Diabetes in der Wissenschafts- und - IMGWF

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Diabetes in der Wissenschafts- und Kulturgeschichte
D. v. Engelhardt
Med. Universität zu Lübeck, Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte
I Perspektive
"Der Diabetes ist eine rätselhafte Erkrankung. Er ist nicht sehr häufig und besteht in einem Zerfließen
des Fleisches und der Glieder zu Urin". Mit dieser Beobachtung beginnt der Arzt Aretaios aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert seine klassische Betrachtung über den Diabetes. Wird man dem ersten Teil des Satzes zustimmen können, trifft der zweite Teil allerdings heute angesichts der etwa
1,5 bis 2 Millionen an Diabetes Erkrankten in der Bundesrepublik nicht mehr zu.
Von der Antike bis in die Gegenwart wird
von dieser Krankheit berichtet und wird nach therapeutischer
Hilfe gesucht; das empirische Wissen konnte umfassend erweitert, das Leiden erheblich vermindert werden. Aller medizinischer Fortschritt hat diese Krankheit aber bislang noch
nicht zu überwinden vermocht. Macht und Ohnmacht des
medizinischen Fortschritts lassen sich am Diabetes eindrucksvoll verfolgen.
Die entscheidenden Gesichtspunkte der historischen Entwicklung sind auch bei dieser Krankheit Terminologie und Phänomenologie, Ätiologie und Therapie.
Diabetes bedeutet aber stets auch den Kranken als Person mit
Sprache, Bewußtsein und sozialen Beziehungen. Krankheit
stellt grundsätzlich eine physische, psychische, soziale und
geistige Erscheinung dar. Medizin ist Natur- und Geisteswissenschaft.
11 Natur und Geschichte
Die historische Überlieferung führt in die
Zeit der Hochkulturen zurück. Bereits in ägyptischer Zeit
wird von einer Krankheit mit übermäßigem Harnfluß gesprochen, werden spezifische Therapievorschläge gemacht (Ebers,
Papyrus 1500 v. Chr.). Die Bezeichnung Diabetes geht auf
Demetrios aus Apamaia ( 2. Jahrhundert v. ehr.) zurück und
leitet sich von dem griechischen Wort diabeinein = ausschreiten ab, welches substantivisch in jener Epoche als Zirkel und Doppelheber für durchfließende Flüssigkeit gebraucht wird. Andere Bezeichnungen der Antike sind Durchfall im Harn, Durstkrankheit, auch Wassersucht im Nachttopf (hydrops in matulam). Erst im 18. Jahrhundert kommt es
zur sprachlichen Differenzierung von Diabetes insipidus und
Diabetes mellitus (William Cullen und Johann Peter Frank),
Akt. Endokr. Stoffw. 10 (1989) 3-6 (Sonderheft)
© Georg' Thieme Verlag Stuttgart . New York
neben zahlreichen anderen Namen für weitere Nebenarten.
1874 prägt Adolf Kußmaul (1822-1902) den Ausdruck ,Coma
diabeticum' für die "eigentümliche Todesart bei Diabetikern". Etienne Lancereaux (1829-1910) unterscheidet einen
,diabete gras' und einen ,diabete maigre', die nach unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen verlangen. Das
Wort ,Insulin' wird 1909 von dem Belgier Jean De Meyer
(1878-1934) für das hypothetische Pankreas hormon geprägt;
Frederick Grant Banting (1891-1941) und Charles Herbert
Best (1899-1978) übernehmen später diese Bezeichnung,
nachdem sie selbst zunächst das Wort ,Isletin' vorgeschlagen
haben.
Von Aretaios (81-138 n. Chr.) stammt die erste ausgedehnte Beschreibung der Symptome: unerträglicher
Durst, Brand in den Eingeweiden, Abgabe von hoher Urinmenge, akut letaler und chronischer Verlauf. Die Ursache
dieser Krankheit sind nach ihm entweder akute Erkrankung
oder eine Magenerkrankung mit Vergiftung von Niere und
Blase; als Therapie wird von ihm purgieren, milde Diät,
Dampfbäder vorgeschlagen. Aretaios ist wie allen anderen
Ärzten der Antike und des Mittelalters die Süßigkeit des diabetischen Harns allerdings entgangen. Galen (129-199 n.
Chr.) sieht im Diabetes nicht eine Magenerkrankung, sondern ein Nierenleiden; ähnlich der Lienterie (= Durchfall)
soll es sich um ein unverändertes Ausscheiden von Flüssigkeiten handeln. Therapie heißt für Galen in diesem Fall
Überwindung der Säfteschärfe, Verlangsamung der Blutbewegung, Kühlung der Nierenhitze.
Die arabischen Ärzte des Mittelalters setzen
die antike Tradition fort, vertiefen aber auch die überlieferten
theoretischen und therapeutischen Kenntnisse; auch ihnen ist
der süße Geschmack des Diabetikerharns nicht bekannt. Als
Kardinalsymptome gelten weiterhin Polyurie, Polydipsie und
Abmagerung des Körpers. In der Perspektive der antiken Diätetik warnt Rhazes (850-930) vor geistig körperlicher Anstrengung, auch vor sexuellem Engagement (concubitus mulierum). Avicenna (980-1037) hält an der galenischen Verbindung zu den Nieren fest. Von Abd al-Latif al-Bagdadi (11621231) stammt ein spezifischer Diabetestraktat aus dem Jahre
1225. Der byzantinische Arzt Actuarius (13. Jahrhundert) behandelt Diabetes mit Rosenwasser. Im lateinischen Mittelalter wird auf Diabetes kaum eingegangen.
Die Neuzeit ist die Zeit engagierter empirischer Forschungen, theoretischer Interpretationen und therapeutischer Vorschläge. Eine Fülle von Monographien und
Aufsätzen zum Diabetes erscheint im 17., 18. und 19. Jahrhundert und nicht erst in der Gegenwart.
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Akt. Endokr. Stoffw. JO (1989) (Sonderheft)
D. v. Engelhardt
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Paracelsus (1493-1541) gibt die traditionelle
Verknüpfung mit Nieren wie Magen auf und bringt biochemische Prinzipien ins Spiel. Diabetes ist für ihn eine Allgemeinerkrankung, eine Verderbnis der Säfte als entgleister
Verbindung von Sulphur und Salzen im Blut, die in Nieren
übergeht, diese erhitzt und starke Urinausscheidungen verursacht: "Der Diabetes ist nit anders denn ein viel des Harns
und Begierde zu hamen, Ursach dieses Gebrestens ist übrige
Hitze der Nieren". Dämpfe sollen die schädliche Salzbildung
verhindern. Paracelsus kennt zwar prinzipiell die Süßigkeit
des Harns, setzt sie aber nicht in einen Zusammenhang mit
Diabetes.
Erst 1674 entdeckt Thomas Willis (16211675) in der chemiatrischen Tradition die Süßigkeit im Harn
des Diabetikers; erst jetzt kommt es zu dem schmückenden
Zusatz ,mellitus'. Die Identität der süßlichen weißen Masse
nach Eindampfen mit Kolonialzucker wird von Matthew
Dobson (1745-1784) ein Jahrhundert später erfaßt. Die chemisch fundierte Bestätigung der Identität von Harn- und
Traubenzucker erfolgt allerdings erst 1838 durch Apollinaire
Bouchardat (1806-1886) und Eugene Melchior Peligot (18111890). Willis beobachtet auch eine quantitative Zunahme des
Diabetes zu seiner Zeit; die Zusammenhänge zwischen Diabetes und sozialwirtschaftlichen Verhältnissen finden in den
kommenden Jahrhunderten immer wieder Beachtung, einen
Rückgang bemerkt zum Beispiel Bouchardat während der
Kriegsjahre 1870171 in Frankreich.
Hinweise auf die Süßigkeit des diabetischen
Harns gibt es bereits in der chinesischen und indischen Medizin des 2. bis 6. nachchristlichen Jahrhunderts. Über den wissenschaftlichen Status dieser Beobachtungen wureJe in der
Forschung allerdings wiederholt diskutiert; die Auffassungen
sind kontrovers. In jedem Fall sind diese Kenntnisse in die
westeuropäische Medizinentwicklung nicht eingegangen.
Neben der Differenzierung von Diabetes insipidus und Diabetes mellitus sowie Diabetes decipiens (=
Zucker ohne Polyurie) kommt es im Zeitalter der Aufklärung
im Stile der naturhistorischen Klassifikationen von Carl Linne (1707-1778) zu weiteren Untergliederungen durch Boissier
de Sauvages (1706-1767), William Cullen (1710-1790), Johann Peter Frank (1745-1821). In dieser Zeit werden auch solidarpathologische Interpretationen des Diabetes vorgetragen, wie Z.B. von Giorgio Baglivi (1668-1707). Eine pathophysiologische Deutung - unvollständige Verdauung des
Chylus im Blut - vertritt dagegen Thomas Sydenham (16241689). Im 18. Jahrhundert werden ebenfalls Hinweise auf den
hereditären Charakter des Diabetes publiziert.
Die Therapie erhält im 18. Jahrhundert ihrerseits neue Impulse: Dobson plädiert 1775 angesichts der Zukkerausscheidung für eine Verbesserung der Verdauung und
Assimilation. In der überkommenen diätetischen Tradition
wird aber auch weiterhin den Patienten sexuelle Enthaltsamkeit und heiterer Sinn empfohlen (sint animo hilariori aegri, a
Venere plane se abstineant). Entscheidenden Einfluß gewinnt
jedoch John Rollo (gest. 1809) mit seiner Fleischdiät, die er
aufgrund der Behandlung von 48 Diabetikern 1797 vorschlägt. Rollo geht auch auf die psychischen Probleme der
Patienten ein, die wegen des Ekels vor Fleisch und der Lust
auf Pflanzenkost die Diät kaum zu befoigen vermögen (compliance); Rollos Patient Meredith ist an dieser Diät genesen.
Das 19. Jahrhundert führt mit den Forschun- I
gen und Erkenntnissen von Paul Langerhans (1847-1888), !
Gustave-Edouard Laguesse (1861-1927), Oskar Minkowski !
(1858-1931), Josef von Mering (1849-1908), Bernhard Nau- .
nyn (1839-1925) und vieler weiterer Forscher zur Einsicht in
die Bedeutung der Pankreasi.nselzellen für den Diabetes. Langerhans beschreibt 1869 mit seiner Dissertation Anatomie
und Histologie der pankreatischen Zellen, uber deren Funk- I
tion er sich allerdings nicht äußert. Mit dem berühmten !
"Zuckerstich" (piqure diabetique) ins Gehirn von H-unden
beweist Claude Bernard (1813-1878) den Zusammenhang
von Zentralnervensystem und Diabetes. Die differenzierte
Pankreasexstirpation beim Hund 1889 durch Minkowski und
von Mehring löst einen künstlichen Diabetes aus. Bereits
1682 hat Johann Conrad Brunner (1653-1727) Polydipsie und
Polyurie bei Hunden nach unvollständiger Pankreasexstirpation beobachtet, ohne allerdings die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen; die Sekretion der Bauchspeicheldrüse
blieb ihm verborgen, das Pankreas wurde von Brunner sogar
für ei.n überflüssiges Organ gehalten. 1893 vermutet Laguesse
die endokrine Sekretion der Pankreasinselzellen. 1898 trägt
Naunyn eine umfassende Theorie des Diabetes auf dem
Stand des Wissens der Zeit vor.
Die geschichtliche Entwicklung erfährt in der
Isolation des Wirkungsstoffes Insulin 1921 durch Banting
und Best und seinen therapeutischen Einsatz zunächst an einem Hund und im Januar 1922 an einem Menschen ihre Krönung. Über die erste Behandlung eines diabetischen Lungenkranken mit einem Pankreasextrakt berichtet Georg Ludwig
Zuelzer (1870-1949) bereits im Jahre 1908. Die Entdeckung
des Insulins selbst ist verwickelt und mit einem Prioritätenstreit verbunden, der bis in die Gegenwart noch nicht abgeschlossen zu sein scheint. Den Nobelpreis von 1923 teilen
sich Banting und MacJeod mit Best und Collip.
Auf diesen fotscherischen Leistungen und ih- ;
ren praktischen Umsetzungen in Diagnose und Therapie ru- .
hen die Fortschritte der weiteren Jahrzehnte - mit zahlreichen neuen Einsichten in die Ursachen und den Verlauf, mit
ebenso zahlreichen neuen therapeutischen Verfahren, mit der
Differenzierung von verschiedenen Typen von Diabetikern,
wie z. B. von Typ I und Typ II, die nach einem jeweils unterschiedlichen Umgang mit der Krankheit verlangen (Coping),
mit epidemiologischen Untersuchungen schließlich, die dem
komplexen Zusammenspiel von Analyse und Umwelt bei der
Entstehung von Diabetes nachgehen.
III Gesellschaft und Individuum
Diabetes ist ein Thema der Medizin und zugleich der Kultur; Krankheit ist nie nur eine biologische Erscheinung, sondern meint immer auch den leidenden Menschen, der Bewußtsein und Sprache besitzt, der in sozialen
Beziehungen lebt und eine Haltung zu seiner Krankheit einnimmt. Der Arzt hat es nie nur mit Objekten, sondern immer
auch mit dem Kranken als Subjekt zu tun.
Diabetes ist eine ubiquitäre Erkrankung, zugleich kann die Abhängigkeit von Wohlstands- wie Notzeiten
nicht bezweifelt werden. Daß Diabetiker selbst aktiv auf wirtschaftliche Zusammenhänge zu reagieren wissen, wird von
Friedrich von Müller 1928 hervorgehoben: "Meine Diabetiker aus wohlhabenden Kreisen (und Diabetes ist vorwiegend
Diabetes in der Wissenschafts- und Kulturgeschichte
eine Krankheit der reichen Klassen) haben sich durch die
Bank als außergewöhnlich geschickte Hamster entpuppt".
Ethnische und religiöse Unterschiede in Lebens- und Eßgewohnheiten führen zur unterschiedlichen Verteilung des Diabetes. Diabetes hat bei den Indianern Nordamerikas in den
40er Jahren drastisch zugenommen, während diese Krankheit
bei den Eskimos selten ist.
Aus der Geschichte sind zahlreiche Beispiele
von Diabetikern überliefert; naturgemäß ist die Diagnose
nicht immer gesichert. Ob Herodes zum Beispiel, wie behauptet wurde, tatsächlich an Diabetes gelitten hat, ist überaus
fraglich. Geronimo Cardano (1501-1576), der als Arzt entsprechende Krankengeschichten überliefert hat, ist jedoch,
wie er selbst beschreibt, an Diabetes insipidus erkrankt gewesen: "und dann im Jahre 1536 ... bekam ich den Harnfluß,
und zwar in sehr starker Weise, ungefähr 40-100 Unzen im
Tage und nun habe ich schon fast 40 Jahre damit zu tun und
lebe noch und leide durchaus nicht an Auszehrung - ich trage
noch immer dieselben Ringe - noch an Durst." Der polnische
König August der Starke (1670-1733) ist Diabetiker gewesen,
ohne daß zu seiner Zeit diese Diagnose bei ihm gestellt wurde. Die ersten Anzeichen zeigten sich 1726; ein entzündeter
großer Fußzeh mußte abgenommen werden.
Akt. Endokr. Stoffw. 10 (1989) (Sonderheft)
war, den Satz hinzufügen: "Hier ruht der Fuß, der niemanden
auf den Nacken trat". Cezanne läßt in seinem Verhalten und
seinen Briefen sozialpsychologische Auswirkungen dieser
Krankheit erkennen.
Das 20. Jahrhundert setzte die Reihe fort.
Diabetiker waren der Berliner Zeichner Heinrich Zille (18581929), ironisch selbst im Umgang noch mit der eigenen Erkrankung, der Komponist Giacomo Puccini (1858-1924), dessen ,Madame Butterfly', entstanden während der Krankheitszeit, als "Diabetiker Oper" bezeichnet wurde, der russische
Kunstkritiker und Regisseur S. P. Diaghilev (1872-1929). Der
Maler Oskar Schlemmer (1888-1943) erlag nach akutem Diabetes und Gelbsucht einem Herzversagen; sein geschWächter
Organismus hatte die Therapie nicht mehr verkraftet. Schlemmers künstlerische Forderung aus seiner Antrittsvorlesung
von 1932 kann auf das politische Handeln wie die therapeutische Disziplin des Patienten bezogen werden: "Wir brauchen
Zahl, Maß und Gesetz, um nicht vom Chaos verschlungen zu
werden."
Johann Georg Hamann (1730-1788) hatte
auch an Diabetes zu leiden; in einem Brief aus dem Jahre
1786 schreibt der Philosoph: "Über 20 Jahre gesessen, mich
gemästet durch einen brennenden Hunger und Durst, das Gemüt von Leidenschaften gespannt". Vielleicht starb Hamann
im diabetischen Coma. Bei dem französischen Revolutionär
Jean Paul Marat (1744-1793), der am 13. 7. 1793 von Charlotte Corday im Bad ermordet wurde, in dem er sein Hautjukken zu lindern suchte, wird ebenfalls Diabetes angenommen;
die überlieferten Symptome sprechen eher dagegen.
Viele Mediziner sind ebenfalls an Diabetes
erkrankt und nicht selten auch im diabetischen Coma gestorben: der Gynäkologe Rudolf Chroback (1843-1910), der Augenarzt Julius von Michel (1843-1911), der Dermatologe Albert Neisser (1855-1916), der Anatom Max Fürbringer (18461920). George Sprague wurde 1921 von dem Leiden ergriffen,
konnte durch das in diesem Jahr entdeckte Insulin aber gerettet werden und studierte daraufhin Medizin. George Richards Minot (1885-1950) war einer der ersten Patienten, die
Elliott Proctor Joslin (1869-1962) mit Insulin behandelte; für
die Entdeckung einer Behandlung gegen perniziöse Anämie
erhielt Minot 1934 den Nobelpreis. Diabetiker war ebenfalls
Robert Daniel Lawrence (1892-1968), der zu den Gründern
der British Diabetic Association gehörte.
Der brasilianische Kaiser Pedro II. (18251891) litt seit den 70erJahren des 19. Jahrhunderts an Diabetes, die ersten Symptome waren zunehmende Müdigkeit, intermittierendes Fieber und eine Beinentzündung; in Baden
Baden wurde der Kaiser im August 1887 von Adolf Kußmaul
behandelt, nachdem ihn Jean Martin Charcot (1825-1893) in
Paris untersucht hatte; den Winter 1887/88 verbrachte Pedro
11. in Italien und an der Riviera, hier erlebte ihn auch Nietzsche, eine Lungenentzündung wurde erfolgreich in Milano im
Mai therapiert. 1889 erfolgte der politische Sturz, ab 1891
lebte der Kaiser im bescheidenen Hotel Bedfort in Paris, unterhielt Kontakt zu Wissenschaftlern und Künstlern, war aber
immer wieder auf ärztliche Hilfe angewiesen; am 5. Dezem. ber 1891 starb Pedro 11. an einer Lungenentzündung.
Aber auch weniger bedeutende Diabetiker
der Vergangenheit und Gegenwart verdienen Erwähnung: der
"certain nobel Earl" von Thomas Willis aus dem 17. und
John Rollos Captain Meredith aus dem 18. Jahrhundert, der
die Fleischdiät genießen durfte; aus dem 19. Jahrhundert der
Gärtner Wilheim W., über dessen diabetische Retinopathie
Eduard von Jäger (1818-1884) eine Studie (1855) veröffentlichte, der erste Patient von Banting und Best, die Kinder aus
dem Beginn der Insulinära, über deren Schicksal . 1973 W.
Korp und E. Zweymüller berichteten. Zahlreiche Zeugnisse
von Diabetespatienten der Gegenwart liegen ebenfalls gedruckt vor; auch an ihnen wird die Verbindung von individueller Biographie und allgemeinen Verhältnissen manifest, der
Zusammenhang von der Natur und Kultur des Diabetes.
Der Dichter und Musiker Peter Cornelius
(1824-1874), Hyppolite Taine (1828-93), der Postminister
Heinrich von Stephan (1831-97), der Maler Paul Cezanne
(1839-1906) sind andere berühmte Diabetiker des 19. Jahrhunderts. Peter Cornelius begann im Sommer 1874 über
Durst und Müdigkeit zu klagen; der Hausarzt diagnostizierte
eine hochgradige Zuckerkrankheit und empfahl eine Kur in
Bad Neuenahr, die aber nur zu einer kurzfristigen Besserung
führte. Im Kreis seiner Familie und freundschaftlich umsorgt
von seinem Arzt ist Cornelius am 26. Oktober 1874 gestorben.
Heinrich von Stephan bat, als ihm ein Fuß wegen der diabetischen Erkrankung abgenommen werden mußte, man möge
doch auf den Kasten, in den sein Fuß hineingelegt worden
IV Literatur und Kunst
Literatur und Kunst haben ihrerseits wiederholt Diabetes aufgegriffen, meist in der Moderne. Über Diabetes wurden wissenschaftliche Filme gedreht, Diabetes
tauchte auf Briefmarken auf. Ob die Venus von Willendorf
Diabetikerin gewesen ist, bleibe dahingestellt. Besonders
reich ist aber das 20. Jahrhundert an Erzählungen zum Diabetes und zwar vor allem aus der englischsprachigen literatur: Angus Wilson (Sad Fall), Nancy Hall (Love is not love),
Lamed Shapiro (Journeying through the milky way), Pauline
Clarke (The sharp one), Brian Lester Gianville (The King of
Hackney Marshes), Phyllis Reynolds Naylor (Just one small
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D. v. Enge/han
Akt. Endokr. Stoffw. 10 (1989) (Sonderheft)
part of living), lohn Keefauver (How Henry l. Littlefinger
licked the hippies), Edouard Roditi (Mademoiselle Blanche,
or diabetes can be fun), losef Kampos de Metro (The Sluggar
heart), Stephen Dixon (Cut) sind Schriftsteller, die hier mit
ihren Erzählungen genannt werden können.
Angus Wilsons ,Sad Fall' (dt. 1958) schildert
das diabetische Schicksal der alten Miss Tanner, ihr Diätprogramm, die Reaktion der Umwelt, ihr eigenes Verhalten,
ihr Aussehen, das quellende Fleisch, ihre Empfindungen, ihre
Beurteilung des Krankseins. Sie führt die Erkrankung an Diabetes auf die Aufregung über den Tod ihres Mannes zurück;
diese Ableitung, die bei den Ärzten leider keine Beachtung
finde, verschaffe ihr selbst Befriedigung: "Es hilft mir zu wissen, daß der Geist unseren elenden Körper beherrscht."
Diabetes hat auch zu Gedichten angeregt, so
die Mediziner Angus McD. Morton 1898, Cecil Striker 1962
und Wilhelm Jaenecke (1969); letzterer beendet seine Verse
mit der tröstlichen Einsicht: "Wo's hapert stets an Insulin, da
hilft am besten Disziplin, denn manche Not auf dieser Erden
kann manchmal auch zur Tugend werden." Striker ist von
Optimismus für die Zukunft erfüllt: "Sing, oh song of diabetes of the happy days to follow". Von besonderer Tiefe ist das
Gedicht ,Diabetes' (1979) des amerikanischen Schriftstellers
James Dickey.
V Ausblick
Diabetes ist ein eindrucksvolles Beispiel der
Wissenschafts- und zugleich Kulturgeschichte. Antike, Mittelalter, Neuzeit und Gegenwart sind die wesentlichen Perioden der historischen Entwicklung, die Systematik spannt
den Bogen von der Natur zur Kultur. Die Geschichte des
Diabetes läßt immer auch seine anthropologische Natur deutlich werden: stets zeigt sich auch diese Krankheit als körperliche, psychische, soziale wie geistige Erscheinung. Vielfältige
Aufgaben stellen sich noch für die Zukunft: in wissenschaftlicher wie psychologischer und sozialer Hinsicht. Der Blick in
die Vergangenheit erhellt Gegenwart und Zukunft.
Literatur
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Wolff, G., H. Schadewaldt: Biographische Adnota zu Paul Langerhans - Inseln waren sein Schicksal, Medizinische Welt 28 (1977)
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Conrad Brunner (1653-1727), med. Diss., Basel 1944; Gesnerus 2
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Prof Dr. D. u. Engelhardt
Medizinische Universität zu Lübeck
Institut für Medizin- und
Wissenschaftsgeschichte
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D-2400 Lübeck 1
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