten des göttlichen Primats ginge. Im Rahmen dieses Bundes macht die Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung diese Theologie noch mehr zu einer Theologia practica. Dieses Hinweisen auf die Notwendigkeit der Heiligung als Folge der Rechtfertigung führte zu einer aktiveren Lebenshaltung, die sich auch auf den Gebieten von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft auswirkte. Der Calvinismus fand seine Attraktivität auch in seiner Offenheit für und sogar seinen Reiz zu Modernisierung. Die Entfaltung des Individuums, das Wagen von neuen Initiativen, die Offenheit für das Erforschen von neuen Weltteilen und von neuen Gewerbegebieten, Märkten und finanziellen Modellen geht auch auf diese Idee von Heiligung zurück, die in Predigt, Ausbildung und vor allem Erziehung eingeprägt wurde.21 6. Kirchenstruktur Dabei zeichnet sich diese Struktur durch eine aktive Mitwirkung des Kirchenmitgliedes aus, wobei er nicht nur Hörer des Wortes oder Empfänger des Sakraments ist, sondern aktiv wird in der kirchlichen Arbeit und der Weitergabe des Heils. Calvins Ämterlehre, in der das dreifache Amt Christi als Prophet, Priester und König in den Ämtern des Predigers, Ältesten und Diakon wieder zu erkennen ist, implizierte die Einbeziehung des nicht theologisch geschulten Gemeindegliedes und somit eine Stärkung des Laienelements. Wo in dem katholischen und lutherischen Kirchenmodell die Kirche mehr von oben nach unten strukturiert ist, zeigt das calvinistische Modell die Linie von unten nach oben und es ist sogar fraglich, ob von einem „Oben“ gesprochen werden kann. Das presbyteriale Kirchenmodell wurde fast in allen reformierten Gebieten eingeführt – Ausnahme ist zum Beispiel in Anhalt – und deshalb gab es überall dieses den Calvinismus kennzeichnende Gleichheitsprinzip, bei dem auch in einem Synodalverband die Ortskirche das höchste Organ ist und Pfarrer, Ältester, Diakon und Gemeindeglied alle die gleiche Rechte haben. Dazu gehört die Überzeu21 Winkler meint, dass diese Dynamik den Calvinismus vom Luthertum unterscheidet: „Den lutherischen Gebieten fehlte ein solcher Antrieb. Sie verharrten in der überlieferten ständischen Ordnung, der ein konservativer Wirtschaftsstil entsprach: Nicht individueller Wagemut und ständiges Wachstum der Erträge, sondern die Befriedigung des gewohnten, standesgemäßen Bedarfs und ein gerechter Preis waren die Leitideen des Wirtschaftens.“, Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bd. 1, München 2000, 20. Die Faszination des Calvinismus 19 gung, dass das Gemeindeglied sich auch in Politik und Wissenschaft offenbart, dass man sich also bewusster als bei Lutheranern oder Katholiken als Reformierter profiliert. Im Calvinismus bekommt der einzelne Mensch als Bürger in der Gesellschaft und als Mitglied der Kirche eine Verantwortlichkeit, die er bisher noch nicht hatte. Kombiniert mit Calvins Begriff der „vocatio“22, nämlich der Berufung, sich immer und überall als Jünger Christi zu offenbaren, ist es dieser Ansatz, der sowohl für eine breite geographische als auch für eine gesellschaftlich-kulturelle Verbreitung von Calvins Denken gesorgt hat. Wesentlich ist außerdem der Gedanke einer Freikirche, also einer Kirche, die ihr Kirchenrecht und ihre Organisation selbst bestimmt und so von der Obrigkeit unabhängig ist. Das macht die Kirche mobil und so konnte eine nach calvinischen Ideen organisierte Kirche einfach verlegt werden von z. B. Antwerpen nach Budapest und von Groningen nach Kapstadt, New York oder Seoul. Eine Kirche galt also als Teil einer Theologie, die auch im Weiteren einfach in eine andere Kultur einzufügen ist und dann als transkulturell beschrieben werden kann. 7. Verhältnis von Kirche und Staat Calvins Akzent auf die persönliche – mit anderen Worten individuelle – Frömmigkeit und Lebensheiligung, verbunden mit einem Kirchenverständnis, nach dem die Kirche sich losgelöst von der Obrigkeit, von politischen und gesellschaftlichen Umständen organisieren und wenn nötig geographisch verlagern kann, sorgte dafür, dass Calvin einen Impuls zur politischen Erneuerung mit Dezentralisation und demokratisierenden Tendenzen als auffallende Merkmale setzte. Der Calvinismus ist auch wegen der Flüchtlingstradition vor allem zugleich international wie auch ortskirchlich orientiert und deshalb weniger nationalkirchlich, was für Obrigkeiten auch nicht unbedeutend ist. In diesem Sinne kann man sogar sagen, dass die katholische Verfolgung unter Bloody Mary in England, die Bartholomäusnacht in Frankreich und die Spanische Furie in den Niederlanden den Calvinismus genau so gestärkt haben wie die anti-calvinistische Haltung vieler lutherischer Gebiete. Einerseits wurde so das Selbstbewusstsein und das Gefühl, einer besonderen Gruppe anzugehören, gestärkt, zugleich aber entstand in Europa ein übernationales Netz von Politikern, Theologen, Wissenschaftlern und Geschäftsleuten, das politisch zur Entstehung des frühmodernen Staates beitrug.23 Diese Flüchtlingstradition, verstärkt durch die par22 Josef Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens, Aalen 1968, 636–644. 23 Heinz Schilling, Calvinism as an Actor in the Early Modern State System around 1600, in: Irena Backus/Philip Benedict (Hrsg.), Calvin & His Influence, 1509–2009, Oxford 2011, 159–181. 20 Herman J. Selderhuis allele und daraus folgende Identifizierung mit dem Volke Israel und in Verbindung mit einer im Vergleich mit dem Katholizismus und Luthertum frühneuzeitlichen Minderheitsposition, verlieh dem Calvinismus auch eine Flexibilität, die sich in innovativen transnationalen und transkonfessionellen Allianzen zeigte. Eine andere, hiermit zusammenhängende Frage ist die nach dem Recht zum Aufstand gegen die Obrigkeit. Calvin war dagegen, dass das Volk einen Aufstand anzettelte. An Eduard Seymour, den Herzog von Somerset, schrieb er, dass Menschen, die nach dem Bilde Christi erneuert seien, keinen Aufstand führen, sondern in ihrem Verhalten zeigen sollten, dass das Christentum kein Chaos verursache. Wenn man ruhig und bescheiden lebe, zeige man, dass man keine liederliche und hemmungslose Person ist, mache die Spötter mundtot und werde von Gott für diesen Gehorsam belohnt.24 Calvin warnte auch Antoine de Corfy, den Prinzen von St. Porcie, sich zu mäßigen, „denn das Christentum offenbart sich nicht nur darin, dass wir Waffen tragen und unser Leben und unseren Besitz im Kampf für die evangelische Sache einsetzen, sondern auch darin, dass wir uns Ihm gehorsam unterwerfen, der uns so teuer erkauft hat, dass er von uns im Leben und im Tode gepriesen werden soll.“25 Der wahre Kampf sei also nicht der Kampf mit dem Schwert gegen andere, sondern der Kampf gegen die Sünde im eigenen Herzen und gegen den Satan, der stets versuche, die Menschen von Gott zu trennen. Für Calvin hatten nur im äußersten Notfall die Magistraten – in diesem Falle der Hochadel Frankreichs – das Recht zum Aufstand. Als also die Bourbonen, Louis de Condé und Gaspar de Coligny, die Reformation mit Waffengewalt verteidigten, konnte Calvin dieses Handeln als durch Gott gegebene Tapferkeit, die die Durchsetzung des Reiches Christi zum Ziel habe, wertschätzen. Als dann die Hugenottenkriege ausbrachen, unterstützte Calvin diese und setzte sich aktiv ein, indem er Geld für das Heer der Hugenotten sammelte. Calvin sanktionierte somit in Wort und Tat das Recht zum Aufstand und so wurde er ungewollt zum Vater einer Theorie, von der der niedere Adel im Laufe der Zeit mehrfach Gebrauch machte. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl Wilhelm von Oranien, der nicht zuletzt vom Luthertum zum reformierten Bekenntnis überging, weil er mit Luthers Obrigkeitsverständnis gegen die spanischen Besatzer die Faust nicht erheben konnte, mit Calvin aber die Möglichkeit sah, die Niederlande zu einer freien und wohlhabenden Republik zu machen. Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Relevanz kann außerdem noch der Impuls genannt werden, den Calvins Theologie auf wirtschaftlichem Gebiet hatte. Dabei sind selbstverständlich auch an seine Ansichten über Zins24 CO 13, 65–77. 25 CO 19, 11. Die Faszination des Calvinismus 21 erhebung zu denken, die als die erste, biblisch begründete Billigung für das Verdienen von Geld mit Geld gelten kann. 8. Wissenschaftsverständnis Calvins Sicht der Schöpfung gab der Entwicklung der Naturwissenschaften einen bedeutenden Impuls, der auch eine Erklärung bietet für den hohen Prozentsatz an Calvinisten unter den Mitgliedern der Académie Francaise im 17. Jahrhundert. Laut Calvin sind Naturwissenschaften Gaben Gottes, die er geschaffen hat zum Nutzen der Menschheit.26 Die eigentliche Quelle der Naturwissenschaften ist der Heilige Geist.27 Wer sich also damit beschäftigt, würdigt Gott, gehorcht der Berufung Gottes und richtet sich nach Gottes Schöpfung. Somit ist Biologie auch Theologie. Bei Calvin gibt es diesbezüglich eine engere Beziehung des Geistlichen und des Natürlichen als bei Luther und Rom. Auch Calvins Überzeugung, dass die Sünde eine verheerende Wirkung auf Natur und Denken hatte, ändert im Grunde nichts daran, denn Gott würde es nicht so weit kommen lassen, dass diese, seine Gaben unbrauchbar würden. Es wird behauptet, dass Calvins Theologie rationalistisch und er im Grunde der Vater der Aufklärung sei. Dies ist freilich eine unhaltbare Behauptung, dennoch kann der kognitive Einschlag seines Denkens zur Attraktivität und Verbreitung beigetragen haben in einer Periode, in der die Naturwissenschaften bedeutende Entwicklungen durchmachten. Die Académie Francaise ist beispielhaft für eine Entwicklung, bei der gerade im Calvinismus die Wissenschaft Entfaltungsmöglichkeiten bekam, wie zum Beispiel auch in der Universität Leiden deutlich wurde. Auch auf die Bildung in Schule und Universität wirkte sich diese Haltung aus. Forschungen zum niederen Schulwesen in der Frühen Neuzeit machen deutlich, dass der Kenntnisstand reformierter Kinder größer war als der von katholischen und lutherischen Kindern.28 Deutlich hängt das mit der Wortorientiertheit des Calvinismus zusammen, die sich deutlich an der Einrichtung des Kirchengebäudes und der Liturgie zeigen lässt – ohne Bilder aber mit einer eigenen Bibel für jeden und der Kanzel als zentralem Ort in der Kirche, in der im Gottesdienst der Predigt ebenfalls die meiste Zeit zugewiesen wird. In der Kirche Calvins bedarf es eines aktiven Mitlesens und Mithörens; und das wirkt sich auch auf Kinder anders aus, als wenn eine eher rezeptive Haltung gefordert wird. 26 CO 34, 304; 31, 94. 27 CO 34, 577. 28 Hierzu: Stefan Ehrenpreis/Heinz Schilling (Hrsg.): Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel, Münster 2003. 22 Herman J. Selderhuis So sind es neben allen anderen Faktoren vor allem die theologischen Merkmale, welche die immense und lang anhaltende Verbreitung des calvinischen Denkens und des Calvinismus erklären, die aber gleichzeitig deutlich machen, warum andere Konzepte zur Wirklichkeit nicht verdrängt wurden. Bestimmte Elemente der calvinischen Konzepte von Kirche und Gesellschaft funktionieren durchaus in einer Kirche, noch recht gut in einem kleinen Stadtstaat von der Größe Genfs, nicht aber in einem Staat und mit Sicherheit nicht in einem modernen Staat. Aber auch damals schon erkannte man den Nutzen und die Anwendbarkeit zentraler Ideen in Calvins Theologie, die in ihrer Form angepasst werden konnten, ohne ihrem Inhalt zu schaden. 9. Lehre und Glaube Ich komme jetzt zu Argumenten des persönlichen Glaubens und der innerlichen Überzeugung, wie diese zum Beispiel bei den Entwicklungen in Anhalt eine Rolle spielten. Wenn von Fürst Christian gesagt wird, dass er „ein überzeugter Anhänger des reformierten Bekenntnisses“29 war, wird damit schon auf andere als nur politische und wissenschaftliche Gründe hingewiesen.30 Denn wenn die Attraktivität und die Vorteile des Calvinismus so offenkundig waren, ist natürlich die Frage, wieso nicht viel mehr Gebiete sich dazu entschieden haben. Die Antwort ist, dass auch der Glaube und also die persönliche Überzeugung zu den Gründen gehörte. Oft ist behauptet worden, dass Fürsten und andere Obrigkeiten sich für den Calvinismus entschieden, weil diese Konfession wegen des Prinzips der Kirchenzucht so gute Möglichkeiten zur Sozialdisziplinierung bot. Beweise, dass dies ein Argument sei, sind aber bisher noch nicht gefunden worden. Im Gegenteil, mittlerweile haben viele Einzelstudien – wie zum Beispiel die von Joachim Castan zum Gymnasium Illustre in Zerbst31 – deutlich gemacht, dass diese Sozialdisziplinierung in calvinistischen Gebieten nur beschränkt durchgeführt wurde, dass es diese Sozialdisziplinierung genauso in katholischen und lutherischen Gebieten gab und dass die Beschlüsse des Trienter Konzils wie auch die lutherische Kirchenvisitationen ebenso viele Möglichkeiten dazu boten wie Calvins Programm der persönlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Zucht. 29 Georg Schmidt, Die Fürsten von Anhalt – reformierte Konfessionalisierung und überkonfessionelle Einheitsbestrebungen?, in: Evangelische Landeskirche Anhalt (Hrsg.), Reformation in Anhalt: Melanchthon – Fürst Georg III., Dessau 1997, 173–186, hier 69. 30 Zu dieser Frage auch: Georg Schmidt, Die Zweite Reformation in den Reichsgrafschaften: Konfessionswechsel aus Glaubensüberzeugung und aus politischem Kalkül?, in: Meinrad Schaab (Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, 97–136. 31 S. Anm. 1. Die Faszination des Calvinismus 23 Es muss also andere Gründe gegeben haben; und dazu passen sowohl die der persönlichen Überzeugung als auch die des programmatischen Charakters des Calvinismus, der sich auszeichnet durch Aktivismus und durch einen Willen zu Veränderung und Erneuerung auf allen Gebieten. Er ist fortschrittlich, aber stets auf der Basis eines uneingeschränkten Gehorsams gegenüber der Bibel als Wort Gottes. Dieses Bestreben nach Modernisierung war zum Beispiel ein Grund für Wilhelm von Oranien, sich für den Calvinismus zu entscheiden. (Dass es bei Wilhelm mit dem calvinistischen Lebensstil nicht so geklappt hat, lassen wir mal beiseite.) Zusätzlich wirkten die verwandtschaftlichen Verbindungen der Adelsfamilien als verstärkendes Motiv, sich dem Calvinismus zuzuwenden. Es ist also diese „Kombination von theologisch-dogmatischen Überzeugungen, familiärverwandtschaftlichen Anregungen und politischem Kalkül“32, die für viele Fürsten der Grund war, sich von der Faszination des Calvinismus entscheidend bestimmen zu lassen. Inhaltlich wichtig ist auch hier die Wahl des Heidelberger Katechismus als konfessionelle Grundlage, wie diese es auch lange Zeit in Anhalt war. Dass man sich auf eine Bekenntnisschrift festlegte und das auch mit Kraft bei Geistlichen und Bürgern durchsetzte, hat mit dem Bestreben nach politischer und kirchlicher Einheitlichkeit zu tun. Dass der Fürst sich aber für diese Bekenntnisschrift entschied, hat mit einer Glaubensüberzeugung zu tun. Auch hier, wie in den meisten anderen Fällen, war es die calvinistische Abendmahlslehre, die entscheidend war und nicht die Idee, dass die calvinistische Auffassung der Kirchenzucht eine Disziplinierung der Gesellschaft leichter machen würde. Die Abendmahlslehre wurde als mehr biblisch fundiert und rationell mehr vernunftgemäß betrachtet als die lutherische Ubiquitätslehre. Sichtbar wurde die Entscheidung, als 1596/97 in Anhalt die Altäre entfernt wurden und beim Abendmahl das Brot gebrochen wurde.33 Das war aber genau das Problem für eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung, in der die lutherische Auffassung mit ihrer körperlichen Gegenwart Christi traditioneller war und mehr dem Bedürfnis nach einer religiösen Materialität entsprach.34 Das wird zum Beispiel deutlich an dem Widerstand gegen das Ausschließen der Teufelsaustreibung in der calvinistischen Taufliturgie.35 32 Schmidt, Zweite Reformation (wie Anm. 30), 135. 33 Hermann Wäschke, Anhaltische Geschichte, Bd. 2: Geschichte Anhalts im Zeitalter der Reformation, Köthen 1913, 473. 34 Heinz Schilling, Die Zweite Reformation als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, Berlin 2002, 433–481, hier 472. 35 Hoyer nennt als Beispiel den Fleischer, der diese Austreibung fordert, während er mit einem Beil in der Hand beim Taufbecken steht. Vgl. Siegfried Hoyer, Stände und calvinistische Landespolitik unter Christian I. (1587–1591) in Kursachsen, in: Schaab (Hrsg.), Territorialstaat (wie Anm. 30), 137–272, hier 144–145. 24 Herman J. Selderhuis Was politische oder kirchliche Obrigkeiten entscheiden, ist nicht immer das, was die Bevölkerung will; und besonders Entscheidungen, die als Traditionsbruch erfahren werden, haben es schwer, sich durchzusetzen. So hat der Calvinismus in Anhalt das ja auch erfahren. Faszination soll anstecken, ist aber nicht übertragbar. 10. Résumé: Calvinismus, die Reformation und 2017 Im Vergleich zu Luther und dem Luthertum hat der Calvinismus theologisch, akademisch, politisch und gesellschaftlich ein deutlicheres sowie ein klares, eigenes Profil bekommen, ohne sich von der lutherischen Basis zu verabschieden. Die Erforschung des Calvinismus in den unterschiedlichen Städten und Gebieten und die Studien zu den verschiedenen calvinistischen Theologen, Kirchen und Konfessionen hat verdeutlicht, dass auch im Calvinismus die Botschaft von bedingungsloser Gnade, von der Freiheit des Christenmenschen, von der Kritik an der päpstlichen Hierarchie und der katholischen Sakramentslehre und von der Verantwortung einer christlichen Obrigkeit, kurzum die Botschaft von Luthers drei Hauptschriften von 1520, stets Kern und Basis war. Dass diese reformatorische Botschaft in Genf eine andere kirchliche Form als in Wittenberg angenommen, in Antwerpen zu einer anderen Predigt als in Kopenhagen geführt, in Ostfriesland eine andere politische Form als in Anhalt bekommen hat und sich in den Niederlanden juristisch anders ausgeprägt hat als in Deutschland, hat nichts zu tun mit einem grundsätzlichen Unterschied zwischen Luthertum und Calvinismus, sondern mit einer Weiterentwicklung der Theologie Luthers und mit politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen, die eine Formenvielfalt verlangten. In diesem Zusammenhang ist auch vielsagend, dass das einflussreichste konfessionelle Dokument des Calvinismus nämlich der Heidelberger Katechismus von einem Melanchthonschüler nämlich Zacharias Ursinus stammt und dass in dieser Bekenntnisschrift das Luthertum alleine in der auch unter Lutheranern diskutablen Ubiquitätslehre kritisiert wird. Damit wird auch eine innere Breite des Calvinismus deutlich und deshalb konnte in Zerbst – wie in Heidelberg – Melanchthons Loci als Lehrbuch funktionieren, wofür nicht die Institutio Calvins verwendet wurde. Auch hier zeigt sich eine Kohärenz, eine Verbindung, ja, eine inhaltliche Einheit, die von konfessionellen Streitigkeiten überwuchert wurde, die aber mit Blick auf 2017 wieder ans Licht gebracht wird. Luther hatte als Ziel, die Kirche zu reformieren, und seine Botschaft setzte einen immensen Prozess in Gang: und mitten in diesem Prozess, aber mehr als zwanzig Jahre später, erhielt Calvin den Auftrag, eine Stadt zu reformieren. Das ist ein anderer Einstich, ein anderer Die Faszination des Calvinismus 25 Kontext, aber auch ein anderer Zeitpunkt und führt folglich zu einer anderen Vorgehensweise und einem anderen Resultat. Aber Fakt bleibt, dass es keine andere, keine zweite oder dritte, sondern immer noch dieselbe Reformation ist. Es ist deshalb auch sinnloss Luthertum und Calvinismus zu vergleichen, um damit zu untersuchen, wer am dichtesten an Luther geblieben ist. Zunächst ist Luther nicht die Reformation, Luther hat des weiteren nicht darum gebeten, seiner Linie zu folgen, und drittens stellt sich doch die Frage, wie viel „Linie“ es bei Luther gibt. Lutheraner und Calvinisten hatten – und vielleicht haben – einen Familienstreit über das letzte Abendmahl, aber sie kommen doch aus demselben Nest und stehen auch für dasselbe. Der Streit ging über die Frage, ob Christus leiblich oder nur geistlich präsent ist, aber für beide stand fest, dass Christus tatsächlich präsent ist. Was verbindet, ist mehr, als was scheidet. Zudem: was scheidet eigentlich? Luther reformierte die Predigt, Calvin die Liturgie um die Predigt, Luther reformierte die Kanzel, Calvin danach das Kirchengebäude, Luther reformierte die theologische Wissenschaft, Calvin daraufhin die ganze Universität. Calvin geht den zweiten Schritt, nachdem Luther den ersten gesetzt hatte. Ein zweiter musste folgen, aber dieser war und ist von dem ersten abhängig. Dass die politischen Gegebenheiten in Genf zur so genannten stadtreformatorischen oder für vielen Calvinisten zu einer Flüchtlingstheologie (refugeetheology36) führten, bedeutet nicht, dass hier auch von anderen Theologien die Rede ist. Die Gegebenheiten verändern die Form, nicht den Inhalt, setzen andere Akzente, aber keine anderen Prinzipien. Das Bindeglied wurde im ersten Sonntag des Heidelberger Katechismus, im Unterabsatz von Calvins Institutio und in jeglichem Unterabsatz in Luthers Werken in Worte gefasst, es ist der Mensch coram Deo, das heißt der Gott, der in Christus erlöst und erneuert, gerechtfertigt und geheiligt wurde. Es ist also der Deus iustificans und der Mensch, der noch gerechtfertigt werden muss. Reformation bedeutet für Lutheraner und Reformierte die Reformation des Gottesbildes, dabei ist die Reformation der Kirche ein Mittel und nicht das Ziel. Also gibt es sehr wohl eine Einheit im Prozess der Reformation, allerdings eine Vielfalt an Reformationskulturen und Bekenntnissen, aber dennoch eine Einheit, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass in den so genannten calvinistischen Niederlanden Luther unter den orthodoxen Reformierten mehr gelesen wurde und wird als Calvin. Calvin braucht man für die Doctrina, den Inhalt des Glaubens, aber Luther für die Experientia, für das Erleben des Glaubens. Calvin ist für den Kopf, aber das Herz braucht Luther. Wenn ich nun zu unserem Thema zurückkehre, kann kurz und klar gesagt werden, dass die Faszination des Calvinismus darin liegt, dass hier die Botschaft 36 Heiko Oberman, John Calvin and the Reformation of the Refugees, Travaux d’Humanisme et Renaissance Nr. CDLXIV, Geneve 2009. 26 Herman J. Selderhuis Luthers von Calvin ausgearbeitet wird zu einem Lebensstil und zu einer politisch und gesellschaftlich praxisorientierten Weltauffassung, die damals wie heute für viele Christen attraktiv geblieben ist. Für uns ist das sofort klar, manche Männer – wie zum Beispiel einige Anhalter Fürsten – müssen aber erst durch ihre Frauen auf diese Attraktivität hingewiesen werden. Die anhaltische Landeskirche vom Tode des Fürsten Georg III. (1553) bis zum Tode des Fürsten Joachim Ernst (1586) von Ulla Jablonowski Die Evangelische Kirchengemeinde St. Johannis und St. Marien1 in Dessau besitzt ein Abendmahlsbild von Lucas Cranach d. J., das als Epitaph für den Fürsten Joachim (1509–1561) geschaffen wurde und das zu den großen Bildzeugnissen der Reformation gehört. Das letzte Abendmahl Christi mit seinen Jüngern, in die Lebenswirklichkeit des 16. Jahrhunderts versetzt, kann als Bild der anhaltischen Kirche der Reformation verstanden werden, so wie es den Vorstellungen und Absichten der fürstlichen Auftraggeber entsprach. Es ist nicht mehr die Kirche des Anfangs, sondern die des Jahres 1565, ein Menschenalter später, als der Abendmahlsstreit im protestantischen Lager in eine neue Phase trat.2 In der Mitte der Tafel, vor der tragenden Säule, sitzt Christus, der die Säule der Kirche ist. Die Jünger tragen erkennbar die Züge von Reformatoren: Zur Linken Christi Melanchthon, zur Rechten Fürst Georg, dem sich Christus freundlich zuneigt und, etwas zurückgesetzt, Luther. Die Abendmahlsrunde vervollständigen Wittenberger und Leipziger Theologen, von denen die beiden damals noch lebenden (Johann Pfeffinger3 und Georg Major4) bereits heftig ange- 1 Als Nachfolgerin der Mariengemeinde, deren Kirche, die ehemalige Hauptkirche der Stadt, im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. 2 Das „vielschichtige Abendmahlsbild“ (Irene Roch-Lemmer) ist vielfach beschrieben und gedeutet worden, vgl. (in Auswahl): Werner Schade, Die Malerfamilie Cranach, Dresden 1974; ders., Die drei Gemälde, in: Bilder erleben. Tafelbilder Lucas Cranach des Älteren und des Jüngeren laden ein. St. Johanniskirche Dessau, Dessau 1992; Peter Findeisen, Bildnisse der Fürsten Wolfgang und Joachim von Anhalt in Zerbst, Dessau und Köthen, in: Reinhard Schmitt (Red.), „Es Thvn Iher Viel Fragen [...]“. Kunstgeschichte in Mitteldeutschland. Hans-Joachim Krause gewidmet, Petersberg 2001, 171–186, der auf die politische Dimension des Bildes verweist; Irene Roch-Lemmer, Neue Forschungen zum Dessauer Abendmahlsbild von Lucas Cranach d. J. (1565), in: Andreas Tacke u. a. (Hrsg.), Lucas Cranach 1553/2003. Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren, Leipzig 2007, 313–325; Peter Findeisen, Fürst Georg III. von Anhalt und einige Bilder seiner Zeit, in: Achim Detmers/Ulla Jablonowski (Hrsg.), 500 Jahre Georg III. Fürst und Christ in Anhalt, in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde (im folgenden MVAL) 17, Sonderband (2008), 182–205. 3 Johann Pfeffinger (1493–1573), vom Betrachter aus gesehen Dritter von rechts. 4 Georg Major (1502–1574) ganz rechts. 28 Ulla Jablonowski Lucas Cranach d. J., Abendmahl, Epitaphbild für Fürst Joachim von Anhalt, 1565, Johanniskirche Dessau. Die anhaltische Landeskirche von 1553 bis 1586 29 fochten waren.5 Im Hintergrund hat sich eine Gruppe anhaltischer Fürsten versammelt, darunter ganz links Fürst Wolfgang, während die beiden regierenden Fürsten und Stifter des Bildes, Joachim Ernst und Bernhard, zu beiden Seiten der Säule angeordnet sind. Die dem Bilde innewohnende Botschaft ist Programm: Die anhaltische Kirche der Reformation ist auf Christus gegründet. An ihrem Anfang stehen Luther, Melanchthon und Fürst Georg, sie steht in der ungebrochenen Tradition der Wittenberger Reformation, unter dem Schutz der anhaltischen Fürsten. Es ist eine wohlgeordnete Kirche. Mit dem Abendmahlsbild von 1565 beginnt eine Periode des Übergangs, die mit dem Tod des Fürsten Joachim Ernst (1586) endet. 1. Die innere Verfassung der anhaltischen Kirche nach dem Tode des Fürsten Georg Anhalt orientierte sich in Bekenntnis und Lehre lange Zeit an Wittenberg. Die Mehrzahl der anhaltischen Geistlichen hatte in Wittenberg studiert und war dort ordiniert worden.6 Das ging so weit, dass die halbjährlichen Examina der Stipendiaten aus Anhalt an zwei Professoren der Universität delegiert wurden.7 In Wittenberg holte man sich immer wieder Rat, zunächst bei Melanchthon, dann bei seinen Schülern und Weggefährten, bis es zum Bruch kam. Dennoch verlief die Entwicklung hier wie dort nicht völlig konform, denn zu den Paten der jungen anhaltischen Kirche hatte, neben Luther und Melanchthon, auch Fürst Georg gehört, der eine spezielle Note einbrachte.8 5 Auf dem Altenburger Religionsgespräch (1568), das etwa zeitgleich stattfand, werden sie von thüringischen Theologen mit den Worten angegriffen: „Sie richten newen Zanck an in der Kirchen, Maior mitt seiner wercklere zur seligkeit, Pfeffinger mitt seinem naturlichen freien willen in geistlichen sachen [...].“ In der gleichen Reihe folgten namentlich Paul Eber, Abdias Praetorius und der junge Caspar Cruciger. Zitiert nach: Landeshauptarchiv SachsenAnhalt, Abt. Dessau (im folgenden LHASA, DE), Z 5, GAR. Nachtrag Nr. 110, fol. 41v. 6 Zu den Ordinationen Ulla Jablonowski, Der Einfluß des Calvinismus auf den inneren Aufbau der anhaltischen Fürstentümer Anfang des 17. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Anhalt-Köthen, in: Meinrad Schaab (Hrsg.), Territorialstaat und Calvinismus, Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 127, Stuttgart 1993, 149–163, Übersicht 158 f. 7 F. Bernhard am 02.10.1565 u. 24.08.1566 an F. Joachim Ernst; LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Anhalt: Fürst Bernhard VII. Nr. 3, fol. 38 u. 76. 8 Irene Dingel, Die Ausprägung einer regionalen konfessionellen Identität im Fürstentum Anhalt. Einflüsse und Wirkungen, in: Irene Dingel/Günther Wartenberg (Hrsg.), Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionelle Identifikationsprozesse in den Territorien, Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 10, Leipzig 2009, 113–127; zu Fürst Georg vgl. auch Detmers/Jablonowski (wie Anm. 2). 30 Ulla Jablonowski Am 20. Februar 1546 hatte Georg an den Fürsten Wolfgang, der an Luthers Totenbett gestanden hatte, geschrieben:9 „Mit gantz erschrockenen und bekommerten gemute hab ich vorstanden, das wir der leiplichen gegenwertigkeit Unsers lieben Vaters D. Martini nue sollen beraubet sein [...]“, und am Schluss: „Daumb got in diesen fehrlichen Zeiten hochnotig zubitten und das ehr uns in Christliche eynigkeit und reyner Lehr den lieben Philippum und andere herren gnediglich wolle lange der gantzen Christenhet zugute erhalten, Amen.“ Luther und Melanchthon waren für ihn und viele seiner Zeitgenossen eine Einheit gewesen. Nachdem aber das Gift des Interims ausgestreut war, wurden unterschiedliche theologische Sichtweisen, die zu Lebzeiten beider Reformatoren den Wittenberger reformatorischen Konsens nicht gesprengt hatten,10 zu dogmatischen Differenzen erhoben. Später versuchten Andreae, Chemnitz, Selnecker und andere, nachträglich einen Keil nicht nur zwischen Luther und Melanchthon, sondern auch zwischen Melanchthon und Georg zu treiben, indem sie Differenzen in der Abendmahlsfrage aufspürten und bewusst Zweifel säten. Das Bild Georgs veränderte sich. Die Vorwürfe seiner Gegner, die er wegen seiner Mitwirkung am Leipziger Interim hatte erdulden müssen,11 verstummten, da er jetzt als Zeuge gegen Melanchthon gebraucht wurde.12 In Anhalt wurden die, zweifellos vorhandenen, Widersprüche ausgehalten und toleriert, vor allem, da Melanchthon (im Gegensatz zu einigen seiner Schüler) in seinen öffentlichen Äußerungen nie eine bestimmte Grenzlinie überschritten hatte. Das Corpus Doctrinae Christianae, das nach Melanchthons Tod von seinen Freunden zusammengestellt und herausgegeben wurde, war in Anhalt hoch angesehen, wurde noch 1588 in Zerbst neu gedruckt und war Anfang des 17. Jahrhunderts in allen Pfarrbibliotheken Anhalts vorhanden. Es füllte, zusammen mit den Streitschriften der anhaltischen Theologen und namentlich Wolfgang Amlings, die Lücke des nicht vorhandenen verbindlichen „Corpus Doctrinae et Disciplinae“13 aus. 9 LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Anhalt: Fürst Georg III. Nr. 26, fol. 38. 10 Irene Dingel, Freunde – Gegner – Feinde. Melanchthon in den Konfliktfeldern seiner Zeit, in: Irene Dingel/Armin Kohnle (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas, Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 13, Leipzig 2011, 15–34, bes. 21. 11 Sie hatten auch nach dem Tode des Fürsten zunächst nicht aufgehört. Als F. Joachim erfuhr, dass Matthias Flacius auf dem Schlosse zu Coswig anwesend sei, um an einem Konvent (1557) teilzunehmen, forderte er Fürst Wolfgang auf, Flacius zur Rede zu stellen; F. Joachim am 26.1.1557 an F. Wolfgang, LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Anhalt: F. Joachim Nr. 22, fol. 118. 12 Jacobus Andreae, Fünff Predigen Von dem Wercke der Concordien, Und endlicher Vergleichung der vorgefallenen streitigen Religions Artickeln [...] Zu Dreßden, Leiptzig und Wittembergk […] gehalten, (1. Predigt), Dresden 1580, u. a. 13 Klage des Zerbster Superintendenten Magister Caspar Ulrich bei der Visitation von 1610; Archiv der evangelischen Landeskirche Anhalts, Superintendentur-Archiv Zerbst, Abt. I Nr. 2, fol. 108v. Die anhaltische Landeskirche von 1553 bis 1586 31 Melanchthon und Georg waren sich in ihrem friedliebenden, vermittelnden Wesen, das aber in der Sache fest blieb, sehr ähnlich gewesen. Die anhaltische Landeskirche, besonders ihr Dessauer Teil, hatte ihre erste Form und Verfassung durch Fürst Georg erhalten. Von ihm sind zwei Kirchenordnungen überliefert: die für Harzgerode, die auf Ende 1549/Anfang 1550 datiert werden konnte,14 und „Fürst Georgen Kirchenordnung“ für den Superintendenturbezirk Zerbst vom 03. August 1548,15 die die Ordnung vom März 1545 ablöste und bis 1568 verbindlich war. Beide sind unter dem Eindruck des kaiserlichen Interims entstanden und ähneln einander sehr. Eine dritte Ordnung, die unter dem Titel „Dessauer Kirchenordnung von 1555“ in der Anhaltischen Landesbücherei aufbewahrt wird,16 ist identisch mit der durch Fürst Georg ausgearbeiteten Interims-Agende für Kursachsen. Diese „Georgsagende“, die ein echtes Anliegen Georgs und keine Notlösung infolge des Interims war, konnte in Kursachsen nicht durchgesetzt werden. Dagegen hat es in Anhalt den Versuch gegeben, sie behutsam und zunächst nur in einzelnen Artikeln, die unstrittig waren, einzuführen. Als solche Artikel galten die Feiertage, die Psalmodie, die Elevation, der Chorrock, das Messgewand und dergleichen mehr.17 Anfang 1550 ließ er die Pfarrer und Kirchendiener seines Anteils zusammenrufen, ihnen die Agende verlesen und sie auffordern, dieselbe anzunehmen und einzuführen. Sie erklärten sich grundsätzlich einverstanden, doch „nach gelegenheitt der orth und Zall der kirchen diener“, und baten um Unterstützung durch die weltliche Obrigkeit.18 1554, schon unter Fürst Karl, wurden die Pfarrkirchen auf dem Lande um Zerbst mit Chorkappen, Kaseln und Chorröcken versorgt.19 Sie waren offenbar noch 1596, wenn auch nicht mehr überall, in Gebrauch. Georgs Person und Schriften waren lange Zeit sakrosankt. Aber schon 1568 musste Fürst Bernhard – mit dem größten Bedauern – feststellen, dass die Kir14 Ulla Jablonowski, Fürst Georg III. von Anhalt (1507–1553) und seine Stadt Harzgerode, in: MVAL 17 (2008), 85–101, hier 95 f; Emil Sehling (Emil Sehling, Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Erste Abteilung: Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten Bd. 2, Leipzig 1904, 586) datierte sie vorläufig auf das Jahr 1534. Sie galt nicht nur für Harzgerode, sondern für den ganzen F. Georg gehörenden Landesteil (d. h. die Ämter Harzgerode, Güntersberge, Warmsdorf und Plötzkau) und wurde vermutlich auch in Dessau eingeführt. 15 Abschrift im 2. Visitationsbuch des Superintendenten D. Theodor Fabricius, begonnen 1567; Archiv der evangelischen Landeskirche Anhalts, Superintendentur-Archiv Zerbst, Abt. I Nr. 7, fol. 30–34; gedruckt bei Sehling, Kirchenordnungen (wie Anm. 14), Nr. 115, 554 f. 16 Anhaltische Landesbücherei Dessau-Roßlau, Hs. Georg 119.4°; eine weitere Abschrift unter Georg 120.4°. 17 LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Nr. 54I, fol. 3. – Zu seiner Vergewisserung ließ Georg Briefe Luthers an ihn zum Thema „Adiaphora“ kopieren, ebd. Nr. 54VI, fol. 182 ff. 18 LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Nr. 54I, fol. 1. 19 LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Nr. 371. 32 Ulla Jablonowski chenordnung für Zerbst in Teilen „gefallen“ sei und nicht wieder vollkommen aufgerichtet werden könne; daher habe er „soviel muglich, mit gehabtem rathe dasjenige, so noch erhalten werden kann, zusammen ziehen und das ubrige an seinen ort pleiben und passüren lassen“.20 In Briefen an den Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg klagte er über Irrungen mit etlichen seiner Prediger weiland Fürst Georgs Kirchenordnung halber.21 Nach der neuen Ordnung von 1568 wurde die Liturgie wesentlich vereinfacht; die Ohrenbeichte war bereits „gefallen“. Die Kirchenordnung des Fürsten Bernhard ging noch von der Einheit von Wort- und Sakramentsgottesdienst aus, doch lag das ganze Gewicht auf der Predigt, während die Zahl der Kommunikanten mehr und mehr zurückging. Es wurde etwas Besonderes, zum Abendmahl zu gehen. Beide Fürsten, sowohl Joachim Ernst als auch Bernhard, bereiteten sich intensiv auf den Empfang der Sakramente vor. Später wurden in den Gemeinden Abendmahlslisten geführt,22 um sicherzustellen, dass das Volk einige Male im Jahr, besonders an hohen Festen, zum Abendmahl ging. Schließlich müssen auch die Vorkehrungen, die aus Georgs katholischem Verständnis des Altarssakraments herrührten, aufgegeben worden sein.23 1582, in kritischer Zeit, wurde Georgs erste Predigt vom heiligen Abendmahl aus dem Jahre 155024 neu gedruckt und den Geistlichen als Richtschnur zugesandt. Dabei regte sich Widerstand; der erste Geistliche, Superintendent Wolfgang Amling in Zerbst, fiel zeitweilig in Ungnade. Amling aber stand nicht allein. Es zeigte sich, dass die anhaltische Pfarrerschaft – ohne dass dies offen ausgesprochen wurde – längst von einigen nicht mehr als zeitgemäß empfundenen Passagen in den Schriften und Ordnungen Georgs abgerückt war. Die allmähliche Modernisierung und Wandlung, der auch die anhaltische Kirche unterlag, erfolgte in einem ersten Schritt als Absetzbewegung von dem großen Vorbild Georg. Es war eine natürliche Entwicklung ohne große Brüche wie im nahen 20 Einleitung zur Kirchenordnung des Fürsten Bernhard vom 11.10.1568; Sehling, Kirchenordnungen (wie Anm. 14), 568. 21 Nur der Antwortbrief des Kurfürsten vom 01.11.1568 ist erhalten, in dem er warme Worte für den Fürsten Georg findet. Dieser sei ein „GeistReicher, gelerter, Hochvorstendiger Herr gewesen,[so] das es diese E. L. Theologen nicht besser machen werden“; LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Nr. 170, fol. 2v. 22 Solche Abendmahlslisten sind für die Stadt Dessau 1579 und 1581 abschriftlich überliefert; Stadtarchiv Dessau, Nachlass Pfarrer Dr. Schmidt. 23 So sollten beim Abendmahl Tücher gehalten und von den „Particulas“ oder dem Blut Christi nichts übriggelassen werden; Kirchenordnung für Harzgerode, in: Sehling, Kirchenordnungen (wie Anm. 14), 587. 24 Georg III. von Anhalt, „Von dem hochwirdigen Sacrament des Leibs und Bluts unsers Herrn Jesu Christi, drei Predigten“, die erste gehalten am Palmsonntag 1550 im Dom zu Merseburg, [...] in: Predigten und andere Schrifften [...], Wittenberg 1555, fol. 133 ff. – Es folgte noch eine vierte Predigt. Die anhaltische Landeskirche von 1553 bis 1586 33 Wittenberg, die sich aus dem Wandel des gesellschaftlichen Umfeldes ergab. Während so die Distanz zu Fürst Georg größer wurde, blieb die Treue Anhalts zu Philipp Melanchthon „unwandelbar“. Unter den handelnden Personen waren die Fürsten, als Herren ihrer Landeskirche, die wichtigsten. Bei ihnen lag die Verantwortung in weltlichen und geistlichen Sachen; sie konnten die Pfarrerschaft disziplinieren, ihr aber auch „Schutz und Schirm“ gewähren.25 Zur älteren Generation gehörte noch Fürst Wolfgang (1492–1566), dem bis 1562 der ganze westliche Landesteil mit Köthen, Bernburg, Ballenstedt gehörte. In der Kirche des Fürsten Wolfgang wurde übrigens auf die gleiche Weise diskutiert: Schon um 1556 sprachen sich die führenden Theologen – geschlossen – für den Fortfall der Elevation, nach kursächsischem Vorbild, aus.26 Ab 1562 lag die Verantwortung bei den jungen Fürsten Joachim Ernst und Bernhard. Bernhard (1540–1570), ein Patenkind Luthers, war nur ein kurzes Leben beschieden, er starb schon 1570 im Alter von nur 30 Jahren an Lungenschwindsucht. Den Lebenslauf in lateinischer Sprache, der ihm mit in den Sarg gelegt wurde, verfasste Caspar Peucer, der dem Fürsten bescheinigte, er habe an der Lehre der Kirche, wie sie in den Prophetischen und Apostolischen Büchern und den Schriften Martin Luthers, als des Führers, und seiner Mitstreiter Fürst Georg, als dem Vetter des Fürsten, und Philipp Melanchthon überliefert sei, festgehalten und sie gegen Irrtümer verteidigt.27 Das gleiche ließe sich von Joachim Ernst (1536–1586) sagen, nur dass das Schiff der Kirche zu seiner Zeit in größere Turbulenzen geriet und es schwerer wurde, Kurs zu halten. Er war den innerprotestantischen Streitigkeiten herzlich feind und riet zu Frieden und Mäßigung. Nach Beckmann28 hat er den Ausspruch getan: „Die Anhaltische Warheit stünde auf breiten Füssen/man sollte die Posterität urtheilen lassen/welche mit weniger Affecten dann die ietzige Welt/judiciren würde“, und über das heilige Nachtmahl: „Der HErr hat befohlen. Hoc facite in mei commemorationem, thut das zu meinem Gedächtnüß/ wie will mans dann verantworten/ daß man darob zancket/gleich als hätte Er gesagt: De hoc disputate et litigate, zancket und hadert mit einander hierüber“. Die Argumente, die 1574 zum Sturz der Philippisten in Wittenberg führten, 25 Über die Fürsten Wolfgang, Joachim Ernst und Bernhard, ihr Land und die Lebensverhältnisse der Menschen dort vgl. Ulla Jablonowski, Jahre des Übergangs. Anhalt um 1560, mit Ausblicken bis 1590. Teile I–III, in: MVAL 20 (2011), 31–70; 21 (2012), 23–82; 22 (2013), 77–116. 26 „Artickel und bedencken von der Eleuation der prediger zu Cöthen und Bernburgk“, o. Dat.[1555/57]; LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Nr. 773, fol. 30. 27 „Doctrinam Ecclesiae traditam Propheticis et Apostolicis libris et Scriptis Martini Lutheri, tanquam Ducis, patrui vero Principis Georgii et Philippi Melanchthonis tanquam sociorum repetitam atque illustratam constanter retinuit atque defendit“, bei Johann Christoph Beckmann, Historia des Fürstenthums Anhalt [...], 7 Abteilungen, Zerbst 1710, V, 180. 28 Ebd. V, 193. 34 Ulla Jablonowski überzeugten ihn nicht, und als Andreae nicht aufhörte, Anhalt zu missionieren, auch hinter dem Rücken des Fürsten, schlug die freundlich-abwartende Haltung, die er zunächst an den Tag gelegt hatte, in offenen Zorn um, wobei er, wie viele seiner Zeitgenossen, eine kräftige Sprache führte. Aber, entgegen dem Wunsch und Willen der Landesherren, entwickelte auch dieser Sektor des Staatswesens eine eigene Dynamik. Anhalt hatte damals kein eigenes Konsistorium.29 In den vier Landesteilen amtierten Superintendenten, wobei der Superintendent von Zerbst eine exponierte Stellung innehatte. Das war bis 1570 D. Theodor Fabricius, gebürtig aus Anholt bei Kleve (1544–1570 Pfarrer an St. Nikolai), bis 1577 Magister Abraham Ulrich aus Kronach in Franken (1558–1577 Pfarrer an St. Bartholomäi) und 1578–1606 Magister Wolfgang Amling aus Münnerstadt, ebenfalls in Franken (1566–1569 Rektor in Zerbst, 1572 Pfarrer in Coswig, 1573–1606 Pfarrer an St. Nikolai in Zerbst). Superintendent in Köthen war 1564–1591 Magister Petrus Haring, gebürtig aus Hattstedt in Holstein (zugleich Pfarrer an St. Jakob); in Bernburg amtierte 1551–1580 Ambrosius Hetzler aus Giengen in Württemberg (zugleich Pfarrer an St. Marien), nach ihm 1580–1591 Dionysius Dragendorf, zuletzt Pfarrer und Superintendent in Calbe; Superintendent in Dessau war 1559–1578 Magister Johann Gese aus Sandersleben, der einzige gebürtige Anhalter (zugleich Pfarrer an St. Marien), nach ihm bis 1619 Magister Johann Brendel aus Bürgel in Thüringen. Sie waren gleichzeitig auch die geistlichen Berater der Fürsten. Auch Coswig hatte damals noch, von Fürst Wolfgang her, einen eigenen Superintendenten.30 Theodor Fabricius trat als Theologe weniger hervor und wenn, dann hielt er sich streng an die Lehrmeinung seiner ehemaligen Professoren-Kollegen in Wittenberg. Er hatte laufend Probleme mit seiner Gemeinde St. Nikolai in Zerbst und empfand es als Belastung, zwei Herren gleichzeitig zu dienen, nämlich der Stadtgemeinde als Pfarrer und den Fürsten als Beamter und Superintendent.31 Wortführer der anhaltischen Theologen um 1570, und damit in den ersten Gefechten mit Jakob Andreae, war Abraham Ulrich.32 Er war der geistliche Berater Fürst Wolfgangs gewesen und stand schon vor 1566 in den Diensten aller 29 Ein solches wurde erst 1615 in Zerbst eingerichtet, LHASA, DE, Z 6, GAR.NS Nr. 772, fol. 348; bis dahin wurden alle Anfragen, besonders in Ehesachen, an das Konsistorium in Wittenberg gerichtet. 30 Herrmann Graf, Anhaltisches Pfarrerbuch. Die evangelischen Pfarrer seit der Reformation, hrsg. vom Landeskirchenrat der Evang. Landeskirche Anhalts, Dessau 1996. 31 Teilstück eines Briefes o. Dat. [1556] an F. Joachim; LHASA, DE, GAR.NS Nr. 368, fol. 35. 32 Auch Abraham Ulrich hatte, wie später sein Sohn David, in Wittenberg studiert; vgl. Wolfgang Klose u. a. (Bearb.), Wittenberger Gelehrtenstammbuch. Das Stammbuch von Abraham und David Ulrich. Benutzt 1549–1577 sowie 1580–1623, 2 Bde, hrsg. durch das Deutsche Historische Museum Berlin, Halle/S. 1999.