Afghanistan: Staatsversagen als chronisches Problem

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Stella Adorf/Alexander Kruska
Afghanistan: Staatsversagen als chronisches Problem
1. Einleitung
Islamische Republik Afghanistan
„Wir kämpfen bereits sechs Jahre in Afghanistan.
Wenn wir unsere Methoden nicht ändern, werden
wir noch 20-30 Jahre kämpfen.“
Michail Gorbatschow, am 13. November 1986
(zitiert nach: Berger/Kläy/Stahel 2002: 19)
Hauptstadt:
Kabul
Staatsform:
Präsidiale Republik
An dem voran stehenden Zitat und insbesondere
Staatsoberhaupt:
Präsident Hamid Karzai
seiner Datierung wird deutlich, welche politischen
Unabhängigkeit:
8. August 1919
Verhältnisse
Größe:
652.000 km2
Einwohnerzahl:
Ca. 30 Mio.
Bevölkerung:
Paschtunen (ca. 42
dem
Betrachter
der
jüngeren
Geschichte Afghanistans begegnen: Militärische
Interventionen und die Einmischung ausländischer
Prozent), Tadschiken (ca.
politischer Mächte in die inneren Angelegenheiten
27 Prozent), Hazara und
des Landes sind nicht erst eine Erscheinung der
Usbeken (jeweils ca. 9
Jahrzehnte
Prozent) u.a.
nach
Beendigung
des
Ost-West-
Konfliktes. Vielmehr beherrschen Phänomene wie
Landessprachen:
Dari, Paschtu u.a.
die
BIP pro Kopf:
800 US-$
Fragmentierung
politischer
Macht
und
Machtkämpfe sowie begleitende Verstrickungen
Quelle: Auswärtiges Amt 2007
externer Akteure die Geschicke Afghanistans seit frühesten Zeiten.
Im Zentrum dieses Aufsatzes wird deshalb das Bemühen stehen, die inneren strukturellen und
prozessualen
Bedingungen
sowie
den
äußeren
Rahmen
der
Entwicklung
und
Problemstellungen staatlicher Gewalt in Afghanistan nachzuzeichnen. Diese Entwicklung
interessiert hier vor allem im Hinblick auf die Erscheinung des Staatsversagens, welche für
Afghanistan charakteristisch ist. Im Besonderen vertreten die Verfasser die Ansicht, dass der
Zerfall des Staatswesens nicht in Form eines singulären, kollapsartigen Ereignisses auftritt
und eine zeitliche Verortung des Phänomens infolgedessen nur ansatzweise hilfreich
erscheint. Näherungsweise lässt sich der Zustand des failed state, schematischer
Betrachtungsweise folgend, für die Zeit nach der Intervention der internationalen
Gemeinschaft im Jahre 2001 attestieren. Die Ursachen des Staatszerfalls sind demnach in den
landesspezifischen, historisch-politischen, ethnisch-kulturellen und sozioökonomischen
Tiefenstrukturen und Rahmenbedingungen zu suchen. Zu diesem Zweck sollen die
Einflussvariablen für das Staatsversagen systematisch abgehandelt und auf ihre Wirkung hin
analysiert werden. Anschließend werden die Ergebnisse mit den aktuellen Ansätzen der
internationalen Gemeinschaft zur staatlichen Neuordnung verglichen, die Tauglichkeit der
Maßnahmen geprüft und Verbesserungsvorschläge gemacht.
2. Prozessfaktoren – Analyse der historisch-politischen Entwicklungen
Prozessuale und konjunkturelle Faktoren, welche die Stabilität des afghanischen Staates
beeinträchtigen oder die Bildung einer solchen seit Anbeginn behindert haben, müssen
notwendigerweise aus der afghanischen Geschichte ableitbar sein. Die Geschichte des
modernen Afghanistans, einem als politischer Einheit vergleichsweise jungen Landes, wird zu
diesem Zwecke hier in drei Phasen eingeteilt: 1. eine Frühphase, in welcher die
Grundstrukturen politisch-staatlicher Herrschaft (in unserem modernen Verständnis) gelegt
wurden, 2. eine Phase der relativen Stabilität und Entwicklung in der Mitte des 20.
Jahrhunderts und letztlich 3. eine Phase des Um- und Zusammenbruchs, des Kriegs und
Bürgerkriegs, an deren Ende die Taliban-Herrschaft und der jüngste Afghanistan-Krieg
(2001) stehen. Anschließend werden die Erkenntnisse aus der geschichtlichen Darstellung in
einem gesonderten Punkt als historisch-politische Prozessfaktoren zusammengefasst.
2.1 Die Frühphase bis 1929/30
Nachdem die Provinzen des heutigen Afghanistans Anfang des 18. Jahrhunderts locker
eingebundene Randgebiete benachbarter Großreiche gewesen waren, gelang es dem
turkmenischen Heerführer Nader Qoli Khan ab 1736, ein neues persisches Reich zu errichten.
Er unterwarf in den folgenden Jahren die im äußersten Osten seines Herrschaftsgebiets
siedelnden Stämme der Paschtunen und stabilisierte das Reich, indem er die Besiegten in
seine Regierungsgewalt einband. Vor allem Abdali-Paschtunen (aus der westlichen der beiden
großen Stammeskonföderationen Abdali und Ghilzai) bildeten das unmittelbare Gefolge
Schah Naders und darüber hinaus Elitetruppen. Im Moment des gewaltsamen Todes des
Schahs im Jahre 1747 wussten die Abdali ihre integrierte Stellung im persischen
Machtapparat zu nutzen: Ein enger Vertrauter Schah Naders und Befehlshaber seiner
Leibwache, Ahmad Schah, der zugleich eine führende Stellung in besagtem Stammesbund
innehatte, begab sich mit einigen tausend Soldaten nach Kandahar und begründete dort eine
eigene Herrschaft als Emir (Grevemeyer 1990: 24f.). Über die Geschehnisse um dieses die
afghanische Geschichte einläutenden Ereignisses gibt es unterschiedliche Versionen,
allerdings „haben die meisten doch eins gemein: Nämlich dass eine Loya jirga, also eine
große Stammesversammlung, Ahmad Schah zu ihrem Anführer erhob.“ (Schetter 2004: 47).
Abweichend zweifelt Conrad Schetter die Historizität dieser Versammlung mit Verweis auf
gewichtige Quellen an (Schetter 2004: 48). Es muss an dieser Stelle beachtet werden, dass ein
– vor allem für die afghanische Nationalhistoriographie – zentrales Ereignis in der
Begründung Afghanistans Fiktion sein könnte, auch wenn dies bisher nicht die fundamentale
Rolle geschmälert hat, welche jener ersten Loya jirga in der politischen Tradition des Landes
zugeschrieben wird.
In den folgenden 25 Jahren seiner Herrschaft eroberte Ahmad Schah ein Gebiet, das weit über
die Grenzen des heutigen Afghanistans hinausging und in der Folge zusammen mit seiner
Person durch einheimische Historiker verklärt wurde. Unter ihm sei fortan die Nation geboren
worden; ein Bild, welches ungeachtet der Tatsache tradiert wird, dass er rein auf Grundlage
der Stämme und ihrer Kämpfer regierte, also Klientelpolitik betrieb. Sein Reich „entsprach
einem lockeren Herrschaftsverbund von Fürstentümern und paschtunischen wie nichtpaschtunischen Stämmen, die er nur indirekt beherrschte.“ (Schetter 2004: 49). Hinzu kam
also, dass Ahmad Schah die Herrschaftspraxis seiner vormaligen Herren übernahm, indem er
die lokale Ordnung und Verwaltung den regionalen Potentaten überließ (oder überlassen
musste) und bei Hofe lediglich ein Minimum an Beamten unterhielt. Herrschaft fand
hauptsächlich in Form der Organisation des Heeres statt, welches zudem ausschließlich aus
Truppen der Stämme bestand (Grevemeyer 1990: 25). Obwohl Steuern angesetzt worden
waren, flossen diese aufgrund der Regierungsweise nur spärlich. Die erfolgreichen
Eroberungszüge der protostaatlichen Zentralgewalt erlaubten permanente Privilegien- und
Ämtervergabe an Stammesoberhäupter, was dem Emir deren Loyalität sicherte und seine
Macht zugleich in Schranken hielt. Diese Herrschaftsweise erwies sich in den folgenden
Jahrhunderten als prägend für die politische Tradition der Stämme, steht sie auch ganz auf der
Grundlage paschtunischer Wertvorstellungen.
Nach dem Tod Ahmad Schahs Nachfolgers im Jahre 1793 begann das paschtunische
Großreich schnell zu verfallen. Zuvor noch war die Hauptstadt von Kandahar nach Kabul
(und damit in tadschikisches Siedlungsgebiet) verlegt worden, um den Königshof dem
Einfluss des eigenen Klans zu entziehen – symptomatisch für die begrenzte Machtposition der
Staatsgewalt. Mit der Herrschaft Zaman Schahs (1793-1801) brach eine Periode der
afghanischen Geschichte an, welche als Gegenstück zur (verklärten) Hochzeit des DurraniReiches seit 1747 beschrieben wird (Schetter 2004: 51): Zahlreiche Herrscher wechselten sich
ab und verschiedene Sippen aus dem Durrani-Stammesverband beherrschten Landesteile
quasi-autonom.
Als für unsere Zwecke bedeutsam stellt sich die Entwicklung Afghanistans erneut ab den
1830er Jahren dar, da das Land erstmals in den Fokus der Weltpolitik rückte. In der
Begriffswelt der ab dem 19. Jahrhundert sowohl von Norden (Russland) als auch von
Südosten (Britisch-Indien) agierenden Kolonialmächte mit ihrem Anspruch effektiver
militärischer Kontrolle erschien das uneinige und fragmentierte Afghanistan dieser Zeit als
„herrenlos“; es war einer „der letzten weißen Flecken auf der Landkarte“ (Schetter 2004: 55).
Beide Weltmächte hatten Interessen in jener Region: Russland strebte nach Ausdehnung
seines kontinentalen Besitzes und dem Zugang zu einem eisfreien Meer, während
Großbritannien seinen mit Abstand wertvollsten Besitz, Indien, vor fremdem Zugriff zu
schützen suchte. Für die Rivalität der beiden Mächte prägte Rudyard Kipling 1901 den
Begriff des „Great Game“.
Im Jahre 1826 hatte der Durrani Dost Muhammad Kabul erobert und sich so zum Herrscher
gemacht. Seine Regentschaft war von Anfang an sowohl von Thronwirren als auch vom
Kampf gegen das Reich der Sikh begleitet, welches im Süden des älteren Reichsgebiets
entstanden war und sich bis 1835 Peschawar einverleiben konnte. Bedroht durch einen
exilierten Verwandten mit legitimen Thronansprüchen einerseits und den Herrscher des SikhStaates andererseits, bot Dost Muhammad den Briten Kooperation an, welche diese – um dem
Zarenreich zuvorzukommen – gerne annahmen. Als es 1838 im Westen des afghanischen
Reiches zu einer Art Stellvertreterkrieg Persiens (Russlands) gegen Afghanistan (BritischIndien) kam und Kabul in Verhandlungen mit russischen Gesandten einwilligte, sah sich die
britische Seite brüskiert und nutzte den Vorfall aus: Rasch unterstützte die britische
Kolonialregierung den besagten Exilregenten in seinen Thronansprüchen und marschierte mit
ihm 1838/39 im Nachbarreich ein, in der Hoffnung, mit Letzterem einen treuen Vasallen zu
haben und damit einen sicheren Pufferstaat gegen das Zarenreich errichten zu können. Die
britische Invasion glückte, das Land wurde sukzessive erobert und der neue Emir – ohne das
Wohlwollen der Stämme – inthronisiert. Der neue Herrscher jedoch bedurfte der ständigen
Hilfestellung der Ausländer, was deren Mission in eine Besatzung verwandelte und sie – auch
aus finanziellen Gründen – bis 1842 wiederum scheitern ließ (Grevemeyer 1990: 30f.). Auf
ihrem Rückzug erlitten die britischen Kolonialtruppen die verheerendste Niederlage ihrer
Geschichte seit 1781. Absurde Folge dieses ersten Anglo-afghanischen Krieges war, dass
Neu-Delhi Dost Muhammad erneut die Herrschaft übergab und ein Freundschaftsvertrag die
britisch-afghanischen Beziehungen für die nächsten Jahrzehnte regelte. Im Inneren erlebte das
Land nun neuerliche Thronwirren, welche erst 1878 ganz beigelegt werden konnten, während
Emir Scher 'Ali die erste Herrschaftskonsolidierung und Modernisierungspolitik seines Vaters
fortführte. Im Kontext neuerlicher russischer Avancen auf Kabul und einem offensiven
Politikwechsel in Britisch-Indien erklärte Großbritannien 1878/79 Afghanistan erneut den
Krieg (Zweiter Anglo-afghanischer Krieg), um es endgültig seiner Kontrolle zu unterwerfen.
In zahlreichen verlustreichen Gefechten konnten die Briten schleppend im Lande vordringen,
doch bald zeichnete sich wiederum ab, dass der partikulare (und deshalb oft wirksame)
Widerstand der Stämme ohne ein effektives Ordnungskonzept nicht zu brechen war (Schetter
2004: 67). Der noch unter Emir Yaqub 1879 geschlossene Vertrag von Gandomak sollte auch
unter dem neuen, durch Großbritannien anerkannten Emir Abdurrahman fortan das Verhältnis
der Länder klären.
„Der eiserne Emir“ Abdurrahman setzte seine Herrschaft ab 1880 mit größter Gewalt durch
und wird noch heute teilweise als eine Art zweiter Begründer des modernen Afghanistans
angesehen. Der wesentliche Politikwechsel der Großmächte nach dem zweiten Angloafghanischen Krieg brachte die de facto-Anerkennung Afghanistans als Pufferzone zwischen
den Kolonialgebieten der Europäer und dämmte somit deren Ausgreifen ein, was eine
Leistung der Partikularkräfte im Land gewesen war. Zwischen den Jahren 1887 und 1895
wurden erstmals Außengrenzen des Landes geographisch und vertraglich festgelegt. Diesem
äußeren Abschluss des Landes folgte eine Stärkung der Zentralgewalt, da die Briten – jetzt
nicht mehr an direkter Kontrolle interessiert – Abdurrahman finanziell und militärisch
unterstützten. Diese Hilfe machte Kabul wiederum unabhängiger von seiner vormalig
einzigen Machtbasis, der Gefolgschaft der Stämme, welche stets teuer hatte erkauft werden
müssen: Somit konnte der „eiserne Emir“ den Grundkonflikt des Landes zwischen den
segmentären Kräften und der Staatsgewalt rücksichtslos zugunsten der Zentrale entscheiden
(Grevemeyer 1990: 39). Hauptinstrumente seiner Machtpolitik waren die Einsetzung einer
ständigen Jirga in Kabul (um die Stammesoberen dort zu binden), verheerende Feldzüge –
mit
einem
nunmehr
stehenden
Heer
–
gegen
abweichende
Gruppen
sowie
Zwangsumsiedlungen. Erstmals institutionalisierte man auch die Verwaltung, indem
Regierungsbehörden geschaffen wurden. Des Weiteren entmachtete der Emir die (ihm
verhasste) unabhängige Geistlichkeit und vereinnahmte die Religion fortan für den Staat, was
eine unheilvolle Prägung für das Staatsbild der Afghanen bewirken sollte, da sich der Staat
nun als Glaubenshüter zu beweisen hatte (Schetter 2004: 72). Über die Konsolidierung der
Staatsgewalt (sowie des Steuersystems) hinaus stagnierte die Entwicklung des Landes
vollends, das gänzlich isoliert und faktisch ein britisches Protektorat blieb.
Unter Abdurrahmans Sohn Emir Habibullah I. (1901-1919) dauerten diese Verhältnisse an –
auch begründete sich die Neutralität im Ersten Weltkrieg in der Fortführung der Politik des
Vaters. Kurz nach Ende des Weltkrieges starb Habibullah I. bei einem Attentat und infolge
kurzer Thronstreitigkeiten trat Amanullah, wiederum der legitime Thronfolger, die Herrschaft
an. Zur Festigung seiner Macht ergriff der neue Emir die Flucht nach vorn und erklärte den
Jihad gegen Britisch-Indien, um symbolträchtig die völlige Freiheit des Landes zu erkämpfen.
Der Krieg (Dritter Anglo-afghanischer Krieg) dauerte aufgrund britischer Kriegsmüdigkeit
nicht lange an und endete bereits 1919 mit der Unabhängigkeit Afghanistans (unter
Anerkennung seiner Grenzen).
Der neue König Amanullah (wie er sich in ausdrücklicher Abgrenzung zum religiösen EmirTitel
ab
1926
bezeichnete)
begann
sogleich
ein
umfassendes
Reform-
und
Modernisierungsprogramm: 1923 wurde eine Verfassung nach kemalistischem Vorbild
erlassen, welche Bürgerrechte, den Schutz religiöser Minderheiten, die Schulpflicht und eine
Nationalversammlung vorsah. Obwohl er die Macht der traditionellen Eliten zu beschneiden
suchte, musste er bald eine Loya jirga einberufen, um seine Reformpolitik bewilligen zu
lassen und sie damit zu retten. Bis 1925 konnten kleinere Aufstände zwar niedergeschlagen
werden, jedoch entglitt Amanullah bereits 1929 die Herrschaft endgültig, da er nach einer
Europareise umfassende gesellschaftliche Reformen (unter anderem die Stellung der Frau
betreffend) durchzuführen plante. Seine als „Verwestlichung“ bezeichneten Vorhaben
erweckten gewaltsamen Widerstand vor allem unter den Paschtunen, was den Abfall der
wichtigsten Familien von seiner Herrschaft und wenig später das Exil des Königs in Rom zur
Folge hatte. Die folgende Regentschaft eines Usurpators, Emir Habibullah II., scheiterte
schnell am generellen Widerwillen der Bevölkerung gegen die Staatsgewalt. Da Habibullah
II. kein Paschtune war, konnten geeinte paschtunische Stammestruppen die Zentren rasch
erobern und (wieder) einen neuen Herrscher aus den eigenen Reihen etablieren: Nader Schah,
adligen Heerführer aus einer Nebenlinie der Durrani.
2.2 Die Phase der relativen Stabilität und Entwicklung (1930-1973)
Die Unruhen der Jahre 1928 bis 1930 hatten erneut unter Beweis gestellt, dass politische
Herrschaft in Afghanistan einzig auf der Grundlage der Beteiligung oder zumindest mit der
Zustimmung der nach wie vor mächtigen traditionellen Eliten errichtet werden konnte
(Schetter 2004: 79). Die Politik Nader Schahs vollzog infolgedessen einen deutlichen Wandel
gegenüber
der
Modernisierungsphase
unter
König
Amanullah:
Gestützt
auf
die
paschtunischen Stämme und seine Sippe innerhalb der Durrani, ließ er seine Herrschaft durch
eine Loya jirga legitimieren und kam so von Anfang an traditionellen Rechtsvorstellungen
nach. Der neue König erhob den höchsten Stammesrat sogleich zum obersten Staatsorgan,
verrechtlichte also die faktischen Verhältnisse. Der Ausbau staatlicher Strukturen wurde unter
seiner Regierung zwar fortgesetzt, erhielt jedoch einen moderateren bzw. konservativen
Tenor, indem sich die Nationalversammlung in eine königliche Beraterkammer wandelte und
dem (sunnitischen) Islam nach der Verfassung aus dem Jahr 1931 wieder die Rolle einer
Staatsreligion zukam. Die Scharia erlangte allgemeine, landesweite Geltung und ein
Gremium Religionsgelehrter befand über die Gültigkeit der Gesetzgebung. Lokale und
religiöse Autoritäten wurden in ihrer Machtstellung nicht mehr behindert und der Aufbau
eines staatlichen Schulwesens sowie erste Infrastrukturbaumaßnahmen wurden in Angriff
genommen (Schlagintweit 2006: 34). 1933 fiel Nader Schah einem Attentat zum Opfer,
obwohl seine teilweise repressive, insgesamt doch gemäßigte Reformpolitik eine Phase der
verhältnismäßigen Stabilität einleitete. Die lange Herrschaft des Thronfolgers, seines Sohnes
Zaher Schah (1933-1973) begann mit der Regierung von Verwandten im Amt des
Premierministers: „Während Haschem Kahn die autoritäre Politik Nader Schahs weiterführte,
leitete Schah Mahmud [ab 1946] zaghafte Schritte einer Demokratisierung ein.“ (Schetter
2004: 80f.). Im Jahre 1953 folgte Schah Mahmud, der Vetter des Königs, Mohammad Daud
Kahn ins Amt des Regierungschefs, der eine für jene Jahrzehnte typische autoritäre
Entwicklungspolitik betrieb und „in eine Reihe mit Nasser, Nehru oder Sokarno gestellt
werden“ kann (Schetter 2004: 81). Ab 1963 nahm Zaher Schah die Regierungsgeschäfte
selbst in die Hand. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes indes machte seit den 1930er
Jahren nur langsam Fortschritte:
„Die Berichte in den [staatlichen] Jahrbüchern erwähnen Aufforstungsmaßnahmen, die
Anlage von Gärten, Zuchtexperimente mit im In- und Ausland erworbenen Bäumen, Pflanzen
und Tieren, […] die Einführung landwirtschaftlicher Kleinmaschinen, die Anwerbung
ausländischer Experten, […] Versuchsfarmen, […] Versuchsfeldern und Tierzuchtstationen,
[…] und die Etablierung neuer Behörden (Forstbehörde, Landvermessungsämter)“
(Grevemeyer 1990: 93f.).
Allein diese Maßnahmen zeigen, auf welch grundlegender Ebene die Entwicklung des Landes
während der 1930er und 1940er Jahre angegangen werden musste. Zumeist waren diese
Projekte noch privat finanziert, unter anderem mit Hilfe der 1933 neu errichteten
Nationalbank, und kamen während des Zweiten Weltkriegs wieder zum Erliegen.
Ausländische Wirtschaftshilfe floss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorerst spärlich.
Lediglich die Großmächte der Zwischenkriegszeit engagierten sich, begrenzt auf den
sozioökonomischen Bereich. Während des Zweiten Weltkrieges fand eine Annäherung
Afghanistans an die Vereinigten Staaten von Amerika statt, die jedoch bald nach dem Krieg
durch eine umso größere Intensivierung der sowjetisch-afghanischen Beziehungen überdeckt
wurden. So „trat die UdSSR zunehmend als Freund und Helfer auf.“ (Berger/Kläy/Stahel
2002: 4f.). Das afghanische Militär geriet im Rahmen der folgenden Aufbauhilfe aus Moskau
zunehmend unter starken sowjetischen Einfluss. Im Allgemeinen gelang Kabul im Kontext
des Kalten Krieges jedoch „das Kunststück, bei strikter Neutralität Entwicklungshilfe aus der
Sowjetunion und aus den USA zu beziehen“ (Schetter 2004: 85f.).
In der Region verschärfte sich in den Jahren nach 1947 der politische Konflikt mit dem
(nunmehr) jungen Nachbarland Pakistan um die Zugehörigkeit der Siedlungsgebiete der
Paschtunen, welche bis heute ungefähr zur Hälfte auf ehemals britischem Kolonialgebiet
liegen: 1893 wurde jenes „Paschtunistan“ durch den Durand-Vertrag, geschlossen durch
Abdurrahman, von der afghanischen Südostgrenze durchschnitten. Die Modernisierung des
Staates, welche sich vordergründig in einer Modernisierung und Liberalisierung des
Rechtswesens
und
-systems äußerte, nahm mit den späten 1940er Jahren ihren Anfang. Dies bewirkte auch einen
Wandel in der Herrschaftslegitimation, welche nun nicht mehr allein von Macht und
göttlichem Willen, sondern durchaus auch vom öffentlichen Interesse hergeleitet werden
sollte: „In Wirklichkeit allerdings war die Berufung auf den Willen des Volkes nur solange
ein taugliches Instrument staatlicher Politik, als das ‚Volk’ sich nicht auf seinen eigenen
Willen berief.“ (Grevemeyer 1990: 159). So bezeichnend dies allein für die Problemlage des
afghanischen Staats bereits ist, muss dem doch angefügt werden, dass, sobald „sich
regierungskritische
Kräfte
zu
Wort
meldeten,
[…]
an
die
Stelle
allgemeiner
Verfassungsprinzipien der autoritäre Wille des Hofes“ trat (Grevemeyer 1990: 159f.).
Dessen ungeachtet begann mit dem (erzwungenen) Rücktritt Mohammad Daud Khans im
Jahre 1963 das so genannte „Goldene Zeitalter“ Afghanistans. Großprojekte zur
wirtschaftlichen und ländlichen Entwicklung, vom Ausland kofinanziert, gaben Anlass zur
Hoffnung. Auf Betreiben König Zaher Schahs war es zur Ausarbeitung einer dritten
Verfassung gekommen, welche 1964 durch eine Loya jirga angenommen wurde. Mit dem
Königtum im Zentrum, wurde nun ein parlamentarisches System mit zwei Kammern
eingesetzt, zu welchen 1965 und 1969 landesweite Wahlen stattfanden. Nach diesen Wahlen
waren die Abgeordnetenränge – entsprechend der afghanischen Sozialstruktur – mit lokalen
Größen und Stammesführern besetzt, was dauerhaften Klientelismus der politischen Elite in
Bezug auf „ihre“ Stämme zur Folge hatte.
Als Fehler erwies sich in diesem Kontext, dass der König ein Parteiengesetz, welches der
Verfassung angegliedert war, nicht ratifizierte, wodurch alle neueren politischen
Gruppierungen faktisch in die Illegalität und damit in die Opposition gezwungen wurden.
Daraus entwickelte sich ein grundlegender Konflikt zwischen der traditionellen Machtelite
(wenigen einflussreichen Familien) und der neuen städtischen Bildungselite (z.B.
Hochschulabsolventen), die seit den 1960er Jahren entstand. Die Frustration, nicht am
politischen Prozess teilhaben zu können, schuf (modernisierungstheoretisch betrachtet) ein
Milieu systemfeindlicher Kräfte: Islamisten auf der rechten und kommunistische
Gruppierungen auf der linken Seite des Spektrums. Zwischen diesen zumeist auf Kabul
beschränkten politisierten Kreisen kam es 1965 zu ersten gewaltsamen Zusammenstößen,
auch mit und gegen die Polizeikräfte (Schetter 2004: 89). So ging das „Goldene Zeitalter“ mit
nicht wenigen dunklen Vorzeichen zu Ende: Das „dilettantische Krisenmanagement im
Umgang mit einer jahrelangen Dürre (1969-1971) [schädigte] nachhaltig das Ansehen der
Staatsführung.“ (Schlagintweit 2006: 36).
2.3 Die Phase des Um- und Zusammenbruchs bis zur Neuordnung (1973-2001)
Am 17. Juli 1973 putschte der ehemalige Premierminister Mohammad Daud Khan mit Hilfe
des gemäßigten Flügels der afghanischen Kommunisten und des durch die Sowjetunion
vereinnahmten Militärs gegen die Monarchie seines eigenen Klans, stürzte diese und
errichtete die Republik, wobei Daud selbst die Mehrzahl der Kabinettsposten einnahm. Ein
harter Politikwechsel hin zu grundlegenden Sozialreformen war die Folge und wurde
vorläufig durch eine Loya jirga sanktioniert. In den folgenden Jahren zeigte sich jedoch die
Basis und die Richtung der neuen Machthaber: Einzig auf das Militär gestützt, setzten sie „der
traditionellen und islamistischen Elite […] mit Verhaftungs- und Verfolgungswellen zu.“
(Schetter 2004: 93). Der Versuch, über eine Landreform und eine neue Bildungspolitik den
(sozialistischen) Fortschritt in die Dörfer zu bringen, trug dem Regime erbitterten Widerstand
seitens der Landbevölkerung ein. Im Jahre 1974 wurde der führende Kopf der islamistischen
Gruppierungen in Afghanistan, Mohammad Niyazi, zusammen mit mehreren Hundert
Gefolgsleuten inhaftiert: „Dies bildete für die Islamisten den Beginn des Afghanistankriegs.“
(Schetter 2004: 93). Fortan formierte sich im pakistanischen Grenzgebiet der Widerstand,
welcher unter zahllosen (teils politischen) Flüchtlingen großen Zulauf fand. Der faktische
Alleinherrscher Daud entfremdete sich durch seine repressive Regierung alsbald von seiner
gemäßigt kommunistischen Anhängerschaft und hatte sich auch alle anderen Gruppen im
Lande zum Feind gemacht. Außenpolitisch schwenkte er in diesem Kontext bald auf einen
pro-westlichen Kurs ein und entfernte sich von der Sowjetunion (Schlagintweit 2006: 36).
1978 beendete ein Putsch der eigenen Partei, die so genannte „April-Revolution“, seine
Herrschaft und auch sein Leben abrupt.
Radikale kommunistische Modernisierer unter Mohammad Taraki übernahmen die Macht im
Land, das nun zu einer „Demokratischen Republik“ wurde. Drastische Maßnahmen, das Land
neu zu verteilen – um den afghanischen „Feudalismus“ zu brechen – und die Bevölkerung zu
alphabetisieren, wurden in Angriff genommen und zugleich alle potenziellen Gegner mit
massiver Repression überzogen, so dass sich die Gefängnisse schnell füllten und
Zehntausende den Tod fanden. Da sich die Bevölkerung teils gewaltsamer Unterdrückung und
Feindseligkeit und teils aggressiver Umerziehungsmaßnahmen seitens der Regierenden
gegenübersah, verlor die Obrigkeit rasch jegliche Unterstützung. Ab 1978/79 brachen
allerorts bewaffnete Aufstände aus; ganze Einheiten des Militärs wechselten die Seiten und
Kabul verlor schnell die Kontrolle über große Teile des Landes. Die Sowjetunion beschäftigte
unterdessen die komplizierte Frage, ob sie das junge Mitglied „ihres Lagers“ (das auch
Vertragspartner war) nicht unterstützen müsste. Nach längeren und überaus komplexen
Meinungs- (Moskau) und Führungsstreitigkeiten (Kabul) fasste die sowjetische Regierung
schließlich Ende 1979 den Entschluss zur Invasion (Schetter 2004: 98ff.).
Die Ereignisse der kommenden Jahrzehnte werden im Folgenden lediglich anhand ihrer
politischen Bedeutung abgebildet, da sich zwar zwischen 1980 und 2001 mehrere komplexe
Umbrüche in der politischen Struktur Afghanistans ergeben, diese jedoch in den Augen der
Autoren vielmehr nur Folgen, nicht Ursachen des Versagens staatlicher Gewalt darstellen.
Der groß angelegte Einmarsch sowjetischer Streitkräfte ab Weihnachten 1979 traf auf breiten
Widerstand aus der afghanischen Bevölkerung. Dieser Widerstand erfolgte bereits vor
Bildung der mujaheddin („Kämpfer des Heiligen Kriegs“) stets in kleinen Gruppen und in
lokalem Maßstab im Gebirge, weshalb die großräumige sowjetische Taktik oft ins Leere lief
(Schetter 2004: 102). Obwohl die wichtigsten Zentren des Landes schnell erobert wurden,
brachen die Aufstände und Überfälle im Hinterland der Front nicht ab. Zeitweise gerieten
Dschalalabad und Herat unter die Kontrolle des Widerstandes. Während das ganze Land eher
schlecht als recht besetzt wurde, formierten sich im pakistanisch-afghanischen Grenzland die
mujaheddin:
„Dort
errichteten
moslemische
Widerstandsgruppen
unterschiedlicher
Ausrichtung ihre Versorgungsbasen, unterstützt und teilweise finanziert durch den
pakistanischen Geheimdienst“ (Chiari 2006b: 55).
Ende 1980 wandelte sich der „Freiheitskrieg“ infolge der zunehmenden Unterstützung des
Widerstandes durch Pakistan und vor allem – jedoch nur finanziell – der USA zu einem
Stellvertreterkrieg der Blöcke. Zeitgleich reagierten die sowjetischen Streitkräfte auf die
Anforderungen
der
lokalen
Situation
und
gingen
zu
einer
defensiven
Guerillabekämpfungstaktik über. Die Folgen dieser Auseinandersetzung waren verheerend:
Der Großteil des Landes wurden entvölkert und völlig verwüstet; ca. 1,6 Millionen Afghanen
kamen ums Leben und allein jeder zweite Paschtune befand sich Mitte der 1980er Jahre auf
der Flucht, zumeist nach Pakistan (Schetter 2004: 104). Wie weiter unten noch erläutert wird,
hatte die Fluchterfahrung eine Entwurzelung der größtenteils traditionell geprägten
Paschtunen zur Folge, was sie unter anderem in die Arme der bewaffneten, islamistischen
Widerstandsgruppen trieb. Die islamistische Ausrichtung der Kämpfer sollte sich gerade
angesichts einer landesfremden, traditionsfeindlichen Besatzungsmacht nur noch vertiefen
und intensivieren, obwohl die nun so genannten mujaheddin meist keine weiteren
gemeinsamen Ziele verbanden, sie mitunter auch gegeneinander kämpften. Die Politik der
Widerstandskämpfer war von Anfang an vergleichbar mit der wiederkehrenden Tradition der
lokalen politischen Verbände (Stämme etc.), indem sie „sowohl mit afghanischen
Kommunisten in Kabul [verhandelten] als auch mit sowjetischen Truppenführern, wenn sie
sich hiervon Vorteile versprachen.“ (Chiari 2006b: 55). Die politische Fragmentierung des
Landes näherte sich ihrem Höhepunkt, während die kommunistische Regierungsgewalt
Kabuls – zusammen mit der Schlagkraft ihres Heeres – rapide verfiel.
Seit 1985 strebte Moskau, unter Michail Gorbatschow, in Anbetracht der wenig Erfolg
versprechenden Lage des Afghanistankrieges nach einer raschen Lösung des Konflikts, was
der sowjetischen Armee alsbald zu gelingen schien. Mit verstärkten Waffenlieferungen
seitens der USA wendete sich ab 1987 das Blatt und die Invasoren gerieten endgültig in die
Defensive: 1988/89 wurde der Abzug beschlossen und durchgeführt. Während die
Zentralregierung ihre bloße Existenz in diesen Jahren notdürftig behaupten konnte,
beherrschten lokale Milizen und Widerstandsführer (warlords) viele Teile des Landes quasiautonom: Unabhängige parastaatliche Strukturen bildeten sich in der Breite des Landes
(Schetter 2004: 114ff.) und rivalisierten miteinander um Ressourcen und Macht. Als die
Kabuler Zentralregierung den Milizen keinen Nutzen mehr einbringen konnte, wurde sie 1992
kurzerhand durch verschiedene Partikulargruppen gestürzt. Der Verlust der letzten
Einheitsklammer des afghanischen Staates bedingte die völlige Desintegration des Landes
und die faktische Herrschaft der warlords in Kleinstaaten, wobei der Süden eher „herrenlos“
verblieb.
Während
sich
einige
mujaheddin-Gruppierungen
an
der
Errichtung
einer
neuen
Einheitsregierung versuchten, drangen ab Spätsommer 1994 die ersten Taliban („Studenten“)
von der pakistanischen Grenze in den Süden Afghanistans ein. Diese radikal-islamischen
Milizen waren seit Beginn der 1990er Jahre gezielt durch Pakistan, Saudi-Arabien und
amerikanische Ölkonzerne im Hinblick auf eigene Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen
aufgebaut worden (Stahel/Geller 2006: 74ff.) und rekrutierten ihre Kämpfer vor allem im
Umfeld pakistanischer Koranschulen. 1996 nahmen die Taliban Kabul ein und konnten den
Großteil des Landes unter ihre Kontrolle bringen, auch, indem sie sich teilweise mit den
lokalen Potentaten arrangierten. Die in Gegenwart der neuen Kraft massiv bedrohten
mujaheddin gruppierten sich zur späteren „Nordallianz“ und kontrollierten bis zum Ende des
Jahrzehnts weiterhin den äußersten Norden. Im südlichen, weitaus größeren Teil des Landes
errichteten die „Koranschüler“ unterdessen ein Regime, welches bald sprichwörtlich für die
Herrschaftsweise islamischer Fundamentalisten stehen sollte. Im Unterschied zur Praxis der
Linksdiktatur setzten sich die Taliban nicht in einen direkten Gegensatz zu den regionalen und
traditionellen Eliten, sondern griffen größtenteils auf diese zurück, um die eigene Stellung im
Land zu sichern. So rekrutierten die neuen Herren zum einen Teile ihrer „Intelligenz“ aus den
Reihen der mujaheddin oder sogar der kommunistischen Partei (Schetter 2004: 131) und
nährten zum anderen die Hoffnungen der traditionellen Stammeseliten, wieder in
Schlüsselpositionen des Staates aufzurücken. Die verbleibenden mujaheddin wurden
außerdem oft in die Organisationsstruktur der fundamentalistischen Milizen eingebunden. Da
diese Maßnahmen einen Rückgang der Kriminalität, eine neuerliche (rudimentäre) überlokale
Machtorganisation und einen augenscheinlichen Gewinn an öffentlicher Sicherheit zur Folge
hatten (Schetter 2004: 131), schien die Herrschaft der Taliban eine seit Jahrzehnten erwartete
Verbesserung der Zustände zu versprechen.
Die Unterstützung, welche den Fundamentalisten seitens der Bevölkerung entgegengebracht
wurde, lässt sich, außer durch die Erwartungen der traditionellen Stammeseliten, ferner
anhand der Sittengesetzgebung der neuen Herren erahnen: Faktisch orientierten sich die
Sittengesetze, welche die Islamisten beim Aufbau ihres „Gottesstaates“ in Anlehnung an die
Scharia
erließen,
deutlich
an
den
traditionellen
Rechtsvorstellungen
der
Bevölkerungsmehrheit der Paschtunen. So entsprach die Art und Weise der nahezu
vollständigen Entrechtung der Frau, um ein Beispiel zu nennen, eher einer strengen
Interpretation des paschtunwali denn einer der Scharia (Schetter 2004: 132). Darüber hinaus
lässt eine besondere Härte der Taliban gegenüber nicht-paschtunischen Bevölkerungsgruppen
eine – zumindest teilweise – nähere Verbundenheit der beiden Gruppen annehmen (Schetter
2004: 133). Hinzugefügt werden muss dem jedoch, dass die althergebrachte Kluft zwischen
Stadt und Land unter der fundamentalistischen Herrschaft bei der Sanktion unerwünschten
Verhaltens eine weitere Vertiefung insofern erfuhr, als dass die Sittenwächter besonders
Städter meist pauschal verdächtigten. Hier kulminierten Aversionen gegen jede Form der
„Verwestlichung“ und Misstrauen gegenüber urbaner Kultur und Mentalität in größerem
Terror (Schetter 2004: 133). Das weitgehende Fehlen von Erscheinungen moderner
„Staatlichkeit“ unter dem Regime der Taliban mag bei näherer Betrachtung nicht verwundern:
So war ihr Anliegen seit Beginn der militärischen Operationen in Afghanistan erstens die
Übernahme der Kontrolle des Landes, um zweitens einen Staat „nach dem Vorbild der
islamischen Frühzeit“ (Schetter 2004: 131) zu errichten. Obgleich die ideologische Deckung
hierbei strittig sein mag, suchten die Fundamentalisten dieses Ziel vordergründig durch
Bündnisse mit und Unterordnung der lokalen Milizen zu erreichen.
Über parastaatliche Strukturen auf lokaler Ebene und mit abwechselnder Intensität, welche
auf der Grundlage eigentlich partikularer Gewaltakteure locker an eine Zentrale angebunden
waren, kam das Regime der „Koranschüler“ demnach zu keiner Zeit hinaus. Dieses Fehlen
staatlicher Strukturen allerdings war einer der maßgeblichen Umstände, unter denen sich der
internationale islamistische Terrorismus in Form des Netzwerks Al-Qaida in Afghanistan
festsetzen konnte. Auch war der Aufbau der Taliban-Milizen selbst bereits unter starker
finanzieller Unterstützung islamistischer Sympathisantenkreise vonstatten gegangen. Seit
1986 – damals noch unter den Vorzeichen des mujaheddin-Widerstandes – war der Araber
Osama bin Laden im Land tätig. Er geriet auch bekanntermaßen in den Fokus der
amerikanischen Kriegsanstrengungen im War on Terror ab dem Jahre 2001.
2.4 Zusammenfassung der historisch-politischen Prozessfaktoren
In der Gesamtschau auf die neuere afghanische Geschichte lassen sich einige Variablen
festhalten, die prägend für die politische Tradition und den Staatsbegriff der Bevölkerung und
damit auch teilweise ursächlich für das Versagen des afghanischen Staates gewesen sein
müssen. Die politische Fragmentierung der Macht in verschiedene traditionelle Eliten bildet
die grundlegende Last, unter welcher der Aufbau staatlicher Herrschaft seit Anbeginn der
eigentlichen afghanischen Geschichte zu leiden hatte. Zentralisierte Staatsgewalt an der Spitze
kann demzufolge stets nur mit der Zustimmung und Trägerschaft dieser lokalen Eliten und
Machthaber geschehen, was durch die häufige (ex post) Einberufung einer Loya jirga belegt
wird.
Die Konsolidierung zentralstaatlicher Souveränität gelang letztlich nur mit Hilfe der fremden
Kolonialmächte, welche den afghanischen Staat durch ihre Unterstützung von der
ursprünglichen Machtgrundlage der Stämme unabhängiger machen wollten. Durch diesen
Einschnitt in der Phase des Kolonialismus wurde die „Tradition“ gebrochen, nach der sich
Machtwechsel häufig und gewaltsam vollziehen, was der Durrani-Dynastie die dauerhafte
Etablierung ermöglichte. In jener jüngeren Phase des relativ stabilen Königtums (1880-1973)
haben staatliche Reformmaßnahmen mehrmals negativ prägenden Einfluss auf die Mentalität
erlangt, wenn etwa Staatstätigkeit als unrechtmäßiger Eingriff verstanden wurde (Steuern,
Wehrpflicht). Andere Maßnahmen sind teilweise fehlerhaft oder unvollständig umgesetzt
worden, beispielsweise bei der Frage der Einbindung neu entstandener Gruppierungen in den
politischen Prozess.
Bei allem Bemühen jedoch zeigt sich wiederholt der negative Einfluss der „vormodernen“
Sozialstruktur der Gesellschaft beispielsweise darin, dass auch im sich modernisierenden
Gemeinwesen Stammesführer das politische System zum Betreiben partikularistischer
Klientelpolitik gebrauchen. Der wiederholte breite Widerstand der Bevölkerung gegen
Reformanstrengungen der Regierung muss in diesem kulturellen und sozialen Kontext
gesehen werden. Bemerkenswert dabei ist, dass jener Gegendruck ausblieb, wenn
Modernisierung im Einklang mit kulturellen Werten vermittelt wurde.
3. Strukturfaktoren –
Analyse der landestypischen, sozioökonomischen und kulturellen Gegebenheiten
Die Probleme staatlichen Versagens in Afghanistan sind nicht nur in bestimmten historischpolitisch bedingten Prozessen zu suchen, sondern auch in strukturellen Gegebenheiten, die
seit Siedlungsbeginn bis heute starken Einfluss auf die gesellschaftliche, politische Mentalität
nehmen.
3.1 Landesspezifische Faktoren und Infrastruktur
Als am stärksten prägender Faktor ist zu nennen, dass der sich weitläufig durch das Land
ziehende Hindukusch große Gebiete Afghanistans unzugänglich macht. Besonders in den
harten Wintermonaten sind einige Bergvölker nahezu isoliert. Diese „Gebirgigkeit des Landes
war für die herrschaftliche Durchdringung stets ein wesentliches Hindernis“ (Schetter 2004:
20). Durch die klimatischen und geographischen Gegebenheiten war damit dauerhafte
Ansiedlung hauptsächlich in den rar gestreuten Oasen möglich, die sich zu den Großstädten
Herat, Kandahar, Kabul und weiteren entwickelten (Schetter 2004: 19). Diese strukturell
vorgegebene Problematik des Herrschaftszugriffes wird durch die mangelhaft ausgebaute
Infrastruktur verstärkt: Lediglich 24 Kilometer Schienennetz konnten verlegt werden. Das
Straßennetz, das sich in desolatem Zustand befindet, umfasst nur 50 Meter Straße pro
Quadratkilometer des Territoriums. Diese Daten in Verbindung mit den Klimaverhältnissen
und dem gänzlich fehlenden Zugang zu Elektrizität und Wasserversorgung machen den
Zugriff auf das Staatsterritorium im westlichen Sinne geradezu unmöglich. Die Errichtung
eines modernen politischen Systems ist unter diesen Voraussetzungen erschwert: So kann
beispielsweise die Vorbereitung von Wahlen und Parteibildung bzw. Parteiwerbung nach dem
Konzept der „afghanische[n] Eigenverantwortung“ (Wilke 2004: 13) ohne ein bestehendes
weit reichendes Telekommunikationsnetz kaum stattfinden. Logistischer Zugang zum
Staatsvolk ist kaum möglich, wenn ganze Bevölkerungsgruppen monatelang ohne Verkehrsund Medienanbindung verbleiben müssen. Die Erschwernis demokratische Elemente wie
Wahlen zu erfüllen wird zum entscheidenden Faktor, wenn es um die Errichtung einer echten
Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft geht, die für eine Demokratie notwendig sind.
3.2 Sozioökonomische Faktoren
Die durch das Klima erschwerte Landwirtschaft, die sich auf den Anbau von Feldfrüchten und
Viehzucht beschränkt, prägte ein bestimmtes Wirtschaftssystem und daraus resultierende
soziale Strukturen. Letztere sind eng mit dem Stammeswesen verbunden, sollen im Folgenden
aber besonders auf ihre wirtschaftlichen Ursachen zurückgeführt werden, um dann die
Auswirkungen auf den Staatsaufbau zu analysieren. Die geschilderten Klimaverhältnisse und
die Tatsache, dass drei Viertel des Staatsgebietes landwirtschaftlich nicht nutzbar sind,
brachte vor allem bei der Stammesgruppe der Paschtunen eine nomadische Lebensweise im
Hochland und den Steppen hervor. 1 Um trotz der schwankenden Niederschläge ganzjährlich
Erträge erhalten zu können, müssen die Nomaden eine „jährliche Wanderung aus
Zentralafghanistan zum Indus“ (Schetter 2004: 83) über Pakistan zur Weidung des Viehs
durchführen. Dies erzeugte eine siedlungsbedingte „Aufweichung“ der ostafghanischen
Grenzen zu Pakistan, weshalb das eigentliche Siedlungsgebiet der Paschtunen bis heute weit
in das Nachbarland hineinreicht (so genannte „Paschtunistan-Frage“ bei Schetter 2004: 81ff.)
und starke Grenzstreitigkeiten bewirkte.
Im größeren wirtschaftlichen Handlungsrahmen in den Oasenstädten entstand schon früh eine
hohe urbane Handelskultur, die sich aktuell durch einen Industrialisierungsboom verstärkt,
wodurch allerdings eine gravierende Kluft zwischen Stadt und Land bis heute die Gesellschaft
prägt (Schetter 2004: 143). Traditionell ist der Landbesitz auf Großgrundbesitzer verteilt, die
zugleich Stammesführer sind und damit als faktische Herrscher über ein Gebiet und seine
Bevölkerung angesehen werden können, da 67 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft
tätig sind. Das war nicht immer so: Ein großer Fehler im frühen Staatsaufbau Afghanistans
war das Einsetzen von Mittelsmännern. Unter Habibullah I. erfolgte eine „Desintegration der
zentralstaatlichen Herrschaft“ (Grevemeyer 1990: 57), da seine Regierung „Angehörige[...]
der ländlichen Oberschicht als Mittelsmänner“ (Grevemeyer 1990: 58), meist Stammesführer,
gegen die starken Provinzgouverneure eingesetzt hatte. Durch die mangelnde dauerhafte
Anbindung dieser Führungspersönlichkeiten an den Staat konnten sie politische und
wirtschaftliche Macht akkumulieren, „eine der wesentlichsten Veränderungen innerhalb der
‚traditionalen’ Gesellschaft Afghanistans“ (Grevemeyer 1990: 59), denn der Staat konnte
selbstverschuldet nur „durch die Vermittlung der dörflichen oder tribalen Oberschicht auf die
Bauernschaft Einfluß nehmen“ (Grevemeyer 1990: 59). Dies hatte langfristig mehrere
1
Insgesamt bis zu einem Drittel der Bevölkerung sind Nomaden (Grevemeyer 1990: 55).
Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: „Staat“ bezog sich
auf das Politische, begrenzt auf Kabul, „Gesellschaft“ und „Wirtschaft“ bezogen sich auf den
ländlichen Bereich. Wichtige wohlfahrtsstaatliche Elemente wie Steuereintreibung, aber auch
die Truppenaushebung, waren damit Sache lokaler Patrone. Diese Zuordnung erklärt, dass
heute noch der Aufbau einer staatlich gelenkten Friedenswirtschaft und die Überwindung der
Milizen durch eine afghanische Armee als schier unüberwindbare Aufgaben erscheinen.
Auch der bürokratische Aufbau war von wirtschaftlichen Interessen überlagert worden:
Regionale Bürokraten, meist in Person der Stammesführer, „richteten ihre Loyalität nicht
abstrakt auf die Bürokratie, sondern begriffen ihr Amt in ganz traditioneller Manier als
persönliches ‚Lehen‘“ (Grevemeyer 1990: 79), ähnlich der Pfründenpolitik im europäischen
Mittelalter und früherer Neuzeit. Die enge Verknüpfung von Wirtschaft und Gesellschaft trat
im Speziellen 1979 durch die gescheiterte sozialistische Landreform zu Tage, die unter
Ignorieren der traditionellen Lebensweisen die „sozialen Sicherungssysteme [...]“
(Grevemeyer 1990: 127) gefährdete, da die ländliche Gesellschaft entgegen dem
marxistischen Modell nicht nur feudal, sondern auch (interessens-) ausgeglichen war. Diese
Faktoren wirken bei den aktuellen Demilitarisierungsversuchen hemmend, da mit dem
Bürgerkrieg die altbewährte Kriegskultur erfolgreicher kleiner Gruppen im Kampf
(Grevemeyer 1990: 129) neue wirtschaftliche Trägerschichten hervorgebracht hat in Form
von bewaffneten, stammesunabhängigen Milizführern.
Resultat der Geschehnisse von 1979 war auch ein neuer Wirtschaftszweig: der Drogenanbau.
Diese Schattenwirtschaft nahm besonders nach dem Sturz der Taliban 2001 sprunghaft zu, so
dass Afghanistan im Jahre 2006 ganze 92 Prozent der gesamten Weltproduktion an Opium
stellte. Jene enge Verflechtung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Stamm zeigte sich
nach 2001, da die „Sicherheit der einzelnen Stämme [davon abhing], inwieweit sich deren
Führer als fähig erwiesen, ökonomisches Kapital in politisches umzuwandeln“ (Lanik 2006:
151). Damit kam es zu einer Fortführung der traditionellen Verbindung von wirtschaftlicher
und militärischer Stärke (durch lokale Milizen). Die so genannten warlords stiegen auf,
setzten sich zum Teil in den Städten fest und kontrollierten einzelne Landesteile (Lanik 2006:
150).
Zusammenfassend ist folglich zu sagen, dass vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts eine
Mediatisierung der ländlichen Bevölkerung erfolgte. Staat und Wirtschaft wurden strikt
getrennt, ebenso Stadt und Land. Stammesführer erhielten politische und wirtschaftliche
Schlüsselpositionen. Die mehrheitlich nomadisch lebenden Paschtunen ohne Landbesitz
wurden grenzüberschreitend wirtschaftlich tätig, akzeptierten mangels Feudalherren keine
Zentralgewalt, die ihnen ihrerseits keinen Schutz oder Wohlfahrt bot, und haben bis heute
keinen Anreiz, sich einem Souverän unterzuordnen. Verarmungstendenzen durch den Krieg
der 1990er Jahre verstärkten die Abhängigkeit der Bauern besonders im Mohnanbau; hinzu
kommt die Abhängigkeit von ausländischer Entwicklungshilfe. Diese kurz- und langfristigen
Strukturursachen erschweren den Aufbau einer stabilen, vom Zentralstaat mitkontrollierten
Wirtschaft und die Trennung von Wirtschaft und lokaler politischer und militärischer Gewalt.
3.3 Ethnisch-kulturelle Faktoren
Im Folgenden sollen hauptsächlich die Paschtunen und ihre Stammestraditionen behandelt
werden, da sie das eigentliche „staatstragende“ Volk waren und sind, welches zur
Legitimierung jeder Herrschaft zumindest in Sachen Vertrauensbekundung maßgeblich
gewesen ist. Hinzu kommen die nichtwirtschaftlichen Aspekte des gesellschaftlichen Aufbaus
und die aktuellen politischen Leitideen, zu denen auch der „Neofundamentalismus“ (Wilke
2004: 11) der Taliban gehört.
Durch
vier
wesentliche
Stammesgruppierungen
verschiedenster
Sprachfamilien
ist
Afghanistan seit jeher Vielvölkerstaat. Die sunnitischen Paschtunen machen 42 Prozent der
Bevölkerung aus. Aus dem nördlichen Tadschikistan stammende sunnitische Tadschiken
stellen 27 Prozent. Sunnitische Usbeken und schiitische Hazara machen jeweils 9 Prozent aus.
Die Paschtunen berufen sich auf einen Stammesvater (Schetter 2006b: 139), einen
Stammeskodex, paschtunwali, und die lose Klammer gesellschaftlicher Organisation, der
Ratsversammlung jirga. Der Ehrenkodex paschtunwali definiert eine stark egalitäre
Gesellschaft, die Hierarchien verbietet und politischen Konsens fordert. In einem negativen,
feindseligen Weltbild (Schetter 2004: 25f.), bei dem jedes männliche Stammesmitglied seine
Ehre und seinen Besitz durch andere Männer gefährdet sieht, ist die Wahrung der Ehre
(Nang/Namus; hierzu: Orywal 2006: 113) über den Schutz des materiellen Besitzes, auch über
die Schamhaftigkeit der weiblichen Familienmitglieder, wesentlicher Bestandteil der Kultur.
Die Verteidigung dieser Ehre ist ermöglicht über Tura (Orywal 2006: 114), das Schwert, also
über die physische Gewalt der Blutrache. Jener „interkulturelle [...] Konsens gewalttätiger
Ideale“ (Orywal 2006: 116) im muslimischen Raum erschwert Konzepte der internationalen
Gemeinschaft zur Entwaffnung des Einzelnen, Durchsetzung der Menschenrechte und
demokratischer Prinzipien, die dem geltenden Ehrenkodex entgegenstehen.
Angesichts der Tradition des paschtunwali erscheint es als besonders schwerwiegend, dass
ein Großteil der Paschtunen, bis zu 85 Prozent, infolge einer großen Fluchtbewegung nach
Pakistan nach dem Ende der Herrschaft Zaher Schahs 1973 von Herkunft und Stammeskultur
entwurzelt wurden. Die folgenden Generationen verbrachten ihre Jugend nur in
Flüchtlingslagern, was bei ihrer Mehrzahl eine traumatische Prägung und Identitätskrise zur
Folge gehabt haben dürfte. Sowohl unter den in Afghanistan verbliebenen Paschtunen als
auch unter den Geflohenen hatte die Entwurzelung eine Anfälligkeit für radikal-islamistisches
Gedankengut zur Folge. Religiöse Führer brachten neue Inhalte und füllten die Lücke der
fehlenden
Stammesführer
(Schetter
2004:
105).
Besonders
erfolgreich
war
die
„Netzwerkideologie“ (Wilke 2004: 12) der neofundamentalistischen Taliban, die eine fiktive
muslimische Glaubensgemeinschaft predigen und alte Feindbilder fördern. Der über den
Islam hinausgehende Frauenhass und gewalttätige Parolen sind Ausdruck „psychisch und
physisch kriegsversehrter Koranautodidakten“ (Wilke 2004: 12), die von der neuerlichen
Demütigung durch die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland gefördert wurden.
Konzepte wie das der Coalition against Terror sind allein deshalb zum Scheitern verurteilt,
weil die Taliban Teil einer Gesellschaft sind und sich die Frage einer Eliminierung einer
ganzen „politische[n] Bewegung“ (Wilke 2004: 12) stellt. Festzuhalten ist sicherlich, dass das
weit zurückreichende feindselige Weltbild und der Stammeskodex als solcher eine mangelnde
Bereitschaft verursachen, Souveränitätsrechte abzugeben und demokratische, westliche Werte
anzunehmen. Durch die Identitätskrise fehlt bei den Paschtunen ein Element, das staatliche
Gewalt legitimieren würde, fast gänzlich, was sich in der aktuellen Regierung widerspiegelt,
da nur Präsident Karzai die Paschtunen in der Regierung repräsentiert.
3.4 Religiöse Faktoren
Der Islam ist das „umfassende [...] Glaubens-, Denk- und Rechtssystem“ (Rzehak 2006: 126)
in Afghanistan. Weil „die islamische Gemeinschaft ohnehin wenig Unterschiede zwischen
Rassen, Sprachen und Nationalitäten macht“ (Rzehak 2006: 128), hatte der Islam seit der erst
im 10. Jahrhundert überall durchgreifenden Islamisierung staatsrechtlich eine legitimierende
Funktion inne und die meisten Herrscher beriefen sich, wie auch Präsident Hamid Karzai, seit
jeher auf ihn. Tatsächlich stellt die islamische Religion das einzige einigende Band der
Stämme dar, weshalb verwestlichende und säkularisierende Modernisierungspolitik wie in
den späten 1970er Jahren schnell auf zumeist paschtunischen Widerstand traf (Schetter 2004:
96ff.). Staatliche Strukturen, die sich auf das Prinzip einer islamischen Gesellschaftsordnung
(z.B. Einbettung der Scharia in ein „säkulares Rechtssystem“, vgl. Schetter 2004: 88)
stützten, waren allzeit erfolgreicher. Der politische Islam, „eine vergleichsweise junge
Erscheinung“ (Rzehak 2006: 136), und derjenige in radikaler Ausprägung füllten nach Abzug
der Sowjetunion aus Afghanistan 1989 die Lücke, die verschwindende politische
Stammestraditionen in den Strukturen des Gemeinwesens hinterließen. Der traditionelle Islam
wurde vom fundamentalistischen verdrängt, bei dem eine „alte [...] religiöse [...] Elite“
(Grevemeyer 1990: 131) erstmals als politische Führung auftrat. Im Bürgerkrieg konnten
diese Positionen auch „islamische Internationalisten“ (Grevemeyer 1990: 132) erringen, eng
verbunden mit den mujaheddin und dann den Taliban. Folglich ist der traditionelle Islam in
Afghanistan ursprünglich ein Herrschaft legitimierendes, stabilisierendes Element, das durch
soziale
Entfremdung,
Armut
und
Aussichtslosigkeit
zu
seinem
radikalen,
internationalistischen Pendant wurde, das nationalstaatlichen Bestrebungen klar entgegensteht
(Grevemeyer 1990: 132).
4. Aktuelle Lage – Staatliche Neuordnung durch die internationale Gemeinschaft:
Probleme und Lösungsmöglichkeiten
4.1 Kriegshandlungen 2001 und Ausgangslage
Bereits vor Beginn der Kriegshandlungen Ende 2001 herrschte grundlegende Uneinigkeit der
internationalen Akteure hinsichtlich der Neuordnung Afghanistans und der Vorgehensweise:
Die Vereinten Nationen bevorzugten eine friedliche Neuordnung ohne die extreme Variante
eines Protektorates nach dem Vorbild des Kosovo (CMI-Artikel 2002: 5). Für die USA hatte
der Anti-Terror-Kampf oberste Priorität, weniger das eigentliche nation-building. Gleichzeitig
lag Afghanistan, wie schon seit jeher, im Interessengebiet seiner Anrainer Iran, China,
Pakistan und Russland. Anlass an sich für ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft
waren die Anschläge auf die USA am 11. September 2001 gewesen, hinter denen die USAdministration den Araber Osama bin Laden, dessen Aufenthaltsort in Afghanistan
angenommen wurde, und das Terrornetzwerk Al-Qaida vermutete. Dieser aktiven Aufnahme
von Kriegshandlungen gingen einige UN-Resolutionen, unter anderen Nr. 1333 vom 19.
Dezember 2000 gegen die Politik der Taliban (Stahel/Geller 2006: 76), voraus, deren
Wirkung durch die Stillhaltetaktik der Clinton-Administration untergraben worden war. USPräsident George W. Bush entschied sich für eine Kriegsführung, die hauptsächlich von
„Geheimdienste[n], Spezialeinheiten und […] Luftwaffe“ (Stahel/Geller 2006: 79) sowie der
afghanischen Nordallianz ab dem 7. Oktober 2001 in der Operation Enduring Freedom
getragen und am 22. Dezember 2001 mit der Vertreibung der Taliban aus allen Hauptstädten
erfolgreich durchgeführt wurde. Die Strategie der Kriegshandlungen gibt schon Aufschluss
über die spätere Aufbauplanung: Alliierte Flächenbombardements ermöglichten den
alleinigen Truppen-Vormarsch der afghanischen Nordallianz Richtung Süden und Kabul, also
wurde hier die Hauptkriegsführung den afghanischen Widerständlern selbst überlassen
(Stahel/Geller 2006: 79).
Für die Situation nach der eigentlichen Befreiung von den Taliban Ende 2001 kann man von
folgenden Rahmenbedingungen (Schetter 2006a: 82) für den Staatsaufbau sprechen:
Millionen von Flüchtlingen fanden sich in menschenunwürdigen Lagern ein; eine weit
reichende Verminung gefährdete Zivilisten und Soldaten; die Infrastruktur war komplett
zerstört und die Verfügbarkeit von Gewalt ging größtenteils wieder in die Hände von
Islamisten und privaten Gewaltakteuren über, die Dank des Drogenanbaus Arbeit zuverlässig
bezahlen konnten. Folglich wurde Afghanistan erst nach dem Befreiungskrieg 2001 zum
echten failed state, geprägt von völliger Fragmentierung und Anarchie.
4.2 Ansätze der staatlichen Neuordnung durch die internationale Gemeinschaft
Einigen konnten sich die internationalen Akteure letztlich darauf, zuerst eine Regierung
aufzubauen, das so genannte state-building, und dann den Demokratieaufbau, das nationbuilding, dem neu gebildeten Staat zu überlassen. „The strategy of the international
community is [therefore] closer to the minimalist extreme than the maximalist” (CMI-Artikel
2002: 5f.).
Im Dezember 2001 machte die Petersberger Konferenz bei Bonn unter Beteiligung der
wichtigsten Exilgruppen, unter anderem die Romgruppe um den Exilkönig, den Paschtunen
Hamid Karzai zum Präsidenten einer Übergangsregierung. Die UN setzten ebenfalls 2001 in
Kabul die internationale Sicherheitstruppe International Security Assistance Force (ISAF)
ein, die bis heute aber hauptsächlich auf die Hauptstadt beschränkt ist, ebenso wie die meisten
westlichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). 2 Im Juni 2002 konnte eine große
Ratsversammlung, die Emergency Loya jirga, die Übergangsregierung Karzai bestätigen,
während sich eine verfassunggebende Loya jirga erst im Januar 2004 auf eine Islamische
Republik Afghanistan auf der Basis demokratischer Prinzipien einigen konnte (Schetter
2006a: 85). Unter hoher Wahlbeteiligung ging Hamid Karzai aus den Präsidentschaftswahlen
im Oktober 2004 erneut als Sieger hervor und bildete eine Regierung, die sich bis heute wie
folgt zusammensetzt: Karzai als demokratisch gewählter Präsident, der allerdings einer
Stammesgefolgschaft entbehrt, die tadschikischen Panjiri, die als ehemals wichtigster Teil der
Nordallianz immer noch unter dem Einfluss der mächtigsten warlords stehen und die
Schlüsselministerien besetzen, sowie die technokratischen Beiruti Boys, Exilafghanen mit
amerikanischem Hintergrund und ohne jedwede Basis im Land (Schetter 2006a: 85f.).
Ein wichtiger und auch durchaus richtiger Schritt erfolgte im Herbst 2002 auf deutsche
Initiative hin, als ein Wiederaufbauprogramm mit kleinen, lokal agierenden militärischen und
zivilen Einheiten (Provincial Reconstruction Teams, PRTs) zur Unterstützung der Selbsthilfe
der afghanischen Regierung über Kabul hinaus ins Leben gerufen wurde. Neben der
Sicherheitssektorreform
Sicherheitskräften
und
durch
der
Ausbildung
von
Demilitarisierung
militärischen
der
und
Milizen
polizeilichen
gehören
auch
Infrastrukturmaßnahmen und Vermittlung der NGO-Hilfe zu ihrem Aufgabenspektrum
(Wilke 2003: 1). Man einigte sich generell auf eine internationale Arbeitsteilung im Sinne von
„Führungsnationen“ (Wilke 2004: 13) mit Zuständigkeit für den Aufbau bestimmter Sektoren.
Zukunftsweisend und eine Neuerung in der state-building-Strategie der internationalen
Gemeinschaft
war
das
Musa-Qala-Protokoll
Ende
2006,
„durch
indirekte,
über
Stammesführer vermittelte Abmachungen mit lokalen Taliban eine Stabilisierung kleinerer
geographischer Einheiten in Süd-Afghanistan zu erreichen“ (Ruttig 2007: 1).
4.3 Problemlagen des Staatsaufbaus: Kritik und aktuelle Lage
Aufgrund der tabula-rasa-Situation Afghanistans nach der Intervention hatten die
internationalen Akteure ein großes Spektrum an Möglichkeiten zur Wahl, von denen sehr
viele intensiv genutzt wurden, und in Form der PRTs auch echte Innovationen darstellten.
Doch die von Human Rights Watch als „Klima der Angst“ bezeichnete Situation in weiten
Teilen Afghanistans bestätigt keine nennenswerten Erfolge des Staatsaufbaus.
2
Zur ausführlichen Darstellung der UNAMA siehe den Beitrag von Mujic/Schmalz in diesem Band, inbesondere
Kapitel 4.2.1.
Welche Probleme ergaben sich also in der Vorgehensweise, welche Fehler wurden begangen
und wie lässt sich die aktuelle Lage und Qualität des Staates definieren? Bereits die
Vorberatungen des Staatsaufbaus erfolgten unter Beteiligung von Exilgruppen, welche weder
kohärente politische Gruppierungen bildeten noch praktisches Interesse an einem
unabhängigen, effizienten afghanischen Staat hatten. Im Allgemeinen ist dieses Ziel bei den
wenigsten Afghanen und in der Regierung zu erkennen (CMI-Artikel 2002: 6). Unter anderem
sind die Ursachen hierfür in den tragenden Gruppierungen der Karzai-Regierung zu suchen,
die entweder über wenig politische Basis in der Mehrheit der Bevölkerung verfügen oder als
völlige Fremde empfunden werden. Besonders diese mangelnde Unterstützung Karzais wird
verstärkt durch eine schwache Legislative: Die Wahlen ohne „Parteienbasis“ (Maass 2006: 2)
entzogen den Parlamentshäusern Wolesi Jirga und Meshrano Jirga die Möglichkeit der
Fraktionsbildung. Als dem state-building im westlichen Sinne zuwiderlaufend, aber im Sinne
der afghanischen Tradition stehend, ist der „Regierungsstil des Präsidenten [als der; d.V.]
eines supreme khan“ (Maass 2006: 2) zu bewerten. Diese Position führte zu Konflikten
innerhalb der Regierung: Häufige Seitenwechsel durch die Parteilosigkeit und „Händel“
(Maass 2006: 3) erzeugten Probleme in der Koordinierung, Transparenz und langfristigen
Politikausrichtung; Karzai musste konservativ-islamistischen Gruppierungen immer wieder
Zugeständnisse machen. Hervorgerufen durch die Entkopplung von der Bevölkerung sah sich
Karzai zudem gezwungen, zur Machterhaltung lokale Potentaten unlegitimiert in die
Staatsgewalt einzubinden, was die Konsolidierung der demokratisch legitimen Regierung
wiederum untergrub: Diese Konzessionen an die faktischen Machthaber stellen implizit ein
Eingeständnis des Scheiterns dar (Wimmer/Schetter 2002: 11f.). Überhaupt hat die frühzeitige
Einrichtung demokratischer Wahlen mit ethnischem Proporz angesichts einer schwach
ausgeprägten Zivilgesellschaft hohe Frustration in der Bevölkerung erzeugt. Ein mangelndes
Demokratieverständnis schürte Existenzängste bei den unterlegenen Gruppierungen. Die
Oktroyierung eines zentralistischen Systems stand im Widerspruch zur landestypischen
Tradition staatlicher Herrschaft (Schetter 2004: 144 und Wimmer/Schetter 2002: 18).
Zu jenen innerafghanischen Staatsbildungsproblemen gesellen sich Fehlentscheidungen der
internationalen Gemeinschaft beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen. Besonders die
kurzfristige Finanzierung von unsicheren sozialen Projekten hat die Entstehung von
Parallelstrukturen und eine neue Form von „Klientelismus“ (Wimmer/Schetter 2002: 14)
begünstigt. Solche zivilgesellschaftlichen Fehlentwicklungen haben langfristig „[n]eue
Abhängigkeiten und fehlende Nachhaltigkeit“ (Wimmer/Schetter 2002: 14) zur Folge. Das
minimalistische Überlassen der conflict ownership und des nation-building bei den Afghanen
„with the goal of a democratic, secular state with a functioning economy and civil society is
unrealistic in places such as Afghanistan“ (CMI-Artikel 2002: 5). Die afghanische Regierung
vermochte es bisher nicht, die Kriegstraumata aufzuarbeiten und einen effizienten Justizsektor
zu schaffen, da sowohl die zwingende Übereinstimmung mit der Scharia als auch die
mangelnde Beweisführung der Kriegsverbrechen Hindernisse darstellen. Das Konzept der
PRTs, der „light footprint approach“ (Wilke 2003: 5), also eine Art Hilfe zur Selbsthilfe,
konnte den lokalen Gewaltmarkt nicht in ein staatliches Gewaltmonopol überführen oder den
grenzüberschreitenden Terrorismus eindämmen. Der „Geburtsfehler“ (Wilke 2003: 6) der
PRTs wie auch der ISAF liegt in der doppelten Zuständigkeit sowohl in Fragen des zivilen
Wiederaufbaus als auch im Antiterrorkampf im Rahmen der Operation Enduring Freedom,
wodurch die internationale Gemeinschaft einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung erlitten
hat. Das auf allgemeine frontenübergreifende Kooperation abzielende Musa-Qala-Protokoll
hat durch sein Scheitern einerseits die Stammesführer düpiert und Zweifel an der
Glaubwürdigkeit der Kabuler Regierung sowie der Alliierten erregt. Dieser Vertrauensverlust
droht andererseits die Khane als Vertrauenspersonen der Bevölkerung zurück in die Arme der
Taliban zu treiben (Ruttig 2007: 3).
Aus diesen Problemlagen resultiert eine momentane Situation, die für den Süden durch
wechselnde Loyalitäten der warlords und steten Terror sowie durch Kriegsökonomie
weiterhin von Anarchie und Gewalt geprägt ist (Chiari 2006a: 93f.), im Norden nach
anfänglicher Stabilisierung durch den russischen Truppenabzug Juni 2005 destabilisierte
Grenzregionen (Chiari 2006a: 95) und durch aufblühende urbane Zentren einen schwelenden
„Konflikt zwischen Stadt und Land“ (Schetter 2004: 143) aufweist. Laut Wilke verfügt damit
Afghanistan immer noch über die Qualität eines failed state: Die Gewaltkompetenz fehlt, weil
Entmilitarisierung und die „simultane Doppelstrategie von Friedenskonsolidierung und
Terrorismusbekämpfung“ (Wilke 2004: 14) gescheitert sind, bedingt durch die VierSäulenstrategie der internationalen Gemeinschaft, 3 das Prinzip der „lead nations“ (Wilke
2004: 13) sowie die horizontale und vertikale Zersplitterung der Herrschaftsgewalt.
„Extraktionskompetenz“ (Wilke 2004: 17) und Wohlfahrtsmaßnahmen setzen sich nicht
gegen die verfestigte Kriegsökonomie durch, die mit der politischen Gewalt verbunden bleibt.
Die „Inkongruenz von Staat und Gesellschaft“ (Wilke 2004: 18) verhindert die Ausbildung
einer Rechtskompetenz, auch weil drei Rechtssysteme nebeneinander existieren und die
3
United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA), International Security Assistance Force (ISAF),
Provincial Reconstruction Teams (PRTs) und Operation Enduring Freedom (OEF), vgl. Wilke 2004: 15.
Scharia-Frage nicht gelöst ist. Afghanistan verfügt auch nicht über eine Außenkompetenz und
bleibt abhängig von internationalen Akteuren, da diese den Fehler begingen, die
Nachbarstaaten nicht einzubeziehen (Wilke 2004: 20).
4.4 Lösungsansätze und Schlussfolgerungen
Offensichtlich sind weder das nation-building noch das fundamental wichtige state-building
bisher erfolgreich verlaufen. Die nation-building-Ziele durch die Einrichtung langfristig
konzipierter Treuhandfonds statt kurzfristiger Missfinanzierungen sowie die Ausbildung einer
staatsloyalen Beamtenschicht (Wimmer/Schetter 2002: 16) müssen folglich ihre Bedeutung
behalten, aber einer echten Reform des Sicherheitssektors erst folgen (Wilke 2004: 23). Da
die Kabuler Regierung noch zu schwach ist, sind die „Förderung lokaler Institutionen“ (Wilke
2004: 25) und starke zivile PRTs unter großer afghanischer Beteiligung und mit Übernahme
staatlicher Aufgaben als oberstes Ziel zu nennen. Entgegen Wilkes Meinung (Wilke 2004: 24)
ist allerdings ein Zentralstaat abzulehnen. Die Einbettung in die föderale und die regionale
Tradition zusammen mit den Nachbarstaaten entspräche vielmehr der politischen Kultur
effektiver afghanischer Herrschaftsgewalt. Der langfristig angelegte Transformationsprozess
nach dem eigentlichen state-building muss sich daher an der tatsächlichen politischen
Tradition des Landes orientieren. Die althergebrachte Form der staatlichen Legitimation muss
der Demokratisierung vorangehen, damit letztere durch ihre „Neuheit“ in der afghanischen
Geschichte nicht die Legitimität der Regierung von Beginn an untergräbt.
Die Analyse der Prozess- und Strukturfaktoren hat in diesem Sinne gezeigt, dass der
Staatszerfall in Afghanistan einerseits nicht als singuläres, kollapsartiges Ereignis betrachtet
werden kann und dass andererseits seine Ursachen und Folgen mit Sensibilität für die
besonderen Tiefenstrukturen des Landes angegangen werden müssen. Abschließend
betrachtet bietet die These des chronischen Problems des staatlichen Versagens damit sowohl
ein realistischeres Bild der Lage und somit auch eine bessere Grundlage zur Erarbeitung von
Lösungsstrategien.
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