Das väterliche Gesetz und die ödipale Szene.

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ZPTP, Jg. XXIII, Ergänzung zu Heft 1/2, 2008
Hans-Joachim Behrendt (Freiburg)
»iustitia prohibitoria«. Das väterliche Gesetz und die ödipale
Szene.∗
Ein Kommentar zu Pierre Legendre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie.
1
Abhandlung über den Vater.
A Einleitung
I. Die Vorstellung des Autors Legendre und seines Werkes
Pierre Legendre lehrt als auf das Mittelalter spezialisierter Rechtshistoriker
und bei Lacan geschulter Psychoanalytiker Öffentliches Recht sowie
Rechtsgeschichte an der Sorbonne und Religionswissenschaften an der
Pariser École Pratique des Hautes Études. Zeugnis von seiner Forschungsund Lehrtätigkeit legt unter anderem die seit 1983 publizierte Reihe der
Leçons ab, deren achter Band das im Folgenden besprochene Werk ist.
Die Bücher Legendres tragen vielfach so geheimnisvolle aber auch
verlockende Titel wie »La Passion d´être un autre« (Paris 1978) (»Die
Leidenschaft, ein anderer zu sein«), »Le Désir politique de Dieu« (Leçons
VII, Paris 1988) (»Das politische Gottesverlangen«) oder »Les Enfants du
Texte« (Leçons VI, Paris 1992) (»Die Kinder des Textes«) und verraten
schon durch ihre Titulatur das Unorthodoxe der Vorgehensweise ihres
Autors. Es handelt sich bei den Büchern Legendres allesamt um hoch2
gelehrte Werke , in denen sich eine profunde Kenntnis des römischen und
des kanonischen Rechts sowie der mittelalterlichen Scholastik mit der
∗ Bei der Redaktion eingegangen 22.12.2007. Durch ein Versehen der Redaktion kam nicht diese
Fassung, sondern eine frühere in Heft 1/2, 2008, S. 64-84, zum Abdruck. Wir bedauern dieses
Versehen.
1 Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Lektionen
VIII. Freiburg (Rombach) 1998.
2 Eine Bibliographie der Schriften Pierre Legendres findet sich bei Pornschlegel und Thüring, 1998,
S. 205-208. Nur wenige Texte Legendres sind ins Deutsche übersetzt. Man vergleiche hierzu die
Titel im Literaturverzeichnis. Erwähnt sei ferner ein (von Clemens Pornschlegel und Anton
Schütz geführtes) Gespräch mit Pierre Legendre unter dem Titel: »Der ›Take-Off‹ des Westens ist
ein Gerücht.« Tumult 26 (2001) 102-118. Besonders informativ zu Aussage und Zielrichtung der
Arbeiten Legendres ist ein Aufsatz von Manfred Schneider: Es genügt nicht, Menschenfleisch
herzustellen. Tumult 26 (2001) 45-53.
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psychoanalytischen Erfahrung zu dem Nachweis verbindet, daß das
politische, juristische und wirtschaftliche Denken der industriellen Moderne
das Erbe der Meisterdenker des Mittelalters angetreten hat, freilich ohne es
recht zu verstehen oder gar zu pflegen. Legendre beläßt es allerdings nicht
bei der historischen Betrachtung. Ihre Brisanz beziehen seine Arbeiten
vielmehr aus der Tatsache, daß er mit historiographischer Begründung gegenüber der im Westen vorherrschenden Tendenz, die Institutionen zu
dekonstruieren, die Autoritäten zu hinterfragen (scilicet: zu verwerfen) und
alle Glaubenssätze zu unterminieren, völlig unzeitgemäß und ganz unerbittlich sein Veto einlegt und auf der Unerläßlichkeit einer normativ
wirksamen institutionellen Ordnung des menschlichen Lebens besteht.
In der Schrift »Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über
den Vater.« entwickelt Legendre seine um das officium patris (das Amt des
Vaters) zentrierte Lehre unter vielfältigem Rückgriff auf Denkfiguren und
Begriffe der Scholastik des Mittelalters am Beispiel eines kanadischen
Strafrechtsfalles aus dem Jahre 1984.
Denis Lortie, ein junger Gefreiter der kanadischen Armee, dringt am 8.
Mai 1984 schwer bewaffnet in die Nationalversammlung von Québec ein,
um die Regierung zu töten. Auf seinem Weg in den Sitzungssaal erschießt er
drei Menschen. Der Sitzungssaal selbst ist entgegen seiner Erwartung leer.
Lortie setzt sich auf den Sessel des Präsidenten. Nach langen Verhandlungen mit einem Offizier des Wachregiments gibt er schließlich auf.
Zu seinem Motiv befragt sagt er später: »Die Regierung von Québec hatte
das Gesicht meines Vaters.«
Lortie, geboren 1959, ist mitsamt seinen sieben Geschwistern von
frühester Kindheit an den rohen und brutalen Übergriffen seines
tyrannischen Vaters wehrlos ausgeliefert. Als Lortie zehn Jahre alt ist,
verläßt der Vater die Familie und meldet sich, mit einer Ausnahme, nie
wieder.
Mit einem Vater identifiziert, der omnipotent kein Recht und keine
Regel anerkennt und mithin zur Erfüllung der väterlichen Aufgabe und zur
Ausübung des Vateramtes unfähig ist, gerät Lortie trotz heftiger und
verzweifelter innerer Gegenwehr schließlich an den Punkt, an dem er sich
des bösartigen Introjekts (und damit geplantermaßen auch seiner eigenen
Existenz) in einem deliranten Schub durch Ermordung der Regierung zu
entledigen sucht.
Legendre belegt mit diesem von ihm eingehend behandelten und als
parricidium (Vatermord) gedeuteten Fall ex negativo seine Hauptthese, daß
die Existenz einer Vaterreferenz für das Gedeihen des Einzelnen wie auch
der Gesellschaft unverzichtbar ist. Dabei ist ihm die Installierung einer
funktionstüchtigen väterlichen Instanz im Individuum in gleicher Weise
wichtig wie die Instituierung eines intakten Vaterbildes in der Gesellschaft.
Die private wie die gesellschaftliche Vaterinstanz sind in der Lehre
Legendres zudem zwingend an ein ideales väterliches Prinzip, eine Art von
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absolutem Vater, gebunden. Von Bedeutung ist vor allem auch das Zusammenspiel beider Instanzen, das sich in der Form eines ständigen wechselseitigen Austauschs bewußter und unbewußter Vorstellungen und Affekte
zwischen dem Erleben des Einzelnen und der institutionellen Vaterdarstellung vollzieht.
Als zentraler Dreh- und Angelpunkt für die Begründung der väterlichen
Position wird die Lösung des ödipalen Dramas ausgemacht, nämlich die
3
Einsetzung des Inzesttabus wie des Verbots des Vatermordes . Nur das
Zusammenwirken der familialen und der institutionellen Inszenierung des
väterlichen Verbots kann Legendre zufolge dessen heilsame Wirkungen für
die Subjekte sicherstellen oder doch wenigstens ermöglichen: die Einhaltung
der Generationengrenze, die Unterscheidung von Vernunft und Wahn, die
Achtung des Rechts sowie die Befähigung zur Sprache.
Legendre demonstriert die existentielle Notwendigkeit der äußeren und
inneren Korrespondenz zwischen einer intakten individuellen und einer
unversehrten kollektiven Vaterinstanz am negativen Fall der Störung oder
des Abbruchs dieses Zusammenspiels in aller Deutlichkeit.
Für die Sicht Legendres hat jeder Vatermord eine doppelte Angriffsrichtung: Einmal gilt die Tat dem konkreten Vater, darüber hinaus richtet
sie sich aber auch gegen den institutionellen Vater und das von ihm
ausgehende Verbot.
Diese Doppelnatur des mörderischen Angriffs tritt, allerdings in der
Form einer Karikatur, auch in der deliranten Tätlichkeit des Denis Lortie
zutage, dessen Anspruch auf einen normgebundenen Vater und damit auf
eine tragfähige väterliche Instanz massiv verletzt wurde, der nicht – wie es
die Antike in schöner Weise ausdrückte – »aus dem Vater geboren« (ex
patre natus) wurde und der sich deshalb in seinem Wahn zugleich gegen
seinen eigenen Vater und gegen die öffentliche Repräsentanz des Vaters –
quasi in Geltendmachung seines Anspruchs – zur Wehr setzt.
Lortie macht es mit seiner nachträglich gegebenen Erklärung »Die
Regierung von Québec hatte das Gesicht meines Vaters« ganz deutlich, daß
sein wahnhafter Angriff seinem eigenen Vater und zugleich der
institutionellen Repräsentanz des Vaters galt. Beide verschmolzen bei ihm
gewissermaßen zu einer Figur.
Noch die im Delirium verzerrte Wahrnehmung Lorties stellt bei aller
Verzeichnung klar: Das private Vaterbild und der institutionelle Vater
3 Zur Bedeutung der ödipalen Szene und ihrer Auflösung bei Freud vgl. ders., 1923b, S. 235-289,
insbesondere S. 256-267; ders., 1924, S. 393-402. Nähere Erläuterungen des Ödipuskomplexes bei
Roskamp und Wilde, 1999, S. 79-191, insbesondere S. 110-123. Für eine breitere Übersicht anhand
der modernen Literatur siehe Mertens, 1994, S. 11-116. Lacan, 1953, S. 237-322, insbesondere S.
276-279, betrachtet den Ödipuskomplex als ein strukturell -generelles Phänomen und nicht als ein
ontogenetisch – phasenspezifisches und stellt damit den ganz allgemeinen Konflikt zwischen einer
narzißtisch – imaginären Beziehung und einem triangulären Beziehungsgefüge, welches dem
Dritten und der Symbolfunktion Raum gibt, in den Vordergrund. Legendre folgt bei der
Zeichnung des institutionellen Vaterbildes in vielem der Lacanschen Konstruktion.
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gehören zusammen und stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit.
Legendre beleuchtet bei seiner Deutung des Falles Lortie besonders die
innere Dimension des Zusammenspiels von privatem Vater und institutioneller Vaterfigur, er spricht (1989, S. 65) in bezug auf letztere von der
»Präsens der Institution im Subjekt«:
Lortie setzt den aus früher Zeit herrührenden und sich jetzt
zuspitzenden, zur Struktur gewordenen Konflikt mit seinem zerstörerischen Vater durch ein omnipotentes und destruktives acting-out in Szene.
Der Riß, der durch die Person Lorties geht, zeigt auf der einen Seite das
Objekt des zerstörerischen Vaters, das projektiv externalisiert und mit der
Regierung von Québec verbunden wird, die dadurch für Lortie den
Charakter des Vaters annimmt. Auf der anderen Seite erscheint Lortie in der
regressiven Rolle eines omnipotenten Akteurs, der durch nichts mehr
aufzuhalten ist. Der gesamte Ablauf des Tatgeschehens einschließlich seiner
Vorbereitung besitzt den Charakter eines automatischen Vorgangs, der von
jeder autonomen Steuerung frei ist.
In dem uns interessierenden Zusammenhang ist insbesondere die
Beobachtung wichtig, daß im Zuge der Desintegration der Persönlichkeit
Lorties seine destruktiv aufgeladene und ohnehin kaum tragfähige
Vaterimago vollends auf einen rudimentären Status zurückfällt, in dem sie
die Vermittlung mit den Institutionen des Außenfeldes nicht mehr leisten
kann: Die absolute Destruktivität und Undifferenziertheit des privaten
Vaters teilt sich der von ihr genetisch, strukturell und funktionell abhängigen inneren Repräsentanz des öffentlichen Vaters (der oben genannten
»Präsens der Institution im Subjekt«) mit. Letztere verliert damit ihre
Funktion als eine in beiden Richtungen tätige Agentur der Vermittlung der
öffentlichen mit der privaten Vaterinstanz.
Damit entfällt für Lortie die subjektive Grundlage jener existenzsichernden bewußten und unbewußten Korrespondenz zwischen den
Instanzen. Unter solchen Umständen zerbricht insbesondere auch die
institutionelle Dimension für das Subjekt; mit anderen Worten: Die
institutionelle Ordnung im Subjekt löst sich auf. So kann Legendre erklären,
warum Lortie mit seiner Tat aus der Ordnung der Generationen herausfällt
ebenso wie aus der Ordnung der Vernunft, des Rechts und der Sprache.
Legendre behandelt, das sei an dieser Stelle ergänzt, auch die in einem
gewissen Sinne gegenläufige Variante zum Fall Lortie, bei dem wie dargestellt die Zerrüttung des Subjekts das institutionelle Vaterbild unterminiert, indem er am Beispiel des Nationalsozialismus zeigt, daß die
Instituierung eines zerstörerischen öffentlichen Vaterbildes die Strukturbildung der Einzelsubjekte entgleisen läßt.
Legendre demonstriert jedoch nicht nur den individuellen Ruin, der aus
der Vernichtung des kollektiven und individuellen Vaterbildes folgt,
sondern er weist auch auf die heilsamen Wirkungen hin, welche die
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Institutionen als gesellschaftliche Verkörperungen des väterlichen Dritten
bei der Restrukturierung beschädigter Subjektivität herbeiführen können
oder doch könnten. So deutet Legendre an, welche wichtige Rolle Justiz
und Psychiatrie in einem Verfahren wie demjenigen Lorties (der vor Gericht
mehrfach darum bittet, als Schuldiger anerkannt und behandelt zu werden,
und der schließlich im Berufungsverfahren zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird) in Wahrnehmung ihrer – wenn man so sagen darf –
anthropologischen Verantwortung bei der Wiederherstellung der Vaterreferenz des Beschuldigten zu spielen vermögen.
Legendres zentrales Anliegen reicht nach allem weit über die adäquate
Behandlung von Strafrechtsfällen hinaus. Ihm geht es im Kern darum, auf
die für jede Gesellschaft existentiell notwendigen und im wahrsten Sinne des
Wortes lebenserhaltenden Wirkungen einer gelingenden Korrespondenz
von individueller Sozialisation und öffentlicher Vaterrepräsentation nachdrücklich hinzuweisen. Von dieser Kernthese ausgehend entfaltet Legendre
seine Kritik an den Lebens-, Denk- und Produktionsweisen der westlichen
Moderne. Es kann nicht verwundern, daß Legendre den modernen westlichen Gesellschaften angesichts der Vorherrschaft von Szientismus und
Management, welche nicht mehr väterlich referenziert sind, eine ungünstige
Prognose stellt.
II. Die Gliederung der Darstellung
Die vorliegende Abhandlung zeichnet zunächst – in ihrem ersten Teil – die
Legendresche Sicht auf die individuelle Gestalt des ödipalen Verbots nach.
Allerdings wird die Auffassung Legendres aus ihrem Zusammenhang mit
der Betrachtung des Falles Lorties gelöst, in eine systematische Ordnung
gebracht und, hier wie auch im weiteren, mit ergänzenden Anmerkungen
und veranschaulichenden Beispielen versehen.
Auch im zweiten Teil, bei der Erörterung der öffentlichen Repräsentanz
des ödipalen Verbots, folgt die Darstellung ganz der Legendreschen Linie.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift versucht hier, die klinische Funktion
des Rechts als der institutionellen Vaterrepräsentation besonders hervorzuheben, um so Ansätze für eine psychoanalytisch-anthropologisch fundierte Dogmatik des materiellen und des prozessualen Rechts, nicht nur des
Strafrechts, zu gewinnen.
Die Verfolgung solcher Ansätze könnte zur Beantwortung der Art von
Fragen dienen, wie sie Legendre (1998, S. 153) stellt: »Wie sieht das
Schicksal des psychoanalytischen Kerns des Psy-Bereichs innerhalb der
Justiz und in Rechtssachen aus, das heißt dort, wo es in der modernen
Kultur mehr als dringlich wäre zu begreifen, wie und warum die Insti-
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tutionalität und die ödipale Problematik des Subjekts zusammengehören
und miteinander verknüpft sind?«
Die nachfolgende Abhandlung ist danach im Einzelnen in der folgenden
Weise gegliedert:
Zunächst ist konkret zu zeigen, daß die herkömmlich kurz ÖdipusKomplex genannte Konfliktkonstellation mitsamt ihrer Lösung ein entscheidendes Element in der Sozialisation des Menschen darstellt, das in
seiner stets bedrohten Wirksamkeit und wegen seines opaken Charakters
der immerwährenden aufklärerischen Bemühung bedarf. Die Entdeckung
des Unbewußten versorgt uns bei dieser mühseligen Schürfarbeit zumindest mit ein wenig Licht.
Sodann ist die Bedeutung der Installierung von Inzesttabu und Mordverbot im Subjekt in mehrfacher Richtung näher zu fassen und zu erläutern:
In zumindest fünferlei Hinsicht entscheidet sich im Gebiet des Ödipus das
weitere Schicksal sowohl des einzelnen Subjekts wie auch das Leben einer
Gesellschaft:
Zunächst begründet das vom Vater »kraft Amtes« verhängte und
sanktionierte Verbot die Trennung der Generationen und verhindert deren
unheilvolle Vermischung.
Zweitens treten im bewältigten Ödipus Vernunft und Wahnsinn
auseinander.
Weiter bildet das väterliche Verdikt den eigentlichen Grund von Recht
und Gesetz und trennt beide von der Rechtlosigkeit.
Viertens gebietet das väterliche Verbot des Mordes der mörderischen
Aktion Einhalt und zwingt sie in die Symbolisierung, das heißt pure Aktion
und Sprache treten auseinander und trennen sich.
Schließlich sichert die Bewältigung der ödipalen Problematik die
seelische (und biologische) Existenz des Individuums wie auch des
Kollektivs und bewahrt beide vor der Vernichtung.
Die Schilderung der Installierung des väterlichen Verbots im Innenraum
des Subjekts sowie die Darstellung der Funktionen des Verbots machen
zunehmend deutlich, daß die psychologischen Gesetzlichkeiten zugleich die
Grundlagen der öffentlichen institutionellen Ordnung sind. Die seelische
Struktur dieser institutionellen Ordnung der Gemeinschaft ist unser letztes
Thema.
B Hauptteil
I. Der Blick auf die individuelle Realität des ödipalen Verbots
1. Elemente des Verbots
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6
Der Omnipotenz eine Grenze zu setzen, sie einzudämmen, das ist das erste
und entscheidende Element des Verbots, wie Legendre (1998, S. 33 et
passim) nicht müde wird zu betonen. Die Gefühle von Allmacht,
Einmaligkeit und Großartigkeit des sich entwickelnden Subjekts führen auf
einer gewissen Stufe zwangsläufig zu inzestuösen Wünschen und zum
4
Mordimpuls gegen den im Wege stehenden Vater, also in den Mord . Dieser
gegen den Vater gerichtete Tötungswunsch wird durch das väterliche
Verdikt unterbunden, bei Strafe des Todes oder der Kastration für die
Übertretung. Die Mythen und Dichtungen sind voll von dieser Erzählung:
Abraham und Isaak, Ödipus, Daedalus und Ikarus, Prinz Friedrich von
Homburg (Kleist), Das Urteil (Kafka); sie alle behandeln dieses Thema. Im
Unterschied zu heute war der Mythos der früheren Zeiten authentisch, er
wurde geglaubt. Heutzutage besitzt der Mythos nurmehr eine allegorische
und metaphorische Bedeutung, er ist »une façon de parler«. Es gibt freilich
auch gelegentlich schwache Gegenbewegungen. So plädiert etwa Hans
Blumenberg (1979) für eine Remythologisierung der Philosophie. Nun ist
das Schwinden der Mythen unter Umständen nicht allzu schädlich und
erträglich, weil wir heute die Möglichkeit besitzen, psychoanalytisch an die
ehedem mythologisch abgehandelten Probleme heranzugehen und sie in der
analytischen Situation »fühlbar« werden zu lassen. Aber diese seelische
Arbeit muß eben auch geleistet werden.
Freilich gibt es in der kindlichen Entwicklung dem Ödipus vorgelagerte
5
Etappen der Eindämmung der Omnipotenz , so etwa triebpsychologisch in
den Zonen der sich entfaltenden Oralität und Analität. Die ödipale Verriegelung der Allmacht jedoch ist die späteste, umfassendste und entscheidendste. Sie betrifft eine im günstigen Fall bereits weithin entwickelte
und selbständige Person.
Der Vollständigkeit halber muß bei dieser recht schematischen
Beschreibung – die Wirklichkeit ist vielgestaltiger und bunter – der
sogenannte negative Ödipus-Komplex erwähnt werden: Die Liebe des
männlichen Kindes zum Vater, die gleichfalls der Versagung verfallen muß.
– Bei Mädchen scheinen die Dinge doch zumindest in dem hier vor allem
interessierenden Punkte, nämlich hinsichtlich der Untersagung und
6
Poenalisierung von Inzest und Mord seitens des Vaters, analog zu liegen .
4 Natürlich sind die Affekte des Kindes in konkreto umfassender und vielfältiger. Zu ihnen gehören
die Gefühle des Ausgeschlossenseins, der Enttäuschung, Kränkung und Scham sowie die
Reaktionen des Neides, der Vergeltung und des Hasses, welche noch dazu mit gegenläufigen
Tendenzen der Zuneigung und Zärtlichkeit in Konflikt stehen.
Von manchen Narzißmus-Theoretikern wird unterhalb der ödipalen Szene eine schwere
narzißtische Krise ausgemacht, zu deren Abwehr sich das Kind in die ödipale Phantasie
gewissermaßen flüchtet. In diesem Sinne Grunberger, 2001, S. 318-334.
5 Zu den präödipalen Vorläufern des Über-Ich als die Triebansprüche regulierender Instanz vgl. die
Übersicht bei Mertens, 2005, S. 93-97.
6 Schon Freud beobachtet neben den Regungen des positiven Ödipuskomplexes bei Mädchen auch
die des negativen, ders., 1931, S. 515-537, insbesondere S. 531-533. Heutzutage geht man
überwiegend vom Vorliegen des vollständigen Komplexes bei beiden Geschlechtern aus, vgl.
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7
Weiter bedarf die Figur des Vaters, wie sie hier angesprochen wird, einer
näheren Erläuterung und Beschreibung. Die Figur ist in erster Linie
bedeutsam wegen der von ihr verkörperten Funktion, nämlich Träger und
Ausgangspunkt des Inzest- und des Mordverbots zu sein wie auch der
Strafsanktion. Bei aller gerade auch psychologischen Wichtigkeit der
konkreten Eigenart der je speziellen Vatergestalt gewinnt die Figur des
Vaters als Instanz des Verbots vor allem eine symbolische Bedeutung,
welche man auch mit dem Terminus des (die Mutter-Kind-Dyade auf7
sprengenden) »Dritten« zu erfassen versucht . Legendre (1998, S. 101)
spricht insoweit von der »Rolle des trennenden Dritten«. Diese symbolische
Dimension der väterlichen Instanz macht auch verständlich, warum es für
die vom »Vater« als »Drittem« bewerkstelligte Verknüpfung von Begehren
und Verbot nicht unbedingt auf einen realen Vater ankommt, so daß die
Geltung des Ödipus-Komplexes etwa auch in Gesellschaften beobachtet
werden kann, die keine Ehe zwischen Mann und Frau als Grundformation
des Zusammenlebens kennen. In jedem Falle bedarf jedoch das ödipale
Verbot zu seiner gesellschaftlichen Verbindlichkeit der Metapher einer Art
von Gründungsszene, die den Mord und die Sanktion anschaulich
inszeniert.
Die phantasmatische Gestalt des wie immer konkret aussehenden
Dreieckskonflikts und seiner Lösung transzendiert damit das individuelle
Erleben der Beteiligten. Der Ödipus stellt sich so als ein imaginäres Schema
dar (Freud spricht hier von einer auch phylogenetisch festliegenden
8
Urphantasie ), das dem Vater eine Rolle zuweist, die er ausfüllen oder
verfehlen kann. Legendre (1998, S. 37, S. 66) nennt diese den seelischen
Status des Vaters definierende Rolle – juristisch wie psychologisch
gleichermaßen zutreffend – mit einer schönen Wendung, wie schon
erwähnt, »das Amt des Vaters«.
Die väterliche Machtausübung »kraft Amtes« besitzt zwei Seiten. Es
geht einerseits um das Verbot von Inzest und Mord und damit den Befehl
zur Trennung von den Eltern und zum anderen um die gebietende und
fürsorgliche Begleitung durch den Vater auf dem Weg in die Freiheit und
9
Unabhängigkeit . Es steht, wenn man so will, der väterlichen Gerechtigkeit
Mertens, 1994, S. 30-35; ferner auch Blos, 1990, insb. S. 245-255. Zur Gestalt des weiblichen
Kastrationskomplexes Mertens, 1994, S. 40-43.
7 Die ödipale Triangulierung, um die es hier geht und bei der es sich um sexuell-genitale Strebungen
des Kindes handelt, muß von dem triadischen Beziehungsgefüge des Kindes unterschieden
werden, das von frühester Zeit an besteht und in dem der Vater als wahrgenommene Größe – etwa
für die Phase der Separierung und Individuation – eine wichtige Rolle spielt. Zum frühen
Vaterbild bereits Klein, 1927, S. 7-21. Vgl. ferner zur frühen Triade Abelin, 1986, S. 45-72.
Grundsätzlich zur Figur des Dritten aus der Sicht des französischen Strukturalismus Lacan, 1953,
S. 237-322.
8 Freud sagt in den »Vorlesungen zur Einführung der Psychoanalyse« (1916-17a) auf S. 386: »Ich
meine, diese Urphantasien … sind phylogenetischer Besitz.«
9 Auch in der der ödipalen Konstellation unmittelbar vorgelagerten Phase, der vielfach soge-nannten
phallisch- narzißtischen Phase, treffen den Vater wichtige Aufgaben in Bezug auf beide
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des strafbewehrten Verbots (iustitia prohibitoria) die Gerechtigkeit des
Vaters in der Form der Zuteilung und des Ausgleichs (iustitia distributiva et
commutativa) gegenüber. Das Vater-Sohn-Verhältnis ist so ebenso durch
die Strenge des Verbots wie durch die Fürsorglichkeit des Gebots gekennzeichnet. Man denkt unwillkürlich an die Trinitätslehre des Christentums,
durch welche die Beziehung von Vater und Sohn als Thema ständig offengehalten und verhandelt wird. Ein, wenn nicht das Ziel dieser väterlichen
Fürsorge ist es, den Sohn seinerseits schließlich in den Stand zu setzen,
selbst Vater zu sein, das heißt, das Amt des Vaters zu verwalten. Man darf
10
nicht vergessen: Der Vater ist ein Sohn, der ein Vater geworden ist .
Daß wir uns mit dem ödipalen Szenario und seiner schließlichen Auflösung in einem dämmerigen und zwielichtigen Raum bewegen, muß mit
11
Legendre spätestens jetzt unbedingt hervorgehoben werden : Wir sprechen
von der Rolle oder dem Amt des Vaters. Woher kommt dieses Amt? Wohin
will es? Sind wir seiner sicher? Und vor allem: Wer hat es gegeben? Oder
anders: Woher stammt das ödipale Gesetz? In jedem Falle überschreiten
diese Fragen und mögliche Antworten die Grenzen unserer Erfahrung. Die
Freudschen Entdeckungen haben etwas Licht in dieses Dunkel gebracht. So
können auf Seiten des Subjekts beharrliche Introspektion und beständige
Selbstreflexion uns die Umrisse des hier Gemeinten erahnen lassen. Aber
11
was sich ergibt, ist im äußersten Falle ein »Wissen im Zwielicht« . Solches
kann etwa mittels feiner Absprache in der Intimität der analytischen Situation erlangt werden. Aber durchaus auch in permanenter und ordnender
Beobachtung der Gesellschaft »von Außen« ergeben sich hier gleichliegende
Vorstellungen. Es mag zweifelhaft sein, wem zwischen Innen und Außen
der Primat zusteht. In jedem Fall ist ein inniges spiegelbildliches Verhältnis
zwischen den intrapsychischen und extrapsychischen Instanzen und
Vorgängen zu beobachten, welches selbst nicht ohne Rätsel ist. Man mag
das Tragische und Abgründige der menschlichen Existenz nach Innen hin
mit den Vokabeln des Unbewußten oder der Seele »abdecken« und nach
Außen hin mit Begriffen wie Realität oder Wissenschaft und Technik, es
Geschlechter. Man vgl. etwa Glover und Mendell, 1982, S. 127-174. Eine Übersicht findet sich
bei Mertens, 1994, S. 67-94.
10 Wer selbst das väterliche Gesetz nicht verinnerlicht hat, ist – man möchte fast sagen: natürlich –
nicht in der Lage, es seinem Kind gegenüber auszuüben und es ihm weiterzugeben: Am Ende
der ödipalen Phase, wenn die Strebungen des positiven wie des negativen Ödipuskomplexes
nicht zum Erfolg geführt haben, internalisiert das Kind – beileibe nicht nur aus Angst – die
Welt- und Normorientierung der Eltern, insbesondere des Vaters, d.h. dessen Überich, was
wiederum eine gelungene Lösung der ödipalen Konflikte bei diesem voraussetzt. Es ergibt sich
hier eine im Prinzip unendliche Reihe der Verweisung auf jeweils die vorangehende Generation.
Freud sagt: »So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern,
sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut.« Freud, 1932, S. 73. Vgl. ferner Roskamp und
Wilde, 1999, S. 110-120. Legendre, 1998, S. 37, sagt zum Amt des Vaters: »Der Vater ist ein
Sohn, der das Amt des Vaters ausübt. Tut er es nicht, dann geraten umgekehrt die Kinder in die
unhaltbare Position, das Amt des unmöglichen Vaters ausüben zu müssen.«
11 Legendre, 1998, S. 50, macht darauf aufmerksam, daß das Verhältnis des Einzelnen zu Inzest und
Mord von einem »Wissen im Zwielicht« geprägt ist. Vgl. weiter die Seiten 25-27 und 145-147.
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9
bleibt an beiden Fronten eine Leerstelle, eine Leere besser, ein Abgrund, ein
Nichts, das der offene Mensch voller Schrecken bemerkt.
Der Schrecken zwingt uns, die Leere mit einem Namen zu versehen. In
den Zeiten der Vergangenheit hieß dieser den Schrecken bannende Name
Gott. In der heutigen Zeit der Industriekultur mit ihrem autonomen
12
»Majestätssubjekt« und ihrer »normativen Selbstbedienung« bleibt diese
das Grauen der Existenz eingrenzende Größe noch herauszufinden und zu
benennen. Legendre nennt den Bezug auf diese absolute, das Nichts
13
versiegelnde Größe die absolute Referenz . Die Angewiesenheit des
Menschen auf diese Referenz zum Absoluten, wobei sowohl der Bezugspunkt wie auch der Beziehungsaspekt hervorgehoben werden, ist Teil
unserer psychischen Ausstattung. Das Modell für diese Verwiesenheit findet
sich gewiß schon in frühester Kindheit. Legendre (1998, S. 125, S. 127, S.
139) spricht vom »mythischen Vater«. Sieht man die Dinge mit Legendre in
dieser Weise, so ist auch das Amt des Vaters in diesen Bezug zur absoluten
Referenz eingebunden, das heißt, es verdankt sich dem ungreifbaren
Absoluten und ist aus dieser Verbindung nicht herauszulösen. Der Mythos
von Abraham und Isaak bringt das klar zum Ausdruck: Die absolute
Referenz (Gott) setzt den Vater in sein Amt ein, den Sohn zu binden und zu
entbinden. In gleicher Weise zeigen natürlich auch die anderen Regelhaftigkeiten und Gesetzlichkeiten der psychischen Ausstattung des
Menschen als Gesetze (Legendre spricht von psychischer Kausalität) diesen
Bezug. Der Vater also, der sein Amt ausübt, ebenso übrigens wie der
Richter in Wahrnehmung seines Amtes, handelt im Auftrag, Legendre sagt:
14
»Im Namen von …« , also im Namen der absoluten Referenz. Zur
Verdeutlichung des Gemeinten ist es vielleicht nützlich, die heute
praktizierte Alternative des transzendenzlosen Modernismus kurz zu betrachten, der die Menschen im Namen der Wissenschaft auf seine Glücksversprechungen hin programmiert und dressiert, die ihrerseits unhinterfragt
bleiben; Wissenschaften vom Men-schen, die mit Plato allenfalls als Dianoia
(im Gegensatz zur Noesis) zu benennen wären, da sie ihre eigenen
15
Voraussetzungen nicht befragen . Wird nun deutlicher, was gemeint ist?
Plato, der Begründer der idealistischen Philosophie in einer der heutigen
Zeit vergleichbaren Lage, zeigt mit seiner in der Transzendenz angesiedelten
Idee des höchsten Gutes, des Agathon, das zugleich Bezugspunkt aller
Erkenntnis wie des Strebens nach Vervollkommnung ist, daß die
Vorstellung einer unerläßlichen absoluten Referenz nicht nur in der Ebene
des möglicherweise distanzierten und objektivistischen Erkennens angesie12 Beide Begriffe werden von Legendre, 1998, des öfteren verwendet, um die Referenzlosigkeit der
heutigen westlichen Gesellschaften zu charakterisieren, man vgl. etwa die Seiten 40, 41.
13 Im Französischen lautet der Begriff référence fondatrice also Gründungsreferenz.
14 Offenkundig bezieht sich Legendre mit diesem Begriff auf die Lehre Lacans zum »nom du père«,
vgl. Fußnote 6.
15 Zu diesen Begriffen vgl. Hülser, 1991, Ziffern 511a 3-511e 6.
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delt ist, sondern auch mit der Bemühung jedes Einzelnen um – sagen wir –
Entwicklung und Reifung zu tun hat. Nochmals: Der Terminus der absoluten Referenz will im Grunde auf nichts anderes als darauf hinweisen, daß
wir auf eine letzte Orientierung im Ungewissen zwingend angewiesen sind,
wenn wir Ernst machen. Daß jede verbale Fassung des Bezugspunkts wie
der Beziehung »in der Theorie« angreifbar ist, will angesichts der seelischen
Realitäten, zu denen auch die weite Provinz des Unbewußten gehört,
letztendlich nichts besagen, wenngleich natürlich stets Kritik nötig ist, um
eine illegitime Dogmatisierung zu vermeiden. In der Sache geht es um die
private und institutionelle Anerkennung der »Unerbittlichkeit der Struktur«
(Legendre) der unbewußten seelischen Realitäten, die sich einen Namen
sucht.
Der Begriff der absoluten Referenz kennzeichnet damit die Notwendigkeit, der existentiellen Verwiesenheit jedes Einzelnen auf die Figur des
väterlichen Dritten in der Welt der menschlichen Vorstellung einen wie
immer gearteten Ausdruck zu verschaffen. Man kann diese Überhöhung des
sozialen Dritten im Begriff der absoluten Referenz natürlich ein »monumentales Subjekt der Fiktion« (Pornschlegel & Thüring, 1998, S. 169)
nennen. Unbestreitbar ist, daß die Benennung einer Instanz, die der
menschlichen Verfügung in gleicher Weise wie die abgebildete seelische
Realität entzogen ist, für das Gedeihen des Einzelnen wie der Gemeinschaft
unverzichtbar ist.
2. Funktionen des Verbots
Nachdem wir nun einige Aspekte der Ödipus-Konstellation besprochen
haben, wollen wir, den Vorgaben Legendres folgend, betrachten, welche
Funktionen ihre Bewältigung im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft
erfüllt.
Als erste Funktion hatten wir diejenige der Trennung der Generationen
genannt, das Prinzip der Filiation. Das bei Vermeidung der Todesstrafe
verhängte Trennungsgebot für beide Geschlechter zwingt die Kinder, ihre
Inzestwünsche aufzugeben und sich von den Eltern zu lösen. Dadurch wird
ihnen in der Generationenfolge ein bestimmter und unverwechselbarer
Platz und Status angewiesen. Der seines Amtes waltende Vater, als Dritter
schon immer Vertreter der Realität und als solcher präsent, schiebt durch
seinen Trennungsbefehl der Omnipotenz des Kindes einen endgültigen
Riegel vor und zwingt es in die Individuation und Selbstwerdung. Wir
wissen, daß dieser Prozeß sich beim Menschen wegen seiner angeborenen
frühen sozialen Untüchtigkeit in zwei Phasen vollzieht.
Was die Trennung wert ist, zeigt sich in den Fällen, in denen sie nicht
gelingt. Auch wenn die Zudringlichkeiten des pflichtvergessenen Tyrannen-
ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXIII, 2008, Ergänzung
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vaters nicht solche schrecklichen Ausmaße wie im Falle Lortie annehmen
(Mißbrauch und Mißhandlung der Kinder in jeglicher Weise. Legendre
(1998, S. 67) spricht von einer »Verschlingung« zwischen den Generatio16
nen ), die Folgen einer fehlenden Ablösung von den Figuren der Eltern sind
in jedem Falle schlimm genug: Rückfall in die dyadische Beziehung zur
Mutter, Zerklüftung der Innenstrukturen, Haß und Angst im Übermaß,
Unterwerfung aktiv und passiv, ferner massive narzistische Selbstüber17
höhung, auch als Abwehr gegen die Ängste . Was ebenfalls festzuhalten ist:
Wer das väterliche Verbot nicht als Struktur in sich aufgenommen hat, ist
nicht fähig, das väterliche Amt seinen Kindern gegenüber auszuüben. Mit
anderen Worten, wer von Mutter und Vater nicht getrennt ist, macht seinen
eigenen Kindern die existentiell notwendige Trennung unmöglich. Die
Gegenwart bietet für diese seelische Gesetzlichkeit ein Übermaß an traurigen Beispielen. Legendre (1998, S. 166f.) sagt zu den Folgen einer
fehlenden Abtrennung der Kinder von ihren Eltern:
Das Rarwerden des Vaters in unseren Gesellschaften bringt Behinderte und Versehrte hervor. Es
bedeutet für beide Geschlechter das Kleben an der Mutter. Die Konsequenz dieser Unreife ist die
Entladung der Triebe auf die Kinder, denen die Rolle einer Müllhalde zukommt. Die Kettenreaktion
dieser verdrehten Logik läßt sich heutzutage allenthalben beobachten. Das Kleben produziert Väter, die
nicht von ihrer Mutter getrennt sind, vaterlose Väter also. Es sind Väter ohne Vater, die ihre eigenen
Kinder vergewaltigen. Und dasselbe gilt für die Mütter.
Vielleicht ist es nötig nochmals hervorzuheben, daß der im Rahmen der
Filiation angewiesene Platz und zugewiesene Status als Teil einer phantasmatischen Szene nicht biologische Realitäten sondern psychische darstellt.
Dem trägt – oder trug (?) – insbesondere die Rechtsordnung mit ihren
Eheverboten, Verwandtschaftsregeln, Kindschaftsvermutungen und anderen
ähnlichen Vorschriften Rechnung in dem Bestreben, soweit möglich jedem
Kind einen festen genealogischen Ort anzuweisen und ihm Mutter und
18
Vater zur Verfügung zu stellen .
Eine weitere Folge der gelingenden psychosexuellen Ablösung von der
Mutter als Konsequenz der Befolgung des väterlichen Verbots ist die
Gewinnung der Möglichkeit, ein vernünftiges Wesen zu sein und damit dem
Wahnsinn zu entkommen. Legendre wählt hinsichtlich dieser Funktion eine
prototypische die Gegebenheiten der Realität stark vereinfachende Betrachtungsweise. Er stellt der gelingenden Reifung der postödipalen Struk16 Legendre (1998, S. 127f.) berichtet, daß sich unter den Geschwistern Lorties ein jüngerer Bruder
befindet, der einer inzestuösen Verbindung von Lorties Vater mit einer seiner Töchter
entstammt.
17 Schlimmer noch: mancher gleitet in Sucht und Abhängigkeit oder gar in einen psychotischen
Zerfall der Persönlichkeit. Fast immer wird man in solchen Fällen finden, daß narzißtische oder
triebhafte Interferenzen von Seiten der Eltern dem Kind die Ablösung erschwerten oder unmöglich machten. Hierzu mit Beispielsfällen Mertens, 1994, S. 96-112.
18 Aufschlußreich ist hier die römischrechtliche Formel aus den Digesten (Dig. 1, 6, 6): Filium eum
definimus, qui ex viro et uxore nascitur. (Als Sohn definieren wir denjenigen, der aus einem
Mann und seiner Ehefrau geboren wird.) Hierzu Legendre, 1998, S. 36.
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tur die quasi psychotische, entgrenzte Strukturlosigkeit der hemmungslosen
Omnipotenz gegenüber – wir sprachen eben davon. Zwischen den beiden
Formationen gibt es natürlich alle denkbaren weit weniger dramatischen
Pathologien. Aber im Prinzip stimmt es schon: Nur wer dem ödipalen
19
Dilemma entrinnt, gewinnt Vernunft und Freiheit . Nur die Trennung von
den Figuren der Eltern setzt beim Einzelnen genügend erotische Energie
frei für die Erkundung und Gewinnung neuer Objekte, seien es Menschen,
Tiere, Pflanzen oder andere Gegenstände seiner Zuwendung und seines
Interesses. Die Grundlage für Produktivität und Kreativität ist gelegt.
Hinzu kommt, daß bei geglückter Ablösung von den Eltern in der Seele des
Kindes sich als Element seiner strukturellen Innenausstattung ein unbewußtes, vom sexuellen Gewicht entlastetes Beziehungsdreieck bildet,
welches einen Niederschlag der im Grunde konstruktiven Interaktionen des
20
Kindes mit seinen Eltern darstellt . Die Innenmuster bestimmen dann auch
die Verhältnisse des Subjekts in der Außenwelt. Das Dreieck ermöglicht
dem Einzelnen hier unter anderem bewegliche Probeidentifikationen mit
fremden Positionen und erleichtert so etwa einen friedlichen Ausgleich der
Interessen. Ein eingegrenzter und den Realitäten angepaßter Narzißmus
kommt ihm dabei zustatten. Mit dem Verlassen des frühfamilialen Musters
prägt sich dem Individuum überdies die Differenzierung zwischen dem
privaten und dem öffentlichen Raum ein. Nur mittels dieser Differenz
gewinnt der Einzelne allmählich die seelische Befähigung, sich mit Anderen
quasi gesellschaftsvertraglich auf demokratisch-rechtsstaatliche Formen des
öffentlichen Lebens zu einigen.
Ganz anders ist natürlich das Bild, wie bereits angesprochen, wenn die
Ablösung des Kindes aus den psychosexuellen Banden der elterlichen
Familie mißlingt. Eine von Destruktivität und Antagonismus gekennzeichnete dyadische Binnenstruktur bleibt dann zurück und formt die
Verhältnisse der Außenwelt in entsprechender Weise. Ein überzogener
Narzißmus ist ein weiteres – in unserem Zusammenhang nicht unwichtiges
– Kennzeichen. Zu einer solchen defizitären Struktur kommt es häufig
dann, wenn schon der Vater sich Übergriffe zuschulden kommen läßt und
damit sein Amt verfehlt, wie es ihm gegenüber verfehlt wurde. Das heißt
mit anderen Worten: Omnipotenz und Wahnsinn resultieren aus verfehlter
Trennung; sie werden tradiert.
Auch die Grundlagen des Rechts verdanken ihre Entstehung der Bewältigung der ödipalen Verstrickung. Legendre (1998, S. 117) nennt die
19 Zu den Errungenschaften einer einigermaßen geglückten Bewältigung der ödipalen Herausforderungen gehört vor allem eine gesteigerte Wahrnehmung und Anerkennung der Realität.
Das Kind nimmt so etwa die besondere Qualität der elterlichen Beziehung hin und lernt mit
dem Gefühl fertig zu werden, von ihr ausgeschlossen zu sein. Überhaupt ist die Erkenntnis und
die Hinnahme von Grenzen der entscheidende strukturbildende Gewinn aus der Erledigung des
ödipalen Dilemmas. Im einzelnen hierzu Mertens, 1994, S. 94-96.
20 Zur Gestalt eines solchen Dreiecks vgl. Rohde-Dachser, 1987, S. 773-799.
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ödipale Szenerie den »nicht-juridische(n) Schauplatz des Rechts«. Wenn wir
nämlich sagen, das ödipale Beziehungsdilemma werde durch das väterliche
Verbot des Inzests und des Mordes gelöst, so berühren wir allein schon
durch die Benennung terminologisch und thematisch das Gebiet des Rechts.
Indem das Kind das seine Omnipotenz begrenzende Verbot des Vaters in
seinem Inneren verankert, gewinnt es eine seelische Instanz (das Über-Ich),
die ihm Autonomie, Triebkontrolle und Selbstachtung (die Idealisierung des
Vaters wirkt nach) ermöglicht. Damit ist in einer prinzipiellen Weise das
subjektive Fundament für jegliche Art von Norm- und Rechtsorientierung
21
gelegt . Um das Bild der individuellen Grundlegung von Rechtlichkeit und
Recht nicht allzu düster erscheinen zu lassen, muß daran erinnert werden,
daß gerade der kindliche Verzicht auf Allmacht und Großartigkeit in
paradoxer Weise den Weg in eine freie und gedeihliche Existenz eröffnet.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß jedoch sogleich klargestellt werden, daß die Befolgung des ödipalen Verbots auch beim Einzelnen
stets in Bewegung und umkämpft ist. Die Einhaltung des Verbots bedarf so
ständiger Bemühung. Darf ich hinzufügen, daß nach meinem Dafürhalten
die alltägliche juristische Arbeit, insbesondere die stets gefragte Kunst der
Unterscheidung, wenn sie ihrer Pflicht zur Gerechtigkeit (als der Formulierung der absoluten Referenz unter rechtlichem Aspekt) genügen will,
sich unbewußt der ödipalen Schaltstelle Beachtung / Nichtbeachtung des
väterlichen Verbots bedient? Meines Erachtens findet die im Einzelfall ja
selbst als gesund, tragfähig oder vernünftig bezeichnete Lösung über alle
juristisch-begrifflichen Sublimierungen, Verästelungen, Verfeinerungen hinaus ihre letzte Rechtfertigung im aufgezeigten, freilich unbewußt bleibenden über die ödipale Schwelle vermittelten Wahrheits- und Gerech22
tigkeitsbezug . Hier sind zumindest zwei Formen der Nichtbeachtung oder
Verletzung des ödipalen Verbots zu unterscheiden: Einmal die omnipotente
Regression in eine Art von infantilem Nirwana, welche das ödipale Gebot
ignoriert und leugnet, und zum anderen die gleichfalls von Omnipotenz
getragene destruktive Durchbrechung des Gesetzes, welche ebenfalls das
Verhängnis nach sich zieht.
Eine weitere – vierte – Funktion der Auflösung des ödipalen Dramas
besteht darin, daß die dem Subjekt auferlegten Trennungs- und Verzichtsleistungen seinem Symbolisierungsvermögen und das heißt im wesentlichen
seiner Sprachentwicklung einen ganz entscheidenden Schub versetzen,
besteht doch die Aufgabe der Symbolbildung in erster Linie darin, dem
Kind den Verlust »guter« Objekte und den Umgang mit »bösen« Objekten
21 Freud sagt hierzu: »Das Über-Ich ist für uns die Vertretung aller moralischen Beschränkungen,
der Anwalt des Strebens nach Vervollkommnung, kurz das, was uns von dem sogenannt
Höheren im Menschenleben psychologisch greifbar geworden ist.« Freud, 1932, S. 73.
22 Dabei tastet das Unbewußte des Juristen sowohl den Sachverhalt wie die Norm nach diesem
Muster ab. Und auch sein Vorverständnis ist von dieser Struktur geprägt.
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erträglich zu machen . Für den neuralgischen Punkt der Auflösung des ja
nie vollständig und restlos auflösbaren ödipalen Dilemmas bedeutet das,
soweit die Trennung von den Eltern wirklich vollzogen wird, das
Aufkommen wohl im Prinzip gutartiger Symbole (z.B. Vaterland,
Muttersprache…). Soweit die Trennung nicht gelingt, die ödipalen Verstrickungen also lediglich verdrängt und nicht unwirksam gemacht werden,
wird die Untersagung selbst symbolisierbar, benennbar und damit
sprachlich faßbar, etwa im Symbol der Strafdrohung in ihren verschiedenen
Varianten. Das heißt, die ins Unbewußte abgedrängte Blockade des Mordimpulses versorgt das Bewußtsein mit der symbolischen Fassung des
Verbots. Legendre (1998, S.128) spricht in diesem Zusammenhang davon,
daß die Fähigkeit zu verdrängen »normalerweise den Subjekten symbolische
Übersetzungen ermöglicht«. Neben dem bisher behandelten Weg der
Symbolgewinnung gibt es einen weiteren: Die Übernahme der väterlichen
Position mit ihrem Realitätsbezug eröffnet dem Kind einen neuartigen,
gegenüber dem bisherigen umfassenderen, tieferen und sozusagen objek24
tiveren Zugang zur Welt der sprachlich gefaßten Symbole .
Die Tatsache, daß die Internalisierung des väterlichen Verdikts eine
wesentliche Grundlage der Sprachentwicklung des Subjekts darstellt, zugleich aber auch den Boden für seine Norm- und Rechtsorientierung bereitet, läßt den unlösbaren Zusammenhang von Sprache und Recht ins
Blickfeld geraten. Dieser Zusammenhang weist allerdings weit über die
bisher eingehaltene Perspektive auf die individuellen Verhältnisse hinaus
und lenkt den Blick auf die öffentlich-institutionelle Seite der Geltung des
ödipalen Gesetzes.
Die fünfte und letzte Funktion der Bewältigung des ödipalen Dilemmas,
mit der wir uns befassen wollen, ergibt sich eigentlich schon aus der Summe
der bisher behandelten Funktionen. Sie besteht darin, die psychische
Existenz des Menschen und damit auch sein physisches Fortbestehen zu
sichern. Mit dieser Feststellung überschreiten wir nunmehr endgültig die
Grenze einer nur individuellen Betrachtung. Wir betreten den Raum des
Öffentlichen und der Institutionen und fragen, wie das so lebensnotwendige
Prinzip des Inzest- und Mordverbots in den Einrichtungen des Gemeinwesens inszeniert und verankert wird.
23 Der Grundsatz, daß die Symbolbildung der Angstbewältigung dient, gilt für alle Stufen und
Formen der Erschaffung von Symbolen. Segal, 1957, S. 202-224, sagt (S. 206): »Die
Symbolbildung ist eine Aktivität des Ichs, das versucht, mit den Ängsten umzugehen, die von
seiner Beziehung zum Objekt wachgerufen worden sind. Vor allem geht es dabei um die Angst
vor bösen Objekten sowie die Angst vor Verlust und Unerreichbarkeit guter Objekte.« Vgl.
ferner Bion, 1962, S. 225-235. Für neuere Darstellungen zum Thema der Symbolisierung vgl.
Gutwinski – Jeggle, 2003, S. 1057-1085. Ferner: Dornes, 2005, S. 72-81.
24 Ogden, 1995, S. 120, sagt unter Bezugnahme auf Lacan, »daß die Kraft des Vaters eher in seiner
Rolle als Träger von Symbolen liegt, als Repräsentant eines Systems von Bedeutungen (in
sprachlicher Organisation), das dem Kind ein Instrumentarium zur Vermittlung zwischen ihm
selbst und seiner sensorischen Erfahrung bereitstellt.«
ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXIII, 2008, Ergänzung
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II. Der Blick auf die gesellschaftliche Realität des ödipalen Verbots
1. Elemente des Verbots
Alle für den Einzelnen und für die Gemeinschaft wichtigen Ordnungen,
seien sie kultureller, sprachlicher oder politischer Natur, bedürfen für ihre
Wirksamkeit einer öffentlich-repräsentativen Darstellung. Auch die das
menschliche Leben bestimmenden Regelhaftigkeiten seelischer Art sind für
ihre Entfaltung und Wirkung auf eine institutionell-öffentliche Repräsentanz angewiesen. Darauf nachdrücklich aufmerksam gemacht zu haben, ist
das besondere Verdienst Legendres. So muß auch das ödipale Verbot wegen
seiner fundamentalen Bedeutung für Filiation, Vernunft, Recht, Sprache
und Existenz des Menschen in den Institutionen repräsentativ zur Darstellung gelangen. Daß die der öffentlichen Darstellung bedürftigen psychischen Regelhaftigkeiten größtenteils unbewußter Natur sind und die
bisherigen inszenatorischen Formen der Repräsentation des absolut unentrinnbaren Verbots mythologischer, religiöser oder poetischer Art entkräftet
und verbraucht sind, macht die Aufgabe, die zu erledigen ist, nicht leichter.
Es bleibt, um Legendre (1998, S. 9) zu zitieren, »den Subjekten der okzidentalen Kultur nur die Quelle des modernen Denkens, um diese Schicht des
Tragischen in den Blick zu bekommen«. Legendre meint das Tragische des
zu vermeidenden Abgrunds, der dem Verbot die Grundlage gibt.
Dieser Aufgabe ist, das ist mit Legendre schon hier anzumerken, mit den
selbstreferenziellen Methoden eines auf bloße Effizienz gerichteten
betriebswirtschaftlichen Managements oder eines rein immanenten social
engineering nicht beizukommen. Angesichts des opaken Charakters der
Phänomene geht es nicht um eine starre und statische Parallele zwischen
subjektiven und objektiven, individuellen und kollektiven Strukturen
soziologischer Provenienz sondern um eine Konkordanz der je historisch
herauszuarbeitenden und zu erstellenden spezifischen individuellen und
gesellschaftlichen Erscheinungen der grundlegenden psychischen Gesetzlichkeiten. Es liegt, wie bereits angedeutet, in der letztlich unentschlüsselbaren Natur dieser seelischen Realitäten, daß wir bei ihrer Repräsentation auf die Einrichtung einer absoluten Referenz – in welcher Form
auch immer – nicht verzichten können.
Fragen wir nun nach den Konturen dieser öffentlichen Repräsentanz
dessen, was das Prinzip der Filiation sicherstellt ebenso wie dasjenige der
menschlichen Vernunft, was die Möglichkeit des Rechts ebenso begründet
wie diejenige der Sprache, so macht schon die Fragestellung deutlich, daß es
nur eine normative Einrichtung sein kann, durch welche die zentrale und
unverzichtbare Mechanik genealogisch-psychiatrisch-juristisch-sprachlicher
ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXIII, 2008, Ergänzung
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Natur ihre Repräsentanz findet. Mit anderen Worten, es geht um die
Instituierung einer im wahrsten Sinne des Wortes öffentlichkeitswirksamen
Gründungsszene primär normativen Gehalts, in der das väterliche Verbot
des Mordes und des Inzests seinen verbindlichen Ausdruck findet.
Betrachten wir die historisch vorfindbaren Formen der öffentlichen
Instituierung des väterlichen Gesetzes in Mythologie, Dichtung und
Religion – wir denken etwa an den Ödipus-Mythos, an das Drama Prinz
Friedrich von Homburg (Trimborn, 1987) oder an die christliche
Eucharistie (Legendre, 2001) –, so wird ganz deutlich, welche Elemente für
die Wirksamkeit der öffentlich-repräsentativen Darstellung des Verbotes
entscheidend sind: Immer geht es zuerst einmal um die öffentlich in Szene
gesetzte Bekräftigung des väterlichen Verbots gerade am Fall seiner
Übertretung. »Seine Repräsentation als Übertretung ist der einzig mögliche
Weg, das Verbot selbst präsent zu machen« (Legendre, 1998, S. 39). Ein
Beispiel für eine solchermaßen am Horizont der menschlichen Phantasie
dargestellte Gründungsszene aus dem Bereich der Mythologie bildet die
Geschichte von Daedalus und Ikarus (Flurl & Olbrich, 2000, S. 80-88):
Auf der Flucht vor König Minos aus Kreta mit von Daedalus für beide
konstruierten Flugapparaten fliegt Ikarus entgegen der Warnung seines
Vaters zu hoch, sodaß die mit Wachs befestigten Flügelfedern des Apparates
unter der Sonnenglut sich lösen, Ikarus abstürzt und ertrinkt. Daedalus
hatte zuvor seinen Sohn noch ermahnt, eine mittlere Bahn einzuhalten,
damit die Flügel weder durch Wasser beschwert noch durch Hitze zerstört
würden.
Die Weisheit des Mythos macht hier nachdrücklich auf den Doppelcharakter der Gefahr aufmerksam, die mit der Übertretung des väterlichen
Verbots verbunden ist: Psychose oder Tod. Auch deutet der Mythos
zumindest an, daß die unbewältigten Konflikte der Eltern Einfluß nehmen
auf das Schicksal der Kinder, wenn er berichtet, daß Daedalus wegen eines
von ihm begangenen Mordes seine Vaterstadt Athen verlassen und nach
Kreta fliehen mußte.
Ein weiteres Kennzeichen einer solchen öffentlichen Inszenesetzung des
absoluten Verbots in Mythos, Poesie oder Religion ist aus den schon
angesprochenen Gründen der Offenheit der menschlichen Existenz und des
unstillbaren menschlichen Verlangens nach letzter Orientierung das Bestehen einer Bindung an das wie immer gefaßte Absolute, mit anderen Worten
das Vorhandensein einer absoluten Referenz oder anders: der Verweis auf
die Unerbittlichkeit der Struktur. In der Antike wurde das unvermeidlich
Schicksalhafte der menschlichen Existenz, genauer: die erahnte Regelhaftigkeit des Schicksals, als Fatum erlebt (die Weissagung), in der Zeit des
Christentums als Gottes Wille, der alles bestimmt. So ist in der Geschichte
von Abraham und Isaak das Bestehen einer referenziellen Bindung ganz
deutlich. Aber wo und wie ist diese Bindung an das Absolute heute
ZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXIII, 2008, Ergänzung
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verkörpert? »Wo sind in unseren Gesellschaften die Orakel?« (Legendre
1998, S. 31) Diese Frage bleibt zu beantworten. Die Antwort ist dringlich.
Die öffentliche emblematische Repräsentation des absolut Verbindlichen
in ihren geschichtlichen Formen besitzt ferner einen gewissen Prozeßcharakter insofern, als sie auf dem Boden sich historisch ständig verändernder Lagen gewissermaßen von Tag zu Tag neu interpretiert, neu gedeutet
und damit in ihrer Verbindlichkeit fortlaufend erneuert wird. Die unvermeidliche Vielschichtigkeit der emblematischen Repräsentation entspricht
dabei der opaken Natur der psychischen Gesetzlichkeiten und zwingt zu
ihrer ständigen Konkretisierung.
Die öffentliche Darstellung der zentralen seelischen Mechanik bedarf
zudem nicht nur einer sprachlichen Fassung, sie muß auch als Bildwerk
physisch wahrnehmbar sein. Legendre sagt, die Menschen wollen die
Wahrheit sehen (Legendre, 1998, S. 79). Das Unbewußte läßt sich eben in
erster Linie von Bildern ansprechen. Die zentralen Verbote erzielen ihre
Wirkung so vor allem in der Form von Inszenierungen. »Die Untersagungen werden mit Hilfe einer Theatralität entfaltet, die für die
Wirksamkeit der Normativität notwendig ist. Das Unsagbare wird
theatralisch gehandhabt.« (ebd., S. 25f.) Die Mythologien, Künste und
Religionen haben dem Postulat der theatralischen Verbildlichung stets
Rechnung getragen (Pornschlegel & Thüring, 1998, S. 195-198).
Weil schließlich die öffentliche Repräsentanz der entscheidenden
psychischen Gesetzlichkeit des Verbots ihre Wirkkraft in erster Linie der
individuellen und kollektiven menschlichen Erfahrung verdankt, die wie
gesagt ständig mit der emblematischen Aussage interpretatorisch vermittelt
werden muß, darf die Repräsentanz ihre Verbindung zur Geschichte des
jeweiligen Gemeinwesens nicht verlieren. Die öffentliche Instituierung des
zentralen väterlichen Verbots ist so gesehen ein Hort der gesellschaftlichen
Erfahrung und des geschichtlichen Wissens eines Volkes oder einer
Völkergemeinschaft wie etwa derjenigen West- und Mitteleuropas.
Das Recht, in Sonderheit das Strafrecht, nimmt beim augenblicklichen
Zustand der westlichen Gesellschaften unter den institutionellen Konstruktionen des Verbots sicherlich den ersten Platz ein. In der bisher
besprochenen Sicht stellt das Strafrecht damit den unabdingbar notwendigen Restbestand an öffentlicher Repräsentanz des Filiations- und Vernunftprinzips dar – sozusagen seine letzte Bastion:
Das Strafrecht erfüllt das erste Merkmal jedweder institutionellen
Repräsentanz des unhintergehbaren väterlichen Verbots: Es demonstriert
mit seiner Praxis die prinzipielle Gültigkeit des Verbots gerade am Fall
seiner Übertretung.
Werfen wir zu Beginn einen Blick auf die Normen:
Das Strafrecht als öffentliche Agentur des verbietenden Dritten vertypt
in seinen Tatbeständen ausagierte Omnipotenz- und Vernichtungswünsche,
markiert sie als Unrecht und stellt sie unter Strafe. Als Verhaltensbefehl an
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den Einzelnen wendet sich das Strafrecht nicht nur an seine bewußte
Verhaltenssteuerung sondern nimmt auch seine ödipal hergestellte unbewußte Impulsblockade in Anspruch.
Indem das Strafrecht seine Strafsanktionen an die Voraussetzung der –
freilich mit seinen Mitteln normativ und nur ex negativo definierten –
Schuld (Behrendt, 1979) bindet, macht es deutlich, daß die Sanktionierung
des Täters eine hinlängliche Internalisierung des väterlichen Verbots auf
seiner Seite voraussetzt. Insbesondere unter dem Schuldmerkmal der
Zurechnungs- oder Schuldfähigkeit wird das Vorhandensein einer solchen
Innensteuerung diagnostiziert.
Unsere Betrachtungsweise rückt das Strafrecht damit in die interessante
Perspektive eines Systems, das anhand der Kategorie der Schuld, vor allem
der Schuldfähigkeit, nicht nur die Frage der Verantwortlichkeit beantwortet, sondern das darüber hinaus – eine Konsequenz des Gedankens der
institutionellen Repräsentanz des Strafrechts – mit seinen Mitteln auch zu
einer Reihe weiterer Themen in offizieller und verbindlicher Weise Stellung
nimmt. Mit anderen Worten, mit seinem Kriterium der Schuldfähigkeit
behandelt das Strafrecht im Grundsatz sowohl die Frage, ob der Täter sich
in die Geschlechterfolge eingeordnet hat, er/sie also elternfähig ist, als auch
diejenige nach einer Befähigung zu Vernunft und Sprache.
Wenden wir die letztgenannte Überlegung ins Imperativische, wie es die
Auffassung vom öffentlich- repräsentativen Charakter des Strafrechts
nahelegt, und bedenken wir, daß die Schuldfähigkeit in aller Regel
vorausgesetzt wird, so lautet der sich ergebende sanktionierte Verhaltensbefehl, daß die strafrechtlichen Normen gerade im Fall der Versuchung
unbedingt zu befolgen sind, damit die segensreichen Wirkungen des
väterlichen Gesetzes nicht verspielt werden: Filiation, Rechtlichkeit,
Vernunft, Sprache und Existenz, und daß die Normen im Regelfall auch
befolgt werden können. Letztlich geht es dem Recht darum, schon durch
den Normbefehl stets erneut zu Überprüfung, Einübung und Betätigung
des ödipal hergestellten Mechanismus anzuhalten, dessen Funktionstüchtigkeit für die Erbringung der eben genannten existentiell wichtigen
Leistungen unverzichtbar ist.
Mehr noch als in den normativen Konstruktionen verwirklicht sich die
institutionelle Repräsentanz des väterlichen Gesetzes durch das Strafrecht
im Verfahren vor dem Richter.
Hier wird – vermittelt auch durch die Medien – vor aller Augen die
Gültigkeit des Gesetzes durch die Sanktionierung der Verfehlung demonstriert. Das Strafverfahren reinszeniert die Tragödie des Täters und seiner
Tat in einem neuen triangulären Arrangement vor dem Richter als dem
väterlichen Dritten. Die Tat des Täters gelangt damit auf der Bühne des
Prozesses zu einer in wesentlichen Teilen unbewußten Wiederaufführung.
Diesen teils bewußten teils aber auch unbewußten Charakter von
Verfahren und Verfahrensgegenstand berücksichtigt das Recht des StrafZEITSCHRIFT für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jahrgang XXIII, 2008, Ergänzung
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prozesses in der Weise, daß es durch eine Reihe von Maximen, insbesondere
den Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung, das Prinzip der
Konzentration des Stoffes und die Maxime der möglichst unvermittelten
25
Rekonstruktion des Tatbildes (Unmittelbarkeitsprinzip) sicherstellt, daß
sich die bewußte aber auch die unbewußte Wahrnehmung des Richters eine
wirklichkeitsgetreue Vorstellung von dem Geschehen machen kann. Vor
allem aber dient der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
dem Zweck, der Wahrnehmung des Richters einen möglichst ungehinderten
Spielraum offenzuhalten. Die einschlägige Vorschrift des §261 StPO
formuliert in einer – man möchte sagen – lebensklugen Unschärfe, die die
Kommentatoren vor nicht geringe Schwierigkeiten stellt:Ȇber das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem
Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.« Diese aus der
Gesamtheit der Verhandlung gewonnene Überzeugung des Richters gilt
insbesondere auch für die Beurteilung von Schuld und Schuldfähigkeit des
Täters. Hier überprüft der Richter anhand seiner eigenen ödipal
begründeten Über-Ich-Strukturen in einem ständigen unbewußten Wechsel
von Projektionen und Identifikationen die Qualität der normativen
Innensteuerung des Angeklagten. Mit einem Schuldspruch, der nach dem
bisher Gesagten das Vorliegen einer hinlänglichen Internalisierung des
väterlichen Verbots nebst daran geknüpfter weiterer Qualifikationen bejaht,
und der darauf folgenden Verhängung der Strafe waltet der Richter seines
väterlichen Amtes, der Omnipotenz des Angeklagten – wenngleich verspätet – eine strikte Grenze zu setzten. Erinnert sei hier an die etymo26
logischen Wurzeln des lateinischen Wortes crimen .
Die Kriterien strafrechtlicher Zurechnung sind übrigens im Grundsatz
dieselben wie in den Zeiten des Mittelalters, dessen Glossatoren wir sie
verdanken. Neu ist, daß die Einsichten der Psychoanalyse in das
menschliche Unbewußte uns in die Lage versetzen, die Dienste zu
erkennen, die die strafrechtlichen Kategorien dem Vernunftprinzip leisten.
Legendre spricht hier von der klinischen Funktion des Rechts.
Die Gerichte mit ihrer justiziellen Arbeit in den täglichen Strafprozessen
stellen damit als eine der letzten Agenturen des väterlichen Verbots mit
öffentlicher Wirksamkeit die Einhaltung des Filiations- wie des Vernunftprinzips sicher, so gut es geht. Freilich ist dem tätigen Justizpersonal seine
Rolle bei der Aufrechterhaltung der institutionellen Garantie der Vernunft
ebensowenig bewußt wie seine Rolle für die Instituierung der Filiation.
Analoges gilt im Übrigen für die psychiatrischen Gutachter im Prozeß.
25 Diese Maximen sind denen des psychoanalytischen Verfahrens recht ähnlich. Zum Vergleich
beider Prozesse Behrendt, 1992.
26 Crimen leitet sich vom Verb cernere ab: wahrnehmen, erkennen, unterscheiden, trennen.
Vergleichbares gilt für das Griechische (κριµα − κρινω). Vgl. hierzu Legendre, 1998, S. 62 und
die Anmerkung 25 daselbst.
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Ihnen ist die genuin psychiatrische Rolle, wenn man so sagen darf, der
justiziellen Konstruktionen und Verfahren nicht geläufig.
Das Strafrecht enthält auch das weitere Element aller herkömmlich
beobachtbaren Erscheinungsformen der öffentlichen Instituierung des
unerbittlichen väterlichen Verbots: den wie immer gefaßten Bezug auf ein
Absolutes.
Die Strafjustiz als öffentliche Verkörperung des unabdingbaren
menschlichen Schicksals in genealogisch-psychiatrisch-juristisch-sprachlicher Hinsicht erfüllt in moderner Form die Funktion des antiken Fatums,
soweit es wahrnehmbar war: Die Rolle des Menschen wird gewissermaßen
im Vorhinein »gesprochen« und damit sein Status vor aller individuellen
Existenz festgelegt. Die Sprüche der Justiz ergehen ebenso wie die der
Orakel der Antike »Im Namen von …«, das heißt, sie weisen einen offenen
referenziellen Bezug zu einem Anderen, Höheren auf. Im Fall der heutigen
Justiz ergehen deren Urteile »Im Namen des Volkes«. Was damit gemeint
ist, bleibt allerdings in Zeiten einer allgemeinen Verwerfung von Wesen und
Begriff des Volkes und der Nation weitgehend offen. Jedenfalls verflüchtigt
sich für den Empfindsamen bei einer Formel etwa wie »Im Namen der
Bevölkerung« die absolute Referenz geradezu fühlbar, wenn die in Bezug
genommene Bevölkerung ethnisch, kulturell, religiös und sprachlich völlig
heterogen ist.
Das Prozeßhafte der strafjustiziellen Repräsentanz des Verbots als
drittes Merkmal jeder Instituierung des Unvermeidlichen kommt sehr
deutlich darin zum Ausdruck, daß die strafgesetzlichen Verbote in ihrem
materiellrechtlichen und prozeßrechtlichen Gehalt durch eine unablässige
interpretatorische Arbeit in ihren je konkreten Anforderungen immer
wieder neu gefaßt werden. Die ständige interpretative Erneuerung der
strafrechtlichen Normen – und damit in letzter Instanz des väterlichen
Mordverbots – findet (soweit ersichtlicht noch) eine ausreichende Resonanz
wenn nicht Mitwirkung in einem relevanten Quorum der Bevölkerung.
Auch dem Erfordernis der Verbildlichung und der theatralischen
Entfaltung der institutionellen Repräsentanz kommt die Strafjustiz mit
ihrem Zeremoniell, ihren Kleidervorschriften, ihrer Positionierung des
Richters und ihren anderen Formen und Förmlichkeiten nach, an denen
freilich eine scheinrationale Kritik beständig nagt. Im Strafprozeß wird das
Verbrechen in zeremonieller Form gewissermaßen nachgespielt, und das
heißt, das Verbrechen und seine Sanktionierung werden augenfällig
vorgeführt. Genauer: Das Verbot wird mittels seiner Übertretung öffentlich
in Szene gesetzt.
Schließlich weist das Strafrecht als öffentliche Repräsentanz des
entscheidenden Verbots den unvermeidlichen historischen Bezug auf. Das
gilt einmal für eine historische Ausrichtung sozusagen kurzer Reichweite,
soweit es um die je entscheidungserheblichen Präjudizien geht. Das gilt aber
auch in einer anderen Dimension für die wirklich historisch zu nennende
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Frage nach den dogmatischen Formeln der Erfassung der menschlichen
Verantwortlichkeit und Vernunft und der entsprechenden Prozeßfrage ihres
konkreten Nachweises.
Alle die hier das Strafrecht als institutionelle Repräsentanz des
unverhandelbaren Verbots kennzeichnenden Elemente gelten im übrigen in
gleicher Weise auch für die Gebiete des zivilen und des öffentlichen Rechts.
Das Justizsystem im weitesten Sinne, welches Theorie und Praxis, Personal
und Organisation umfaßt, steht insgesamt im Dienste der Verkörperung des
väterlichen Dritten und seiner Verbote.
2. Funktionen des Verbots
Werfen wir nochmals einen Blick auf die Funktionen des öffentlich
repräsentierten ödipalen Verbots, die Begründung der Filiation, der
Vernunft, des Rechts, der Rede und der Existenz (vitam instituere), so tritt
die gesellschaftliche Bedeutung des instituierten Verdikts in größter Klarheit
hervor.
Die im weitesten Sinne normativen Institutionen einer Gemeinschaft –
beileibe nicht nur das Strafrecht oder das Recht im Allgemeinen– besitzen
unvermeidlich sozusagen eine psychisch beschichtete Innenseite, die für
Leben und Schicksal der Einzelnen wie dargetan von grundlegender
Bedeutung ist.
Hierbei ist zu bedenken, daß zu diesen normativen Einrichtungen alle in
der Öffentlichkeit wirkenden Agenturen gehören, die auf die bewußte, aber
auch die unbewußte normative Einstellung der Menschen Einfluß nehmen,
also in den Industriegesellschaften auch solche Instanzen wie Ideologie,
Kunst, Wissenschaft, Werbung und Medien. Legendre (1998, S. 31) geht
gelegentlich so weit zu sagen, daß jedes öffentlich gesprochene Wort
Gründungscharakter besitze – oder auch nicht. Es ist wohl so: Die
öffentlichen normativen Instanzen bestärken, beglaubigen und verkörpern
die Unerbittlichkeit des ödipalen Gesetzes oder sie unterlaufen,
unterschlagen und dementieren es.
Daß das stets anfällige Gerüst der institutionellen Repräsentanz des
väterlichen Verbots im Westen in Gefahr ist einzustürzen, ist kein
Geheimnis. Legendre jedenfalls spricht mehrfach von den »Verwüstungen
des Vateramtes« in den westlichen Gesellschaften und stellt eine düstere
Prognose.
C Schluß
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Nach allem besteht die im wahrsten Sinne des Wortes grundlegende
Aufgabe der westlichen Gesellschaften gegenwärtig und zukünftig darin, in
ständiger Arbeit die das Leben des Individuums wie der Gesellschaft
bestimmenden unbewußten Gesetzlichkeiten mithilfe der Erkenntnisse der
modernen Anthropologie freizulegen und in öffentlicher Repräsentation
ihre Gültigkeit stets neu zu bezeugen. Schon aus Gründen des kulturellen
Zusammenhalts wie auch der bloßen Fortexistenz der europäischen Gesellschaften ist die Erledigung dieser Aufgabe dringlich und unabdingbar.
Die Greueltaten des Nationalsozialismus zeigen, wohin die Vernachlässigung dieser Aufgabe führt.
Eine ergänzende abschließende Bemerkung sei gestattet: Die moderne
technisch erzeugte Medien- und Bilderwelt und die mit ihr einhergehende
gesellschaftliche Bewirtschaftung von Phantasie und Erregung scheinen in
nennenswertem Umfang das Selbst- und Welterleben der Erwachsenen aber
auch die Mentalisierungsprozesse und Affektregulierungsvorgänge in
Heranwachsenden zu beeinträchtigen und damit die Selbst-Konstituierung
so zu behindern, daß das Erreichen des ödipalen Niveaus massiv erschwert
wird. Hier treten neuartige Kräfte und Tendenzen auf, die die von Legendre
zitierte Omnipotenz jedenfalls deutlich verstärken und die Fähigkeit zu
Beschränkung und Verzicht fühlbar verringern.
Ein Machbarkeitswahn in Wirtschaft und Technik und ein verbreiteter
Konsumismus auf der ökonomischen Ebene sowie eine steckengebliebene
Aufklärung (die aufs Physische fixiert bleibt), ein mißverstandener Demokratiegedanke (Stichwort: multioptionelle Persönlichkeit) und ein nicht
verwundener Nationalsozialismus (in Form eines weiterwirkenden Biologismus) auf ideellem Gebiet sind weitere Hindernisse auf dem Weg zu Reife
und Erwachsenheit.
Rolle und Amt des Vaters, auch des frühen Vaters, als des Vertreters der
unerbittlichen seelischen Realität müssen angesichts dieser Herausforderungen ständig neu erforscht, ergründet und befestigt werden.
Zusammenfassung
Der vorliegende Aufsatz basiert ganz wesentlich auf der im Titel genannten
Arbeit des französischen Rechtshistorikers und Psychoanalytikers Pierre
Legendre. Legendre entwickelt hier am Beispiel eines kanadischen Strafrechtsfalles aus dem Jahre 1984 seine Kernthese, daß für das Gedeihen des
Einzelnen wie auch der Gesellschaft insgesamt die Existenz einer
Vaterreferenz unverzichtbar ist. Dabei ist die Installierung einer
funktionstüchtigen Instanz des väterlichen Dritten im Individuum in
gleicher Weise wichtig wie die Repräsentanz eines intakten Vaterbildes in
den Institutionen der Gesellschaft. Von Bedeutung ist hier ferner der
ständige Prozeß eines wechselseitigen Austauschs zwischen dem Erleben
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des Einzelnen und der institutionellen Inszenesetzung des väterlichen
Dritten, der sich auf den Bahnen des Bewußtseins ebenso wie auf denen des
Unbewußten vollzieht. Die vorliegende Abhandlung befaßt sich demzufolge zuerst mit der individuellen Gestalt der ödipal hergestellten
väterlichen Instanz und richtet den Blick sodann auf die öffentliche
Repräsentanz des väterlichen Dritten. Der Verfasser unternimmtes
abschließend, aus der Tatsache, daß das Recht ein wesentlicher Teil dieser
institutionellen Repräsentanz des Vaters ist, erste Ansätze für eine
psychoanalytisch-anthropologisch fundierte Dogmatik des materiellen und
prozessualen Rechts, nicht nur des Strafrechts, zu gewinnen.
Summary
This article is essentially based on the work mentioned above of the french
historian of law and psychoanalyst Pierre Legendre. Citing a canadian
criminal case from 1984 Legendre here expounds his central thesis that
because of its salutory effects for the individual and for society as a whole
the re presenta tion of the father is indispensable. Installing a working
authority of the father as a third party in the individual is as important as
representing an intact imago of the father within the institutions of the
society. Furthermore a permanent process of utual exchange between the
experience of the individual and the public enactment of the imago of the
father is essential, which takes place consciously and unconsciously. The
present paper therefore in the first place deals with the authority of the
father installed by the ödipal process within the individual and then focusses
on the public representation of the father. Finally the author, starting from
the fact, that the law is part of this institutional representation of the father,
tries to find a new approach to a theory of law, not only of the penal law,
based on psychoanalytic anthropology.
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