Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Geographie Elisabeth LICHTENBERGER, Wien Präambel – I. Tendenzen der Fachentwicklung seit dem 19. Jahrhundert – II. Die politisch-institutionellen Perioden der Fachentwicklung in Österreich – III. Generationsfolgen und Schulen – IV. Ausblick: Die Chancen der geographischen Forschung in einem Kleinstaat – V. Verzeichnis der Abbildungen – VI. Bibliographie Präambel Die Geographie ist als Disziplin weder den Natur- noch den Geisteswissenschaften zuzuordnen. Ihr Spektrum greift in beide wissenschaftlichen Hemisphären hinein. Durch die frühere Verwissenschaftlichung des naturwissenschaftlichen Astes sind innerfachliche Transfers des geowissenschaftlichen Forschungsstils in die kultur- und sozialwissenschaftliche Geographie erfolgt, so daß eine isolierte Darstellung der Wissenschaftsgeschichte der Geographie des Menschen Fehlinterpretationen zur Folge hätte. Aus der Sicht der Geographie ist die menschliche Gesellschaft an den Planeten Erde gebunden. Welche Ideologie auch immer diese Mensch-Umwelt-Relation aufgrund der technologischen Entwicklung und der zeitspezifischen geistigen Strömungen haben mag, so bleibt sie doch für alle globalen Fragen des Faches maßgebend. Die Geographie ist ein altes und überaus komplexes Fach, das letzte Fach, das in den abgelaufenen 150 Jahren nicht nur eine Aufspaltung in Sektoren, sondern in immer kleinere Teilstücke erfahren hat. Ihre Fachvertreter sind zum Unterschied von den Vertretern der systematischen Disziplinen mit dem immanenten Nachteil konfrontiert, daß das Informations- und Forschungsterrain durch die drei Dimensionen von Raum, Zeit und sachlichen Inhalten definiert wird. Dieser Informationsraum des Faches ist nun äußerst ungleichmäßig besetzt, und es sind große Leerräume vorhanden, die als Unterbrecher fungieren; andererseits kommt es zur Ballung und Intensivierung von Kontakten, wobei gegenwärtig – dem individualistischen Zeitgeist entsprechend und 1 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. weltweit über Zitierkartelle ausstilisiert – die Kleingruppenbildung fortschreitet und globale Fragen vergessen werden. Es ist daher ein äußerst schwieriges Anliegen, eine Wissenschaftsgeschichte der Geographie in Österreich zu schreiben. Als Grundlage für die Aussagen wurden die Würdigungen und Nachrufe aller österreichischen Universitätsprofessoren bis zum Geburtsjahrgang 1928 herangezogen. Folgende Leitthemen ordnen das vorhandene Kaleidoskop an Informationen: l. Welche generellen Tendenzen haben die Fachentwicklung in diesem Zeitraum geprägt? 2. Welche Effekte hatte der politische Zusammenbruch der Donaumonarchie des größten Staates Europas nach Russland? Welche Reduzierung hat das Forschungspotential des Faches im österreichischen Kleinstaat in der Ersten und Zweiten Republik erfahren? 3. Welche Schulen wurden dem Humboldtschen Universitätsideal folgend begründet? Wer sind die Gründerfiguren gewesen? Welche Forschungsstränge sind von Österreich ausgegangen? 4. Die Schlußfrage lautet: Worin besteht das spezifische Forschungsprofil der Geographie in der österreichischen Wissenschaftslandschaft? Welche Chancen hat die Geographie in Österreich, im gegenwärtigen Prozeß der Globalisierung mitzuhalten? I. Tendenzen der Fachentwicklung seit dem 19. Jahrhundert 1. Überblick Die abgelaufenen eineinhalb Jahrhunderte der Fachentwicklung in der Geographie folgten vier Tendenzen: (1) Aus der „Frontierdisziplin“ im Entdeckungszeitalter der Erde entstand schrittweise eine „Normaldisziplin“. (2) Hinsichtlich der Erforschung der Beziehung zwischen der natürlichen Umwelt – der Erde – und dem Menschen kam es zu einer Drehung der Sichtweise. (3) Im gleichen Zeitraum hat sich die Geographie in Subdisziplinen aufgespalten und das Verhältnis des Faches zu den Nachbardisziplinen geändert. (4) Die Rangordnung in der geographischen Forschung hat sich zwischen den großen Sprachräumen verschoben. Der deutsche Sprachraum mußte seine Führungsposition nach dem Zweiten Weltkrieg an den angelsächsischen Sprachraum abgeben. Die Geographie ist keine Wissenschaft im elfenbeinernen Turm, sondern hat aufgrund ihres räumlichen Bezugssystems stets vier außerwissenschaftliche Funktionen 2 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. von allerdings wechselnder Bedeutung, von denen Rückkoppelungseffekte auf die wissenschaftlichen Fragestellungen ausgegangen sind: (1) Die Geographie war stets ein politisches Fach und aufgrund ihrer systemstabilisierenden und -erhaltenden Effekte als Bildungsdisziplin von den jeweils aktuellen politischen Ideologien abhängig. (2) Die Geographie war stets auch ein geostrategisch und damit militärisch wichtiges Fach. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Geographen als Experten bei den Friedensverträgen auf beiden Seiten herangezogen.1 Im Zweiten Weltkrieg waren Geographen in den Forschungsstaffeln der deutschen Wehrmacht, aber ebenso bei den Alliierten tätig. (3) Die Geographie hat stets Informationsaufgaben für die Wirtschaft und die Medien wahrgenommen. Geographen hatten daher früh Schlüsselpositionen bei Verlagen inne. Umgekehrt haben Verlage „Geographische Reihen“ herausgebracht. (4) Als für die „Ordnung des Raumes“ zuständige Disziplin hat sich die „Raumforschung“ als ein wichtiger interdisziplinärer Bereich, der in Österreich von Geographen begründet und aufgebaut wurde, zwischen Wissenschaft, Politik und Technik entwickelt. 2. Die Frontierdisziplin Geographie und das Ende des Entdeckungszeitalters Die Geographie war als Entdeckungswissenschaft der Erde im 19. Jahrhundert eine „Frontierdisziplin“. Aus dieser Positionierung im damaligen Forschungsfeld der Disziplinen resultierten Merkmale, welche stets wissenschaftlichen Frontierdisziplinen eigen sind: Interdisziplinarität, Interesse von seiten der politischen Entscheidungsträger und öffentliches Ansehen.2 Das Merkmal der Interdisziplinarität bedeutete, daß einerseits der Bereich der geowissenschaftlichen Geographie und andererseits der Bereich der„historischen Geographie“ ohne Abgrenzung mit anderen Wissenschaften, den Geowissenschaften beziehungsweise den Geistes- und Kulturwissenschaften, verbunden und ein Karrierewechsel über Fachgrenzen hinweg für Hochbegabte möglich wurde (vergleiche III.2 und 3). Das Entdeckungszeitalter wird im allgemeinen mit dem Zeitalter der Europäisierung der Erde und der Kolonialisierung gleichgesetzt. Österreich, seit 1867 die 1 Im Büro der Geographical Society in New York wurden von dem amerikanischen Geographen Bowmann die Unterlagen für die Aufteilung der Habsburgermonarchie ausgearbeitet, wobei Karten des serbischen Geographen J. Cvijic die Strukturierung der Nachfolgestaaten, vor allem die von Jugoslawien, entscheidend mitbestimmt haben. Auf österreichischer Seite war zwar der Geograph Robert Sieger bei den Friedensverhandlungen anwesend, doch blieb ihm ein Erfolg verwehrt. 2 Das wissenschaftliche Ansehen des Faches sei mit zwei Eckdaten belegt: 1871 fand der erste internationale Geographenkongreß in Antwerpen statt; 1922, knapp nach Beginn der Periode des Völkerbundes, wurde die IGU (Internationale Geographische Union) gegründet. 3 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. österreichisch-ungarische Monarchie, war zwar der größte Staat des Kontinents nach Rußland, hat jedoch niemals Kolonien besessen. Österreichische Forschungsreisende haben daher immer für andere Staaten geforscht und sind nicht selten in fremde Kolonialdienste getreten: in spanische, portugiesische, englische, anglo-ägyptische, belgische und reichsdeutsche. In der dokumentarischen Veröffentlichung von Hugo Hassinger Der Anteil Österreichs an der Erforschung der Erde sind die Einzelheiten der räumlich und sachlich weit gestreuten Partizipation Österreichs an der Beseitigung der „weißen Flecken auf der Landkarte“ nachzulesen. Die großen Forschungsreisen begannen in Österreich nicht mit der Zielsetzung der Entdeckung von Neuland, sondern sie erfolgten seit dem 18. Jahrhundert im Auftrag des Kaiserhauses und dienten der Vermehrung der kaiserlichen Sammlungen.3 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die überseeischen Forschungen unter der Mitwirkung der Kriegsmarine durchgeführt. Dabei war die bekannte „NovaraExpedition“ vom 30. April 1857 bis 30. August 1859 keineswegs die erste Erdumsegelung, sondern sie folgte dem Beispiel anderer Staaten.4 Der Schwerpunkt des Unternehmens lag auf der akribischen geographisch-enzyklopädischen Aufnahme der Sachverhalte in den angesteuerten Häfen.5 Auch die beiden österreichischen Polarexpeditionen (1872 bis 1874 und 1882/83) sind wesentlich unter Mitwirkung der Kriegsmarine zustandegekommen. Die Entdeckung des Franz-Joseph-Landes 1875 ist der Payer-Weyprecht-Expedition zu verdanken. Die ozeanographische Erforschung des östlichen Mittelmeerbeckens und des Roten Meeres wurde durch die „Pola“ (1890 bis 1898) durchgeführt. Die geplante Antarktis-Expedition von Graf Wilczek scheiterte infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Das von Deutschland gekaufte Expeditions-Schiff „Gauß“, dessen Ausrüstung die Geographische Gesellschaft finanziert hatte, lag aufbruchsbereit im Hafen von Triest, als mit den Schüssen von Sarajevo die lange Friedenszeit des liberalen Zeitalters zu Ende ging. 3 Von dem kaiserlichen Auftrag (1755) an Nikolaus Josef Jacquin (1727-1817) profitierte die Botanik. Jacquin hat sich 1752 als Arzt in Wien niedergelassen und wurde 1753 zum Direktor des neu gegründeten Botanischen Gartens in Schönbrunn und zum Professor der Botanik und Chemie an die Universität bestellt. Hier entstand seine Flora Austriaca (Wien 1773-1778) in fünf Bänden mit 500 kolorierten Karten. 4 Britische Fregatte „Herald“, 1845-1851; dänische Fregatte „Galatea“, 1845-1848; schwedische Fregatte „Eugenie“, 1851-1853; Vereinigte Staaten von Nordamerika Expeditions-Escadre 1853-1855; vergleiche die Ausführungen des Freiherrn von REDEN: Beitrag zur Instruction für die Forschungen und Sammlungen auf der Erdumseglung der k. k. Fregatte „Novara“, in: MÖGG 1857, S. 21-24. Das Kommando der Novara hatte Wüllerstorf-Urbair, der auch die ozeanographischen und meteorologischen Beobachtungen leitete. Route: Madeira, Rio de Janeiro, Kapstadt, Neu-Amsterdam, Ceylon, Singapur, Batavia, Manila, Hongkong, Shanghai, Sydney, Oakland, Tahiti, Valparaiso. 5 Vergleiche von REDEN (Anmerkung 4), S. 21: „Als Hauptaufgabe betrachte ich das Studium der auf ihrer Reise berührten Theile der Erde, in Beziehung auf deren natürliche Beschaffenheit, Bewohner, Erwerbs- und Verkehrsverhältnisse.“ 4 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Es ist einsichtig, daß das Fehlen von Kolonien eine verstärkte Binnensicht zur Folge hatte. Doch profitierten davon in erster Linie die museal verankerten Fächer wie die Völkerkunde und Volkskunde6 sowie die bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts universitär etablierte Botanik.7 Das sogenannte Kronprinzenwerk, die 15bändige Deskription der „Monarchie in Wort und Bild“, kann das Verdienst einer breiten Illustrationssammlung für sich in Anspruch nehmen.8 Darin spiegelt sich die von Kaiserhaus und Adel unterstützte Sammeltätigkeit von Objekten für Museen wie das k. u. k. Naturhistorische Hofmuseum, das Museum für Völkerkunde und das Museum für Österreichische Volkskunde wider.9 Eine Länderkunde der Monarchie kam in dem Vielvölkerstaat nicht mehr zustande. Die Absicht von Albrecht Penck, eine zu schreiben, gelangte aufgrund seiner Berufung nach Berlin nicht zur Ausführung.10 Die österreichische und die ungarische Reichshälfte separierten sich seit dem Ausgleich mit Ungarn 1867 nicht nur in der Wirtschaftspolitik voneinander, sondern auch in der Wissenschaftspolitik. Die wichtige Institution des statistischen Dienstes wurde geteilt. Der Vielvölkerstaat der Monarchie war nicht imstande, eine reichsübergreifende institutionelle Informationsstruktur des Faches Geographie zu schaffen.11 Der Zerfall der Monarchie 1918 beendete die Existenz des Großreiches, nicht jedoch das Ende des Entdeckungszeitalters. Einzelne Österreicher haben bis herauf in die Nachkriegszeit beachtliche Leistungen vollbracht. Verwiesen sei auf Alphons Gabriels Querung der Wüste Lut, die topographischen Aufnahmen von Hans Bobek im Elbursgebirge und vor allem auf Hermann von Wissmanns Forschungen in Arabien und in China.12 6 Die Völkerkunde der Monarchie wurde in den grundlegenden Werken des Freiherrn von CZOERNIG Ethnographie der Österreichischen Monarchie, 3 Bände, Wien 1855-1857, sowie in Adolf FICKERs Die Völkerstämme der österreichisch-ungarischen Monarchie, Wien 1869, ferner in dem großen Sammelwerk Die Völker Österreich-Ungarns (15 Bände, Teschen 1881-1889), ausführlich behandelt. 7 Die Pflanzengeographie Österreich-Ungarns hat Anton Kerner von Marilaun begründet. 8 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Auf Anregung und unter Mitwirkung des Kronprinzen Rudolf, Graz 1888 – 1891. 9 Seine Gründung geht auf Michael Haberlandt, einen Schüler von Albrecht Penck und Eugen Oberhummer, zurück. 10 Das kleine Göschen-Bändchen von A. Grund (GRUND 1905) über die österreichisch-ungarische Monarchie bietet nur eine erste Information. 11 In diesem Zusammenhang erscheint von Interesse, daß Eduard Brückner als Rektor der Universität Bern den 5. Internationalen Geographenkongreß 1891 in die Schweiz, Albrecht Penck im gleichen Jahr den Deutschen Geographentag nach Wien geholt haben. 1912 hat Albrecht Penck als Vorsitzender des Zentralausschusses von Berlin aus den Deutschen Geographentag unter dem Vorsitz Franz von Wiesers nach Innsbruck gebracht. 12 Hermann von Wissmann war einer der letzten Forschungsreisenden, die noch im Stil des zweiten Entdeckungszeitalters in langen Karawanenreisen das Gesehene mit Bussole, Schrittmaß und Zeichenstift festgehalten haben. Hingewiesen sei noch auf den Kartographen Erik Arnberger, der sich vor der Welle des Tourismus in die Inselwelt des Indischen und Pazifischen Ozeans hineinbegeben hat, und dessen posthum von seiner Frau Hertha ARNBERGER herausgegebenes Werk Die tropischen Inseln des Indischen und Pazifischen Ozeans (Wien 1988) einen Überblick über 38.000 Inseln bietet. Die englische Übersetzung ist im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Erscheinen. 5 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 3. Die Änderung der Basisideologien in der Mensch-Umwelt-Relation In der Brückenfunktion der Geographie zwischen den Geowissenschaften und den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften (konkret: in der Erforschung der Beziehung zwischen der natürlichen Umwelt – der Erde – und dem Menschen) haben sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Sichtweisen grundlegend geändert. Schiebt man die teleologische Perspektive von Carl Ritter, dem Begründer der Länderkunde, beiseite, der die Erde als „Erziehungshaus für die Menschheit“ aufgefaßt hat, so war die Weitsicht im 19. Jahrhundert weitgehend vom Determinismus, das heißt der Auffassung von der Bestimmung des Menschen durch die natürliche Umwelt, geprägt. Der erste Ausbruch aus der deterministischen Interpretation erfolgte in Richtung auf einen Possibilismus durch die Kulturkreislehre Friedrich Ratzels, welche von großem Einfluß auf alle Kulturwissenschaften gewesen ist, wonach Innovation und Diffusion von Phänomenen als selbststeuernde Prozesse aufzufassen sind. Hugo Hassinger hat in seinem Werk über Die Geographie des Menschen den Einfluß der Naturlandschaft auf den Menschen (physische und psychische Anthropogeographie) und den Einfluß des Menschen auf die Naturlandschaft und ihre Umgestaltung zur Kulturlandschaft unterschieden. Ohne es explizit auszuführen, hat die sozialgeographische Kulturstufenlehre von Hans Bobek bereits den Gedanken der schrittweisen Emanzipation von der natürlichen Umwelt enthalten. Inzwischen ist eine weitere Veränderung erfolgt. Die wissenschaftliche Frage ist nicht mehr, welcher Wandel sich von der Naturlandschaft zur Kulturlandschaft vollzogen hat, wie dies noch bis herauf in die 60er Jahre der Fall war, sondern im Gefolge der grünen Bewegung und der globalen Modelle wird nunmehr die Zerstörung der biologischen Umwelt auf der Erde durch den Menschen in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Während sich die menschliche Gesellschaft in den entwickelten Staaten zum Teil ein künstliches Klima der Behausung und Umwelt schaffen konnte, haben Vegetation und Tierwelt tiefgreifende globale Zerstörungen erfahren, Wasser und Luft sind durch Emissionen der modernen Industrien und Technologien bedroht. 6 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 4. Die Änderung der Position gegenüber den Nachbardisziplinen Die Kantsche Definition der Geographie als Raumwissenschaft und ihre Trennung von der Geschichte bieten den Einstieg für eine Reihe von Urteilen und Annahmen.13 4.a. Die Trennung von raum- und sachspezifischer Forschung Die Trennung zwischen raum- und sachspezifischer Forschung läßt sich, wie die Wissenschaftsgeschichte belegt, nicht mittels wissenschaftstheoretischer Kriterien festlegen, sondern vollzieht sich in Abhängigkeit von den wissenschaftlichen Organisationsformen des jeweiligen politischen Systems und der darin agierenden Wissenschaftler in den großen Sprachräumen der entwickelten Welt in recht unterschiedlicher Weise. Sie folgt nämlich nicht zwangsläufig einer bestimmten Raumbeziehungsweise Sachthematik, sondern ist von den Persönlichkeiten abhängig, welche imstande sind, zwischen Raum- und Sachthematik gelegene Forschungsstrukturen zu schaffen und institutionell zu verankern. Es bestehen beachtliche Unterschiede zwischen der deutschen und der nordamerikanischen Geographie, und zwar in der physischen Geographie durch die frühe Verselbständigung der Morphologie von der Geologie, und in der Geographie des Menschen durch die Begründung der geographischen Stadtforschung an der Schnittstelle zur Architekturgeschichte und zum Städtebau sowie weiters durch die Separierung der Sozialgeographie von der Soziologie. 13 Immanuel Kant hat im preußischen Staat in den Jahren 1757 bis 1797 29mal sein Bildungskolleg „Physische Geographie“ gelesen. Zitieren wir Kant: „Die Geographie betrifft Erscheinungen, die sich, in Ansehung des Raums, zu gleicher Zeit ereignen. Nach den verschiedenen Gegenständen, mit denen sie sich beschäftigt, erhält sie verschiedene Namen. Demzufolge heißt sie bald die physische, die mathematische, die politische, bald die moralische, die theologische, litterarische oder mercantilische Geographie. Die Geschichte desjenigen, was zu verschiedenen Zeiten geschieht, und welches die eigentliche Historie ist, ist nicht anders als eine continuierliche Geographie, daher es eine der größten historischen Unvollständigkeiten ist, wenn man nicht weiß, an welchem Orte etwas geschehen sei, oder welche Beschaffenheit es damit gehabt habe. Die Historie ist also der Geographie nur in Ansehung des Raumes und der Zeit verschieden. Wir können aber beides, Geschichte und Geographie, auch gleichmäßig eine Beschreibung nennen, doch mit dem Unterschiede, daß erstere eine Beschreibung der Zeit, letztere eine Beschreibung dem Raume nach ist.“ (zit. nach BECK 1973, S. 163) 7 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 4.b. Die Aufspaltung des Faches in Teildisziplinen Die Fachentwicklung ist seit Kant durch eine schrittweise Verwissenschaftlichung gekennzeichnet. Die Geographie löste sich als letztes großes Fach in einzelne wissenschaftliche Teildisziplinen auf. Bei diesem Prozeß ist die geowissenschaftliche Geographie vorangegangen, während der Vorgang der Aufspaltung des humanwissenschaftlichen Teilbereiches in theoriegestützte Bestandteile bis zur Gegenwart herauf anhält und noch nicht abgeschlossen ist. Dieser Unterschied kann begründet werden: Alle Teilfächer der physischen Geographie, mit Ausnahme der Morphologie, verfügen über systematische naturwissenschaftliche Nachbardisziplinen. Im humanwissenschaftlichen Teilbereich bestehen dagegen nur zwei „geowissenschaftlich“ fundierbare Subdisziplinen, nämlich die Siedlungsgeographie (des ländlichen Raumes) und die Stadtgeographie. Letztere verfügt über eine sehr komplexe Forschungsstruktur und stellt die theoretisch-methodisch am weitesten ausgebaute Subdisziplin des Faches dar. Sie besitzt keine Nachbarwissenschaft, sondern nur eine technische Siedlungslehre als Propädeutik an den Technischen Universitäten. Ebenso wie die Morphologie weist sie eigene Theorien und Klassifikationssysteme auf. Dementsprechend ist auch die Verselbständigung der geographischen Stadtforschung als internationales Fach am weitesten fortgeschritten. Sie ist die Wachstumsdisziplin par excellence und verfügt über ein breites Spektrum an Zeitschriften. Die noch sehr stark in der Tradition der historischen Kulturlandschaftsforschung verankerte Siedlungsgeographie ist mit dieser zu den historischen Disziplinen „abgewandert“, wo sich ein interdisziplinärer, von Historikern dominierter Verbund rings um die Zeitschrift Siedlungsforschung entwickelt hat. Primär von systematischen Nachbardisziplinen bestimmt sind dagegen die Bevölkerungsgeographie (vergleiche den Beitrag von H. Fassmann in diesem Band) und die Wirtschaftsgeographie mit ihren Teilbereichen.14 „Neue“ humanwissenschaftliche Geographien des Verhaltens, der Bildung sowie des Arbeits- und Wohnungsmarktes sind durch den Import von Theorien aus Nachbardisziplinen durch österreichische Geographen seit den 70er Jahren begründet worden.15 14 Infolge der Einrichtung eines Ordinariats an der Exportakademie, der späteren Hochschule für Welthandel und der heutigen Wirtschaftsuniversität in Wien, ist schon früh eine Aufgabenteilung gegenüber den universitären Geographieinstituten eingetreten. 15 P. MEUSBURGER: Beiträge zur Geographie des Bildungs- und Qualifikationswesens. Regionale und soziale Unterschiede des Ausbildungsniveaus der österreichischen Bevölkerung (= Innsbrucker Geographische Studien 7), Innsbruck 1980; H. FASSMANN: Arbeitsmarktsegmentation und Berufslaufbahnen. Ein Beitrag zur Arbeitsmarktgeographie Österreichs (= Beiträge zur Stadt und Regionalforschung 11), Wien 1993; W. MATZNETTER: Wohnbauträger zwischen Staat und Markt. Strukturen des sozialen Wohnungsbaus in Wien, Frankfurt a. M. u. a. 1991. 8 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 4.c. Der „geographische“ Maßstab Die Frage des Raumes führt mit Notwendigkeit zur Frage, welcher Maßstab dem Fach Geographie eigen ist. Beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis herauf an die Schwelle der Gegenwart, wurde der geographische Maßstab mit dem Landschaftsbegriff identifiziert und etwa mit dem Maßstab 1:25.000 gleichgesetzt. In dem genannten Zeitraum hat sich die Forschung in den physischen Nachbardisziplinen der Geographie vom Makro- zum Mikromaßstab hin bewegt. Diese Aussage gilt für die Vegetationsforschung, die Geologie, Petrographie, Mineralogie und Bodenkunde. Technologische Fortschritte im Laboratorium, unter anderem das Elektronenmikroskop, haben hierzu entscheidend beigetragen. Damit liegt die räumliche Bezugsebene bei der empirischen Analyse in den Nachbarwissenschaften vielfach tiefer als in den jeweiligen geographischen Teildisziplinen. Dies führt dazu, daß physische Geographen überall dort, wo sich ihre systematischen Kontrahenten bereits auf den Mikromaßstab hinbewegen, ebenfalls den Forschungsmaßstab tiefer legen müssen beziehungsweise „übersprungene“ und datenmäßig nicht genutzte Räume besetzen. Die Aussagen für die humanwissenschaftlichen Subdisziplinen und ihre Nachbarfächer lauten anders. Bei diesen besteht eine deutliche Zweiteilung hinsichtlich der Theoriehorizonte und des Forschungsmaßstabs. Zwei Disziplinen, nämlich die Volkskunde und die Völkerkunde, haben sich bereits im 19. Jahrhundert klar unterhalb des von der Humangeographie untersuchten Landschaftsmaßstabs im Realobjektraum angesiedelt und eigene Forschungsclaims abgesteckt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist im Zuge des Take-offs der analytischen Geographie eine zweite Gruppe von Nachbarwissenschaften in engen Kontakt mit der Geographie geraten. Ihre Hauptvertreter sind die Soziologie, die Ökonomie und die Politologie. Ihre Theorien sind zum Großteil aräumlich beziehungsweise bewegen sich dort, wo sie sich auf räumliche Einheiten beziehen, zumeist im kleinen Maßstab von Staaten und Großregionen. Im Zuge der generellen Wissenschaftsentwicklung folgen jedoch auch sie, allen voran die Soziologie, dem Trend zur Forschungsarbeit in kleineren Räumen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Geoäste der genannten Nachbardisziplinen tiefere räumliche Bezugsebenen erreichen werden. Damit wird ein Druck auf die benachbarten Teildisziplinen der Geographie ausgeübt, deren gegenwärtiges Problem darin besteht, daß sie, um Theorien aus den Nachbarwissenschaften integrieren zu können, wie die Wirtschaftsgeographie und teilweise auch die Sozialgeographie, den geographischen Maßstab verlassen und eine höhere räumliche Bezugsebene als Forschungsebene wählen müssen, und zwar diejenige, auf der diese Nachbarwissenschaften operieren. 9 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Abb. 1:Geographischer Maßstab und aktuelle Theoriehorizonte von Nachbardisziplinen der Geographie Mit der Abbildung 1 wird das immanente Problem der Forschungsstruktur der Geographie offengelegt, wonach die einzelnen Teildisziplinen aufgrund des notwendigen Konnexes mit den Nachbarwissenschaften in verschiedenen Maßstäben arbeiten müssen. Nun wäre es unrichtig, der Geographie des Menschen ein statisches Verharren auf der Maßstabsleiste zuzuschreiben. Auch sie hat in der empirischen Forschung die Maßstabsgrenzen in der Nachkriegszeit immer tiefer gelegt, und zwar über den Katastermaßstab mit Parzellenschärfe zum Maßstab von 1:100 bei Haus- und Wohnungsgrundrissen. Es wurde eine Maßstabsgrenze erreicht, welche sich nicht mehr von den Arbeitsmaßstäben der Architekten, Völker- und Volkskundler unterscheidet. In der Sozialgeographie haben sich die Untersuchungsobjekte von Sozialschichten über Sozialgruppen bis zu Individuen hin verschoben, gleichzeitig wurden immer diffizilere Fragen aus den Sozialwissenschaften aufgegriffen, wie Verhaltensmuster, Aktionsräume, Lebensläufe, Wohnketten und so fort. Damit wurden an der Nahtstelle zu den Sozialwissenschaften Terrains erreicht, bei denen sich die grundsätzliche Frage stellt, ab und in welcher Weise räumliche Differenzierungen eher von systematischen Nachbardisziplinen in eigenen Geoästen als Fragestellungen aufgegriffen und bearbeitet 10 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. werden sollten, beziehungsweise ob und inwieweit systematische Fragen bei einer Integration in die Humangeographie einer besseren Lösung zugeführt werden können. Es ist einsichtig, daß, solange das Verbundpotential von geowissenschaftlicher und geistes- und kulturwissenschaftlicher Methodik von Geographen genutzt wird, diese einen Vorteil überall dort besitzen, wo die Problemlösung das Wissen um räumliche Strukturen voraussetzt, wie dies unter anderem bei Fragen der Raumforschung der Fall ist. 4.d. Der Stellenwert von allgemeiner und regionaler Geographie Die Kantsche Definition von der Geographie als Raumwissenschaft hat, verstärkt durch ihre Funktion als Bildungsfach an der höheren Schule und in der Öffentlichkeit, zur Auffassung geführt, daß die regionale Geographie, das heißt die Länderkunde, „die Krönung des Faches“ darstellt. Derart wurde und wird die Entstehung immer weiterer Subdisziplinen, das heißt „neuer Geographien“, von vielen Geographen mit Mißtrauen betrachtet und diskriminiert. Andererseits ergab sich aus der bildungs- und staatspolitischen Funktion der regionalen Geographie die Notwendigkeit einer Popularisierung von Sachinhalten, welche die Vertreter von Subdisziplinen vielfach dazu brachte, die regionale Geographie aufgrund „der Unwissenschaftlichkeit ihrer Deskriptionen und des fehlenden theoretischen Überbaus“ abzulehnen. In der Generationenfolge der universitären Geographie ist das Beispiel von Norbert Krebs (1876-1947), dem Auslandsösterreicher und langjährigen Lehrkanzelinhaber in Berlin, anzuführen, der nahezu ausschließlich Länderkunden geschrieben hat und für den die Länderkunde nicht Gegenstand einer metatheoretischen Diskussion, sondern in erster Linie ein Problem der Darstellung, das heißt der Herausarbeitung der jeweils landesspezifischen Eigenart, gewesen ist. Umgekehrt haben sich am Berliner Institut in Opposition zum Institutschef alle Dozenten auf Teilgebiete der Geographie spezialisiert und neue Subdisziplinen geschaffen und damit die ersten zwei Jahrzehnte der Nachkriegsentwicklung im deutschen Sprachraum (und darüber hinaus) entscheidend bestimmt: Julius Büdel (1903-1983) die Klimamorphologie, Carl Troll (1899-1975) die Landschaftsökologie, Hans Bobek (1903-1990) die Sozialgeographie. Herbert Louis (1900-1985) etablierte sich in der Strukturmorphologie, Anneliese Krenzlin (19031993) in der historischen Siedlungsgeographie. Der Rückblick auf eineinhalb Jahrhunderte Fachgeschichte führt zur Aussage eines generationsweise erfolgten Wechsels der Präferenzen zwischen allgemeiner und regionaler Geographie. In Zeiten politischer Umbrüche bei gleichzeitig akkumuliertem neuem Wissen in den allgemeinen Disziplinen gehört die Abfassung von Länderkunden zum Pflichtprogramm derjenigen, die über den Forschungsstand in den Subdisziplinen Bescheid wissen und die regionale Darstellung als eine Aufgabe ansehen. 11 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Die Schaffung der Europäischen Union hat über den deutschen Sprachraum hinaus an der Wende zum 21. Jahrhundert erneut eine Welle der Abfassung von Länderkunden gebracht.16 II. Die politisch-institutionellen Perioden der Fachentwicklung in Österreich l. Einleitung Jede Wissenschaft bedarf der Institutionen, um Stabilität und Kontinuität der Forschung zu erhalten und den „Fortschritt durch Irrtum“ zu finanzieren. Die Einrichtung von wissenschaftlichen Institutionen ist in den abgelaufenen zwei Jahrhunderten eine Angelegenheit des Staates gewesen. Der Staat hat in Österreich niemals das Informationsmonopol aus der Hand gegeben und auch die Forschung entscheidend durch seine Möglichkeiten zur Einrichtung und Finanzierung wissenschaftlicher Institutionen bestimmt. Die Institutionsgeschichte der Wissenschaften kann daher nur synchron zur politischen Geschichte des Staates geschrieben werden. Dies gilt auch für das Fach Geographie. Entsprechend der politischen Entwicklung lassen sich vier Perioden der institutionellen Entwicklung des Faches unterscheiden: (1) Die Vorphase des aufgeklärten Absolutismus der Habsburgermonarchie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schuf die Grundlagen, welche die geographische Forschung benötigt: • exakte topographische Karten und • statistische Daten über Bevölkerung, Siedlung und Wirtschaft. Für diese Informationsblöcke entstanden die institutionellen Voraussetzungen einerseits durch die Militärkartographie und andererseits durch die Einrichtung eines statistischen Dienstes. (2) Die liberale Gründerzeit war das Zeitalter der Industrialisierung und des Eisenbahnbaus und das Zeitalter der staatlichen Gründungen von wissenschaftlichen Institutionen, darunter auch zahlreiche geographische Lehrkanzeln. (3) Der Zusammenbruch der Donaumonarchie, des größten Staates Europas, hat alle Bereiche der Bevölkerung und Wirtschaft betroffen und änderte die „Wissenschaftslandschaft“ grundstürzend. Alle wissenschaftlichen Einrichtungen im Österreich der Jahre nach 1918/19 waren plötzlich zu groß dimensioniert und wurden in die Krise hineingerissen. Die Erste Republik war ein krisengeschüttelter Kleinstaat. 16 Die wissenschaftliche Buchgesellschaft und der Verlag Klett in der Bundesrepublik Deutschland sowie der Verlag Reclus in Frankreich haben kürzlich neue Reihen der Länderkunde eröffnet. 12 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Bereits im Jahr 1934, dann wieder 1938 und schließlich 1945 sind universitäre Fachvertreter in den Strudel politischer Ereignisse geraten.17 (4) Die Zweite Republik konnte dank der ökonomischen Prosperität an der universitären Gründungswelle der Nachkriegszeit in Europa partizipieren, wobei durch die Gleichzeitigkeit einer egalitären Universitätsreform mit der Vermehrung der universitären Dienstposten und der Gründung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen spezifisch österreichische Lösungen auch im Fach Geographie entstanden sind. 2. Die Vorphase bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Österreich hat sich am Kolonialzeitalter der europäischen Großmächte nicht beteiligt. Es hatte im 18. und 19. Jahrhundert Aufbauarbeit in den weiten zum Teil verwüsteten und siedlungsleeren Räumen der östlichen Reichshälfte zu leisten, welche Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft gestanden hatten und „Entwicklungshilfe“ für alle Bereiche der Wirtschaft ebenso benötigten wie den geordneten Ausbau von Siedlung und Verkehr. Beamtenstand und Militär bildeten die Säulen für die Administration des Großreiches. Die akribische Durchführung der statistischen Zählungen war ein Verdienst des Beamtenstandes, die Schaffung der topographischen Grundlagen dasjenige der Ingenieursoffiziere. 2.a. Militärkartographische Aufnahmen Die Errichtung der kaiserlichen Ingenieurakademien in Wien und Brüssel (1717) bildeten Marksteine für die Entwicklung einer wissenschaftlich begründeten österreichischen Kartographie. Seit damals wurden in der Monarchie die topographischen Aufnahmen als Teil der Offiziersausbildung durchgeführt. Infolge der räumlich weitgespannten Politik der Monarchie erlangte die Militärkartographie Österreichs europäische Bedeutung, denn wo immer Heere des Kaiserreichs marschierten, machten Ingenieursoffiziere Landesaufnahmen.18 17 1934 Entlassung von Metz in Innsbruck, Machatschek in Wien; 1938 Außerdienststellung von Sölch, Selbstmord Lichteneckers; 1945 Tod von Luzerna in Prag. 18 Die Militärkartographie erhielt ihre geodätische Grundlage durch den Jesuitenpater Josef Liesganig, der Direktor der Wiener Sternwarte war. Auf Befehl Maria Theresias maß er 1762 eine Dreieckbasis bei Wiener Neustadt, eine zweite in Marchfeld, 1769 zwei weitere Grundlinien in Ungarn. Ihm ist die erste Gradmessung auf deutschem Boden zu verdanken (Meridianbogen Brünn/Varazdin); vgl. HASSINGER 1950, S. 98. 13 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Die planmäßige Aufnahme aller österreichischen Länder auf Blättern 1:28.800 begann 1763 und dauerte bis 1787. Sie ist als Josephinische Aufnahme in die Geschichte der Kartographie eingegangen.19 Ein Jahrhundert später folgte die von Erzherzog Karl angeregte Francisceische Aufnahme im Katastermaßstab 1:2.880, welche von 1860 bis 1869 ausgeführt wurde.20 Die Auswertung beider Aufnahmen und der Vergleich mit Kartierungen im Gelände, um die Veränderungen der Kulturlandschaft zu untersuchen, gehört seit Hugo Hassinger zum methodischen Repertoire der kulturgeographischen Forschung. Mit der Aufnahme und Herausgabe der topographischen Karten in der Hochgründerzeit (1873-1889) in den Maßstäben 1:25.000 und 1:75.000 für die gesamte Monarchie hat das k.u.k. militärgeographische Institut eine außerordentliche Leistung vollbracht, welche mit der Kartierung der Britischen Inseln und dem Riesenwerk des Indienatlas in der langen Regierungszeit von Königin Viktoria verglichen werden kann. Die Tätigkeit des Militärgeographischen Instituts hat sich nämlich nicht auf die Monarchie beschränkt. Die sogenannte Generalkarte von Mitteleuropa erstreckte sich im Maßstab 1:200.000 über ganz Italien, umfaßte auch die Balkanhalbinsel und reichte bis in die heutige Ukraine hinein. 2.b. Die Periode der Lexika Bereits 100 Jahre vor der Einrichtung universitärer Institute, in der Periode des aufgeklärten Absolutismus, hat die Monarchie die statistischen Grundlagen für die politische Arithmetik geschaffen – eine Leistung, die nicht hoch genug einzuschätzen ist. Synchron zu Katasterkarten, Stadtplänen und topographischen Karten erfolgten topographisch genaue Zählungen der Siedlung, Bevölkerung und Wirtschaft durch den statistischen Dienst. Sie bildeten die Grundlage für topographische Lexika und Adreßbücher, welche zum Teil auch durch private Initiative entstanden sind. Manufakturisten, Handel- und Gewerbetreibende sowie Unternehmer waren die Interessenten. Im folgenden seien nur die wichtigsten topographischen Lexika für den Gesamtstaat genannt: Bereits 1782 wurde von F. G. Hermann in Wien der wirtschaftlich ausgerichtete Abriß der physikalischen Beschaffenheit der österreichischen Staaten und des gegenwärtigen Zustandes der Landwirtschaft, Gewerbe, Manufakturen, Fabriken und Handlungen in denselben herausgegeben; 1787- 19 Über 5.400 Originalblätter (Sektionen) dieses Werkes liegen im Wiener Kriegsarchiv. Die Sektionsblätter der josephinischen Karte sind aquarellierte Handzeichnungen, die lange Zeit streng geheimgehalten wurden. 20 Das für ihre Zeit vorbildliche Werk der francisceischen Katasterkarte 1:2.880 mit ihren „Fassionen“ wurde ebenfalls nicht gedruckt. 14 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 1791 erschien das sechsbändige Handbuch des österreichischen Staates von Ignaz De Luca, Professor der Statistik an der Universität Wien (1746-1799); das Topographische Postlexikon aller Ortschaften der kaiserlichen Erbländer in 24 Bänden wurde von Christian Crusius in Wien von 1798-1828 herausgebracht. Eine zweite Reihe von landeskundlichen Monographien stammt aus dem Vormärz. G. W. Blumenbach verfaßte ein dreibändiges Werk des Fabrik- und Gewerbewesens im österreichischen Kaiserstaat (Wien 1819-1824). Sein populärwissenschaftliches Werk Neueste Gemälde der österreichischen Monarchie (Wien 1830-1833) erschien in verbesserter zweiter Auflage 1837 in drei Bänden. Franz Raffelsberger (1793-1861) veröffentlichte in Wien (1846-1853) das Geographische Lexikon des österreichischen Kaiserstaates in 10 Bänden. Der Begriff Geographie wurde zum erstenmal von Max Josef Freiherr von Liechtenstern für das 1817/18 veröffentlichte dreibändige Handbuch der neuesten Geographien des österreichischen Kaiserstaates verwendet. 3. Die Gründerzeit der wissenschaftlichen Institutionen in der österreichischungarischen Monarchie Das liberale Zeitalter ist eine Periode des unglaublichen Aufbruchs aller Wissenschaften und ebenso eine Periode der Neugründung von Institutionen gewesen. Der hier extensiv gefaßte Begriff Gründerzeit (1848-1918) gilt nicht nur für die Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Stadtentwicklung, sondern auch für die Entwicklung der wissenschaftlichen Institutionen. Der Staat war zugleich Bauherr, Gründer und Finanzier der Einrichtungen. In der Metropole Wien wurden zunächst die baulichen Dimensionen gestaltet, die rechtlichen Normen festgesetzt und die Aufgaben der Institutionen definiert, die nach 1867 von Budapest und schließlich von den Hauptstädten der Kronländer nachgeahmt worden sind. In Wien entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts knapp nacheinander drei große staatliche Forschungseinrichtungen: 1847 wurde die Österreichische Akademie der Wissenschaften gegründet, 1849 die Geologische Reichsanstalt und 1851 die k.u.k. Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus. Zu den Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften gehörten von Anfang an auch 15 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Geographen.21 Die Akademie der Wissenschaften übernahm die wissenschaftliche Schirmherrschaft über die bereits genannten Expeditionen, die Novara-Expedition und die beiden Polarexpeditionen, und publizierte deren Ergebnisse. Sie förderte aber auch die geologische Erforschung der Balkanländer und Griechenlands ganz wesentlich.22 Der Direktor der Geologischen Reichsanstalt, Franz von Hauer, brachte ab 1867 eine geologische Übersichtskarte der Monarchie heraus. Anläßlich des 50jährigen Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph (1898) erschienen die ersten Blätter der geologischen Spezialkarte. Die Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus erlangte unter der Leitung von Julius Harm (vergleiche III.1) Weltruf, wobei durch die Messungen auf den neu eingerichteten Hochstationen des Obir (2047 m) und des Sonnblick (3105 m) bisherige meteorologische Auffassungen grundsätzlich revidiert werden konnten. Um die Jahrhundertwende bestanden 400 Stationen.23 Der geowissenschaftlichen Aufbruchsstimmung der frühen Gründerzeit, die sich in den großen Weltumsegelungen (vergleiche I.2) äußert, entsprach es auch, daß an der Wiener Universität 1851 bereits das erste Ordinariat für Geographie eingerichtet und mit einem Naturforscher, Friedrich Simony, besetzt worden war – zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland nach dem Tode Carl Ritters kein einziger ordentlicher Lehrstuhl für Geographie bestand.24 Nahezu zwei Jahrzehnte blieb die Wiener Lehrkanzel die einzige in der Monarchie. Erst in der Hochgründerzeit (1870-1895), und somit um zwei Jahrzehnte später als die Gründung der großen staatlichen Forschungseinrichtungen, setzte die große Gründungswelle von geographischen Lehrkanzeln an den Universitäten ein. Ungarn erhielt die erste Lehrkanzel für Geographie 1870 in Budapest, die zweite 1875 in Klausenburg; in der österreichischen Reichshälfte wurde nach Wien zuerst 1877 ein 21 Bei der Gründung befanden sich unter 40 wirklichen Mitgliedern zwei Geographen: Adrian Edler von BALBI, k. k. Rat in Mailand (er war Verfasser eines Atlas Ethnographique du Globe, London 1826 sowie eines Abrege de Geographie, London 1852; 8. Aufl. der deutschen Übersetzung neu bearbeitet von F. HEIDERICH, Wien 1893 bis 1894, 3 Bände), und der Forschungsreisende Karl Freiherr von HÜGEL. Eine der ersten Denkschriften der Akademie (1850) enthielt dessen Werk Das Kabulbecken und die Gebirge zwischen dem Hindukusch und der Sutlej. Unter den gewählten ausländischen Ehrenmitgliedern befanden sich Carl Ritter und Alexander von Humboldt (Berlin) und der Direktor des Geographischen Instituts in Brüssel, Philip Maelen. Aktuar der Akademie wurde der Geograph Dozent Dr. Adolf Schmidl. 22 Die Veröffentlichungen der Balkankommission, die südarabische Expedition, A. Musils Reisen in Nordarabien sowie die Mission von R. Poech nach Südafrika sind hier zu nennen. 23 1865 wurde die Österreichische Gesellschaft für Meteorologie gegründet. Sie unterstützte und ergänzte die Arbeiten der Zentralanstalt. Die von ihr herausgegebene Meteorologische Zeitschrift wurde das führende Organ der meteorologischen Wissenschaft. 24 In Berlin war Heinrich Kippert zunächst nur als außerordentlicher Professor tätig, in Göttingen und Breslau war die Geographie kein selbständiges Lehrfach, sondern mit Statistik (J. E. Wappaeus) und alter Geschichte (Karl Neumann) verbunden. 16 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Lehrstuhl in Prag eingerichtet. Gleichzeitig entstanden Extraordinariate in Graz und Krakau, 1880 weitere in Innsbruck und Czernowitz, die dann innerhalb weniger Jahre in Ordinariate umgewandelt wurden; 1882 kamen Lemberg in Galizien und 1884 Agram (Zagreb) in Kroatien hinzu. Von der Fertigstellung des Gebäudes der Neuen Universität an der Ringstraße profitierte die Wiener Universitätsgeographie. 1885 wurden nach der Emeritierung von Simony zwei Lehrkanzeln eingerichtet, und zwar für „physikalische Geographie“ und für „historische Geographie“. Damit war die institutionelle Gründungswelle der universitären Geographie abgeschlossen. In der Spätphase der Gründerzeit (1890-1918) erfolgte 1893 die Gründung des Hydrographischen Zentralbüros und damit die Organisation des hydrographischen Beobachtungsdienstes in Österreich, der in weiterer Folge weniger den Interessen der Binnenschiffahrt, sondern denen der Wasserwirtschaft und dem Hochwasserschutz zugute gekommen ist. Knapp vor der Jahrhundertwende, 1898, wurde in Wien die Exportakademie errichtet und 1919 in die Hochschule für Welthandel umgewandelt. Die Wirtschaftsgeographie verfügte zunächst über eine, später sogar über zwei Lehrkanzeln Während die „Lehrkanzeln“ entsprechend ihrer Bezeichnung von Anfang an für die „Lehre“ des jeweiligen Fachgebietes eingerichtet waren und ihnen nicht die Ressourcen für Publikationen zur Verfügung standen, fiel die Aufgabe der Veröffentlichung von wissenschaftlichen Informationen und Ergebnissen fachkonformen Vereinen zu, welche von den damaligen politischen, ökonomischen und intellektuellen Eliten gegründet worden waren. Es war ein bemerkenswerter Zufall, daß nahezu gleichzeitig mit dem Handschreiben von Kaiser Franz Joseph zur Entfestigung von Wien und zum Bau der Ringstraße, nämlich am 26. 9. 1856, die kaiserliche Genehmigung der Statuten der k.u.k. Geographischen Gesellschaft erteilt worden ist.25 J. Sölch, der erste Rektor der Universität Wien nach 1945, schrieb in den Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft 1951 (Seite 4): „Die angesehensten Männer des Staates, hohe Militärs, Admiralität, hohe Beamte, wissenschaftlich Interessierte des Hochadels, führende Männer des Wirtschaftslebens waren an der Gründung beteiligt, selbst Mitglieder des 25 Die Gründung der Geographischen Gesellschaft in Wien erfolgte eine Generation später als in Paris (1821), Berlin (1828) und London (1830). Zur Zeit der Gründung bestanden in Europa bereits 12 geographische Gesellschaften. Hugo Hassinger hat darauf hingewiesen (HASSINGER 1950, S. 100), daß P. Marco Vinzenco Coronelli (1615-1718) schon um 1684 in Venedig eine Accademia Cosmografica degli Argonauti zur Förderung der Herausgabe von Globen und Karten und zur Förderung der Kosmographie geschaffen hat. Ein wechselvolles Schicksal führte herauf zur Gründung des CoronelliWeltbundes der Globusfreunde (1952), der noch heute in Wien besteht. 17 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Kaiserhauses, darunter Kronprinz Rudolf, befanden sich unter den Förderern.26 Dem Stil des Zeitgeistes entsprechend wurden Stiftungen eingerichtet und namhafte Preise vergeben. Es entstand eine bedeutende geowissenschaftliche Vortragstradition, welche fächerübergreifend Geologen, Botaniker, Geophysiker, Anthropologen und Ethnologen vereinigte. Die engen wissenschaftlichen Beziehungen zu den großen geowissenschaftlichen Institutionen, wie zur Geologischen Bundesanstalt und zur Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik sowie zum Militärgeographischen Institut, äußerten sich im Wechsel der Präsidentschaft. Neben die 1856 gegründete k.k. Geographische Gesellschaft in Wien trat 1872 die Ungarische Geographische Gesellschaft in Budapest, 1904 die Böhmische Geographische Gesellschaft in Prag.27 4. Die Krise der Institutionen in der Ersten Republik Der Zusammenbruch der Monarchie und der Fortbestand Österreichs als Kleinstaat brachten nicht nur den Verlust der staatlichen Identität, sondern änderten auch den Bedingungsrahmen dessen, was als staatsbürgerliche Erziehung und Bildung in den Lehrbüchern der Monarchie verankert gewesen war. Die Verarmung des Adels und der Unternehmerschaft sowie die Verluste der Positionen des Beamtentums in den weiten Provinzen des Reiches gingen konform mit der Eliminierung der auf die politische Vergangenheit des Großreiches bezogenen geographischen Inhalte aus den Lehrbüchern. Die Krise der Wirtschaft hatte eine dramatische Krise der Institutionen zur Folge. Das Statistische Zentralamt, in der Monarchie eine der führenden Institutionen in Europa, konnte die Volkszählungen des Kleinstaates in den Jahren 1923 und 1934 nicht wie bisher durchführen und veröffentlichen. Die kartographische Landesaufnahme verlor ihre militärische Funktion und war nicht einmal imstande, die topographischen Karten evident zu halten. Die wissenschaftlichen Vereine, darunter auch die 26 1856 Gründungspräsident der Gesellschaft Wilhelm von Haidinger, Direktor der Geologischen Reichsanstalt; 1859 der Ethnograph Karl Freiherr von Czoernig; 1861 der Reformator des wissenschaftlichen Lebens in Österreich, Leo Graf Thun-Hohenstein; 1862 der Kommandant des Expeditionsschiffs „Novara“, Bernhard Freiherr von Wüllersdorf-Urbair; 1864 der Orientforscher Theodor Kotschy; 1865 der Feldzeugmeister Franz Ritter von Hauslab; 1866 der Direktor des Militärgeographischen Instituts Franz Steinhauser; 1867 der Geologe Ferdinand von Hochstetter; 1882 Hans Graf Wilczek; 1889 der Direktor der Geologischen Reichsanstalt Franz Ritter von Hauer; 1897 der Feldzeugmeister Christian Freiherr von Steeb; 1900 der Direktor der Geologischen Reichsanstalt Emil Tietze; (erst) 1907-1914 der Geograph Eugen Oberhummer; 1915-1920 der Geograph Eduard Brückner. 27 Bezüglich der wissenschaftlichen Veröffentlichungen vergleiche HASSINGER 1950, S. 138. In diesem Zusammenhang darf darauf hingewiesen werden, dass von den Fachzeitschriften die Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft in Wien die ältesten darstellen, welche nahezu gleichzeitig mit Petermann’s Geographischen Mitteilungen begonnen wurden und zum Unterschied von diesen kontinuierlich bis heute erscheinen. Erst seit 1866 wurde die Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin herausgegeben. 18 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Geographische Gesellschaft, verloren mit der Verarmung von Adel, Unternehmern und Beamten den Großteil ihrer Mäzene. Der Zusammenbruch konnte jedoch eines nicht vernichten: das Wissen in den Köpfen der Menschen, die die Chance gehabt hatten, noch in der Monarchie ihre universitäre Ausbildung zu erhalten und in einem Vielvölkerstaat aufgewachsen zu sein. Es gehört daher zu den interessanten Paradoxien, daß die Erste Republik, deren Existenzfähigkeit von der Bevölkerung bezweifelt wurde, eine ganz erstaunliche Anzahl von Wissenschaftlern in allen Sparten, darunter auch in der Geographie, aufgewiesen hat. Die Besetzungslisten der österreichischen Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck während der Zwischenkriegszeit bezeugen dies nachdrücklich, enthielten sie doch durchwegs Spitzenvertreter des Faches: Hugo Hassinger (Wien), Otto Maull (Graz), Fritz Machatschek (Wien), Johann Sölch (Innsbruck, Wien), die nicht zuletzt dank der großen, von ihnen verfaßten Handbücher ganz wesentlich zum Ansehen der deutschsprachigen Geographie beigetragen haben (vergleiche Kapitel III). Auf ein zweites, ebenso erstaunliches Phänomen sei hingewiesen: nämlich darauf, daß die noch in der Gründerzeit geborene Generation von Geographen auch Herausgeber und Autoren für die Reihe Enzyklopädie der Erdkunde gestellt hat, welche – was ebenso erstaunlich war – von dem im deutschen Sprachraum immer noch renommierten Verlag Deuticke in Wien herausgebracht worden ist. Alle wichtigen Bereiche der allgemeinen physischen Geographie waren darin vertreten: Gletscherkunde, Klimatologie, Morphologie. 5. Wachstum und Neugründung von Institutionen in der Zweiten Republik Die entsprechend den staatlichen Grenzen erfolgte nationale Abkapselung der geographischen Forschung wurde zu einem wesentlichen Merkmal der europäischen Geographie in der Nachkriegszeit. Sprachbarrieren und Informationsvorsprung der mit dem jeweiligen System vertrauten heimischen Geographen erschwerten größere Forschungsvorhaben durch Ausländer vor allem auf dem humanwissenschaftlichen Sektor. Dazu kam ein weiteres: Besaß nach dem Zerfall der Donaumonarchie der Kleinstaat der Ersten Republik einen enormen Überhang an wissenschaftlichem Potential und einschlägigen Eliten, nicht zuletzt auch in der Geographie, so wurde dieses bedeutende Reservoir im Verlauf der Nachkriegszeit weitgehend verbraucht. Österreich entwickelte sich zu einem Abwanderungsland für junge talentierte Akademiker und Wissenschaftler aus allen Bereichen, während die Zuwanderung von Wissenschaftlern aus dem westlichen Ausland im Verhältnis dazu unzureichend blieb. Auch auf dem Felde der wissenschaftlichen Geographie haben sich die Kommunikationsmuster zum Teil einseitig entwickelt. Konzepte und Methoden strömten aus dem vielfach größeren Nachbarstaat Deutschland nach Österreich ein und 19 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. wurden häufig erst mit deutlicher Phasenverschiebung wirksam, während es andererseits nur einzelnen Fachvertretern der österreichischen Universitäten gelungen ist, jenseits der Grenze mit eigenen Forschungen zur Kenntnis genommen zu werden. Diese Angleichung der wissenschaftlichen Kapazitäten an die Dimensionen eines Kleinstaates vollzog sich dabei unter anderen ökonomischen Vorzeichen als in der Ersten Republik. Das „österreichische Wirtschaftswunder“ folgte dem des benachbarten westlichen Auslandes. Der generelle Wachstumsprozeß der Wirtschaft und die allgemeine Wohlstandssteigerung führten zur Neugründung von Institutionen durch den Staat. Österreich partizipierte an der europaweiten Neugründungswelle von Universitäten. Auf der föderalistischen Struktur des Staates beruhten die Bestrebungen, „jedem Bundesland seine Universität“ zu geben. 1964 wurde die Universität Salzburg wiedereröffnet, 1972 die sozialwissenschaftliche Universität in Linz und 1978 die bildungswissenschaftliche Universität in Klagenfurt gegründet. In Salzburg und Klagenfurt wurden Geographische Institute eingerichtet. Es ist die „Heimkehrergeneration“ gewesen, auf deren Initiative die Neuerrichtung und Ausstattung vieler Institute zurückgeht ebenso wie die Stärkung des inneruniversitären Ansehens des Faches durch Rektoren und Dekane aus dem Fach Geographie.28 Der österreichische Staat übernahm auch die Förderung der Wissenschaft durch öffentliche Fonds, darunter den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der allerdings, anders als die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland, keine „staatliche Exportförderung“ der Forschung für das Fach Geographie betrieben hat, so daß Auslandsforschung und Überseeforschung in Österreich weit weniger gefördert wurden als im Nachbarstaat Deutschland. Daraus resultierte eine stärkere Bindung etablierter Wissenschaftler an den nationalen Rahmen, wodurch die Herstellung des österreichischen Nationalatlasses ebenso möglich gewesen ist wie ein stärkeres territoriales Engagement in angewandter geographischer Forschung. Österreich weist institutionelle Sonderentwicklungen auf: dazu gehören, erstens, die Errichtung einer Kommission für Raumforschung (1946) und die anschließende Gründung des Instituts für Stadt- und Regionalforschung (1988) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und, zweitens, die Einrichtung von Studienzweigen für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung sowie für Kartographie an der Universität Wien (1972). Österreichische Geographen hatten seit Hugo Hassinger29 einen wesentlichen Anteil an der Etablierung der Raumforschung als universitären Fachs und als staatlicher Institution.30 28 Rektoren waren in der Nachkriegszeit: Kinzl und Fliri (Universität Innsbruck); Sölch und Spreitzer, welcher einstimmig gewählt wurde, dann jedoch aus Gesundheitsgründen zurückgetreten ist (Universität Wien); Scheidl (WU Wien); Lendl (Universität Salzburg). 29 1939 Übernahme der Leitung des Arbeitskreises Raumforschung an der Universität Wien. 30 Die Leitung der Österreichischen Raumordnungskonferenz liegt seit der Gründung in der Hand von Geographen: zuerst Karl Stiglbauer, gegenwärtig Eduard Kunze. 20 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. III. Generationsfolgen und Schulen 1. Die Generationsfolge der geographischen Ordinariate an österreichischen Universitäten In der sozialwissenschaftlichen Biographie- und Lebenslaufforschung wird die Frage nach der Abfolge der Generationen hinsichtlich Bildung, Vermögen, beruflicher Profession und Lebensstilen gestellt. Im Hinblick auf die wissenschaftliche Welt geht es dabei um Kontinuität und Wandel beziehungsweise um die Abkehr von traditionellen und die Generierung von neuen Theorien, um methodischen Fortschritt und die Operationalisierung von Fragestellungen. Bei der Anwendung der Konzeption der Generationsfolge auf die Wissenschaftsgeschichte der Geographie in Österreich im Zeitraum von eineinhalb Jahrhunderten wurde versucht, die Abfolge der Generationen zu erfassen sowie die Weitergabe und den Neuaufgriff von Themen zu spezifizieren. Es ist einsichtig, daß in diesem Zusammenhang ein zweifacher Bezug herzustellen ist: (1) zur generellen wissenschaftlichen Entwicklung und (2) zum politisch-institutionellen Schicksal der einzelnen Generationen. Die universitäre Gründungsphase der Geographie wird von den Mitgliedern der Frontiergeneration getragen, die aus anderen Disziplinen gekommen sind und Autodidakten waren. Hierzu die Beispiele aus dem benachbarten Deutschland: Alexander von Humboldt (1769-1859) begann seinen Weg zur Geographie als Botaniker, Carl Ritter (1779-1859) als Historiker, Adolf Stieler (1775-1883) hatte Jurisprudenz studiert, bevor er die wissenschaftliche Atlaskartographie begründete. Damit stehen am Beginn der Wissenschaftsgeschichte der Geographie drei Männer, die noch im 18. Jahrhundert geboren wurden und deren wissenschaftliche Lebensarbeitszeit zum Großteil vor dem Eisenbahnzeitalter gelegen ist. Mit einer deutlichen Zäsur von zwei Generationen folgen die nächsten bedeutenden Wissenschaftler, welche die Geographie im liberalen Zeitalter als universitäre Profession eingerichtet haben. Auch ihre Hauptrepräsentanten sind Autodidakten gewesen: Friedrich Ratzel (1844-1904) hat Pharmazie und Zoologie studiert, Joseph Partsch (1851-1925) Geschichte, Siegfried Passarge (1866-1958) Medizin und Geologie, Robert Gradmann (1865-1950) Theologie beziehungsweise Botanik und Oscar Peschel (1826-1875) kam von der Journalistik. Als Beispiele der Herkunft aus der Geologie sind Ferdinand von Richthofen (1833-1905) und Erich von Drygalski (1865-1949) anzuführen. Diese „Immigranten“ aus anderen Disziplinen haben aus diesen das wissenschaftliche Gepäck in Form von theoretischer Ausrüstung und methodischer Praxis mitgebracht. 21 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Blenden wir an dieser Stelle die Fachgeschichte in Österreich ein. Sie beginnt später als im Deutschen Reich mit der interessanten Persönlichkeit von Friedrich Simony (18131896), der ein halbes Jahrhundert nach Alexander von Humboldt und eine Generation vor Friedrich Ratzel geboren wurde. Er war seiner Ausbildung nach Pharmazeut, seinem persönlichen Hobby nach ein leidenschaftlicher Naturfreund und Alpinist. Mit seiner Ernennung 1851 zum Ordinarius für Geographie in Wien wird die Schiene für das Fach in die Zukunft gelegt. Die geographische Forschung in Österreich bleibt mit den Geowissenschaften verkettet. Das belegt das Curriculum der Schüler von Friedrich Simony, welche der Generation von Friedrich Ratzel angehören. Von den drei wichtigen Schülern Simonys blieb nur Eduard Richter (1847-1905) im Fachgebiet der Geographie. Julius Harm (1839-1921) habilitierte sich zwar 1869 bei Simony und wurde 1874 zum ao. Professor für physikalische Geographie ernannt, wurde jedoch drei Jahre danach zum Direktor der Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus bestellt und verlegte das Schwergewicht seiner Forschungen auf das Gebiet der Klimatologie und Geophysik. Carl Diener (1862-1928) hatte ebenfalls bei Simony studiert und sich 1885 im Fach Geographie habilitiert, 1893 wurde seine Venia auf Geologie übertragen, 1903 erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen, 1906 zum ordentlichen Professor der Paläontologie. Ein weiterer Simony-Schüler, Alexander Supan (1846-1920), eröffnete die Reihe von Geographen, welche die Möglichkeit einer außeruniversitären Karriere bei Verlagen ergriffen haben. Der Beginn der universitären Profession Geographie, das heißt die Verwissenschaftlichung der Geographie als universitäre Forschungsdisziplin, hat sich in Österreich einerseits im physischen Bereich auf der Grundlage der Geologie und andererseits im humanwissenschaftlichen Bereich auf der Grundlage der Sprachwissenschaft und Philologie vollzogen. Die Curricula belegen, daß die Fachgrenzen weiterhin offen geblieben sind. Als im Jahre 1885 Albrecht Penck (1858-1945), seinem Universitätsstudium nach Geologe, als Nachfolger von Friedrich Simony zum ordentlichen Professor für physikalische Geographie in Wien ernannt worden ist, war nicht vorherzusehen, daß damit der „Stammvater der österreichischen Geographie“ berufen wurde, dessen „Urenkel“ noch in der Gegenwart geographische Ordinariate besetzen. Albrecht Penck, Ehrenmitglied der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hat eine mächtige und weit verzweigte Schule hinterlassen, welche von seinen beiden Wirkungsstätten Wien und Berlin aus bis herauf in die Zwischenkriegszeit und die ersten Jahre der Nachkriegszeit die physische Geographie im deutschen Sprachraum entscheidend mitbestimmt hat (vergleiche III.3). Der zweite universitäre Entwicklungsast kam von der Geschichtswissenschaft und Philologie her. Franz von Wieser (1848-1923), der die Reihe der Ordinariate in Innsbruck eröffnete, hat noch in seiner Abschiedsvorlesung betont, daß er immer Historiker geblieben sei. Die Kenntnisse von Wilhelm Tomaschek (1841-1901), der 22 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 1885 auf die neu eingerichtete zweite Lehrkanzel für „Historische Geographie“ in Wien berufen worden war, umfaßten vor allem die antike Literatur und Geschichte sowie das weite Feld des Sprachvergleichs (vergleiche III.4). Auch der als Nachfolger von Wilhelm Tomaschek 1901 berufene Otto Oberhummer (1859-1944) beschäftigte sich mit der historischen Geographie unter Heranziehung von abendländischen und orientalischen Quellen (vergleiche III.4). Während es Albrecht Penck gelungen ist, in der Morphologie gleichsam in einem Zug die weitgehende Abtrennung des jüngsten Abschnitts der Erdgeschichte, nämlich des Zeitraumes des Quartärs, von der Geologie zu erreichen, hat dieser Vorgang der Separierung der Geographie von der Geschichte, den Kant kategorisch postuliert hat, in der Geographie des Menschen mehrere Generationen in Anspruch genommen, in denen ein Heraufrücken des geographischen Zeithorizonts der Forschung erfolgt ist (vergleiche III.4). Anders als in der physischen Geographie fehlt daher bei den Vertretern der historischen Geographie die Kontinuität der Weitergabe von Ideen in der Generationenkette des Faches und damit verbunden die Weitergabe des methodischen Instrumentariums. Selbst der institutionell sehr engagierte und wissenschaftlich talentierte Otto Oberhummer konnte keine Schule gründen. Es sind Penck-Schüler gewesen, welche vor dem Ersten Weltkrieg die österreichischen Universitäten besetzten, wie Franz Heiderich (1863–1926), der an der Exportakademie die Geographie des Welthandels begründet hat, und Robert Sieger (1864-1926) in Graz, der den Vorschlag von Albrecht Penck aufgegriffen hat, sich mit der Almwirtschaft zu beschäftigen, welche Penck als Teilaspekt in den Überlegungen über die Tragfähigkeit der Hochgebirge im Zusammenhang mit der Bonitierung der Erde wichtig erschienen ist. In der Generation der zwei Weltkriege hat sich die Professionalisierung des Faches vollzogen. Es handelt sich um eine interessante Generation, welche den technologischen Fortschritt von der Eisenbahn zum Flugzeug und zum Auto ebenso miterlebte, wie den zweimaligen politisch-militärischen Zusammenbruch in Zentraleuropa. Ihre Mitglieder waren noch im Großreich der Monarchie aufgewachsen, hatten ihre professorale Karriere aber erst in der Zwischenkriegszeit gemacht. Sie besaßen noch ein enzyklopädisches Fachverständnis und eine an den Dimensionen eines Vielvölkerstaates orientierte Weitsicht, andererseits war ihnen nationales Bewußtsein selbstverständlich. Noch nicht abgelenkt durch Massenmedien des Rundfunks und Fernsehens nützten sie alle Chancen der Globalisierung der Printmedien und Statistiken. Die meisten schrieben aus heutiger Sicht eine geradezu unglaubliche Zahl von Handbüchern der allgemeinen und regionalen Geographie. Mehrere PenckSchüler befinden sich darunter: Norbert Krebs (1876-1947), der zuerst nach Würzburg, dann nach Berlin als Nachfolger von Albrecht Penck berufen wird; Fritz Machatschek (1876-1957), dessen Karrierepfad über Prag nach Wien und schließlich nach München führt; Hugo Hassinger (1877-1952), der die Auslandsschleife über Basel und Freiburg 23 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. zurück nach Wien zieht und auf den als Begründer der Stadtgeographie und Kulturlandschaftsforschung noch Bezug genommen werden wird; Johann Sölch (18831951), der von Innsbruck nach Heidelberg geht und von dort als Nachfolger von Fritz Machatschek nach Wien berufen wird, und Otto Lehmann (1884-1941), der, an die TU Zürich berufen, in der Schweiz bleibt. Schließlich ist noch Otto Maull (1867-1957), ein gebürtiger Frankfurter, zu nennen, der den Ruf nach Graz erhält und mit dem die Reihe der Penck-Schüler endet. Insgesamt sind acht Penck-Schüler Ordinarien an österreichischen Universitäten gewesen. Seit den 30er Jahren kommen andere Schulen bei den Besetzungen zum Zug, wie die Hettner-Schule mit dem Landeskundler Friedrich Metz (1890-1969), der eine Zwischenetappe seiner Berufskarriere in Innsbruck absolviert, beziehungsweise Mitglieder der „Enkel-Generation“ von Albrecht Penck wie Hans Spreitzer (18971973), Sieger-Schüler, und Hans Kinzl (1898-1979), ein Sölch-Schüler. In einer Zeit kärglicher finanzieller Mittel gelingt es nicht, den bedeutenden deutschen Arabien- und Chinaforscher Hermann von Wissmann (1895-1979), der in Wien studiert und eine beispielgebende Forschungsarbeit über das Bergbauernproblem im Ennstal vorgelegt hat, nach Österreich zurückzuholen. Die Generation des 20. Jahrhunderts, welche im Ersten Weltkrieg noch zu jung war, um einberufen zu werden, bildet eine kleine Gruppe. Zu ihr gehörte Hans Bobek (19031990), der als Sölch-Schüler und damit Penck-Enkel im Stammbaum aufscheint. Er wird zum Gründer der Sozialgeographie und zur dominierenden Persönlichkeit der österreichischen Geographie in der ersten Hälfte der Nachkriegszeit. Hochbegabt, konnte er sich vom Schicksal seiner Alterskohorte, welche zwei politische Zusammenbrüche miterlebte, abkoppeln, deren Vertretern, wie Egon Lendl (19061989) und Herbert Paschinger (1911-1992), nur mehr eine späte innerösterreichische Karriere offen stand. Die Berufungspolitik, das heißt die Realisierung von Bestrebungen, österreichische Ordinariate mit eigenen Schülern zu besetzen, überließ Hans Bobek in der Heimkehrergeneration einem anderen Sölch-Schüler, nämlich Hans Kinzl in Innsbruck. Dessen Schüler besetzten mit Franz Fliri (geb. 1918) und Adolf Leidlmair (geb. 1919) die Innsbrucker Ordinariate, mit Helmut Heuberger (geb. 1923) das Salzburger Ordinariat. Relativ spät kam der soeben genannte Herbert Paschinger als Kinzl-Assistent auf den Grazer Lehrstuhl. Auf die Verdienste der Heimkehrergeneration, die zugleich eine Aufbaugeneration war, wurde bereits hingewiesen. Es handelt sich um eine Alterskohorte mit einer sehr großen Breite der Sichtweisen, vielfach noch ausgestattet mit einem von den Mitgliedern der jüngeren Kohorten belächelten enzyklopädischen Fachverständnis und mit großem topographischem Wissen. Sie hat den wissenschaftlichen Standard noch an der Komplettheit und Akribie der Literaturzitate gemessen. Zudem sah sie sich mit der „quantitativen Revolution“ des Faches konfrontiert, bei der sich einige Angehörige dieser Forschergeneration als Spitzenreiter im deutschen Sprachraum etablieren 24 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. konnten. Die finanziellen Engpässe für die Auslandsforschung haben in den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit eine Konzentration der Fachvertreter auf die Forschung im eigenen Lande erzwungen. Daraus resultierte allerdings auch insofern eine erfreuliche institutionelle Tatsache für die Geographie Österreichs, als dynamische und talentierte Mitglieder der Babyboom-Generation des Dritten Reiches wichtige Positionen in Regierungs- und Verwaltungsstellen innehatten. Als erstes ist die große Bedeutung von Geographen in der österreichischen Statistik zu nennen, die zum Teil durch das Fehlen demographischer Lehrkanzeln mitbedingt ist. Seit 1971 befindet sich die Leitung der Großzählungen in Österreich in geographischer Hand (Heimold Helczmanovszki, Nachfolger Richard Gisser). Damit wurden geographische Konzeptionen bei der Primärerhebung und bei der räumlichen und sachlichen Aggregierung der Daten in die österreichische Statistik eingebracht. Auch statistische Landesämter werden von Geographen geleitet, ferner die Österreichische Raumordnungskonferenz (Eduard Kunze), eine Verbindungsstelle zum Bundeskanzleramt, welche sehr wichtige Informationsaufgaben zwischen Wissenschaft, Regierung und Verwaltung wahrnimmt – überdies sind Geographen in nahezu allen Landesplanungsstellen tätig. Auf den durch das UOG bewirkten institutionellen Bruch in der universitären Entwicklung sei nur hingewiesen, jedoch nicht näher Bezug genommen. Es wollte die Probleme der Massenuniversität lösen und hat im Verein mit dieser die Lebensform des Gelehrten zerstört und aus den verbeamteten Wissenschaftlern Administratoren und Instruktoren gemacht. Die zunächst erfreulich scheinende Vermehrung der Dienstposten hat auf der Grundlage einer betonten Egalisierung von Professoren, Assistenten und Studenten nicht den erwarteten qualitativen Aufschwung der universitären wissenschaftlichen Forschung gebracht.31 2. Generationsfolge und Karrierepfade Die Beantwortung der Frage nach der Generationsfolge und damit nach der Bildung von Schulen findet in der Rekonstruktion der wissenschaftlichen Stammbäume ihren Ausdruck. Die andere Seite derselben Medaille bilden die Aussagen über Karrierepfade. Gerade für einen Kleinstaat wie Österreich ist die Frage nach dem „Import“ und „Export“ von Wissenschaftlern von entscheidender Bedeutung, das heißt einerseits die ausländische universitäre Nachfrage nach österreichischen Wissenschaftlern, andererseits die Berufung ausländischer Wissenschafter auf 31 Bezüglich der Auswirkungen LICHTENBERGER 1986. des Universitätsorganisationsgesetzes 1975 vergleiche 25 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. österreichische Lehrstühle. Im Fall der Geographen sind vier Typen von Karrierepfaden zu unterscheiden: (1) Berufungen von Geographen aus dem Ausland; (2) ins Ausland berufene und dort verbliebene österreichische Geographen; (3) österreichische Geographen mit Auslandsschleifen von unterschiedlicher Dauer, welche an ausländische Universitäten berufen wurden und wieder nach Österreich zurückgekehrt sind. (4) Als „österreichische Lösungen“ werden die Pfade bezeichnet, bei denen sich die gesamte Laufbahn an der Studienuniversität abgespielt hat und eine Hausberufung beziehungsweise eine Berufung an eine andere österreichische Universität erfolgt ist. Abbildung 2 belegt recht eindrucksvoll die Unterschiede der Karrierepfade in der Generationsfolge. Abb. 2: Karrierepfade in der Generationsfolge Die institutionellen Anfänge der Fachentwicklung an den Universitäten waren durch „österreichische Lösungen“ gekennzeichnet. Es gab weder Berufungen aus dem Ausland, noch wurden Österreicher auf ausländische Universitäten berufen. Der Beginn der Professionalisierung des Universitätsfaches Geographie war dagegen durch den „Import“ von Wissenschaftlern aus dem Ausland gekennzeichnet. Es handelte sich um sehr bedeutende Persönlichkeiten: um Albrecht Penck, der aus Sachsen stammte, Eugen Oberhummer, der in München geboren wurde, und um den Baltendeutschen Eduard 26 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Brückner (1862-1927) aus Dorpat (heute Tartu, Estland). Diese Importphase, welche mit dem Ausbau des Faches Geographie in der Hochgründerzeit verbunden war, blieb allerdings ein einmaliges Ereignis. Entsprechend dem Bedeutungsgewinn des Faches änderten sich die Karrierepfade in der Generation der zwei Weltkriege entscheidend. Österreichische Geographen wurden in beachtlicher Zahl auf Lehrstühle im deutschen Sprachraum berufen. In Österreich selbst erfolgte keine Berufung ohne Auslandsschleife, als Beispiele seien Johann Sölch und Hugo Hassinger angeführt. „Österreichische Lösungen“ fehlten, mit Ausnahme der Hochschule für Welthandel. In der schon vorhin erwähnten, zahlenmäßig kleinen Gruppe von Fachvertretern, welche jener Generation des 20. Jahrhunderts angehören, die von 1914 bis 1918 noch nicht zum Kriegseinsatz kam, änderte sich die Situation: „Österreichische Lösungen“ dominieren bei Angehörigen einer Alterskohorte, welche von den Effekten des NSRegimes und des Zweiten Weltkriegs betroffen war. Dies traf auch auf einen großen Teil der Heimkehrergeneration des Zweiten Weltkriegs zu, bei der allerdings die Zahl der Fachvertreter mit Auslandserfahrungen noch mit jener der in Österreich verbliebenen nahezu gleichziehen konnte. Zur Babyboom-Generation des Dritten Reiches und zur Nachkriegsgeneration sei eine aktuelle Querschnittsaussage formuliert: Es ist ungewiß, ob von den ins Ausland Berufenen noch Kohortenmitglieder zurückkommen werden. Bisher stehen sechs „Exporten“ nur zwei „Importe“ gegenüber. Von neun Mitgliedern dieser Generation auf österreichischen Lehrstühlen weisen sieben österreichische Karrierepfade und nur zwei Auslandsschleifen auf. Überblickt man den gesamten Zeitraum, so sind zwei Aussagen abgesichert: Mit Ausnahme der Professionalisierungsphase des Faches ist Österreich in der wissenschaftlichen Geographie bis heute ein Land mit Exportüberschuß geblieben. Bis herauf in die ersten Nachkriegsjahrzehnte hat die eiserne Regel gegolten, daß Auslandserfahrung eine unabdingbare Voraussetzung für eine Rückberufung bildet. Sie wurde erst in der Wachstumsphase der Universitäten in den 70er Jahren partiell außer Kraft gesetzt. „Österreichische Lösungen“ für Ordinariate und der Export von Wissenschaftlern auf ausländische Ordinariate ohne allzu große Rückkehrchancen stehen einander gegenüber. Österreichische Geographen haben im abgelaufenen Jahrhundert, wie aus der obigen Aufstellung zu entnehmen ist, eine beachtliche Anzahl von Lehrstühlen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz innegehabt. Insgesamt handelt es sich um 20 Institute, wobei an manchen Instituten im Laufe der Zeit mehrere österreichische Ordinarien der Geographie tätig waren, wie zum Beispiel in Freiburg, Heidelberg und Frankfurt (vergleiche Abbildung 3) 27 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Abb. 3: Österreichische Geographen auf Ordinariaten im Ausland im 20. Jahrhundert 28 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 3. Biographien von Gründerfiguren Albrecht Penck (1858-1945) – Begründer der Morphologie und Eiszeitforschung in Wien und Berlin Wien war um die Zeit der Jahrhundertwende mit dem Dreigestirn Albrecht Penck, Eduard Suess und Julius von Hann ein Zentrum der europäischen Geowissenschaft in den Fächern Morphologie, Geologie und Meteorologie. Albrecht Penck, seiner Herkunft nach ein Sachse, gehört zu den zahlreichen ausländischen Wissenschaftlern, welche die kaiserliche Weltstadt Wien in der Gründerzeit angezogen hat. Hochbegabt, widerlegt Albrecht Penck bereits mit 19 Jahren durch Beobachtung von nordischen Basalten in den eiszeitlichen Ablagerungen im Leipziger Raum in seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit die herrschende Drifttheorie zur Erklärung der Inlandeisvergletscherung. In München schreibt er mit 24 Jahren sein erstes großes Werk: Die Vergletscherung der deutschen Alpen, ihre Ursachen, periodische Wiederkehr und ihr Einfluß auf die Bodengestaltung (1882), und legt darin die Grundstrukturen seines späteren Werkes über Die Alpen im Eiszeitalter (1901-1909) fest. Pencks Karriere ist ein Beispiel für die Chancen von Hochbegabten in der Gründerzeit. Mit 25 Jahren wird er in München als Privatdozent für Geographie habilitiert, mit 27 Jahren (1885) auf die Lehrkanzel für physische Geographie als Nachfolger von Friedrich Simony in Wien berufen. In der Wiener Zeit begründet Penck mit dem Werk Die Alpen im Eiszeitalter, in dem Eduard Brückner die Gletscher der Nordschweiz, das Schweizer Rhonegebiet und die Gletscher der Südalpen westlich der Etsch behandelt, seinen internationalen Ruf. In Wien verfaßt er, einer Aufforderung Friedrich Ratzels folgend, in mehr als zehnjähriger Arbeit das erste Lehrbuch der systematischen Morphologie der Erdoberfläche, in dem nicht nur die Morphographie, sondern auch die Morphometrie und Fragen der Geophysik behandelt werden. In die Wiener Zeit fallen damit die Hauptleistungen von Albrecht Penck: • die Trennung der Morphologie von der Geologie und ihre Etablierung als geographische Subdisziplin mit der Aufgabe der Klassifikation, Beschreibung und Erklärung der endogenen Oberflächenformen der Erde sowie • die Erforschung des Eiszeitalters in Hinblick auf Morphologie, Stratigraphie, Chronologie, Klimatologie und prähistorische Archäologie. Über die Erforschung der eiszeitlichen Phänomene hinaus gelang damit die Abtrennung des Quartärs als jüngsten Teils der Erdgeschichte von der historischen Geologie und Paläontologie und dessen Etablierung als interdisziplinären, stark von der Geographie dominierten Forschungsbereichs. 29 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Albrecht Penck (1858-1945) Quelle: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Wien, Band 88-90 (1945-1948) 30 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. In der Wiener Zeit entstehen von Penck angeregte und geförderte Arbeiten zur hydrographischen Erforschung von Seen, Flüssen32 und Karstgewässern.33 In Fortführung der Untersuchungen von Friedrich Simony und in Zusammenarbeit mit Eduard Richter in Graz entsteht der Atlas der österreichischen Alpenseen. Darüber hinaus werden Seenstudien zur Untersuchung des Problems der Klimaschwankungen durchgeführt.34 Albrecht Penck war auch der Mitbegründer der biologischen Station Lunz. Entsprechend seiner globalen Weitsicht forderte Albrecht Penck bereits 1891 auf dem internationalen Geographenkongreß in Bern die Herstellung einer Weltkarte im Maßstab 1:1.000.000 und erlebte 1909 die Genugtuung, daß das internationale MapKomitee sich über das entsprechende Programm einigen konnte. 1906 wird Albrecht Penck als Nachfolger Ferdinand von Richthofens an die Universität Berlin berufen.35 Sein internationaler Ruf wächst, als er von dort 1908 als Austauschprofessor nach Amerika geht und andererseits William Morris Davis nach Berlin zu Vorlesungen kommt, dessen morphologische Zyklustheorie rasch Eingang in deutsche Lehrbücher findet. In Berlin setzt Albrecht Penck das Entdeckungszeitalter auf dem Lande, auf den Weltmeeren und in der Antarktis fort. Bereits in Wien hat sich Penck mit Adriaforschung beschäftigt, in Berlin übernimmt er die Direktion des Museums für Meereskunde und kann bei der Schaffung einer Professur für Meereskunde seinen Wiener Schüler Alfred Merz vorschlagen, dem er auch die Leitung des Museums überläßt. Mit der Antarktisforschung hat sich Penck ebenfalls schon in Wien beschäftigt, er führt sie in Berlin fort. Die beispielgebenden Forschungsfahrten der „Meteor“ verdanken nicht zuletzt ihm ihre Verwirklichung. Die Ereignisse des Krieges und der Folgejahre veranlassen Albrecht Penck, sich mit Fragen der politischen Geographie zu beschäftigen. Auf ihn geht der Begriff „Zwischeneuropa“ zurück. Sehr ausführlich befaßt sich Penck mit der Frage der Tragfähigkeit der Erde, die er als ein Hauptproblem der physischen Anthropogeographie auffaßt.36 In seiner ersten Arbeit schätzt Penck die größtmögliche Bevölkerung der Erde auf rund 8 Milliarden, nach ihm kommt Fischer zu bloß 6,2 Milliarden, Hollstein dagegen zu 13,3 Milliarden, und zwar aufgrund des Hektarertrags der nutzbaren Fläche. In der zweiten Arbeit schreibt Penck: „als Lebensfläche kann man heute das gesamte Gebiet der Erdoberfläche ansehen, die Grenzen der Ökonomene sind gefallen“. Mit der Untersuchung der Tragfähigkeit der Erde hat Albrecht Penck 32 Zur Hydrographie des fließenden Wassers wurden berühmt gewordene Untersuchungen von V. Ruvarac (Elbe in Böhmen) und P. Vujevic (Theiß) durchgeführt. 33 Zur Karstforschung sind die Arbeiten von J. Cvijic, N. G. Kleb, A. Grund und seine eigenen Beiträge zur Karsthydrographie anzuführen. 34 Am Neusiedler See durch Anton Swarovski, an den innerafrikanischen und den hocharmenischen Seen durch Robert Sieger. 35 Penck lehrte bis 1926 in Berlin und war 1917 Rektor. 36 Vgl. PENCK 1925 und PENCK 1941. 31 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. eine neue immanente Fragestellung in der Geographie eröffnet. Versucht man ein wissenschaftliches Persönlichkeitsprofil von Penck zu zeichnen, so wäre meines Erachtens der Lorenzsche Satz von der „Freude an der gekonnten Bewegung“ in abgewandelter Form auf ihn anzuwenden. Es war die „Freude an der gekonnten Beobachtung“ ideal-typisch definierter Sachverhalte der realen physischen Objektwelt, welche als ganz entscheidender Motor des wissenschaftlichen Arbeitens fungiert hat. Alfred Penck besaß die intuitive Fähigkeit, in der explorativen Feldforschung äußerst rasch die Schlüsselstellen für das Erkennen der Zusammenhänge zu finden und das Puzzle der Beobachtungen in globale Modelle einzufügen. Von seinen Schülern sind die Anforderungen beschrieben worden, die er stellte: scharfe Problemstellung, gründliche Beobachtung, völlige Vertrautheit mit der einschlägigen Literatur, kritisches Urteil, Kombinationsgabe, unermüdliche Arbeit, körperliche Leistungsfähigkeit und Ausdauer, volle Hingabe an das Fach, aber keineswegs Beschränkung auf dieses. Eine Vorstellung vom Einfluß Albrecht Pencks auf die Geographie im deutschen Sprachraum gibt Abbildung 4, aus der ersichtlich ist, wie von Wien aus in erster Linie der süddeutsche Raum, von Berlin aus Norddeutschland unter Pencks „Kontrolle“ bei der Berufungspolitik geraten ist. Die zwei Jahrzehnte akademischer Tätigkeit in Wien sind die wissenschaftlich besten Jahre von Albrecht Penck gewesen. Aus allen Teilen des Vielvölkerreiches strömten ihm talentierte Studierende zu, ebenso aber auch aus dem Ausland, besonders aus den Balkanstaaten, die damals noch keine eigenen Hochschulen besaßen.37 37 Im folgenden die Liste von Pencks Schülern: Die ersten waren nicht viel jünger als er selbst: E. Brückner, R. Sieger, F. Heiderich, J. Müllner, J. Cvijic, A. E. Forster, V. Ruvarac, A. Swarovsky und A. Becker. Einer späteren Reihe gehörten an: N. Krebs, F. Machatschek, A. Grund, H. Hassinger, R. Luzerna, R. Hödl und R. Rothaug. Die Folge seiner Wiener Schüler schließt mit G. Götzinger, A. Merz, J. Sölch, O. Lehmann, M. Kleb und L. von Sawicky. Seine beiden Assistenten, die beiden Simony-Schüler Philip Paulitschke und Carl Diener, waren gleichzeitig Privatdozenten. Auch aus dem Ausland kam eine Reihe von Schülern: der Wiener Schüler Pencks, J. Cvijic, wurde der bedeutendste Geograph Jugoslawiens. Stepan Rudnyckj wirkte in der Ukraine, in Utrecht Oestrijch, in Japan Jamasaki, um nur die bekanntesten zu nennen. Von den ausländischen Studenten in Berlin ist noch auf die Italiener R. Almagia und G. Bainelle hinzuweisen, ferner auf den Franzosen E. de Martonne sowie auf J. E. Rosberg, A. Watanabe und den schon erwähnten L. von Sawicky. 32 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Abb. 4: Albrecht Pencks Schüler in Wien und Berlin auf Ordinariaten im deutschen Sprachraum Hugo Hassinger (1877-1952) – Begründer der Wiener Schule der Stadt- und Kulturgeographie Die Leistungen von Hugo Hassinger liegen auf dem Gebiet der Geographie des Menschen. In seinem umfassenden Beitrag zum Handbuch der geographischen Wissenschaft repräsentiert er sich als letzter Vertreter einer enzyklopädischen Fachtradition, welche er in das Gebiet der Geographie des Menschen hineingetragen hat. Der Ratzelschen Kulturkreislehre folgend, spannte er den globalen Bogen der 33 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Information von der Rassenlehre, Völkerkunde, Volkskunde bis zu den Kapiteln über Bevölkerung, Siedlung, Wirtschaft und Verkehr. Das Werk ist ein Schlußstein einer Epoche. Es dokumentiert den Forschungsstand auf allen genannten Gebieten in der Zwischenkriegszeit, das heißt vor mehr als zwei Generationen.38 Hugo Hassinger (1877-1952) Quelle: Bibliothek der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 38 HASSINGER 1933. 34 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Hugo Hassingers Arbeiten sind als Zeitdokumente aufzufassen. Das gilt vor allem für seine Forschungen über das donauländische Grenz- und Inseldeutschtum, das durch die politischen Ereignisse fast vollständig vernichtet wurde. Methodisch beispielgebend blieb der Stil seiner kulturgeographischen Arbeiten, allen voran sein eigenes kunstgeographisches Werk über den alten Baubestand in Wien,39 ferner die Einführung der Isochronenmethode in der Stadtgeographie und die Verwendung eines Assoziations- und Sukzessionsprinzips in der soziographischen Analyse von Städten, mit dem er das Konzept der sozialökologischen Schule von Chicago bereits vorweggenommen hat, jedoch ohne es als allgemeines Prinzip herauszustellen. Hugo Hassinger war in seinem Denken Enzyklopädist, und in diesem Geist hat er stets die Ideen von umfassenden Regionalatlanten zu verwirklichen getrachtet (vergleiche IV.2). Mit seinem in Anmerkung 39 genannten kunsthistorischen Atlas der Stadt Wien ist er der Begründer des Denkmalschutzes und schließlich ebenso der Raumforschung in Österreich gewesen. Hugo Hassingers Karrierepfad gehört einer späteren Generation als der von Penck an. Die Zahl der Assistentenstellen war in der Spätgründerzeit unzureichend, die Bezahlung schlecht, das Curriculum führte über das Mittelschullehramt und die Habilitation und war durch die Hoffnung auf eine Berufung mitmotiviert. Hassinger promovierte 1902 bei Penck mit Geomorphologische Studien aus dem inneralpinen Becken und seinem Randgebirge (veröffentlicht 1905), deren sorgfältige morphometrische Deskription ihre Gültigkeit nicht verloren hat. 1903 legte Hassinger die Lehramtsprüfung für Mittelschulen ab und wurde Lehrer am Gymnasium zuerst in Mährisch-Weißenkirchen (bis 1906), dann in Wien. 1914 habilitierte er sich als Mittelschullehrer mit Die mährische Pforte und ihre benachbarten Landschaften. 1916 erschien der oben erwähnte Kunsthistorische Atlas. 1918 wurde Hassinger zunächst als außerordentlicher, dann als ordentlicher Professor an die Universität Basel berufen. Hier konnte er bereits sein institutionelles Engagement beweisen. Er wirkte als Dekan, war Mitbegründer der GeographischEthnographischen Gesellschaft in Basel, leitete eine Zeitlang die Naturforschende Gesellschaft und entwarf ein Programm der Haus- und Siedlungsforschung für die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. In Basel schrieb Hassinger die Länderkunde der Tschechoslowakei (1925). Berufungen an die Universitäten Frankfurt am Main, Graz und an die Hochschule für Welthandel lehnte er ab, doch folgte er 1927 einer Berufung an die Universität Freiburg. Hier behandelte er für das Werk von R. Kjellen Die Großmächte vor und nach dem Weltkrieg (1930) Österreich-Ungarn beziehungsweise die Nachfolgestaaten sowie Frankreich und Italien und verfaßte Die geographischen Grundlagen der 39 Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien mit Verzeichnis der erhaltenswerten Kunst- und Naturdenkmale des Wiener Stadtbildes (= Österreichische Kunsttopographie XV), Wien 1916. 35 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Geschichte, welche 1931 erschienen. Im gleichen Jahr wurde er als Nachfolger von Eugen Oberhummer nach Wien berufen. In Wien schrieb er „Die allgemeine Geographie des Menschen“ (1933) in Klutes Handbuch der Geographischen Wissenschaften (vergleiche Anmerkung 38). Institutionell war Hugo Hassinger auch in Wien außerordentlich aktiv. Er betrachtete es als Aufgabe der Geographie in Österreich, vor allem den europäischen Osten, und hier insbesondere die deutsche Kulturleistung, zu erforschen. Bereits 1931 begründete er die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft an der Universität Wien und konzipierte den Atlas des Donauraums, welcher freilich erst in der Nachkriegszeit von seinem Schüler Josef Breu – anders strukturiert – im Institut für Südosteuropaforschung herausgebracht werden konnte (Breu 1970 – 1989). 1939 übernahm er die Arbeitsgemeinschaft für Raumforschung an der Universität Wien und veröffentlichte 1940 gemeinsam mit Fritz Bodo den Burgenlandatlas, der dieses jüngste Bundesland Österreichs zu einem der besterforschten Gebiete gemacht hat. Hugo Hassinger verstand es, diesen Arbeitsbereich nach dem Zweiten Weltkrieg in Form einer Kommission an die Österreichische Akademie der Wissenschaften hinüberzuretten. In dieser begann er 1951 den Atlas von Niederösterreich, der von seinem Schüler Arnberger nach seinem Unfalltod fertiggestellt worden ist. In der Notzeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre gelang es Hugo Hassinger ferner, die maßgeblichen wissenschaftlichen Vereinigungen Österreichs in dem „Notring der wissenschaftlichen Verbände Österreichs“ zusammenzufassen, der die Forderungen der Wissenschaft bei den Behörden und der Regierung vertrat. In einem seiner letzten Werke hat Hugo Hassinger Österreichs Anteil an der Erforschung der Erde (1950) in dokumentarischer Form festgehalten. Die ungemein zahlreichen, teilweise unveröffentlichten Berichte, kritischen Referate, Gutachten, Eingaben an Behörden und Denkschriften über die verschiedensten Angelegenheiten sind für Hugo Hassinger ebenso bezeichnend gewesen wie seine wissenschaftlichen Arbeiten. Aufgrund der persönlichen Ideologie als Anhänger einer großdeutschen Lösung in der Ersten Republik und seines Engagements in Fragen des deutschen Volkstums in Südosteuropa ist Hugo Hassinger, meines Erachtens völlig zu Unrecht, in der deutschen Wissenschaftsgeschichte stiefmütterlich behandelt worden.40 Er war der letzte bedeutende Fachvertreter mit einem enzyklopädischen Wissen über „Die Geographie des Menschen“ auf der Erde. Einerseits dem klassischen historischen Kulturlandschaftsparadigma verpflichtet, war er andererseits ein zu früh Geborener, um mit gesellschaftsrelevanter Forschung in die Politik in größerem Maße hineinwirken zu können. 40 Vergleiche G. HEINRITZ, G. SANDNER, R. WIESSNER (Hg.): Der Weg der deutschen Geographie. Rückblick und Ausblick, Stuttgart 1996. 36 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Hans Bobek (1903-1990) – Begründer der Sozialgeographie Am 15. Februar 1990 starb der emeritierte ordentliche Universitätsprofessor für Geographie DDr. h.c. Hans Bobek im 87. Lebensjahr. Die deutschsprachige Geographie verlor einen Gelehrten, welcher das Weltbild einer Disziplin mitgestaltet hat. Die von Bobek Anfang der 50er Jahre entwickelten „Gedanken über das logische System der Geographie“41 haben das bereits ältere Landschaftskonzept von Otto Schlüter zur Basisideologie des Faches im deutschen Sprachraum gemacht.42 Noch einmal wurde die bereits im Handbuch der Geographischen Wissenschaft, herausgegeben von Fritz Klute (2 Bände, Potsdam 1933), in der Zwischenkriegszeit faßbare Aufspaltung der Geographie in weitgehend unabhängige Geoäste von systematischen Disziplinen zu überspielen versucht. Der Einbruch des neuen, in der angelsächsischen Welt entstandenen Paradigmas der analytischen und quantitativen Geographie auf dem Kieler Geographentag 1968,43 wo neomarxistische und „analytische“ Studenten vereint gegen die klassische Geographie zu Felde zogen, wurde von dem nahezu 70jährigen in der Abschiedsvorlesung „Die Entwicklung der Geographie – Kontinuität und Umbruch“44 mit der Akzeptanz des Pluralismus des wissenschaftstheoretischen Zugangs in der Geographie quittiert. 41 BOBEK 1957. BOBEK, SCHMITHÜSEN 1949. 43 Vgl. LICHTENBERGER 1978. 44 BOBEK 1972. 42 37 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Hans Bobek (1903-1990) Quelle: Photo Fayer, Wien 38 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Die Kapitelüberschriften in der Wissenschaftsgeschichte der Geographie gelten heute dem Sozialgeographen Hans Bobek und damit dem Begründer einer neuen Forschungsperspektive.45 In Fortführung der Ideen von Max Weber und Werner Sombart hat er aus seiner Forschungserfahrung im Vorderen Orient auf der Metaebene die Theorie des Rentenkapitalismus46 konzipiert, welche aus der 47 Entwicklungsländerforschung nicht mehr wegzudenken ist. Allerdings hat Hans Bobek seine zahlreichen neuen Ideenskizzen niemals selbst in eine Forschungsstrategie umgesetzt. Man kann auch nur vermuten, daß er möglicherweise eine „Arbeitsteilung“ mit der Münchener Schule der Sozialgeographie48 akzeptiert hat, welche in induktiver Tradition den methodischen Zugang auf der Mikroebene von Sozialgruppen wählte, deren Details Hans Bobek „niemals so genau wissen wollte“. Über der Etikettierung als Sozialgeographen wird im Falle von Hans Bobek gerne übersehen, daß dieser – seiner Zeit weit voraus – mit seiner Dissertation über Innsbruck49 die funktionelle Sichtweise von Städten und die Stadt-Umland-Forschung begründet hat.50 Erstmals hat er verschiedene Modelle von Stadt-Land-Beziehungen, insbesondere mono-funktionelle Revierbildungen, untersucht51 und schließlich Walter Christallers zentralörtliche Theorie52 nicht nur kritisch ergänzt, sondern mit der Zentrale-Orte-Forschung an der Kommission für Raumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften eine Grundlage für die Regionalplanung und Raumplanung in Österreich geschaffen.53 Nur in Stichworten können die Stationen des Karrierepfads nachgezeichnet werden. Das Studium an der Innsbrucker Universität (1921-1926 – Geographie, Geschichte, Sozialwissenschaften) begründete zwei Forschungslinien: mit der Untersuchung der Stadt vor der Haustüre der Universität die funktionelle Stadtforschung, fortgeführt in späteren Lebensjahrzehnten als Zentrale-Orte-Forschung, und unter dem Einfluß von Johann Sölch, auch motiviert durch die Freude am Alpinismus, die Beschäftigung mit der Quartärforschung.54 Mit 28 Jahren von Norbert Krebs nach Berlin (1931-1939/40) auf eine Assistentenstelle geholt, erhielt Hans Bobek damit die Chance, an das damals 45 BOBEK 1948. BOBEK 1974. 47 BOBEK 1962. 48 K. MAIER, R. PAESLER, K. RUPPERT, F. SCHAFFER: Sozialgeographie. Das Geographische Seminar, Braunschweig 1977. 49 BOBEK 1928. 50 BOBEK 1927. 51 BOBEK 1938. 52 BOBEK 1967. 53 BOBEK, FESL 1978 und 1983. 54 H. BOBEK: Die jüngere Geschichte der Inntalterrasse und der Rückzug der letzten Vergletscherung im Inntal, in: Jahrbuch d. Geol. Bundesanstalt, Wien 1935, S. 135-189. 46 39 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. führende Geographische Institut zu kommen und in den Kreis von jungen Wissenschaftlern zu gelangen, die nach dem Krieg die Fachentwicklung im deutschen Sprachraum entscheidend bestimmt haben.55 Der Standort Berlin bot die Möglichkeit zur Auslandsforschung. Hans Bobek wählte den Orient, im speziellen den Iran, da hier „erst wenige Geographen gearbeitet hatten“, ferner fand er einen ausgezeichneten Lehrer des Persischen. Mit dieser Entscheidung hat der damals Dreißigjährige den regionalen Schwerpunkt der eigenen Forschung – vermutlich ohne dies voraussehen zu können – für sein Leben fixiert.56 Die Jahre des Zweiten Weltkrieges bedeuteten für Hans Bobek nicht wissenschaftlich verlorene Jahre. Er hatte vielmehr das Glück, durch die Tätigkeit bei der militärgeographischen Abteilung des Oberkommandos des Heeres (1940-1943) und durch die Leitung der Arbeitsgruppe über den Vorderen und Mittleren Orient, später auch über Nordafrika, Zugang zu allen damals verfügbaren Karten, Luftbildern, gedruckten und ungedruckten Texten gewinnen zu können. Hier schrieb er die „Soziallandschaften des Orients“, ein Manuskript, das leider nie gedruckt worden ist, als Grundlage der späteren sozialgeographischen Arbeiten. Seit 1944 bei den Kommandos der Forschungsstaffel, von Rußland bis Jugoslawien und Norditalien, zum Schluß in Prag, konnte er seine geographischen Kenntnisse erweitern. Zusammenarbeit und Gespräche mit ökologisch ausgerichteten Botanikern, wie Heinz Ellenberg und Josef Schmithüsen, öffneten ihm den Zugang zu einer geoökologischen Fragestellung, die in eigenen Forschungen im Iran einen Niederschlag fand.57 Die erste Berufung in der Nachkriegszeit führte Hans Bobek nach Freiburg (19461948). Hier schrieb er als Mittvierziger die bahnbrechenden Aufsätze „Die Stellung und Bedeutung der Sozialgeographie“, „Soziale Raumbildungen am Beispiel des Vorderen Orients“58 und „Die Landschaft im logischen System der Geographie“. Nach einem kurzen Zwischenspiel an der Wirtschaftsuniversität Wien (1949-1951) wurde er schließlich als Nachfolger von Hugo Hassinger an das Geographische Institut der Universität Wien berufen (1951-1971). Er kam in eine institutionelle und personelle Konstellation, die das letzte Drittel seines wissenschaftlichen Lebens entscheidend bestimmt hat, einerseits durch die Übernahme der Kommission für Raumforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1954) und andererseits durch die 55 Vgl. LICHTENBERGER 1984. Forschungsreisen im Iran: 1934 (8 Monate), 1936 (3 Monate), 1956 (7 Monate gemeinsam mit dem Limnologen H. Löffler), 1958/59 (mehrere Reisen und Gastprofessur an der Universität Teheran), 1975 (1 Monat), 1978 (1 Monat); daraus ging die Publikation von H. BOBEK: Iran. Probleme eines unterentwickelten Landes alter Kultur (1962), hervor. 57 Ders.: Die natürlichen Wälder und Gehölzfluren Irans, in: Bonner Geogr. Abh., H. 8, Bonn 1951; Beiträge zur klimaökologischen Gliederung Irans, in: Erdkunde VI (1952), S. 65-84. 58 Dieser Aufsatz erschien als Tagungsbericht Dt. Geographentag München 1948, Landshut 1951. 56 40 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. intensiven persönlichen Kontakte mit Erik Arnberger59 und Rudolf Wurzer. Für Rudolf Wurzer entwarf Hans Bobek das Konzept des ersten regionalen Planungsatlasses (über das Lavanttal), unterstützte den nach Wien berufenen Professor für Städtebau und Raumplanung bei der Gründung der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung von Landesforschung und Landesplanung60 und ließ sich zur Mitarbeit an einem umfangreichen Gutachten für die Regierung Klaus gewinnen.61 1955 faßte Hans Bobek seinen Entschluß, gemeinsam mit Erik Arnberger einen Nationalatlas der Republik Österreich herauszugeben.62 Als Obmann der Kommission für Raumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1954-1983)63 gelang es Hans Bobek trotz sehr bescheidener Mittel, die intellektuelle Elite der Aufbaugeneration in allen mit räumlichen Fragestellungen arbeitenden Disziplinen zur Mitarbeit am Atlas der Republik Österreich zu gewinnen. Nahezu fünfzig Karten wurden hierbei von ihm selbst mitstrukturiert. Originelle und erstmalige Darstellungen gelten wichtigen Themen, wie den Klimatypen, der ökologischen Gesamtwertung, den Gemeindetypen, den Zentralen Orten und den wirtschaftsräumlichen Strukturen. Mit diesem Atlas und den damit verbundenen Publikationen hat Hans Bobek im letzten Drittel seines wissenschaftlichen Lebens ein singuläres Dokument für die räumliche Kenntnis des österreichischen Staates geschaffen.64 59 E. LICHTENBERGER: Erik Arnberger-Nachruf, in Almanach der Österr. Akademie der Wissenschaften 138 (1988), S. 409-418. 60 Umbenannt in Österreichische Gesellschaft für Raumforschung und Raumplanung; Auflösung der Gesellschaft 1990. 61 So erschienen von H. BOBEK in R. WURZER (Hg.): Strukturanalyse des österreichischen Bundesgebietes (= Schriftenreihe d. Österr. Ges. f. Raumforschung und Raumplanung 2 [1979]) folgende Beiträge: Ausgliederung der Strukturgebiete der österreichischen Wirtschaft, S. 451-460; Die zentralen Orte und ihre Versorgungsbereiche, S. 475-504. 62 Österreichs Regionalstruktur im Spiegel des Atlas der Republik Österreich, in: MÖGG 117 (1975), S. 117-164. 63 H. Bobek oblag die Herausgabe sowie die wissenschaftliche entwurfskartographische Gesamtleitung des Atlas der Republik Österreichs, ferner die Herausgabe der Schriften der Kommission für Raumforschung und der Beiträge zur Regionalforschung. 64 H. BOBEK: Österreichs Regionalstruktur im Spiegel des Atlas der Republik Österreich, in: MÖGG 117 (1975), S. 116-164. 41 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 4. Schulen und Forschungsstränge: Ein Rückblick Die oben herausgearbeitete beherrschende Rolle der Penck-Schule hatte Konsequenzen für die „Normalkarriere“ und damit den Forschungsstil. Es gehörte bis herauf zur Heimkehrergeneration zur „Normalkarriere“, zuerst auf dem Gebiet der physischen Geographie gearbeitet zu haben und sich erst dann, wenn überhaupt, in das Gebiet der kultur- und sozialwissenschaftlichen Geographie hineinzubewegen. Dies war eine Voraussetzung dafür, informative Länderkunden schreiben zu können.65 In der wissenschaftlichen Grundhaltung der geowissenschaftlichen Geographen dominierte ein „schlichter“ Positivismus – „schlicht“ deswegen, da wissenschaftstheoretische Überlegungen hinsichtlich der Einbindung von Wissenschaftlern in die gesellschaftspolitischen Ideologien nicht stattgefunden haben. Daraus resultierte mit Notwendigkeit eine „naive“ Sichtweise gegenüber politischen Fragestellungen, wie sie vor allem in der Zwischenkriegszeit gegenüber der damals boomenden Geopolitik von seiten der gleichfalls boomenden politischen Geographie an der Tagesordnung gewesen sind. Albrecht Penck hat – ebenso wie vor ihm schon Ferdinand von Richthofen in Berlin – wesentliche Merkmale der geologischen Forschung in die Geographie eingebracht. Das bedeutete: Die Kenntnis der vorliegenden Literatur über die Forschung wurde als „Pflicht“ in den wissenschaftlichen Ehrenkodex integriert, der Feldforschung absolute Priorität gegenüber sekundären Quellen eingeräumt, die kartierende Aufnahmetechnik weiterentwickelt und ausgebaut. In der Glazialmorphologie und Quartärforschung sind damit analog zur Deckentektonik bestimmte Aufschlüsse zu Kernstücken der prozessualen Erklärung avanciert. Die Forschungsfragen selbst haben sich in der Generationsfolge geändert beziehungsweise grundsätzliche Fragen sind durch dokumentarische Publikationen zu einem gewissen Abschluß gelangt. Im folgenden einige Stichworte zu den Klassikern: Am Anfang steht das Werk von Albrecht Penck und Eduard Brückner Die Alpen im Eiszeitalter (1901-1909), in dem am Beispiel der Alpen die bis heute gültige Viergliederung der Eiszeit und die Formenserie einer Eisstromvergletscherung belegt worden sind. Die Auffassung Pencks vom „gewaltigen“ Ausmaß der Glazialerosion wurde in der Modellstudie von Johann Sölch über Fluß- und Eiswerk in den Alpen (1937) entscheidend revidiert. Die Thematik der geologisch-tektonisch bedingten, sehr unterschiedlichen regionalen Morphogenese der Großformen der Erde hat Fritz Machatschek in dem zweibändigen Werk Das Relief der Erde (1. Auflage 1937) aufgearbeitet und damit als international interessantes Thema abgeschlossen. Bereits zwei Jahrzehnte später wurde von Julius Büdel, der dem Berliner Kreis um Norbert Krebs angehörte, das Handbuch der Klima-Geomorphologie (1977) mit der neuen Fragestellung der klimatisch bedingten Formen der Erdoberfläche herausgebracht, an 65 Nur zwei Schüler von Hugo Hassinger haben nicht physisch-geographisch gearbeitet: Egon Lendl und Josef Matznetter. 42 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. der sich freilich österreichische Morphologen nur mehr als Mitläufer beteiligt haben. Durch die beschriebene Normalkarriere erfolgte ein Transfer der positivistischen Grundhaltung und der geowissenschaftlichen Methodik in die Geographie des Menschen. Allerdings sonderten sich dabei von Anfang an „Kerndisziplinen“, wie die Stadtgeographie und die Kulturlandschaftsgeographie, von den „Randdisziplinen“ der Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Verkehrsgeographie ab, in denen das Landschaftsparadigma von Hans Bobek (vergleiche III.1), und damit auch die Kartierung von im Realobjektraum identifizierten Typologien und Klassifikationssystemen, stets nur randständige Bedeutung hatte und Statistiken das Grundgerüst der Informationen bildeten. Die Kartierung hat als geowissenschaftliche Methode zum erstenmal in Hugo Hassingers Kunsthistorischer Atlas der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien (1916) ihre Effizienz bewiesen, als sie zur Herausarbeitung der sozialhistorischen Wohnbautypen eingesetzt worden ist. Damit wurde der Grundstein für die Wiener Schule der Stadtgeographie gelegt. Bereits seit dem Zweiten Weltkrieg und dann in der Nachkriegszeit sind Luftbildauswertung und -interpretation66 sowie Techniken des Remote Sensing – als „Kartierung vom Schreibtisch“ aus – geowissenschaftliche Methoden von wachsender Bedeutung geworden und haben der Forschung eine neue Dimension eröffnet. Während die geowissenschaftlichen Subdisziplinen der Geographie keine Schwierigkeiten hatten, eine „glückliche Ehe“ mit geographischen Informationssystemen und Datenbanken einzugehen, ist die Entwicklung im Bereich der Geographie des Menschen seit dem Kieler Geographentag 1968 und dem gleichzeitigen Auftreten der Analytik und des Neomarxismus durch einen Bruch gekennzeichnet, der nur teilweise durch die Generierung eines neuen Primärforschungsstils überwunden werden konnte.67 Von diesem Bruch sind zwei Strukturen betroffen: (1) Das Verhältnis der Geographie des Menschen zur Zeitdimension und (2) das Verhältnis zu den Nachbardisziplinen. ad (1): Das Verhältnis der Geographie des Menschen zur Zeitdimension Grundsätzlich führte der Weg in den abgelaufenen eineinhalb Jahrhunderten zu einer Verschiebung auf der Zeitachse von einer bis in die Prähistorie und die antiken Hochkulturen zurückreichenden „historischen Geographie“ über mehrere Etappen bis herauf zur geographischen Zukunftsforschung. Hierzu einige Stichworte. 66 H. BOBEK: Luftbild und Geomorphologie - Luftbild und Luftbildmessung, Nr. 20, hg. v. Hansa Luftbild, 1941, S. 8-160. 67 LICHTENBERGER 1984 und LICHTENBERGER 1990. 43 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Die Kenntnisse von Wilhelm Tomaschek, der 1885 auf die neu eingerichtete historischgeographische Lehrkanzel in Wien berufen worden ist, umfaßten vor allem die antike Literatur und Geschichte sowie das weite Feld der Sprachvergleichung: er besaß ausgedehnte Kenntnisse der indogermanischen und uralaltaischen Sprachen, ebenso aber auch des Arabischen. Sein Arbeitsfeld war der Orient; er studierte die historische Topographie Kleinasiens auf der Grundlage von römischen und mittelalterlichen Quellen. Sein wissenschaftliches Anliegen in der historischen Geographie basierte auf linguistischer Grundlage. Eugen Oberhummer, der Zeitgenosse von Albrecht Penck, der 1901 nach dem Tode von Wilhelm Tomaschek berufen wurde, war einer der letzten deutschen Vertreter der historisch ausgerichteten Geographie, der zur klassischen Altertumswissenschaft und zur Geschichte der Erdkunde in der Kartographie enge Beziehungen unterhielt. Er brach eine Lanze dafür, daß die Anthropogeographie sich der Methoden bedienen muß, welche die historischen Wissenschaften, wie die Archäologie, die Epigraphik, die Numismatik sowie die Sprachwissenschaften, an die Hand geben. In diesem Sinne wird von ihm die historische Geographie als raumbezogene Alte Geschichte verstanden. Das Heraufrücken der Forschung in der Zeitachse vollzog dann der Penck-Schüler Alfred Grund (1875-1914, gefallen), der mit seinem viel zu wenig beachteten Buch Die Veränderungen der Topographie im Wiener Walde und Wiener Becken (1901) die mittelalterliche Wüstungsforschung als Teil der historischen Kulturlandschaftsforschung in einem interdisziplinären Forschungsterrain begründet hat und in einer Zeit ethnisch determinierter historischer Flurforschung nachweisen konnte, daß Haus und Hofformen nur mit großer Einschränkung zur Feststellung ethnischer Raumgliederung verwendbar sind. Bei der Bearbeitung der Blätter von Niederösterreich des Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer (Richter 1903) wurde erkannt, daß die Grenzen der Sprengel der Hohen oder Blutgerichtsbarkeit weit dauerhafter sind als die Grenzen anderer räumlicher Gliederungen – so etwa die des Herrschaftsbesitzes, der Niedergerichtsbarkeit oder der Pfarreinteilung – und mit den alten Grafschaften und vielfach mit den Gauen zusammenfallen. Hugo Hassingers globale Sichtweise, die er in mehreren Büchern niedergelegt hat, ist durch die folgenden Sätze im geographischen Einleitungsband zur Geschichte der führenden Völker belegt: „Aufgabe einer historischen Geographie muß es sein, die Kulturlandschaften vergangener Zeiten zu rekonstruieren und aus den kulturellen und politischen Verhältnissen ihrer Entstehungszeit zu erklären. Aufgabe einer Anthropogeographie ist es, die heutige Kulturlandschaft als ein Compositum von ererbten und entstandenen Formen zu betrachten.“ (Hassinger 1953, S. 6f.) Schulebildend war auch sein bereits genannter kunsthistorischer Atlas von Wien (Anmerkung 39), der seine Fortsetzung in den Baualterplänen der österreichischen Städte und im ländlichen Raum in der Siedlungs- und Flurformenkarte von Adalbert Klaar gefunden hat. Gleiches gilt ferner für die zahlreichen auf der Auswertung des 44 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Josephinischen und Franzisceischen Katasters beruhenden Arbeiten seiner Schüler, welche einen spezifischen Stil der österreichischen Kulturlandschaftsforschung begründet haben. Mit der Übernahme des Paradigmas der analytischen Geographie in den 70er Jahren änderte sich der Zeitbegriff grundlegend. Die Zeit wird zu einer Variablen der Systemanalyse. Diese Tatsache hat begreiflicherweise Vertreter der klassischen Kulturlandschaftsforschung verstört, sie hat andererseits durch den Einbau von Prognosetechniken auch der Geographie den Weg zur Zukunftsforschung geöffnet. Damit ist es möglich geworden, die Frage nach der programmierten und der ungewissen Zukunft der Gesellschaft in den räumlichen Kontext zu stellen. Österreichische Geographen haben als erste im deutschen Sprachraum eine geographische Zukunftsforschung etabliert (vergleiche IV.4). ad (2): Die Veränderung des Spektrums der Nachbarwissenschaften der Geographie des Menschen Sie vollzog sich in drei Etappen. In der ersten Etappe, welche bis zu Hassingers Anthropogeographie heraufreicht, bestanden engste Verbindungen zur Völkerkunde und Volkskunde. Noch Friedrich Ratzel konnte eine dreibändige Völkerkunde herausgeben.68 Die Basislektüre der Jahrgänge unmittelbar vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bildete das Handbuch der Geographischen Wissenschaft von Klute, in dem Hugo Hassinger den Beitrag „Geographie des Menschen“ geschrieben hat, mit Schnittstellen zur Rassenlehre, Anthropologie, Völkerkunde und Volkskunde. Mit der Sozialgeographie von Hans Bobek verschiebt sich das Spektrum der Nachbarwissenschaften. Völkerkunde und Volkskunde rücken aus dem Gesichtskreis der Humangeographie. Die Soziologie wird zur wichtigsten Nachbarwissenschaft und bleibt es vielfach bis heute. Eine Vorstellung von dem breiten gegenwärtigen Spektrum der systematischen Disziplinen bietet die Stadtgeographie. Sie stellt derzeit die am weitesten entwickelte Subdisziplin des Faches dar. Die Abbildung 5 dokumentiert das Spektrum der Nachbarwissenschaften der klassischen und der analytischen Stadtgeographie.69 68 Leipzig 1885/88; 2. Auflage in 2 Bänden, Leipzig 1894/95. Diese enge Beziehung dokumentiert auch der Vortrag von Eugen Oberhummer über "Völkerpsychologie und Völkerkunde" bei der feierlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 31. Mai 1922. Darin verweist er auf die Entstehung des Begriffes Völkerpsychologie. Dieser wurde durch Moritz Lazarus geprägt, der sich mit dem Verhältnis von Geographie und Psychologie beschäftigt hat. 69 E. LICHTENBERGER: Stadtgeographie I - Begriffe, Modelle, Prozesse, 3. Aufl., Stuttgart 1998. 45 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Abb.5: Das Spektrum der Nachbarwissenschaften der klassischen und der analytischen Stadtgeographie Auf der Grundlage des Stadtlandschaftskonzepts hat bereits Hugo Hassinger eine Brücke zum Städtebau geschlagen. Darüber hinaus bestehen in der historischen Stadtlandschaftsforschung enge Beziehungen zu den historischen Disziplinen. Dem stehen andererseits die Verbindungen der analytischen Stadtgeographie zur Regional Science, Stadtwirtschaftslehre, analytischen Psychologie und Verhaltensforschung gegenüber. In der angelsächsischen Welt entstand zuerst ein fächerübergreifender Zitierverbund, in dem die Grenzen zwischen räumlich und systematisch orientierter Forschung verschwunden sind. Er ist inzwischen auch im deutschen Sprachraum vorhanden. 46 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. IV. Ausblick: Die Chancen der geographischen Forschung in einem Kleinstaat Die Schlußfrage des vorliegenden Beitrages ist zweigeteilt. Sie lautet: 1. Worin besteht das Forschungsprofil der Geographie in der österreichischen Wissenschaftslandschaft? 2. Welche Chancen hat die österreichische Geographie, im gegenwärtigen Prozeß der Globalisierung der Wissenschaft mitzuhalten? Welche Forschungsfelder haben Zukunft? 1. Das Forschungsprofil der österreichischen Geographie Das Forschungsprofil der österreichischen Geographie weist mehrere Kennzeichen auf: a. Bemerkenswert ist die bis zur Gegenwart heraufreichende Allianz von Geographie und Kartographie, welche durch die technologisch neuen Schienen von Fernerkundung und Geographischen Informationssystemen (GIS) erweitert worden ist. b. Forschungsfelder mit Zukunft – so lautet die These – sind abhängig von den natürlichen Ressourcen des Staates und den historischen Mehrwertpositionen, welche europäisches Format besitzen. Sie liegen im traditionsreichen Untersuchungsterrain vor der Haustüre der österreichischen Universitäten, wo für das Aufgreifen von neuen Fragestellungen der Vorteil einer sowohl historisch tief gestaffelten als auch leicht zugänglichen aktuellen Informationsstruktur besteht. Forschungsfelder mit Zukunft liegen, erstens, im Alpenstaat Österreich in der geowissenschaftlichen und humanwissenschaftlichen Hochgebirgsforschung, zweitens, beruhend auf der Funktion der Hauptstadt Wien als ehemaliger Weltstadt und Eurometropole, in der Stadt- und Metropolenforschung und, drittens, aufgrund der politisch-kulturellen Vergangenheit des Großreiches der österreich-ungarischen Monarchie, in Ost- und Südosteuropa. c. Jede Disziplin bedarf des Aufgriffs neuer ungelöster Probleme, neuer Sichtweisen und neuer Methoden, um eine Zukunft zu besitzen. Mit der Formulierung dieses Satzes ist nicht nur eine institutionelle Forderung aufgestellt, sondern ein neuer Forschungsweg beschrieben, der von österreichischen Geographen seit Ende der 1980er Jahre erfolgreich beschritten wird, und auf dem das in Europa singuläre Programm eines Forschungsschwerpunkts mit einer vernetzten geowissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Forschungsmethodik: „Österreich: Raum und Gesellschaft“, beruht. 47 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 2. Die Allianz von Geographie und Kartographie Geographen sind stets auch Kartographen gewesen und haben zur Kartographie und zur Kartenproduktion ein Naheverhältnis besessen. Sie mußten einerseits als Forschungsreisende mit der Technik der Kartenaufnahme vertraut sein und waren andererseits Herausgeber von historischen Kartenwerken, so Franz von Wieser, Eugen Oberhummer und Hans Kinzl. Aufnahmen des Katasters und topographischer Karten sind der geowissenschaftlichen und humanwissenschaftlichen Forschung um mehr als ein Jahrhundert vorausgegangen. Damit erhielt die Kartographie eine propädeutische Funktion und bestimmte mit dem aus militärisch-strategischer Sicht definierten geometrischen Gerüst und mit den Inhalten topographischer Karten sowie den Generalisierungsschritten der Maßstabsstufen auch die Forschung im Realobjektraum. Die unreflektierte Allianz zwischen beiden Disziplinen hat um die Jahrhundertwende internationale Leistungen vollbracht, wie den Atlas der Alpenseen und den Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer. Nach der Krise der Zwischenkriegszeit ist nochmals, und zwar durch Akzentuierung der Bedeutung des Realobjektraums als Planungsraums im Anschluß an Hugo Hassinger, eine neue „Produktionsphase“ von Länderatlanten eingeleitet worden. Auf deren Hauptertrag, den Österreich-Atlas (Arnberger, Bobek 1961-1986), der aus der Zusammenarbeit von Hans Bobek mit Erik Arnberger in 30jähriger Arbeit erwachsen ist, wurde bereits hingewiesen. Diese bemerkenswerte Phase der Atlasproduktion kann als glanzvolles Aufleben einer bis heute nicht völlig beiseite geschobenen enzyklopädischen Fachtradition interpretiert werden, wobei auch neue Fragestellungen der Forschung, wie zum Beispiel die Hierarchie der zentralen Orte und Bereiche in Österreich, kartographisch dokumentiert worden sind. Wie häufig in der Fachgeschichte, läßt sich dabei die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen beobachten. Die kartographische Produktion erfolgte nämlich zur gleichen Zeit, als einerseits die Fachvertreter der physischen Fächer mit ihren Proben aus dem Gelände ins Labor gingen und nur mehr der räumliche Standort der Probenwahl noch seine Wichtigkeit beibehielt, und als sich andererseits in der Humangeographie die Forschungsfront aus dem Realobjektraum in den Wahrnehmungs- und Aktionsraum des einzelnen Mitglieds der Gesellschaft und mittels standorttheoretischer Raumbegriffe in funktionelle Zusammenhänge von Regionen verlagerte. Diese „Atlantenphase“ hat, wesentlich unterstützt durch die EDVTechnologie, die Abkoppelung der Kartographie von der Geographie und die Etablierung einer eigenen Disziplin entscheidend gefördert. Diese durch den gesamten Zeitraum vorhandene Allianz zwischen der Geographie und der Kartographie hat zu „Exportprodukten“ geführt. Hierzu gehört der von Adolf Leidlmair am Institut für Landeskunde in Innsbruck herausgegebene Tirol-Atlas (1969/96), welcher Nord- und Südtirol umspannt und der unter Leitung von Josef Breu 48 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. vom Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Institut in Wien herausgegebene Atlas der Donauländer, dessen Nachfolger der Atlas von Ost- und Südosteuropa ist.70 Derzeit ist seine Fortsetzung in Form eines EDV-Atlasses und mit neuen Fragestellungen im Gang. Für 1999 wurde ferner die Publikation eines vom Institut für Südosteuropaforschung zusammen mit der Russischen Akademie der Wissenschaften und dem Verlag Hölzel in Wien herausgegebenen World Atlas of Resources and Environment auf der Grundlage der russischen Fernerkundungsdaten angekündigt. 3. Forschungsfelder mit Zukunft 3.a. Hochgebirgsforschung Österreich ist ein Alpenstaat. Die Alpen waren und sind ein Eldorado der geowissenschaftlichen Forschung. Gemäß den Maßstäben von Internationalität und Interdisziplinarität der Forschung besitzen vier Forschungsfelder einen guten Rangplatz an der internationalen Forschungsfront: • Quartärforschung, • Gletscherforschung, • Karstforschung und • Witterungsklimatologie (synoptische Klimatologie). Sie sind das Ergebnis einer Konzentration der Forschung auf wenige Bereiche der historischen Fachtradition.71 Ihr Stellenwert ist durch eine günstige Informationssituation zu begründen. Die Quartärforschung konnte die lange Tradition sorgfältiger Aufschlußprotokollierung für sich verbuchen, bevor sie mit ihren Proben ins Labor ging. Der Gletscherforschung kam der Enthusiasmus zahlreicher Alpenvereinsmitglieder zugute, welche jahrzehntelang freiwillige Messungen betrieben haben. Ebenso verdankt die Karstforschung ihre Fortschritte dem Zusammenspiel von Einzelleistungen und vereinsmäßiger Organisation. Die genannten drei Forschungs70 Peter Jordan, der am erwähnten Institut als Herausgeber des in periodischen Lieferungen erscheinenden EDV-Atlas von Ost- und Siidosteuropa tätig war, ist es gelungen, einen institutionellen Verbund aufzubauen, welcher die wissenschaftlichen Netzwerke des einstigen Großreiches der Donaumonarchie nachzeichnet. 71 Mehrere Subdisziplinen sind seit der Gründerzeit verlorengegangen. Dazu gehört die von Albrecht Penck stark geförderte hydrographische Forschung, ebenso die bedeutende Seenforschung, die längst zu einer Angelegenheit der Biologen geworden ist. Die Hydrobiologie hat sich dank der Existenz von biologischen Stationen (Lunzer See, Neusiedler See) zu einer wichtigen Grundlagenwissenschaft der Wasserwirtschaft gemausert. Es war der Biologe H. Löffler, welcher im Rahmen von UNESC0Programmen die Leitung der interdisziplinären Seenforschung in die Hand genommen hat. Auch die klassische Geomorphologie hat ihre große Zeit hinter sich. Eine "biologische Geographie" hat es mit Ausnahme von Ansätzen nicht gegeben, daher ist auch kein nennenswerter Beitrag der Geographie zur Umweltforschung vorzuweisen. 49 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. richtungen sind ferner durch ein reiches Sortiment von neuen spezialisierten Techniken wesentlich besser ausgerüstet als die Bereiche der klassischen Morphologie. Dies gilt insbesondere für die Speläologie und Karsthydrologie im Vergleich zur Karstmorphologie. Besonders reichhaltig ist die Vernetzung bei der Quartärforschung. Sie reicht von den traditionellen Kooperationen mit der Archäologie und Paläopedologie bis zur Isotopenforschung. Insbesondere in der Gletscherforschung und in der Karsthydrologie werden auch mathematisch-physikalische Modelle verwendet. In Richtung auf Ingenieurgeologie und Wasserbau hat sich die Karsthydrologie ein Forschungsfeld aufgebaut. Der Witterungsklimatologie kam die EDV-Technologie zugute, mit der es gelang, den Informationsgehalt der verfügbaren meteorologischen Meßreihen tiefer auszuloten. Insgesamt sind die genannten Subdisziplinen der physischen Geographie durch sehr starke zentrifugale Bewegungen in Richtung auf die naturwissenschaftlichen Anrainer gekennzeichnet. Ihre künftige institutionelle Positionierung wird daher von den tragenden Persönlichkeiten abhängen. Mit der Aufgabe der Rekonstruktion der jüngeren Erdgeschichte anhand von bruchstückhaften und zumeist nur hypothesenmäßig interpretierbaren Fakten hat die Quartärforschung auf einzelne Fachvertreter dieselbe Faszination ausgeübt wie die Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte mittels Ausgrabungen auf Archäologen und Prähistoriker. Stets wurden prominente Fachvertreter von dieser Aufgabe angezogen. Die zunächst nur als geowissenschaftliche Grundlagenforschung interpretierbaren Untersuchungen der eiszeitlichen Ablagerungen haben inzwischen durch die Weiterentwicklung und Verfeinerung der Chronologie auch Relevanz für die aktuelle brisante Diskussion um die Klimaveränderung des „Planeten Erde“ erhalten.72 Dasselbe gilt für die Gletscherforschung, zu deren international beachtenswerten Leistungen die Erstellung des „Österreichischen Gletscherkatasters“ und die Etablierung einer „Österreichischen Gletscherdatenbank“ mit rund 60 Merkmalen je Gletscher ab 1969 und eine Wiederholung der Aufnahme 1996-1998 gehören. Die Ergebnisse hinsichtlich der Volumens- und Flächenreduzierungen der österreichischen Gletscher in den abgelaufenen drei Jahrzehnten besitzen für die Fragen der Naturrisken im Hochgebirge, den Tourismus und die Wasserwirtschaft ebenso Relevanz wie für die 72 Dabei hat sich der Schwerpunkt der Forschung von Wien nach Innsbruck verlagert. Dies hängt mit dem frühen Tod von Julius Fink zusammen, der ein Verbundsystem der Quartärforschung von Österreich aus mit den Nachbarstaaten Ungarn, CSSR und Rumänien längs der Donau als Bezugssystem aufbauen und die Lößforschung als Subdisziplin begründen konnte. Beides ist inzwischen von Nachbardisziplinen übernommen worden. Die Untersuchungen der Innsbrucker Schule in den Inntalsedimenten erbrachten den zeitlichen Ablauf des Auf- und Abbaus der letzten Vergletscherung (Würm), welche sich mit einem Zeitmaß von 30 000 Jahren als sehr viel kürzer erwiesen hat, als bisher angenommen wurde. Vor 14 000 Jahren war das Inntal wieder eisfrei. 50 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Thematik der Klimaveränderung.73 In der Karstforschung konnten zwei Bereiche dank der herausragenden Leistungen von einzelnen Wissenschaftlern die internationale Tradition wahren. In der Höhlenforschung hat Hubert Trimmel mit der Kompletterstellung eines Höhlenkatasters von rund 4 400 Höhlen, unterstützt von den zahlreichen Höhlenvereinen, eine enorme Leistung vollbracht, welche internationale Vorbildfunktion besitzt. Die Erforschung und Erschließung der Riesenhöhlen ist dem internationalen Tourismus zugute gekommen.74 In der Karsthydrologie ist die von Josef G. Zötl, einem Schüler von Hans Spreitzer, 1966 eingeführte Methode der Anwendung von Markierungsstoffen zur Verfolgung unterirdischer Wässer zu einem unentbehrlichen Instrument bei der Klärung von technischen Fragen im Speicher- und Stollenbau ebenso wie von Problemen der Wasserwirtschaft geworden.75 Es ist ein Netz von Stationen mit Routinemessungen, analog zu dem für Niederschlagsbeobachtungen, entstanden. In einer Zeit rasant gestiegenen Verkehrsaufkommens und zunehmender Ansprüche der Freizeitgesellschaft an den Alpenraum erhält die Witterungsklimatologie der Alpen ebenfalls steigende Bedeutung. Sie wurde in Österreich durch Franz Fliri begründet, der damit, in kritischer Reflexion von Bauernregeln über das Wetter, einen Ausgriff in das von der Meteorologie nicht bearbeitete Feld der synoptischen Klimatologie der Alpen unternommen hat.76 Österreich zählt im Hinblick auf die regionale Witterungsklimatologie zu den besterforschten Räumen Europas. In der humanwissenschaftlichen Hochgebirgsforschung reicht die Thematik der 73 Die erste Erhebung wurde im Zusammenhang mit der internationalen hydrologischen Dekade unter Leitung von G. Patzelt im Rahmen des Instituts für Hochgebirgsforschung gemeinsam mit G. Gross (und anderen) in Form der photogrammetrischen Messungen von 925 Gletschern durchgeführt. Die Ergebnisse konnten zum großen Teil in der Zeitschrift für Gletscherkunde und Glazialgeologie (Herausgeber: M. KUHN und G. PATZELT) veröffentlicht werden, die eine Brücke zum internationalen Fortschritt bildet. Die Organisation der Wiederholung der Aufnahme durch M. Kuhn erfolgte mit Hilfe von Flugaufnahmen des österreichischen Bundesheeres (1996-1998). 74 Drei Viertel der im gegenwärtigen Höhlenkataster aufgenommenen Höhlen sind erst seit der Nachkriegszeit bekannt und erforscht worden, darunter auch mehr als 20 Riesenhöhlen. Mit einem Anteil von 10% an der Liste der großen Höhlen auf der Erde besitzt der Kleinstaat Österreich eine beachtliche Position. Dank der interdisziplinären Kooperation mit der Archäologie, Sedimentpetrographie, Paläontologie, Quartärforschung und verschiedenen Spezialfächern konnten wesentliche neue Forschungsergebnisse gewonnen worden. 75 Die Spanne der neuen Forschungsmethode der Isotopenmessung reicht von der Ermittlung der Verweildauer des Wassers im Untergrund, der mittleren Höhe des Einzugsgebietes von Quellen bis zur Erarbeitung von Typen karsthydrographischer Landschaften. 76 Eine völlige Neubearbeitung der täglichen Beobachtungen von mehr als 1 000 Stationen für 30 Jahre war hierzu erforderlich; sie erbrachte 1962 mit F. Fliris Hauptwerk Wetterlagenkunde von Tirol grundsätzlich neue Erkenntnisse über Klassifikationssysteme der Wetterlagen und als Nebenprodukt 1969 das erste Lehrbuch über statistische Methoden in der deutschsprachigen Geographie, Statistik und Diagramm. Die Arbeiten von F. Fliri und seinen Schülern im Westen Österreichs werden nunmehr von W. Wakonigg und seinen Schülern im Osten ergänzt beziehungsweise fortgeführt. 51 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Überlebenschancen des Bergbauerntums bereits ins späte 19. Jahrhundert zurück. Sie ist aufgrund der Agrarüberschüsse in der EU und der niedrigen Weltmarktpreise ebenso zu einem Dauerthema avanciert wie die Untersuchung der Effekte der Überlagerung der bergbäuerlichen Gesellschaft durch die Freizeitgesellschaft in den Hochgebirgen Europas, bei denen die bisher nur für Städte verwendete sozialökologische Theorie erstmals auf die dritte Dimension der Siedlungsräume des Hochgebirges übertragen und mit innovations- und diffusionstheoretischen Ansätzen verknüpft werden konnte. Normative Aufgaben der Ausgliederung von Nationalparks für die „Vereinigten Staaten von Europa“ stehen am Horizont ebenso wie noch recht unscharfe Konzepte von einer „nachhaltigen Entwicklung“ der alpinen Kulturlandschaft.77 Eine sektorale Sonderstellung bezieht die Geographie des Fremdenverkehrs und der Freizeitgesellschaft, die sich einer problemorientierten Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen geöffnet und den Praxisbezug ebenso gefestigt wie die raumordnungspolitischen Perspektiven akzeptiert hat. Geographen beteiligen sich an der verwaltungsinternen Grundlagenforschung und partizipieren an der direkten Auftragsforschung – allerdings ist im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland die Tourismusforschung im Ausland von geringer Bedeutung geblieben. 3.b. Die Wachstumsdisziplin der geographischen Stadtforschung Auf die Wiener Schule der geographischen Stadtforschung wurde wiederholt hingewiesen. Wien hat auf dem Gebiet der Stadtforschung eine herausragende Position, geht seine Bedeutung doch weit über den Rang hinaus, den ihm seine Stellung als Hauptstadt eines Kleinstaates zumessen würde. Die Weltstadtperiode Wiens hat die Tradition einer bedeutenden Stadtforschung hinterlassen, die auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stets an der Forschungsfront des Faches fortgeführt werden konnte.78 77 E. LICHTENBERGER: Die Sukzession von der Agrar- zur Freizeitgesellschaft in den Hochgebirgen Europas (= Innsbrucker Geographische Studien 5), Festschrift für Prof. A. Leidlmair, S. 401 – 436; H. PENZ: Die Stellung der Landwirtschaft im Modernisierungsprozeß Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Ergebnisse von Untersuchungen im Rahmen des Teilprojektes Landwirtschaft des Forschungsschwerpunktes des FWF „Österreich – Raum und Gesellschaft“, in: MÖGG 139 (1997), S. 77100; N. WEIXELBAUMER: Gebietsschutz in Europa. Konzeption – Perzeption – Akzeptanz. Ein Beispiel angewandter Sozialgeographie am Fall des Regionalkonzepts in Friaul-Julisch Venetien (= Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeographie, Band 8), Wien 1998. 78 Vgl. E. LICHTENBERGER: Stadtgeographie I (Anmerkung 69). 52 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Die Reihe der immanenten Themen reicht von der Frage nach der Konvergenz der Stadtentwicklung in der entwickelten Welt aufgrund der Globalisierung der Ökonomie und Technologie bis zu dem neuen Problem des Recycling der gebauten Kubatur. Galt bis in die Nachkriegszeit die Regel, daß die Lebenserwartung der physischen Struktur von Städten länger ist als die Lebenserwartung der darin wohnenden städtischen Bevölkerung, womit der Wandel der städtischen Gesellschaft im baulichen Gehäuse thematisiert werden mußte, so hat diese Regel inzwischen ihre Allgemeingültigkeit verloren. Damit reduziert sich auch der Erklärungswert der in die sozialökologische Theorie integrierten Filtering-down-Konzeption, welche einen Baubestand voraussetzt, dessen Lebensdauer lang genug ist, um ein Abwohnen in der Abfolge von Generationen zu ermöglichen. Aufgrund der Verlängerung der Lebenserwartung der Bevölkerung überschneiden sich nunmehr zwei Kurven, und zwar die Kurve der abnehmenden Lebenserwartung der Bestandteile der physischen Struktur von Städten und die Kurve der zunehmenden Lebenserwartung der städtischen Bevölkerung. Es geht damit die Periode des Wandels im baulichen Gehäuse der Stadt zu Ende, die Periode des Recycling der gebauten Kubatur innerhalb der Lebenszeit der Generationen beginnt. Daraus resultiert die Thematik von Stadtverfall und Stadterneuerung im intermetropolitanen Vergleich. Die Theorie des Lebens in zwei Gesellschaften definiert ein neues Phänomen. Sie gründet sich auf die Aufspaltung der Wohnstandorte einerseits von Gastarbeitern zwischen Herkunfts- und Zuwanderungsgebiet und andererseits von großstädtischer Bevölkerung zwischen Arbeits- und Freizeitwohnungen. In beiden Fällen entstehen Unterschichtungs- beziehungsweise Überschichtungsphänomene, und zwar sowohl in den Großstädten als auch im ländlichen Raum. Entsprechend den rhythmischen Phänomenen der arbeitsteiligen und der Freizeitgesellschaft beziehungsweise der Verschiebung des Wohnstandortes im Laufe des Lebenszyklus, werden die Einwohner von großen Städten in zunehmendem Maße zu „Bewohnern auf Zeit“. Ein „postindustrielles städtisches Nomadentum“ entsteht, welches neue kommunalpolitische Interessenskonflikte bewirkt. Nordamerika ist der Trendsetter in der Globalisierung der Ökonomie, der Metropolitanisierung und der interkontinentalen Migration. Seine Metropolen sind Problemfelder ersten Ranges durch das Entstehen von Megaghettos in den Kernstädten, eine exorbitant steigende Zahl von Haushalten von alleinerziehenden Frauen, die Ausschließung der „underclass“ aus der Arbeitsgesellschaft, das erschreckende Phänomen einer neuen Obdachlosigkeit und durch eine steigende Zahl von Outlaws. Es sind neue immanente Forschungsfragen entstanden. Sie lauten: Werden die europäischen Metropolen ebenso zu Problemfeldern werden oder kann die Regionalpolitik der sozialen Wohlfahrtsstaaten in Gestalt des Munizipalsozialismus diese Probleme verhindern oder doch eindämmen? Welche Probleme gehören zur „Globalisierung gesellschaftlicher Prozesse"? 53 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. 3.c. Das Forschungsterrain in Ost- und Südosteuropa Es zählt zu den Usancen der geographischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, daß aufgrund der Förderung der Auslandsforschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft der einzelne Wissenschaftler seine regionalen Forschungsinteressen wie die Schnecke das Gehäuse von einem Universitätsstandort zu einem anderen mitnehmen kann. Von derartigen individuellen Interessentransfers kann in Österreich nicht die Rede sein. Zukunftsfelder der geographischen Forschung im Ausland bedürfen in einem Kleinstaat der institutionellen Absicherung, das heißt sie müssen durch ein längerfristiges Forschungsprogramm von Institutionen abgedeckt sein. In diesem Zusammenhang sind zwei Institutionen zu nennen: das bereits oben angeführte Institut für Südosteuropaforschung und das Institut für Stadt- und Regionalforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die beide mittels institutioneller Netzwerke Forschungsstrukturen in Ost- und Südosteuropa aufgebaut haben. Geographische Forschung sensu stricto wird nur an letzterem betrieben. Der Aufbau eines Forschungsnetzwerkes begann hier schon in den 1980er Jahren und wurde durch die institutionelle Verflechtung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit den Akademien der östlichen Nachbarstaaten begünstigt und erleichtert. Dadurch ergab sich nach dem Wegziehen der kommunistischen Decke der „Vorteil der ersten Stunde“ für eine breite Transformationsforschung in den postsozialistischen Staaten Ungarn, Tschechien, Polen und der Slowakei, die mit Ausnahme des letztgenannten Staates zu Ende des 20. Jahrhunderts für die nächste Runde der EU-Erweiterung vorgesehen sind. Mehrere Thesen konnten inzwischen bestätigt werden. Demnach wird in den postsozialistischen Staaten keine gegenüber dem Westen Europas nur zeitlich verschobene Entwicklung stattfinden, sondern manche Entwicklungen werden akzeleriert, andere zögernd ablaufen. Es hat eine neue Gründerzeit mit schlagartig auftretenden Effekten der Liberalisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung eingesetzt. Zu den Transformationsprozessen im Spannungsfeld von Internationalisierung und Restrukturierung zählen die vom internationalen Kapital gesteuerten Investitionen auf dem Immobilienmarkt, bei der Gründung von Banken, Versicherungen und Großhandelsketten ebenso wie die Deindustrialisierung und Entstaatlichung des Arbeitsmarktes. Übersprungseffekte der modernen Technologien und des quartären Sektors, so zeigte sich ferner, begünstigen die Metropolen und verstärken das West-Ost-Gefälle. Schließlich erwies sich die These als richtig, daß Teile der physischen Strukturen und Organisationssysteme aus dem Staatssozialismus erhalten bleiben. Eine Reprivatisierung der Landwirtschaft wird nicht mehr stattfinden, die großbetriebliche Landwirtschaft wird fortbestehen. Irreversibel sind ferner die Reduzierung des kleinbetrieblichen Einzelhandels und Gewerbes. Die kleinen und die mittleren Zentralen Orte waren die Verlierer im Staatskapitalismus und sie werden es bleiben. 54 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Mit zwei Schneisen konnten neue Forschungsfronten bei der Untersuchung der Transformation vom Plan zum Markt eröffnet werden: Auf der einen Schneise werden Vergleichsanalysen von Immobilien-, Wohnungs- und Arbeitsmärkten in Metropolen,79 Zentralen Orten und ländlichen Regionen durchgeführt, und die Übersprungseffekte durch den internationalen Immobilienmarkt ebenso analysiert wie die Kommerzialisierung und Restrukturierung auf dem Wohnungsmarkt sowie die Tertiärisierung als Gegensteuerung zur Entindustrialisierung auf dem Arbeitsmarkt. Auf der zweiten Schneise wird „Die Rückkehr der Regionen“ einerseits in Hinblick auf die unterschiedlichen räumlichen Konsequenzen der nationalen Modelle der Transformation analysiert, die sich zwischen neoklassischer und keynesianischer Richtung anordnen, andererseits in Hinblick auf das erneute Aufbrechen der durch den Staatskapitalismus reduzierten regionalen Disparitäten.80 4. Zukunftsforschung und Schwerpunktprogramm: „Österreich – Raum und Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts“ Die Geographie hat in den 1980er Jahren die Zukunftsforschung den aus Statistikern gemauserten Zukunftsforschern überlassen. Globale beziehungsweise nationale Modelle waren das Ergebnis. Im Jahr 1987 wurden erstmals von österreichischen Geographen die Chancen einer regionalgeographischen Zukunftsforschung in dem bisher ausschließlich von Vertretern der systematischen Disziplinen und von Statistikern besetzten Terrain wahrgenommen. In Kontrastszenarien wurden die räumlichen Effekte einerseits eines Beitritts zur EG und andererseits einer Öffnung Österreichs gegen den Osten in sektoralen Modellanalysen hinsichtlich Bevölkerung, Landwirtschaft, Fremdenverkehr und 79 M. SCHULZ: Der Tauschwohnungsmarkt in der zentralistischen Planwirtschaft - das Beispiel von Ostberlin (= ISR-Forschungsberichte 3), Wien 1991; H. SCHMIDT: Die metropolitane Region Leipzig Erbe der sozialistischen Planwirtschaft und Zukunftschancen (= ISR-Forschungsberichte 4), Wien 1991; G. WECLAWOWICZ: Die sozialräumliche Struktur Warschaus – Ausgangslage und postkommunistische Umgestaltung (= ISR-Forschungsberichte 8), Wien 1993; M. SEIDL: Stadtverfall in Bratislava (= ISR-Forschungsberichte 9), Wien 1993; E. LICHTENBERGER: Metropolen und periphere Regionen: Probleme der Sozialpolitik in den USA und in Europa, in: Int. Symposium der Österr. Akademie der Wissenschaften, Wien 1999, S. 93-139; dies.: Wien-Prag. Metropolenforschung, WienKöln-Weimar 1993; E. LICHTENBERGER, Z. CSEFALVAY, M. PAAL: Stadtverfall und Stadterneuerung in Budapest (= Beiträge zur Stadt- und Regionalforschung, Band 12), Wien 1994; R. MYDEL, K. VORAUER: Krakau – Städtebauliche Entwicklung und Denkmalschutz, in: MÖGG 156 (1994), S. 119-142. 80 H. FASSMANN (Hg.): Die Rückkehr der Regionen – Beiträge zur regionalen Transformation Ostmitteleuropas (= Beiträge zur Stadt- und Regionalforschung, Band 15), Wien 1997; FASSMANN, LICHTENBERGER (Hg.) 1995; E. LICHTENBERGER: Metropolen und periphere Regionen: Probleme der Sozialpolitik in den USA und in Europa (Anmerkung 80). 55 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. Industrie berechnet, wobei die multiregionale Bevölkerungsprognose von Michael Sauberer die Plattform für den Verbund der sektoralen Modellrechnungen bis zum Jahr 2000 beziehungsweise 2030 bildete. Die vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs, im Jänner 1989 fertiggestellte Publikation ist noch vor dem Hintergrund der festzementierten räumlichen Struktur eines geteilten Europa entstanden. Sie hat die Konsequenzen der Öffnung nach dem Osten in Hinblick auf die Zuwanderung treffend eingeschätzt und war für den Meinungsbildungsprozeß auf der politischen Entscheidungsebene hinsichtlich des Beitrittsansuchens Österreichs an die EG von Bedeutung.81 Durch die politische Trendwende von säkularem Ausmaß sind beide als Szenarien simulierten Alternativen gleichzeitig Wirklichkeit geworden: die Öffnung der Grenzen nach dem Osten und der Beitritt zur EU. Dadurch liegt nunmehr Österreich in der Mitte von Europa in einem Schnittpunkt des Transfers von Bevölkerung, Arbeitskräften und Kapital. Die Jahrzehnte der Nachkriegszeit, in denen Österreich als östlichster Staat von Westeuropa weit in den Ostblock hineinragte, sind zu Ende. Eine neue Standortbestimmung von Raum und Gesellschaft ist erforderlich. Es wurde die Jahrhundertchance der geographischen Wissenschaft genutzt, eine Analyse des politischen Quantensprungs der Jahre 1989-91 im Blick auf die europäischen Regionen sowie eine Begleitforschung zu den räumlichen Konsequenzen in den ersten Beitrittsjahren durchzuführen. 1994, im Jahr der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs in die Europäische Union, wurde vom FWF der bis 1999 laufende Forschungsschwerpunkt „Österreich. Raum und Gesellschaft“ eingerichtet, welcher der geographischen Forschung im Kleinstaat Österreich einen wesentlichen Auftrieb gebracht hat. Er ist um drei Perspektiven zentriert: (1) die Retrospektive auf den „erfolgreichen österreichischen Weg“ in der Nachkriegszeit, dessen Dokumentation eine wichtige Aufgabe darstellt, da sonst aufgrund der sich überstürzenden aktuellen Entwicklung viele wertvolle Informationen verloren gehen würden; (2) die Herausarbeitung und Analyse der aktuellen österreich-spezifischen Phänomene im Kontext von Raum und Gesellschaft vor dem Hintergrund des „gemeinsamen Hauses Europa“; (3) die Herausarbeitung von „programmierter“ und „ungewisser“ Zukunft in Hinblick auf die Differenzierung der österreich-spezifischen „Qualitäten“ von geographischem Raum und Gesellschaft, welche einerseits erhalten bleiben und andererseits größeren „europäischen Lösungen“ weichen müssen, wobei neue Probleme entstehen werden.82 81 LICHTENBERGER 1989. Österreichische Geographische Gesellschaft (Hg.): Österreich - Raum und Gesellschaft. Schwerpunkt des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung: Programm und erste Ergebnisse, in: MÖGG 137 (1995), S. 274-426. 82 56 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. V. Verzeichnis der Abbildungen 1. Tabellen und Graphiken: Abb. 1: Geographischer Maßstab und aktuelle Theoriehorizonte von Nachbardisziplinen der Geographie S. 10 Abb. 2: Karrierepfade in der Generationsfolge S. 26 Abb. 3: Österreichische Geographen auf Ordinariaten im Ausland im 20. Jahrhundert S. 28 Abb. 4: Albrecht Pencks Schüler in Wien und Berlin auf Ordinariaten im deutschen Sprachraum S. 33 Abb. 5: Das Spektrum der Nachbarwissenschaften der klassischen und der analytischen Stadtgeographie S. 46 2. Porträts: Albrecht Penck S. 30 Hugo Hassinger S. 34 Hans Bobek S. 38 57 Geographie. In: Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften – ein zentraleuropäisches Vermächtnis. 2. Band: Lebensraum und Organismus des Menschen. 5 Abbildungen, 3 Fotos. Passagen Verlag, Wien 2001: 71–148. VI. Bibliographie Siglen wichtiger Periodika: GZ = Geographische Zeitschrift MÖGG = Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft, Wien GJÖ = Geographischer Jahresbericht aus Österreich Alm. Akad. Wiss. Wien = Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien l. Allgemeine Literatur zur Wissenschaftsgeschichte der Geographie BECK, H.: Geographie. Europäische Entwicklungen in Texten und Erläuterungen, Freiburg u. a. 1973. BECK, H.: Große Geographen: Pioniere – Außenseiter – Gelehrte, Berlin 1992. BOWMAN, I.: Geography versus Geopolitics, in: Geographical Review XXXII, 4 (1942), S. 646-658. BROGIATO, H. P.: Die Schulgeographie im Spiegel der Deutschen Geographentage, in: Geographische Rundschau 47, 9 (1995), S. 484-490. 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