19. Die Physik des Fliegens untersuchen 1 von 24 Vom freien Fall bis zum Wingsuitgleiten – die Physik des Fliegens Mag. Dominik Ertl, Wien I/B Egal ob Frühstücksei, Schultasche oder Handy – jeder Körper fällt auf den Boden, wenn man ihn loslässt. Nichts auf der Welt kann man einfacher ausprobieren als das. Aber warum ist das eigentlich so? Und fallen alle Gegenstände gleich schnell zu Boden? Oder fallen einige langsamer und andere schneller? Und wenn ja, woran liegt das? © Ertl T H C I S N A R O V Der Autor mit einem Wingsuit der Marke Birdman Mit zwei Videos zum Wingsuitgleiten! Der Beitrag im Überblick Klasse: 9/10 Dauer: circa 6 Stunden Inhalt: • Aristotelische Schwere Ihr Plus: • Galilei’sches Fallgesetz üKontextorientierter Unterricht • Freifall unter realen Bedingungen üVorlage zum Ausschneiden • Luftwiderstandskraft, cw-Wert üReale Daten eines Fallschirmsprungs • Körperhaltung beim Fallschirmsprung • Wingsuitgleiten 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 2 von 24 Fachliche und didaktisch-methodische Hinweise I/B Fallschirmspringen ist nicht nur etwas für Wahnsinnige oder Lebensmüde, sondern insbesondere auch für die Physiklehrer. Warum? Wenn man den theoretischen Kurs für Fallschirmspringer besucht, ist man erstaunt darüber, wie wenig die Mitschüler in der Regel über die Physik des Fliegens und Fallens wissen. Noch mehr Erstaunen ruft das Kapitel Aerodynamik im Skript der Fallschirmschule hervor. Wie sollen Fallschirmschüler die Physik des Fallschirmspringens richtig erlernen, wenn dort ein beachtlicher Teil falsch ist? Diese Frage ist Anlass, den faszinierenden Kontext Fallschirmspringen als Rahmen für einen RAAbits-Beitrag zu verwenden. Der Bogen spannt sich von der historischen Behandlung – den ersten Überlegungen Aristoteles’ über Galileis Fallgesetz und die sogenannte naturwissenschaftliche Methode – bis hin zur Untersuchung eines realen Fallschirmsprunges – mit Videoanalyse und Analyse der aufgezeichneten Sprungdaten. So alt wie die Menschheit selbst Der Traum vom Fliegen ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Älteste erhaltene Manuskripte von Fluggeräten und Fallschirmen gehen zumindest bis in das 15. Jahrhundert, in die Zeit Leonardo da Vincis (1452–1519), zurück. Die ersten realen Fallschirmabsprünge wurden von hohen Türmen durchgeführt und endeten nicht selten mit Beinbrüchen oder Schlimmerem. Dem Fortschritt von Wissen, Material und letztlich auch der Kühnheit der Piloten ist es zu verdanken, dass der Traum heute gelebt werden kann: Moderne Flügelanzüge (sogenannte Wingsuits) erlauben es Fallschirmspringern tatsächlich, ihre Fallbewegung in einen Vorwärtsflug umzuwandeln und dabei waghalsige Manöver durchzuführen, bevor sie mit einem Fallschirm sicher zur Erde gleiten. In diesen Entwicklungen steckt eine Menge Physik, um die es in diesem Beitrag geht. Der Text und die Aufgaben bauen aufeinander auf und sind größtenteils selbsterklärend. Einige der Aufgaben setzen Textverständnis voraus oder erfordern eine Recherche im Internet. Alle Aufgaben verlangen Reflexionsvermögen und Diskussionsbereitschaft. Fordern und fördern Sie diese Kompetenzen, indem Sie Aufgaben z. B. in Gruppen lösen lassen oder als Referat oder Heimarbeit aufgeben. T H C I S N A R O Materialübersicht V · V = Vorbereitungszeit SV = Schülerversuch Ab = Arbeitsblatt/Informationsblatt · D = Durchführungszeit LV = Lehrerversuch Fo = Folie M1 Ab, SV Der freie Fall – Überlegungen des Aristoteles dazu M2 Ab Ein Zweifler – das Gedankenexperiment von Benedetti M3 Ab Im Vakuum fällt alles gleich schnell! – Galileis Ansicht M4 Ab Ein aufschlussreiches Experiment – das Fallgesetz M5 Ab Experimente auf der Erde – das Fallgesetz von Galileo Galilei M6 Ab Der reale Freifall – Luftwiderstand und cw-Wert M7 Ab Vom Fallgesetz zum realen Fallschirmsprung – die Herleitung M8 Fo Nervenkitzel und Körperbeherrschung – vom Fallen zum Fliegen M9 Ab Kräftegleichgewicht = keine Geschwindigkeitsänderung mehr M 10 Ab Körperhaltung und Kleidung sind entscheidend M 11 Ab, SV Untersuche den Einfluss der Körperhaltung! – Eine Bastelei M 12 Ab Die Realität – Datenanalyse eines Fallschirmsprunges M 13 Ab Vom Fallen zum Fliegen – die Wingsuits M 14 Ab Der Wingsuitman – eine Vorlage zum Ausschneiden 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen M1 3 von 24 Der freie Fall – Überlegungen des Aristoteles dazu Egal ob Frühstücksei, Schultasche oder Handy, jeder Körper fällt auf den Boden, wenn man ihn loslässt. Nichts auf der Welt kann man einfacher ausprobieren als das. Es gibt kaum einen Gegenstand, der in der Luft stehen bleibt oder gar nach oben fällt. I/B Aber warum ist das eigentlich so? Und fallen alle Gegenstände gleich schnell zu Boden? Oder fallen einige langsamer und andere schneller? Und wenn ja, woran liegt das? Seiner Ansicht nach hatten alle Körper etwas in sich, das er Schwere nannte, und diese Schwere war der Grund dafür, dass die Körper zu Boden fielen. Je schwerer ein Körper ist, desto schneller fällt er auch zu Boden. Ein Stein fällt schneller zu Boden als eine Feder. Leichte Körper fallen also langsamer und ganz leichte Körper schweben vielleicht sogar oder fallen nach oben. T H C I S N Das war für Aristoteles der Grund, warum manche Körper in Wasser schwimmen, während andere untergehen. A R O Büste von Aristoteles. Marmor. Römische Kopie nach dem griechischen Bronze-Original von Lysippos, um 330 v. Chr. Der Alabaster-Mantel ist eine Ergänzung der Moderne. Aufgabe: Überlege dir, ob diese Behauptungen von Aristoteles stimmen können. – Fallen alle Gegenstände gleich schnell zu Boden? – Ändert sich die Geschwindigkeit während des Fallens oder bleibt sie konstant? V – Woran liegt es, dass Gegenstände überhaupt zu Boden fallen? Nenne Beispiele aus deinem Alltag und diskutiere mit deinen Mitschülern. Schülerversuch · Vorbereitung: 5 min Materialien rZwei A4-Blätter Papier Foto: Wikimedia Commons Diese Fragen beschäftigten schon die Philosophen im alten Griechenland. Aristoteles lebte rund 350 Jahre vor Christus. Er war einer der Ersten, der seine Gedanken zu dem Thema aufgeschrieben hat. Durchführung: 5 min rStoppuhr oder Handy Versuchsdurchführung a) Nimm ein A4-Blatt Papier und knülle es zu einer Kugel zusammen. Lass es aus circa 2 m Höhe fallen. Miss mit der Stoppuhrfunktion deines Handys die Zeit, die es bis zum Boden braucht. Mache mehrere Versuche und errechne dann den Mittelwert. b) Vergleiche die Fallzeit mit der Fallzeit einer Kugel mit doppelter Masse. Dazu knüllst du einfach zwei A4-Blätter zusammen und lässt auch sie fallen. Achte darauf, dass die beiden Kugeln ungefähr gleich groß sind. Fällt die doppelt so schwere Kugel doppelt so schnell? c) Probiere auch aus, ob die Fallzeit von der Form abhängig ist. Nimm dazu ein zerknülltes und ein nicht zerknülltes Blatt Papier. Lasse beides gleichzeitig fallen. Was kommt dabei heraus? 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 4 von 24 M2 Ein Zweifler – das Gedankenexperiment von Benedetti Um 1550 stellte der italienische Gelehrte Giovanni Battista Benedetti (1530–1590) eine kühne Überlegung an. I/B Zwei gleich schwere Kugeln fallen laut Aristoteles auch gleich schnell zu Boden. © Pixelio, Daniel Stricker Was aber passiert, wenn man die beiden Kugeln durch eine feste, aber masselose Stange verbindet? Nach Aristoteles müssten sie nun doppelt so schnell zu Boden fallen, da sie ja nun auch die doppelte Schwere haben. Aber würde das wirklich so passieren? Giovanni Battista Benedetti (1530–1590) wurde in Venedig geboren, wo die Wissenschaften blühten T H C Gedankenexperiment I S N A R O V ? Aufgabe Überlege dir: Wie würden sich wohl zwei miteinander durch eine feste, aber masselose Stange verbundene Kugeln verhalten, wenn man sie fallen lässt? Würden sie schneller fallen als die beiden einzelnen Kugeln? Zur Selbstkontrolle Benedetti kam zu der Überzeugung, dass es keinen Grund gibt anzunehmen, die beiden Kugeln würden nun schneller zu Boden fallen als die einzelnen Kugeln. Da er aber keine masselose Stange zur Verfügung hatte (wir heutzutage leider auch nicht), blieb es vorläufig bei diesem Gedankenexperiment. 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen M3 5 von 24 Im Vakuum fällt alles gleich schnell! – Galileis Ansicht Galileo Galilei lebte um circa 1600 nach Christus. Auch er stellte Überlegungen zum freien Fall an und kam zu dem Schluss, dass Aristoteles sich geirrt haben musste. So wie schon sein Vorgänger Benedetti machte er zuerst ein Gedankenexperiment. I/B Gedankenexperiment © Justus Sustermans, Wikimedia Commons Ein kleiner, leichter Stein fällt nach Aristoteles langsamer als ein großer, schwerer Stein. Das kann man auch ganz leicht nachprüfen. Was aber passiert, wenn man den kleinen unter den großen legt, wie in der Abb. 1? Da der kleine Stein langsamer fällt, müsste er den großen doch sicher abbremsen und somit müssten sie zusammen langsamer fallen. Auf der anderen Seite sind beide Steine zusammen sicher schwerer als der große Stein allein – demnach müssten sie schneller fallen, so wie in Abb. 2! T H C Wie kann das sein? Es kann doch nicht etwas gleichzeitig langsamer und schneller fallen. I S N Aus diesem Widerspruch folgerte Galilei, dass Aristoteles sich geirrt haben musste. Galileo Galilei (1564–1642) 1. 2. A R O V Die unterschiedliche Schwere der Körper, die Aristoteles zur Erklärung heranzog, konnte also nicht die Ursache dafür sein, dass die Körper unterschiedlich schnell fallen. Es musste etwas anderes sein – der Luftwiderstand! Der schwere Stein wird nicht von dem kleinen Stein abgebremst, sondern von der Luftwiderstandskraft. Diese wirkt auf alle fallenden Gegenstände; gäbe es sie nicht, dann würden alle Körper gleich schnell fallen. Wenn das stimmte, müssten alle Körper in einem Vakuum, wo es keinen Luftwiderstand gibt, auch gleich schnell zu Boden fallen. Da in einer natürlichen Umgebung aber immer Luft vorhanden ist und damit auch die Luftwiderstandskraft, glaubten viele Gelehrte Galilei nicht. Sie waren weiterhin der Ansicht, dass die Lehre des Aristoteles die einzig richtige sei. Aufgaben Diskutiert in Kleingruppen folgende Fragen. Schreibt eure Antworten stichwortartig auf. 1. Warum war sich Galilei so sicher, dass Aristoteles falsch liegen musste? 2. Hast du die Gedankenexperimente von Benedetti und Galilei verstanden? 3. Was glaubst du? Fallen im Vakuum wirklich alle Körper gleich schnell, so wie Galilei es glaubte, oder hat Aristoteles recht? 4. Wie könnte man überprüfen, wer von den beiden recht hat? 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 6 von 24 M4 Ein aufschlussreiches Experiment – das Fallgesetz Galilei war überzeugt davon, dass die Lehre von Aristoteles falsch war. Er meinte, dass im Vakuum alle Körper – unabhängig von Größe, Gestalt und Zusammensetzung – gleich schnell fallen müssen. I/B Eine Behauptung wie diese zu machen, reichte aber nicht aus, um die anderen Gelehrten der damaligen Zeit zu überzeugen. Galilei musste sich also etwas einfallen lassen, um seine Hypothese zu überprüfen. Er machte ein Experiment! Das war um 1590 gar nicht so einfach, denn ein Vakuum konnte er nicht herstellen. Das gelang erst circa 50 Jahre später einem ebenfalls italienischen Gelehrten, Evangelista Torricelli (1608–1647). Außerdem musste Galilei die Fallzeiten genau messen, die Körper brauchen, um von einer bestimmten Höhe zu Boden zu fallen. Genaue Stoppuhren gab es aber auch noch nicht. Wie sollte er also seine Experimente durchführen? Galilei untersuchte einen „verlangsamten freien Fall“, indem er Kugeln eine schiefe Ebene hinabrollen ließ. Als Uhr verwendete er eine sogenannte Wasseruhr. Dabei handelt es sich um ein Gefäß voll Wasser, aus dem ein dünner Wasserstrahl in einen Becher herausläuft, sobald eine Kugel die Ebene herabfällt. Die Wassermenge konnte Galilei abwiegen und somit verschiedenen Laufzeiten verschiedene Massen zuordnen. Diese konnte er dann miteinander vergleichen. T H C Der Luftwiderstand spielte bei diesen verlangsamten Bewegungen kaum eine Rolle. Galilei machte so viele recht genaue Messungen mit verschiedenen Kugeln. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse übertrug er auf den lotrechten Fall. Die Bewegung einer Kugel auf einer immer steiler geneigten schiefen Ebene kommt dem freien Fall nämlich sehr nahe. I S N A R O V Durch viele wiederholte Experimente mit verschiedenen Bahnneigungen konnte Galilei zeigen, dass der von der Kugel zurückgelegte Fallweg proportional zum Quadrat der Fallzeit ist: s ~ t² Würde ein Körper 2 Sekunden lang fallen, würde er 4 Wegeinheiten zurücklegen. Bei 3 Sekunden wären es schon 9 Wegeinheiten und bei 4 Sekunden 16. Dieses Ergebnis zeigt, dass Körper nicht mit gleichbleibender Geschwindigkeit zu Boden fallen (wie Aristoteles angenommen hatte), sondern, dass sie dabei immer schneller werden. Die Geschwindigkeit steigt pro Zeiteinheit, in der der Körper fällt. Physikalisch spricht man hier von der Beschleunigung und drückt das durch folgende Gleichung aus: ∆v a= ∆t Merke Beschleunigung = Geschwindigkeitsänderung pro Zeitänderung 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen M5 7 von 24 Experimente auf der Erde – das Fallgesetz von Galileo Galilei Das genaue Fallgesetz konnte Galilei dann bestimmen zu: 1 s = ⋅ a ⋅ t² 2 s Fallweg; t Fallzeit; a Beschleunigung I/B Auf der Erde ist die Beschleunigung im freien Fall die Erdbeschleunigung g. Diese ist vom Abstand zum Erdmittelpunkt abhängig und am Äquator daher etwas kleiner als an den Polen. In Flugzeugen ist sie demnach auch etwas geringer als am Erdboden. Allgemein gibt man für erdnahe Bewegungen den Mittelwert an: m g = 9,81 2 s Aufgaben 1. Berechne mit dem Galilei’schen Fallgesetz, wie lange der freie Fall dauern würde, wenn ein Fallschirmspringer in 4000 m Höhe aus dem Flugzeug springt und auf 1000 m Höhe seinen Fallschirm zieht. Schreibe deinen Rechenweg in dein Heft. T H C I S N Zur Kontrolle hier die Lösung: t = 24,7 s. Du brauchst sie für Aufgabe 2. A R O © Wikimedia Commons 2. Wie groß ist die Geschwindigkeit, die der Fallschirmspringer erreicht, bevor er seinen Schirm öffnet? Überlege, ob dieser Werte realistisch ist. V Was glaubst du? Diskutiere mit deinen Mitschülern. 3. Der längste Fallschirmsprung, der bis dato stattgefunden hat, wurde von Joe Kittinger 1960 im Rahmen eines NASAProjektes durchgeführt (und überlebt). Seine Freifallzeit betrug 4 Minuten 38 Sekunden. Fallender Ball a) Berechne mithilfe des Galilei’schen Fallgesetzes, aus welcher Höhe Kittinger gesprungen sein müsste, wenn man die Luftwiderstandskraft vernachlässigt. Nimm an, dass die Erdbeschleunigung über den gesamten Fallweg konstant bleibt. b) Seinen Fallschirm öffnete Kittinger in einer Höhe von 5500 m. Mit welcher Geschwindigkeit hätte er sich bewegt, als er den Fallschirm öffnete, wenn sein Sprung im Vakuum stattgefunden hätte? c) Sind das realistische Werte? Internetrecherche Recherchiere im Internet zum Thema Fallschirmspringen. – Trage geschichtliche Aspekte zusammen (erste Entwürfe, Sprünge, Rekorde…). – Informiere dich über die physikalische Grundlagen (Rundkappen, Flächenschirme, aerodynamischer Auftrieb, Sicherheitsrelevantes). 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 8 von 24 M6 I/B Der reale Freifall – Luftwiderstand und cw-Wert Das Galilei’sche Fallgesetz beschreibt die Fallbewegung von Körpern unter idealen Bedingungen, das heißt unter Vernachlässigung sämtlicher Reibungskräfte, wie z. B. des Luftwiderstandes. Unter realen Bedingungen und gerade bei einem Fallschirmsprung aus 4000 m Höhe spielt der Luftwiderstand aber eine wichtige Rolle! Beim Fallschirmspringen geht es nicht einfach nur darum, zur Erde zu fallen, sondern den Fall durch entsprechende Körperhaltung und Arm- und Beinbewegungen möglichst genau zu steuern. Dies ist nur möglich, da im realen Umfeld eine Luftwiderstandskraft auf den Fallschirmspringer wirkt, die einerseits seine Fallgeschwindigkeit begrenzt und die er andererseits gemäß dem dritten Newton’schen Gesetz – dem Reaktionsprinzip (actio est reactio) – für Steuerbewegungen nutzen kann. Der reale Fall eines Fallschirmspringers hat also mit dem idealisierten freien Fall, der durch das Galilei’sche Fallgesetz beschrieben wird, nicht viel gemein. T H C Eine Gleichung mit empirischem Charakter Bezieht man die Luftwiderstandskraft mit ein, so wird die mathematische Beschreibung des Falls komplizierter. Dies liegt daran, dass die Gleichung für die Luftwiderstandskraft kein physikalisches Grundgesetz ist, sondern dass sie empirischen Charakter hat, das heißt, dass man die darin vorkommenden Größen aufwendig messen muss. Dies ist in der realen Physik leider oft der Fall: Die einfachen Gesetze stimmen nur für Idealfälle, in der Realität ist es meistens viel komplizierter! I S N A R O Merke Die Gleichung für die Luftwiderstandskraft lautet: ρ ⋅ v² Fw = ⋅ A ⋅ cw 2 V Diese Gleichung gilt nicht nur für Fallschirmspringer oder Körper, die vertikal zur Erde fallen, sondern ganz allgemein für Körper, die sich in einem gasförmigen (oder auch flüssigen) Medium bewegen. Dabei ist: F W (Luft)widerstandskraft ρ (Luft)dichte v (Fall)geschwindigkeit (bzw. Strömungsgeschwindigkeit) im Medium A Querschnittsfläche des umströmten Körpers cw (Luft)widerstandsbeiwert oder Strömungswiderstandskoeffizient (cw-Wert) Die Luftwiderstandskraft steigt also mit der Größe des Körpers, der umströmt wird (genauer mit der Fläche A, die umströmt wird), und mit seiner Geschwindigkeit v zum Quadrat (!) an. Bewegt sich ein Körper also mit doppelter Geschwindigkeit in einem Medium, so steigt die Luftwiderstandskraft auf das Vierfache an. (Dies ist z. B. auch der Grund dafür, dass Autos mit der doppelten Leistung nicht automatisch doppelt so schnell fahren können.) 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 10 von 24 M7 I/B Vom Fallgesetz zum realen Fallschirmsprung – die Herleitung Der ideale freie Fall ist eine Fallbewegung unter dem Einfluss der Schwerkraft, also ohne weitere äußere Einwirkungen wie Reibung, insbesondere den Luftwiderstand. Da es sich um eine beschleunigte Bewegung handelt, gilt die Newton’sche Bewegungsgleichung: F = m • s’’(t) = m • g, wobei F Kraft, die auf einen Körper wirkt, hier die Gravitationskraft FG, m Masse des Körpers, auf den die Kraft wirkt. Man sieht, dass beim freien Fall ohne Luftwiderstand die Masse des fallenden Objektes keine Rolle spielt, da sich die Massen herauskürzen. Es bleibt die zweite Ableitung des Ortes nach der Zeit, also die Beschleunigung: T H C s’’(t) = g Durch Integration nach t erhält man die Geschwindigkeit v in Abhängigkeit von der Zeit t: v(t) = s’(t) = g • t + v0, I S N wobei v0 die Anfangsgeschwindigkeit ist. Nochmalige Integration ergibt die vollständige Bewegungsgleichung: s(t) = 1 • g • t² + v0 • t + s0, 2 A R O wobei s(t) momentane Höhe, v0 Anfangsgeschwindigkeit und V s0 Ausgangshöhe. Der erste Term des Ausdrucks ist Galileis Fallgesetz. Die Bewegungsgleichung gilt nicht nur für fallende Körper, sondern ganz allgemein – allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass die Bedingungen ideal sein müssen, d. h. Reibung etc. nicht berücksichtigt werden. Freier Fall mit Luftwiderstand Da es sich beim Fallschirmspringen um einen freien Fall mit Luftwiderstandskraft handelt, muss man diese bei einer exakten Beschreibung der Bewegung natürlich berücksichtigen. Die Newton´sche Bewegungsgleichung für den freien Fall mit Luftwiderstandskraft lautet: ρ ⋅ v2 ⋅ A ⋅ cW 2 Im ersten Teil des Terms haben wir die bekannte Newton´sche Bewegungsgleichung, die einfach durch die Luftwiderstandskraft (siehe M 6) ergänzt wird. F = m • s’’(t) = –m • g + Das Minus vor dem Term [m • g] kommt daher, dass die Bewegung in einem gedachten Koordinatensystem nach unten (d. h. in negative Richtung) geht. Eigentlich eine Kleinigkeit, aber für den Formalismus von großer Bedeutung, da sonst negative Vorzeichen auftauchen wo man sie nicht haben will – unter Wurzeln zum Beispiel, wie im Folgenden gleich ersichtlich. 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 11 von 24 M 8 Nervenkitzel und Körperbeherrschung – vom Fallen zum Fliegen I/B © Matt Hoover, Wikipedia, CC T H C I S N A R O V © Okapia KG Zwei Wingsuitpiloten bei einem Küstenflug © Ertl Das Flughörnchen diente als Vorbild für die Entwicklung des Wingsuits Rechts: Der Autor mit einem Wingsuit der Marke Birdman 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 13 von 24 M 10 Körperhaltung und Kleidung sind entscheidend Neben der Masse sind die Körperhaltung und die Kleidung eines Fallschirmspringers die entscheidenden Einflussfaktoren auf seine Fallgeschwindigkeit. Durch die Körperhaltung können Fallschirmspringer nicht nur die Fallgeschwindigkeit deutlich variieren, sondern sie können auch vorwärts-, rückwärts- oder nach links/rechts fliegen. So sind z. B. Formationsflüge und Akrobatikfiguren während des Freifalles möglich. I/B Um den Fall zu stabilisieren, drücken Fallschirmspringer ihr Becken nach vorne und machen so ein „Hohlkreuz“. Diese sogenannte stabile Freifallhaltung ist die Ausgangsund Endlage von verschiedenen Flugfiguren, wie Saltos, Rollen oder anderen Manövern. T H C I S N A R O V Damit optimieren Fallschirmspringer ihren cw-Wert und verringern auch die Angriffsfläche A für die Luftwiderstandskraft. S. Heit & R. Tschaitschian – blogbuzzter.de Auf der folgenden Abbildung siehst du einen Springer, der sich in der stabilen Freifallhaltung nach vorne bewegt, indem er mit seinen Armen und Händen die Luft nach hinten umlenkt und so selbst nach vorne beschleunigt wird. Jeb Corliss stürzt sich mit seinem Wingsuit entspannt ins Tal, taucht in Canyons ein und fliegt über die Baumwipfel. 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 14 von 24 M 11 Untersuche den Einfluss der Körperhaltung! – Eine Bastelei Schülerversuch I/B · Vorbereitung: 5 min Durchführung: 20 min Kopiere die Fallschirmspringervorlage (M 14, auch auf CD-ROM 28) auf ein stärkeres Papier (> 100 g/m²), schneide den Fallschirmspringer aus und lasse ihn einfach auf den Boden fallen (Bild 1). Wahrscheinlich wird er nicht sehr stabil zu Boden fallen. Er wird erst gleiten und sich dann möglicherweise überschlagen. Wenn du aber Arme, Beine und Kopf etwas nach hinten biegst und deinen Fallschirmspringer erneut fallen lässt, wirst du sehen, dass er nun viel stabiler – und vielleicht auch schneller – zu Boden gleitet. T H C I S N A R O V Führe mehrere Versuche durch: Vergleiche die Fallgeschwindigkeit der Fallschirmspringer aus dickerem Papier mit derjenigen der Fallschirmspringer aus dünnerem Papier (Variation der Masse m). Biege sie auch verschieden stark auf, um die Größe der Angriffsfläche A und den cw-Wert zu verändern. Aufgaben 1. Ein Fallschirmspringer (1) mit 70 kg möchte mit einem zweiten Springer (2) mit 100 kg eine Formation bilden. Der Einfachheit halber nehmen wir für beide Springer denselben cw-Wert von 0,8 sowie eine konstante Luftdichte von 1 kg/m³ an. Welche Angriffsfläche A muss Springer 1 dem Luftwiderstand bieten, damit er mit Springer 2 (A = 1 m²) die Formation halten kann? 2. Recherchiere im Internet zur Physik und zur Geschichte des Fliegens. Schreibe die wesentlichen Punkte auf einer A4-Seite zusammen: – zeitliche Einordnung der jeweiligen Entwicklungen, – physikalische Grundlagen zum aerodynamischen Auftrieb. 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 15 von 24 M 12 Die Realität – Datenanalyse eines Fallschirmsprunges Die Tabelle zeigt die Daten eines Sprunges des Autors, die mit einem digitalen Luftdruckmessgerät mit Speicherfunktion gewonnen wurden. Dieses Gerät dient auch als Höhenmesser und gibt Warntöne ab, die dem Fallschirmspringer signalisieren, in welcher Höhe er sich befindet. Das Gerät hat zudem eine Uhr eingebaut, um die Fallgeschwindigkeit (Luftdruck-änderung pro Zeitänderung) zu berechnen, und loggt die Daten zur späteren Analyse: Fallzeit t [s] 0 Fallweg s [m] 0 1 4,9 Geschw. v Höhe über [m/s] Grund [m] 4150 4,9 4145,1 Fallzeit t [s] 40 Fallweg s [m] 1929,2 Geschw. v [m/s] 53,2 Höhe über Grund [m] 2220,8 2168 41 1982 52,8 2 19,2 14,3 4130,8 42 2034,7 52,7 2115,3 3 42,1 22,9 4107,9 43 2087,7 53 2062,3 4 72,4 30,3 4077,6 44 2140,9 53,2 2009,1 5 108,6 36,2 4041,4 45 2194,5 53,6 1955,5 6 149,5 40,9 4000,5 46 2247,6 53,1 1902,4 7 194 44,5 3956 47 2300,4 52,8 1849,6 8 241,2 47,2 3908,8 48 2352,9 9 290,2 49 3859,8 49 2405,6 10 340 49,8 3810 50 2458,1 11 392,3 52,3 3757,7 51 2510,7 T H C I S N 52,5 1797,1 52,7 1744,4 52,5 1691,9 52,6 1639,3 52,7 1586,6 12 444,1 51,8 3705,9 52 2563,4 13 497,5 53,4 3652,5 53 2616 14 548 50,5 3602 54 2668,8 15 602 54 3548 55 2721,6 52,8 1428,4 655,5 53,5 3494,5 56 2771,1 49,5 1378,9 708,8 53,3 3441,2 57 2810,9 39,8 1339,1 761,9 53,1 3388,1 58 2835,1 24,2 1314,9 814,6 52,7 3335,4 59 2846,5 11,4 1303,5 A R O 16 17 18 19 V 20 52,6 1534 52,8 1481,2 867,3 52,7 3282,7 60 2854 7,5 1296 920,2 52,9 3229,8 61 2861,3 7,3 1288,7 22 972,8 52,6 3177,2 62 2868,6 7,3 1281,4 23 1025,9 53,1 3124,1 63 2875,8 7,2 1274,2 24 1079,4 53,5 3070,6 64 2883 7,2 1267 25 1133,3 53,9 3016,7 65 2890,2 7,2 1259,8 26 1187 53,7 2963 66 2897,4 7,2 1252,6 21 I/B 27 1240,5 53,5 2909,5 67 2904,6 7,2 1245,4 28 1293,4 52,9 2856,6 68 2911,8 7,2 1238,2 29 1346,2 52,8 2803,8 69 2919 7,2 1231 30 1399,1 52,9 2750,9 70 2926,2 7,2 1223,8 31 1452,7 53,6 2697,3 71 2933,4 7,2 1216,6 32 1506,1 53,4 2643,9 72 2940,6 7,2 1209,4 33 1558,9 52,8 2591,1 73 2947,8 7,2 1202,2 34 1611,6 52,7 2538,4 74 2955 7,2 1195 35 1664,2 52,6 2485,8 75 2962,2 7,2 1187,8 36 1717,1 52,9 2432,9 76 2969,4 7,2 1180,6 37 1769,5 52,4 2380,5 77 2976,6 7,2 1173,4 38 1822,6 53,1 2327,4 78 2983,8 7,2 1166,2 39 1876 53,4 2274 79 2991 7,2 1159 80 2998,2 7,2 1151,8 28 RAAbits Physik August 2012 19. Die Physik des Fliegens untersuchen 20 von 24 Erläuterungen und Lösungen M1 I/B Der freie Fall – Überlegungen des Aristoteles dazu Schreiben Sie die Äußerungen der Schüler stichwortartig an die Tafel. Oder Sie machen eine Abstimmung und zählen die Stimmen für und gegen Aristoteles’ Behauptungen. Bevor die Schüler den Versuch durchführen, sollen sie sich überlegen, wie man ihre Aussagen überprüfen könnte. Die Versuche selbst stellen nicht zu unterschätzende Ansprüche an die Experimentierkunst, da die Fallzeiten sehr gering (unter einer Sekunde) sind und die Reaktionszeit der Schüler beim Zeitmessen eine große Rolle spielt. Dies kann aber durchaus von Nutzen sein, um die Schwierigkeiten einer experimentellen Untersuchung zu thematisieren. – Wie könnte man den Versuch verbessern? Antwort: Qualitativ, indem man z. B. die beiden unterschiedlich schweren Kugeln gleichzeitig fallen lässt. – Wie könnte man die Messwerte optimieren? T H C Antwort: Quantitativ, indem man mehrere Messungen durchführt, den Mittelwert plus die Fehlerabweichung berechnet und zudem unterschiedliche Schüler messen lässt. I S N Je nach Niveauanforderung besprechen Sie anhand dieses einfachen Versuches verschiedene Aspekte der naturwissenschaftlichen Forschung (Stichwort: Nature of Science). Lösung: Der Erwartungshorizont des Schülerversuchs A R O Ziel der Versuche ist zu erkennen, dass die Kugel mit der doppelten Masse nicht doppelt so schnell zu Boden fällt. Ob überhaupt ein Unterschied in den Fallzeiten festgestellt werden kann, ist bei den geringen Fallhöhen fraglich, da der Luftwiderstand kaum eine Rolle spielt. Zunächst sieht es so aus, als würden beide Kugeln (fast) gleich schnell zu Boden fallen. Versuch c) ist daher von großer Bedeutung. Hier zeigt sich, dass die Form und nicht die Schwere den größten Einfluss auf die Fallgeschwindigkeit hat. V M2 Ein Zweifler – das Gedankenexperiment von Benedetti Sensibilisieren Sie Ihre Schüler für die Schwierigkeiten bei Gedankenexperimenten. Da der Versuch mit der masselosen Stange nicht durchgeführt werden kann, bedarf es einer rein argumentativen Lösung, wie es zur damaligen Zeit der mittelalterlichen Scholastik auch üblich war. M3 Im Vakuum fällt alles gleich schnell! – Galileis Ansicht Die Fragen knüpfen an Material M 2 an und leiten zu Material M 4 über. Sie zeigen auf, wie zunächst durch bloße Überlegungen Widersprüche in der aristotelischen Betrachtungsweise zutage traten. Bei aller argumentativen Sicherheit und persönlicher Überzeugung reichen Überlegungen aber nicht aus, um Naturwissenschaft zu betreiben. Frage 4 weist auf die wichtige Rolle des Experiments bei einer naturwissenschaftlichen Untersuchung hin. 28 RAAbits Physik August 2012