Warum Jura als Studienfach?

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Bettina Noltenius
„Warum Jura als Studienfach?“
Überarbeiteter Vortrag von Frau Dr. Bettina Noltenius,
Rechtsphilosophisches Seminar
am Bonner Hochschultag am Dienstag, 15.02.2011
„Warum
sollten
Abiturienten
Rechtswissenschaft
als
Studienfach
wählen?“ Die Schwierigkeit einer Antwort auf diese Frage besteht für Sie als
Schüler vermutlich darin, dass es sich bei dem Jurastudium um ein Fach
handelt, welches Sie nicht wie beispielsweise Mathematik oder Physik aus der
Schule als Pflichtveranstaltung kennen. Einige haben aus Filmen, Büchern oder
auch von der eigenen Familie oder deren Freundeskreis eine bestimmte
Vorstellung vom Anwaltsberuf, vom Richteramt oder einem Staatsanwalt.
Manche denken vielleicht auch, dass man mit einem solchen Studium viel Geld
verdienen, sich endlich ein schnelles Auto leisten kann.
Ein nachvollziehbarer Grund für die Entscheidung zum Jurastudium ist,
dass man sich nicht auf einen bestimmten Beruf festlegt, sondern einem viele
Berufsmöglichkeiten offen stehen. Juristen braucht man fast überall, nicht nur
in der Justiz, sondern auch in der Medienbranche, in der Wirtschaft, in der
Politik. Die Breite der Berufsmöglichkeiten mit ihren unterschiedlichen
thematischen Schwerpunkten zeugt schon davon, dass man von außen kaum
sagen kann, welche konkreten Inhalte ein Jurastudium vermittelt, welche
Anforderungen es an die Studierenden stellt, welche Fähigkeiten Sie als
Studierende mitbringen sollen. Ich möchte jedenfalls davor warnen, allein
deswegen das Jurastudium zu wählen, weil Sie entweder nichts Besseres
gefunden haben, oder weil Sie sich allein am Ziel orientieren, z.B. sich in ein
paar Jahren als reichen Anwalt sehen möchten.
Denn Sie müssen jedenfalls bedenken, dass das Studium selbst eine
gewisse Zeit, d.h. mindestens vier bis fünf Jahre in Anspruch nimmt und
danach noch das Referendariat folgt, welches auch noch einmal zwei Jahre
dauert. Es sind also mindestens sechs bis sieben Jahre, die Sie bewältigen
müssen, bevor Sie Ihr Ziel erreichen können. Die Zeit des Studiums überhaupt
ist nicht nur vom Zeitumfang, sondern auch sonst eine intensive und prägende
Lehrzeit. Denn das Recht beschäftigt sich mit einem Teil von uns selbst. Wir
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Bettina Noltenius
erleben Recht im tagtäglichen Umgang miteinander. Schon der morgendliche
Kauf eines Brötchens beim Bäcker stellt eine rechtliche Handlung dar. Im
Umgang mit anderen Menschen werden wir permanent mit dem „Recht“
konfrontiert. Dieses Recht ist Gegenstand des Jurastudiums. Aufgrund der
thematischen
Bandbreite
des
Faches
werde
ich
nicht
die
jeweiligen
Kernbereiche des Studiums wie Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht
vorstellen, sondern möchte versuchen, Ihnen juristisches Arbeiten näher zu
bringen.
I.
Juristisches Arbeiten ist Begriffsarbeit
Juristische Arbeit ist vornehmlich „Begriffsarbeit“. Handwerkszeug ist
dabei vor allem das Gesetz. Im Jurastudium muss nun nicht das Gesetz
auswendig gelernt werden, das wäre vielleicht sogar noch einfacher zu
bewältigen, sondern es muss ausgelegt und auf konkrete Fälle angewendet
werden.
1. Ich möchte diese Begriffsarbeit anhand eines Falles aus der Praxis, genauer:
aus der Strafrechtspraxis erläutern. Im folgenden Fall ging es um die scheinbar
einfache Frage, wer als Täter einer Straftat anzusehen war. Schauen wir
zunächst das Gesetz an. Wann ist jemand überhaupt Täter einer Straftat? In §
25 Absatz 1 des Strafgesetzbuches heißt es, „als Täter wird bestraft, wer die
Tat selbst begeht oder durch einen anderen begeht“. Dass jemand Täter ist, wer
selbst die Tat begeht, beispielsweise, wer einen anderen mit einer Waffe tötet,
kann man sich noch vorstellen, aber was heißt die Tat „durch einen anderen“
begehen? Dass dies nicht einfach zu bestimmen ist, soll folgendes Beispiel
zeigen. Es ist ein Fall, den der Bundesgerichtshof tatsächlich zu entscheiden
hatte.1 Das ist deshalb bemerkenswert, weil der Entscheidung (vereinfacht)
folgender, merkwürdig anmutender Sachverhalt zugrunde lag:
Der Angeklagte A und das spätere Opfer T lernten sich in den 70iger Jahren des letzten
Jahrhunderts bei einem Diskothekenbesuch kennen. Die T entwickelte zu A eine intensive
1
BGHSt 32, 38.
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Freundschaft. T und A diskutierten viel über Philosophie und Psychologie. A ließ im Verlaufe
der zahlreichen philosophischen Gespräche die T wissen, dass er ein Bewohner des Sterns
Sirius sei. Die Sirianer, so A, seien eine Rasse, die philosophisch auf einer weit höheren Stufe
stünden als die Menschen. Er (der A) sei mit dem Auftrag auf die Erde gesandt worden, dafür
zu sorgen, dass einige wertvolle Menschen, darunter auch die T, nach dem völligen Zerfall
ihrer Körper mit ihrer Seele auf einem anderen Planeten oder dem Sirius weiterleben könnten.
Damit sie das Ziel erreiche, bedürfe die T allerdings einer geistigen und philosophischen
Weiterentwicklung. Als der A erkannte, dass ihm die T vollen Glauben schenkte, beschloss er,
sich unter Ausnutzung dieses Vertrauens auf ihre Kosten zu bereichern. Der A spiegelte der T
vor, in einem roten Raum am Genfer See stehe für sie ein neuer Körper bereit, in dem sie sich
wieder finden werde. Voraussetzung sei aber, dass sie sich erstens von ihrem alten Körper
trenne; zweitens brauche sie für ihr neues Leben ein gewisses Startkapital. Auch für die
Beschaffung eines solchen Startkapitals hatte A eine Lösung: Die T könne sich dadurch das
Geld beschaffen, dass sie eine Unfalllebensversicherung über 500.000,- DM abschließe, ihn
(den A) unwiderruflich als Bezugsberechtigten bestimme und durch einen vorgetäuschten
Unfall aus ihrem jetzigen Leben scheide. A würde ihr dann das Geld in ihrem neuen Leben zur
Verfügung stellen. Ihr jetziges Leben sollte die T dadurch beenden, dass sie sich in eine
Badewanne setzt und einen eingeschalteten Fön in das Badewasser fallen lässt. Die T, die
dem A blind vertraute, folgte den Vorgaben des A. Sie schloss eine Unfalllebensversicherung
ab, setzte sich in die Badewanne und ließ den Fön in die mit Wasser gefüllte Wanne fallen, in
der Hoffnung in ihrem neuen Körper am Genfer See wieder aufzuwachen. Allerdings ging der
Fall – jedenfalls für einen objektiven Dritten – insofern gut aus, als die T beim Baden mit ihrem
Fön nur ein leichtes Kribbeln verspürte und nicht verstarb oder nach ihrer Vorstellung nicht
am Genfer See aufwachte. Das bereitete ihr Sorgen. Sie telefonierte ca. 3 Stunden mit A, der
ihr zur Fortführung ihres Vorhabens immer wieder Anweisungen gab. Allerdings missglückten
die weiteren Versuche ebenfalls. Irgendwann hatte der A keine Geduld mehr und nahm von
weiteren Bemühungen, der T zu „helfen“, aus dem Leben zu scheiden, Abstand. Die T
handelte während der gesamten Zeit in völligem Vertrauen auf die Erklärungen des A. Der
Gedanke, dass sie durch das Baden mit einem Fön ihr Leben beenden würde, kam ihr nicht in
den Sinn.
Sie sehen anhand des dargelegten Beispiels, dass es tatsächlich Fälle,
sogar von Gerichten entschiedene Fallgestaltungen gibt, die sich noch nicht
einmal ein Drehbuchautor von RTL oder RTL II ausdenken kann.
2. Das hat mit dem Gegenstand des Rechts zu tun. Dieses ist ein sowohl von
Menschen gemachtes als auch von ihnen gelebtes Recht. Es spiegelt so auch
die unterschiedlichen Facetten und somit auch die Abgründe der Menschen
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und ihrer Lebenswirklichkeit wider. Zudem zeigt sich hierin die Schwierigkeit
der Bewertung solcher Beziehungsfälle im Recht. Für das Gericht stellte sich
hier – wie zu Beginn bereits erwähnt – unter anderem die Frage, wer denn der
eigentliche Täter der (versuchten) Tötung der T war. Nach § 25 Absatz 1 des
Strafgesetzbuches ist zum einen derjenige Täter, der die Straftat selbst begeht.
Möglicherweise ist die T selbst Täterin. Denn sie ließ selbst bewusst den Fön in
die Wanne fallen und ging jedenfalls auch davon aus, dass sich danach für
ihren Körper etwas verändern würde, sie hoffte am Genfer See wieder
aufzuwachen und ein neues Leben zu beginnen. Insofern könnte man
annehmen, dass die T sich selbst fast getötet hat. Allerdings ist die versuchte
Selbsttötung nicht strafbar. Man könnte ebenso überlegen, ob nicht A derjenige
war, der versucht hat, die T zu töten. Denn § 25 Absatz 1 Strafgesetzbuch sagt
auch, dass als Täter bestraft wird, wer die Tat durch einen anderen begeht. Ein
anderer im Sinne des Gesetzes könnte die T sein, die ja selbst nicht davon
ausging, dass sie sterben würde. Man könnte insofern annehmen, dass A, der
den Irrtum bei T bewusst hervorgerufen und ihr völliges Vertrauen ihm
gegenüber ausgenutzt hat, der eigentliche Täter ist und eben seine Tat durch
die T begangen hat.
Je nachdem also, ob man A hier als Täter ansieht oder nicht, ist er
wegen versuchter Tötung der T zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen oder
straffrei. Das hängt wiederum davon ab, ob man meint, die T habe sich
bewusst selbst töten wollen oder A habe eine versuchte Tötung durch die T
begangen. Die Entscheidung hat damit für den A weit reichende Konsequenzen.
Die genaue Lösung des Falls erfahren Sie in der Vorlesung „Strafrecht
Allgemeiner Teil“, wenn Sie sich entscheiden sollten, dass Jura-Studium
aufzunehmen.2
II.
Rechtswissenschaft als Wissenschaft
2
Der Angeklagte wurde vom Landgericht Baden-Baden u.a. als Täter eines versuchten Mordes (daneben noch
wegen Betrugs, vorsätzlicher Körperverletzung, unbefugter Führung akademischer Grade und einem Vergehen
gegen das Heilpraktikergesetz) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren verurteilt. Der Bundesgerichtshof hat
die Verurteilung wegen versuchten Mordes (darauf war auch seine Revision beschränkt) bestätigt.
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Das Studium des Rechts besteht vor allem in der dargestellten
Begriffsarbeit. Für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Begriffen
genügt es jedoch nicht, die Gesetzestexte zu lesen, sondern für eine Deutung
der Gesetze ist es zudem erforderlich, sich mit ihrer Entstehung, ihrer
Systematik und ihren Zielen auseinanderzusetzen. Dafür ist eine gedankliche
Auseinandersetzung und damit verbunden die Lektüre der einschlägigen
Literatur und der Rechtsprechung erforderlich.
Ferner setzt eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Recht voraus,
dass man den Gesetzen und ebenso Gerichtsentscheidungen auf den Grund
geht. Erforderlich ist es nicht nur, die einzelnen Vorschriften, so wie sie sind,
als unumkehrbare Parlamentsentscheidungen hinzunehmen, sondern man
kann auch an ihnen rütteln und fragen, ob es sich um legitime, um gerechte
Vorschriften oder gerechte Gerichtsentscheidungen handelt.
Beispielsweise stellt sich immer wieder die Frage der Legitimität der
Sicherungsverwahrung. Sollen schwere Straftäter nach der verbüßten Strafe
zum
Schutz
der
Gesellschaft
verwahrt
werden
können?
Oder
ist
es
rechtsstaatlich geboten, wenn jemand seine Strafe verbüßt hat, ihn in Freiheit
zu entlassen? Aus der Sicht der Politik ist es vielleicht erforderlich, eine solche
Sicherungsverwahrung anzuordnen, um beispielsweise das Sicherheitsgefühl
der
Bevölkerung
zu
stärken.
Sie
kann
auch
unter
wirtschaftlichen
Gesichtspunkten sinnvoll sein. So ist eine solche Verwahrung im Ergebnis
vielleicht für den Staat günstiger als eine Bewährungszeit mit Auflagen und der
Gefahr der Begehung weiterer Straftaten. Damit ist aber noch nicht die Frage
beantwortet, ob es auch für den einzelnen Täter eine gerechte Entscheidung ist.
Denn selbst wenn dieser eine furchtbare Tat begangen hat, so bleibt er
Mensch, dessen Würde unantastbar ist. Das sagt auch Artikel 1 Abs. 1 unseres
Grundgesetzes. Auch ein verurteilter Täter ist danach zu behandeln. Das muss
sich das Recht, insbesondere das Strafrecht immer wieder vergegenwärtigen.
Ein weiteres Beispiel ist die Frage der Sterbehilfe. Dürfen die Kinder
einer Wachkomapatientin die künstliche Ernährung ihrer Mutter abbrechen,
wenn keine schriftliche Patientenverfügung ihrerseits vorliegt? Oder handelt es
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sich dann um eine strafbare Form der aktiven Sterbehilfe? Darf sich der
Mensch zum Herrn über Leben und Tod machen? Diese Fragen sind nicht
bloße Gewissensfragen, sondern (straf-) rechtliche Fragen, die sich auch der
Bundesgerichtshof stellen musste.3
All
das
sind
Problemstellungen,
mit
denen
sich
auch
die
Rechtswissenschaft zu beschäftigen hat. Insofern kann man mit dem
römischen Juristen Ulpian sagen, dass die „Rechtswissenschaft die Kenntnis
der
menschlichen
(...)
Dinge,
die
Wissenschaft
vom
Gerechten
und
Ungerechten“ ist.
III.
Fazit
Die Rechtswissenschaft verlangt eine klare Begriffsarbeit, d.h. eine
genaue Analyse juristischer Texte wie Gesetze, Gerichtsentscheidungen und der
dazu erschienen Literatur. Die Rechtswissenschaft setzt aber aufgrund ihres
Gegenstandes zugleich eine Kenntnis des Menschen selbst voraus, um vom
Menschen selbst ausgehend gerechte Entscheidungen finden zu können. Wer
diese Mühen nicht scheut und Interesse an begrifflich genauer Arbeit hat, für
den wird das rechtswissenschaftliche Studium nicht nur ein Wissensgewinn,
sondern auch ein Erkenntnisgewinn vom Menschen und vom eigenen Selbst,
vom eigenen Ich, sein.
3
BGH NStZ 2010, 630.
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