Exaktheit im Mathematikunterricht

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Mathematik im Unterricht
Newsletter 1
ISSN: 1999-3072
Juni 2008
Inhaltsverzeichnis
Fritz Schweiger
Kann man die Gleichung
1
3
27 … sinnvoll interpretieren
1
Hans-Stefan Siller
Bildungsstandards aus dem Fach Mathematik am Ende der 4. und 8.
Schulstufe – Eine kurze Übersicht über den aktuellen Entwicklungsstand
10
Gerhard Hanebeck
„ … Ihr Platz wird von allen der Erste sein.“ – Ein kleiner Nachtrag
zum Eulerjahr
17
Karl Josef Fuchs
Was ist Didaktik der Mathematik? Die persönliche Sicht auf ein
Universitätsfach
23
Georg Wengler & Rudi Gruber
Exaktheit im Mathematikunterricht
29
Kann man die Gleichung − 12 =1+3+9+27+...
sinnvoll interpretieren? Ein Einstieg zu
p-adischen Zahlen
von Fritz Schweiger, Salzburg
Zusammenfassung. Zählen ist eine Grundtätigkeit des Menschen. Die
kulturelle Evolution hat den Umgang mit natürlichen Zahlen um weitere
Zahlbereiche angereichert. Man gelangt so über ganze Zahlen und rationale Zahlen zu den mathematisch anspruchsvollen Bereichen der reellen
und komplexen Zahlen. Aber man hat auch p-adische Zahlen erfunden
(oder gefunden?). Der Aufsatz könnte doch einige Leser und Leserinnen interessieren. Gedacht ist an SchülerInnen, die ein schönes Thema
für eine Fachbereichsarbeit suchen oder an LehrerInnen, die ihren Wahlpflichtkurs aufpolieren wollen. Man könnte den Aufsatz auch jemandem
in die Hand drücken, der die gute, aber wagemutige Idee hat, Mathematik zu studieren.
Der nachstehende Aufsatz ist mathematisch anspruchsvoll, aber vielleicht erreicht er doch einige Leser und Leserinnen. Gedacht ist an SchülerInnen, die ein
schönes Thema für eine Fachbereichsarbeit suchen oder an LehrerInnen, die ihren Wahlpflichtkurs aufpolieren wollen. Man könnte den Aufsatz auch jemandem
in die Hand drücken, der die gute, aber wagemutige Idee hat, Mathematik zu
studieren, denn die Kluft zwischen Schule und Universität wird seit den Tagen
von Felix Klein wohl beklagt, ist aber wohl Realität. Last but not least hoffe
ich auch, dass die Neugierde etwas Neuartiges verstehen zu wollen, nicht ganz
erloschen ist.
Die wohl wichtigste Reihe der Analysis ist die geometrische Reihe. Bekanntlich gilt
1
= 1 + a + a2 + a3 + ...
(1)
1−a
für alle reellen und komplexen Zahlen a mit |a| < 1 im folgenden Sinn:
lim (1 + a + a2 + ... + an−1 ) =
n→∞
1
.
1−a
Dies bedeutet: Zu jedem ² > 0 gibt es ein N (²), sodass für alle n ≥ N (²) die
Abschätzung
1
|<²
(2)
|1 + a + a2 + ... + an−1 −
1−a
richtig ist.
Pn−1
Setzt man in (1) a = 1, so erhält man rechts limn→∞ k=0 ak = ∞ , also die
2
Gleichung“ 10 = ∞,die zwar etwas unpräzise, aber intuitiv richtig ist.
”
Bedenklicher wird die Sache, wenn man in (1) nun a = − 1 setzt. Dies ergibt
1
= 1 − 1 + 1 − 1 + ....
2
(3)
Da
rechts zwischen 1 und 0 schwanken“ , ist die Reihe
P∞die Partialsummen
”
k
k=0 (−1) nicht konvergent. Genauer: Es ist s2m = 0 und s2m+1 = 1, m ≥ 0.
Ein Statistiker wird daher einfach den Mittelwert bilden:
cn =
s0 + s1 + ... + sn
.
n+1
(4)
1
Ist n = 2m, so erhält man c2m = 12 − 2m+1
. Ist n = 2m + 1, so erhält man
1
1
c2m+1 = 2 . Daher ist limn→∞ cn = 2 und die Gleichung (3) ist als Mittelwert
gerechtfertigt.
Dieser Gedanke lässt sich im folgenden Sinne ausbauen: Die unendliche Reihe
P
∞
k=0 ak heißt Cesàro konvergent, wenn
s0 + s1 + ... + sn
n+1
Pn
existiert (dabei sei wie üblich sn = k=0 ak ). Es ist leicht zu sehen, dass jede
Reihe , die (im gewöhnlichen Sinn) konvergent ist, auch Cesàro-konvergent ist.
Es handelt sich daher um eine Erweiterung des Konvergenzbegriffs.
lim
n→∞
Nun wollen wir aber noch kühner werden. Wir setzen a = 2. Dann erhalten
wir
−1 = 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + ....
(5)
Diese Gleichung scheint nun vollends Unsinn zu sein, da hilft auch kein Cesàromittel!
Eine besonders fatale Wendung erhält die Sache durch folgende Überlegung: Angenommen, die Reihe rechts konvergiert. Es gelte etwa
s = 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + ... =
∞
X
2n .
n=0
Dann gilt doch 2s + 1 = s. Dies führt aber wiederum auf s = −1. Sofern die
rechte Seite von (5) einen Sinn hat und man die üblichen Rechenregeln (d.h.
die Rechenregeln eines Körpers) anwenden darf, so ist tatsächlich s = −1 die
einzig vernünftige Antwort! Einen Ausweg bietet daher die Frage, ob man nicht
erneut den Konvergenzbegriff verändern kann. Auf Kurt Hensel geht die Idee
der p-adischen Zahlen zurück, die hier weiterhilft.
Im Konvergenzbegriff steckt bekanntlich der Betrag. Die Betragsfunktion ist
eine Abbildung von Q nach Q (bzw. von R nach R) mit den Eigenschaften
– |x| ≥ 0 und |x| = 0 genau dann, wenn x = 0.
– |x + y| ≤ |x| + |y|
– |xy| = |x||y|.
3
Wir fixieren nun eine Primzahl p und stellen fest: Ist x eine von Null verschiedene
rationale Zahl, so lässt sie sich in der Form
x = pα
r
s
schreiben, wobei α ∈ Z und rs ein gekürzter Bruch ist, dessen Zähler und Nenner
nicht durch p teilbar sind.
Dann definieren wir die p-adische Bewertung wie folgt:
– |0|p := 0
– |x|p := p−α , wenn x wie oben beschrieben dargestellt ist.
u
Sei nun x = pα rs und y = pβ w
etwa. Der Satz von der Eindeutigkeit der
Primfaktorzerlegung sichert nun
xy = pα+β
ru
,
sw
also gilt |xy|p = |x|p |y|p .
Sei weiters etwa α ≤ β. Dann ist
r
u
x + y = pα + pβ =
s
w
r
u
rw + pβ−α su
pα ( + pβ−α ) = pα (
).
s
w
sw
Ist α < β, so ist p kein Teiler von rw + pβ−α su . Dann ist x + y = pα m
n und
daher
|x + y|p = |x|p = max(|x|p , |y|p ).
Ist aber α = β, so ist es denkbar, da p ein Teiler von rw + su ist, und daher gilt
x + y = pγ
m
,
n
wobei γ ≥ α, d.h.
|x + y|p ≤ |x|p = max(|x|p , |y|p ).
Auf jeden Fall gilt
|x + y|p ≤ |x|p + |y|p ).
Es ist nicht unwichtig, aus dem Beweis mitzunehmen, dass für |x|p 6= |y|p jedenfalls |x + y|p = max(|x|p , |y|p ) gilt!
Interpretiert man |x|p als neuen Abstand vom Nullpunkt, so erhält man eine
merkwürdige Situation, die wir für p = 7 illustrieren wollen:
2
| 49
|7 = 49 , d.h. liegt weit weg! | 25 |7 = 1, d.h. 25 liegt auf dem Rand der 7adischen Einheitskugel“ E = {x ∈ Q : |x|7 ≤ 1}. | 72 |7 = 17 , d.h. 72 - liegt näher
” 2
oder 25 !
an x = 0 als 49
Es ist nun leicht zu überlegen, dass |x − y|p = p−α , α ≥ 1 gleichbedeutend mit
x − y = pα k, also mit x ≡ y mod pα ist.
Wichtig ist folgende Beobachtung: Ist |x − y|p = p−α und x0 = x + tpα , so ist
4
ebenfalls |x0 − y|p = p−α .
Der neue Abstand erlaubt nun, einen neuen Konvergenzbegriff zu definieren. Wir
sagen
p − lim xn = x,
n→∞
wenn gilt: Zu jedem ² > 0 gibt es ein N (²), sodass für alle n ≥ N (²) gilt
|xn − x|p < ².
Dazu nun zwei Beispiele!
2 − lim (1 + 2 + 4 + ... + 2n ) = −1
n→∞
Da sn = 2n − 1, erhält man |sn − (−1)|2 = 2−n .
Ähnlich zeigt man, dass
7 − lim (1 + 7 + 49 + ... + 7n ) = −
n→∞
1
6
gilt.
Aus diesen Beispielen gewinnt man den folgenden Satz.
Satz: Für jede Primzahl p gilt im Sinne der p-Konvergenz
1
= 1 + p + p2 + p3 + ....
1−p
Daraus folgt weiters:
Satz: Für jede Primzahl p gilt im Sinne der p-Konvergenz
−1 = p − 1 + (p − 1)p + (p − 1)p2 +
p − 1)p3 + ....
Bekanntlich ist das Problem, die Gleichung x2 = 2 zu lösen, ein erster Schritt
zur Erweiterung von Q zum Körper R der reellen Zahlen. Wegen 1 = 1√2 < 2 <
22 = 4, ist x0 = 1 eine (schlechte) Näherung für die gesuchte Zahl 2 . Da
1, 96 = 1, 42 < 2 < 1, 52 = 2, 25 ist eine bessere Näherung. Da 1, 9881 = 1, 412 <
4
2 < 1, 422 = 2, 0164, ist x1 = 1 + 10
+ 1012 eine noch bessere Näherung. Auf diese
Weise lässt sich eine Folge von Werten
xn = 1 +
²1
²2
²n
+ 2 + ... + n
10 10
10
herstellen, für die gilt
|xn − xn+m | < 10−n
(6)
d.h. die Folge (xn ), n ∈ N, ist eine Cauchyfolge und
lim x2n = 2.
n→∞
(7)
5
Da nun R ein vollstndiger Körper ist, hat
√ die Cauchyfolge (xn ), n ∈ N, einen
Grenzwert α und man setzt zu Recht α = 2.
Geht so etwas mit p-Grenzwerten? Man kann es ja zumindest versuchen!
Wir wollen die Gleichung x2 = 2 durch eine Folge rationaler Zahlen näherungsweise für p = 7 lösen.
Soll x0 ein guter Startwert sein, so ist |x20 − 2|7 < 1 eine vernünftige Forderung.
Also verlangen wir gleich |x20 − 2|7 ≤ 71 , d.h.x20 ≡ 2 mod 7. Eine Lösung ist
1
x0 = 3 . Nun ist für diesen Wert |x20 − 2|7 ≤ 17 , aber es ist|x20 − 2|7 > 49
. Es ist
daher naheliegend, in der Restklasse von 3 modulo 7 nach einer besseren Lösung
Ausschau zu halten, also x1 = 3 + 7²1 anzusetzen. Dann erhält man
x21 − 2 = 9 + 7.6²1 + 72 ²21 − 2 = 7(1 + 6²1 + 7²21 ).
Wenn 49 ein Teiler von x21 − 2 gelten soll, genügt es daher zu fordern, dass 7
ein Teiler von 1 + 6²1 ist. Man sieht leicht, dass ²1 = 1 gewählt werden kann, also
1
ist x1 = 10 eine bessere Näherung, denn es ist nach Konstruktion |x21 − 2|7 ≤ 49
.
Dadurch ermutigt, probiert man x2 = 10 + 49²2 . Will man erreichen, dass 343
ein Teiler von x22 − 2 wird, so reicht 7/(2 + 20²2 ). Dies leistet ²2 = 2. Somit ist
1
x2 = 10 + 2.49 eine erneute Verbesserung, und es gilt nun |x22 − 2|7 ≤ 343
. Das
Schema ist nun leicht erkennbar: Hat man
xn = ²0 + 7²1 + 72 ²2 + ... + 7n ²n
1
mit |x2n − 2|7 ≤ 7n+1
(gleichbedeutend mit x2n − 2 = 7n+1 zn ) schon gefunden,
so setzt man xn+1 = xn + 7n+1 ²n+1 . . Dann ist
2
− 2 = 7n+1 (zn + 2xn ²n+1 + 7n+1 ²2n+1 )
xn+1
sicher durch 7n+1 teilbar, wenn 7/(zn + 2xn ²n+1 ) gilt. Man muss also die Diophantische Gleichung
zn + 2xn ²n+1 = 7ηn+1
lösen, wobei ²n+1 ∈ {0, 1, 2, 3, 4, 5, 6} gewählt werden muss. Bei kleinen Zahlen
kommt man mit Ausprobieren der 7 Möglichkeiten durch; bei größeren Zahlen
(oder vor allem, wenn wir statt p = 7 eine größere Primzahl wählen!) kann man
Lösungen mittels des Euklidischen Algorithmus finden. Dafür eignet sich der
Einsatz eines Computers!
Bevor wir in der Theorie“ weitermachen, lohnt es sich, weitere Beispiele zu be”
trachten.
Wählt man den Startwert y0 , so erhält man mit derselben Methode eine Folge
von Näherungen y0 = 4, y1 = 39, y2 = 235, .... Man kann eine Kontrolle verwenden: Es muss xn + yn ≡ 0 mod 7n+1 gelten!
Wir untersuchen (für p=7) die Gleichung x2 = 4 . Da der Startwert eine genaue Lösung darstellt, erhält man vom Startwert ausgehend keine Verbesserung; es ist stets xn = 2. Beginnt man aber mit y0 = 5, so erhält man die Folge
y0 = 5, y1 = 47, y2 = 341, .... Wiederum muss xn + yn ≡ 0 mod 7n+1 gelten. Man
könnte in Vertrauen auf formales Rechnen diese Folge auch so erhalten. Es ist
−1 = 6 + 6.7 + 6.72 + 6.73 + ....
6
Daher ist
−2 = 12 + 12.7 + 12.72 + 12.73 + ... =
5 + 13.7 + 12.72 + 12.73 + ... =
5 + 6.7 + 13.72 + 12.73 + ... =
5 + 6.7 + 6.72 + 13.73 + ...
Daraus erhält man die Näherungen y0 = 5, y1 = 5 + 42 = 47, y2 = 47 + 294 =
341, ...
Ebenso kann man versuchen, die Gleichung x3 = 6 für p = 7 näherungsweise
zu lösen. Der Startwert x0 = 3 ergibt eine Verbesserung x1 = 24 usw..
Kehren wir zu unserem Beispiel x2 = 2 zurück. Unser Algorithmus produziert
nach Wahl eines geeigneten Startwertes (x0 = 3 oder x0 = 4 ) eine Folge ganzer
Zahlen (xn ) mit den Eigenschaften:
|xn − xn+m | < 7−n−1
und
7 − lim x2n = 2.
n→∞
Was fehlt, ist ein vollständiger Körper, der die Grenzwerte aller Cauchyfolgen
(bezüglich der 7-Konvergenz) enthält. Die Beispiele legen nun nahe, es mit Zah”
len“ der Form
²−w
²−w+1
²−1
x = w + w−1 + ... +
+ ²0 + 7²1 +
7
7
7
72 ²2 + ...
zu versuchen, denn das
√ Problem von führt ja auch im Reellen zu einem unendlichen Dezimalbruch 2 = 1, 41.... Wir definieren daher
Q7 = {x =
∞
X
²i 7i , 0 ≤ ²i ≤ 6}.
(8)
i=w
Addition und Multiplikation dieser 7-adischen Zahlen geschieht nun formal, wobei man allerdings die neuen Ziffern durch Überträge auf die Einschränkung
²i ∈ {0, 1, ..., 6} bereinigen muss!
2
+ 4 + 3.7 + 2.72 + 1.73 + ....,
7
6
y = + 4 + 2.7 + 5.72 + 4.73 + ....
7
x=
Dann ist
x+y =
=
8
+ 8 + 5.7 + 7.72 + 5.73 + ...
7
1
+ 9 + 5.7 + 7.72 + 5.73 + ... =
7
7
1
+ 2 + 6.7 + 0.72 + 6.73 + ....
7
Ebenso rechnet man nach
xy =
12 32
+
+ 38 + 42.7 + ....
49
7
=
12 4
+ + 6.7 + ....
49 7
Die 7-adische Bewertung
lässt sich nun auf die Menge Q7 fortsetzen.
P∞
Definition: Ist x = i=w ²i 7i . ²w 6= 0, so sei |x|7 := 7−w .
Ist x 6= 0, so lässt sich rekursiv ein Inverses x∗ bestimmen. Dazu ein Beispiel!
Sei
x=
2
+ 4 + 3.7 + 2.72 + 1.73 + ....
7
Da |xx∗ |7 = |1|7 = 1 gelten soll und |x|7 = 7 gilt, muss |x∗ |7 =
setzen wir an
x∗ = η1 7 + η2 72 + η3 73 + ...
1
7
sein. Daher
und erhalten
1 = xx∗ = 2η1 + (4η1 + 2η2 )7 + (3η1 + 4η2 + 2η3 )72 + ....
(9)
Die Kongruenz 1 ≡ 2η1 mod 7 ist zuerst zu lösen. Dies ergibt η1 = 4. Dies
wird oben eingesetzt und es verbleibt als nächste Kongruenz 0 ≡ 17 + 2η2 mod
7. Hier findet man η2 = 2. weiters findet man η3 = 6. Somit ist
x∗ = 4.7 + 2.72 + 6.73 + ....
Es lohnt sich für das Anfangsstück die Probe zu machen.
Man kann mittels vollstäendiger Induktion beweisen, dass diese Verfahren (formales Ausmultiplizieren und rekursives Lösen) immer zielführend ist. Damit ist
der Beweis für den zentralen Satz skizziert.
Satz: Die Menge aller p-adischen Zahlen
Qp := {x =
∞
X
²i pi , ²i ∈ {0, 1, ..., p − 1}}
i=w
ist ein Körper.
Auf Grund des rekursiven Verfahrens haben wir gezeigt, dass x2 = 2 zwei
Lösungen in Q7 besitzt:
ξ = 3 + 1.7 + 2.72 + ...,
η = 4 + 5.7 + 4.72 + ...
8
Nach dem Lehrsatz von Viète muss ξ + η = 0 gelten. Dies stimmt auch, wie man
durch Addieren und Bilden der Überträge erkennt.
Satz: Der Körper Qp ist ein Erweiterungskörper von Q.
Beweis: Wir notieren vier Schritte.
1. 0 ∈ Qp
2. Ist n eine natürliche Zahl, do besitzt n eine Darstellung der Gestalt
n = ²0 + ²1 p + ... + ²s ps .
3. Ist z = −n, so multiplitzieren wir −1 = p − 1 + (p − 1)p + (p − 1)p2 + ... mit
n = ²0 + ²1 p + ... + ²s ps und erhalten eine Darstellung für z.
4. Daher ist Z ⊆ Qp . Da aber Qp ein Körper ist, muss Q ⊆ Qp gelten.
Es ist übrigens nicht allzu schwierig zu beweisen, dass Qp ein vollständiger
Körper ist: Jede p-Cauchyfolge hat einen p-Grenzwert in Qp . Aber leider ist Qp
keineswegs algebraisch abgeschlossen! So enthält Qp keine Zahl mit x2 = 3. Da
die Kongruenz x2 ≡ 3 mod 7 nicht lösbar ist, gibt es keinen geeigneten P
Startwert
∞
für die Konstruktion einer Näherungsfolge! Eine Zahl x der Form x = i=0 ²i pi
müsste x = ²0 als Lösung liefern!
Zur Abrundung sei noch festgelegt: Ist x =
|x|p := p−w .
P∞
i
i=w ²i p ,
²w 6= 0, so sei
Eine hübsche Übungsaufgabe für Algebrahungrige ist nun folgendes Ergebnis:
Satz: Sei Zp := {x ∈ Qp : |x|p ≤ 1} die Menge der ganzen p-adischen Zahlen.
Dann gilt
1. Zp ist ein Integritätsbereich
2. Sei pZ := {w ∈ Z : p/w} und Ip := {x ∈ Qp : |x|p < 1}. Dann ist pZ ein
Ideal in Z und Ip ein Ideal in Zp .
3. Für die Restklassenringe gilt die Isomorphie
Z/pZ ' Zp /Ip .
Das nachstehende Ergebnis verallgemeinert ein bekanntes Ergebnis über Q als
Teilmenge von R.
Satz:
P∞ Seii x ∈ Qp . Dann ist x ∈ Q genau dann, wenn die Entwicklung x =
i=w ²i p periodisch wird.
Beweis: Da x ∈ Q genau dann gilt, wenn pw x ∈ Q gilt, genügt es den Fall
|x|p = 1 P
zu betrachten.
∞
Sei x = i=0 ²i pi und ²i = ²i+s ,i = 0, 1, 2, ... (d.h. x hat eine rein periodische
Entwicklung, was keine Einschränkung ist). Dann ist
x=
s−1
X
i=0
²i pi + ps x,
9
also
Ps−1
x=
²i pi
,
1 − ps
i=0
d. h. eine rationale Zahl.
Etwas mühseliger ist die andere Richtung des Beweises. Sei x eine rationale Zahl
A
mit |x|p = 1. Dann schreiben wir x = B
mit ggT(A, p)=ggT(B, p)=1 und B ≥ 1.
Sei nun
A
= ²0 + ²1 p + ²2 p2 + ....
B
Dann ist
A − ²0 B
A0
1 A
( − ²0 ) =
=
p B
pB
B
(denn es wurde ²0 ja so gewählt, dass A − ²0 B durch p teilbar ist!). Dann ist
|²0 B|
|A0 | ≤ |A|
≤ |A|
p +
p
p + B.
Die Wiederholung des Verfahrens zeigt nun
1 A0
A0 − ²0 B
A00
( − ²0 ) =
=
p B
pB
B
mit |A00 | ≤
|A0 |
p
+
|²0 B|
p
≤
|A|
p2
+ B(1 + p1 ) . Mittels Induktion erkennt man daher
1 A
( − (²0 + ²1 p + ²2 p2 + ... + ²n−1 pn−1 ))
pn B
=
wobei
|A(n) | ≤
A(n)
,
B
|A|
1
1
|A|
pB
+ B(1 + + ... + n−1 ) ≤ n +
.
pn
p
p
p
p−1
Daher kann es nur endlich viele verschiedene ganze Zahlen A(n) geben, und es
muss für ein Paar n und m die Beziehung A(n) = A(n+m) gelten, d.h. die Entwicklung wird periodisch.
Literaturhinweis: F. Q. Gouvêa: p-adic Numbers. Springer-Verlag 1991.
10
Bildungsstandards aus dem Fach Mathematik am Ende der 4.
und 8. Schulstufe – Eine kurze Übersicht über den aktuellen
Entwicklungsstand
von Hans-Stefan Siller, Universität Salzburg
Abstract: Bildungsstandards sind in der aktuellen österreichischen Schulentwicklung ein viel diskutiertes Thema, das auch in den Medien immer wieder zur Diskussion steht. Anhand des folgenden Artikels
soll Interessierte kurz über die aktuellen Entwicklungen informiert werden und anhand von didaktisch
ausgewählten Beispielen die Entwicklung von Standards dargelegt werden.
1. Einleitung
Österreich ist eines jener Länder, in denen Lehrer/innen an öffentlichen Schulen und an
Schulen mit Öffentlichkeitsrecht Berechtigungen (Übertritt in eine andere Schule, Hochschulreife) beim Abgang in einer gewissen Altersstufe vergeben. Im Wesentlichen erfolgt dies
durch Lehrer/innen, die die Schüler/innen in ihrem Entwicklungs- bzw. Lernprozess begleitet
haben, die die Aufgaben stellen und schlussendlich auch diese Aufgaben korrigieren und benoten. Dies ist möglicherweise mit ein Grund, warum das Wissen und Können einzelner
Schüler/innen verschiedener Schultypen bei identer Beurteilung ein sehr großes Spektrum
aufweist. Ein weiterer Grund ist auch in der seit den 90er Jahren eingeführten Autonomie der
Schulen zu suchen, die die Selbstverantwortung der Lehrer/innen wesentlich gestärkt hat. Betrachtet man jedoch die internationale Entwicklung, so ist auffällig, dass die Tendenzen zur
Selbstverantwortung genau komplementär verlaufen (Stichwort: PISA, TIMSS).
Nach den viel diskutierten Ergebnissen der PISA-Testungen und um dem internationalen
Trend gerecht zu werden, ist am Beginn des 21. Jahrhunderts die Einführung nationaler Bildungsstandards am Ende der 4. und 8. Schulstufe diskutiert und realisiert worden. Mit ihrer
Hilfe soll gezeigt werden, inwiefern Mathematik-Lehrer/innen ihre Kernaufgabe der Vermittlung von allgemein als notwendig angesehenen Kompetenzen erfüllen. Außerdem sollen sie
Lehrer/innen unterstützen sich gegenüber Dritten professionell rechtfertigen zu können und
eine bessere Orientierung und Sicherheit der Unterrichtstätigkeit ermöglichen.
2. Aufbau der Bildungsstandards
Am Beginn des Klagenfurter Standardkonzepts [3] findet man eine bildungstheoretische
Orientierung (S. 7 – 9), die dazu gedacht ist, den Beitrag des Faches Mathematik zur Bildung
darzustellen und die fachspezifischen Besonderheiten der mathematischen Bildungsstandards
darzulegen. Da sich die fachlichen Standards im österreichischen Modell durch die jeweiligen
fachlichen Kompetenzen beschreiben lassen, findet sich danach das mathematische Kompetenzmodell, das jedoch so gestaltet ist, dass es nach oben hin durchlässig ist. D.h., dass das
Kompetenzmodell M8, das Modell für die Standards am Ende der 8. Schulstufe, das Kompetenzmodells M4, also das Modell für die Standards am Ende der 4. Schulstufe, beinhaltet bzw.
Teilmengen des Kompetenzmodells M4 im Kompetenzmodell M8 deutlich ersichtlich sind.
Die wichtigste Voraussetzung dabei ist, dass die erstellten Kompetenzmodelle lehrplankonform sind. Die Teilkompetenzen des jeweiligen Modells sind so ausführlich beschrieben, dass
11
man sie in den jeweiligen Aufgabenpools, unter www.gemeinsamlernen.at, zum Kompetenzmodell ohne Schwierigkeiten erkennen und mittels festgelegter Testverfahren prüfen kann.
Dieser Aufgabenpool teilt sich in zwei Bereiche:
•
Orientierungspool: Hier findet man freigegebene Aufgaben, welche zur Orientierung
der Lehrer/innen und Schüler/innen dienen soll. Diese öffentlich zugänglichen Aufgaben findet man entweder unter dem vorhin schon genannten Link
www.gemeinsamlernen.at oder in der Broschüre „Exemplarische Beziehungsreiche
Aufgaben“ [2]. Daraus stammt auch folgendes Beispiel in dessen Mittelpunkt das Arbeiten
mit
Variablen
und
Funktionalen
Abhängigkeiten
steht:
Ziel der Aufgabenstellung ist es, möglichst vielfältige Begründungen für die Lösung der
angegebenen Gleichung zu finden, die Argumentation und Begründung erfolgen auf Basis
bekannter Repräsentationsformen – symbolisch durch Äquivalenzumformungen, tabellarisch
und numerisch durch einsetzen verschiedener Werte für x grafisch durch das Zeichnen der
linearen Funktion, also des Terms f(x) = 3x+10, und des konstanten Funktion, d.h. des Terms
g(x) = 31.
•
Um einen ersten Überblick über die dargestellten Beispiele zu erhalten, wird auch
immer eine Bewertungstabelle angegeben, die jedoch ausschließlich auf dem
Kompetenzmodell beruht und keine didaktische Analyse darstellt! Für das angeführte
Beispiel sieht diese wie folgt aus:
12
Beispiel
B
L
Lügner
A der 7. Schulstufe:
Ab
S
Arbeiten mit
m Variablen
W
Wesentliche
e Handlungssdimension
W
Wesentlich
he Inhaltsdiimension
A
Allgemeine
e Informatiionen zum Beispiel
Eine didaktischee Analyse der in deer Broschürre angeführrten Beispiiele findet man in
„Aufgabben als Kataalysatoren“ [1].
•
Testitempool: Die Beiispiele die sich in dieesem Teil befinden,
T
b
siind der sow
wohl der
w. Schüler/innnen unbekaannt und dieenen der
Schulbehörrde als auchh den Lehrerr/innen bzw
T
Testung.
Die Auffteilung derr Beispiele könnte
k
man folgenderm
maßen verannschaulichenn:
Durchh den gegebbenen Orienntierungspool werden die
d theoretissch formuliierten Komp
petenzen
unterstüützt. Lehrer/
r/innen erhaalten durch diese Aufg
gaben eine wage Idee wie die wiirklichen
Testaufg
fgaben ausseehen könneen. Außerdeem erhalten
n sie eine riiesige Aufggabensamm
mlung die
sie für den eigenenn Unterrichht nutzen düürfen bzw. sollen, um die im Koompetenzmo
odell be-
13
schriebenen mathematischen Grundkompetenzen bei ihren Schüler/innen zu fördern und auch
einzufordern. Die Grundkompetenzen der jeweiligen Altersstufen (M4 bzw. M8) sollen im
Folgenden kurz dargestellt werden.
3. Bildungsstandards am Ende der 4. Schulstufe
Am Ende der 4. Schulstufe werden sowohl Schüler/innen, als auch Lehrer/innen das erste
Mal mit einem nationalen Testverfahren konfrontiert. Die vorhin beschriebene bildungstheoretische
Orientierung
kann
man
unter
http://www.gemeinsamlernen.at/
siteVerwaltung/mOBibliothek/Bibliothek/M4neu06.pdf downloaden.
Die Kompetenzbereiche die am Ende der 4. Schulstufe beherrscht werden, unterteilen sich in
• Allgemeine mathematische Kompetenzen,
• Inhaltliche mathematische Kompetenzen.
Nicht berücksichtigt wird das (notwendige) Nachdenken über eine Aufgabe, wie es im
Kompetenzmodell M8 ersichtlich ist. Die angeführten allgemeinen Kompetenzen unterteilen
sich in 8 Teilkompetenzen:
•
Allgemeine mathematische Kompetenzen,
o Modellieren
o Operieren und Darstellen
o Kommunizieren
o Probleme stellen und lösen
• Inhaltliche mathematische Kompetenzen.
o Arbeiten mit Zahlen
o Arbeiten mit Operationen
o Arbeiten mit Größen
o Arbeiten mit Ebene und Raum
Die hier angeführten Kompetenzklassen sind ausführlich beschrieben und durch Beispiele
exemplarisch, wie nachstehend, dargestellt:
14
Da eine der Grundbedingungen die Durchlässigkeit dieses Modells nach oben ist, müssen
sich Teilbereiche dieses Modells auch im M8-Modell wiederfinden.
4. Bildungsstandards am Ende der 8. Schulstufe
Die Kompetenzbereiche des M8-Modells haben – wie man auch an den unten aufgelisteten
Dimensionen erkennen kann – viel mit den Kompetenzbereichen des M4 Modells gemeinsam.
Allerdings unterscheiden sie sich auch in vielen Punkten, was aber aufgrund der größeren
Grundmenge der mathematischen Grundkompetenzen am Ende der 8. Schulstufe einleuchtend
ist.
Der Kern dieses Kompetenzmodells kann durch 3 Dimensionen beschrieben werden:
•
•
•
Handlungsdimension
Inhaltsdimension
Komplexitätsdimension
Grafisch lässt sich das Modell leicht mit Hilfe eines räumlichen Koordinatensystems darstellen. Die Teilkompetenzen werden durch sogenannte Kompetenzwürfel beschrieben (in der
Abbildung blau dargestellt).
15
Auf den einzelnen Achsen kann man die Teilkompetenzen, die den jeweiligen Dimensionen
zugeordnet sind, wiederfinden:
•
H 1.
H 2.
H 3.
H 4.
Handlungsdimension (math. Handlung):
Darstellen, Modellbilden
Rechnen, Operieren
Interpretieren
Argumentieren, Begründen
•
I 1.
I 2.
I 3.
I 4.
Inhaltsdimension (math. Inhalt):
Zahlen und Maße
Variable, funktionale Abhängigkeiten
Geometrische Figuren und Körper
Statistische Darstellungen und Kenngrößen
•
K 1.
K 2.
K 3.
Komplexitätsdimension (Komplexität):
Einsetzen von Grundkenntnissen und Fertigkeiten
Herstellen von Verbindungen
Einsetzen von Reflexionswissen, Reflektieren
Zu diesen Kompetenzklassen existieren jeweils ausführliche Erklärungen und Erläuterungen in einer Handreichung für Lehrer/innen [4], auch unter http://schule.salzburg.at/e3pi/ahs/
ahshandreichungen/Bildungsstandards_in_Mathematik_V2.pdf zu finden.
5. Ausblick – Bildungsstandards M12
Um die Bildungsstandards im österr. Bildungssystem erfolgreich zu implementieren, ist es
notwendig, sich zu überlegen wie man am Ende der 12. bzw. 13. Schulstufe die im Laufe der
Schulzeit erworbenen Kompetenzen „testen“ kann. Aus diesem Grund wird seit dem Schuljahr 2006/07 intensiv an einer Weiterentwicklung der Bildungsstandards gearbeitet. Das Ziel
soll eine standardisierte Reifeprüfung sein, über die im Moment intensiv diskutiert wird, aber
detailliert noch nichts bekannt ist. Derzeit beruht sie auf dem sogenannten M12-Modell,
welches sich ebenfalls gerade in Entwicklung befindet. Da das M8-Modell nach oben wieder
durchlässig ist, ist es ebenso wie bei M8 nicht verwunderlich, dass das M12-Modell auf diesem aufbaut. Der Kern des Modells besteht in den 3 Dimensionen, die man im M8-Modell
findet.
Eine Erweiterung findet man jedoch in den Inhaltsdimensionen, was aufgrund der Lehrplaninhalte augenscheinlich ist:
•
Handlungsdimensionen:
Darstellen, Modellbilden
Rechnen, Operieren
Interpretieren
Argumentieren, Begründen
•
Inhaltsdimension:
Algebra und Geometrie
Funktionale Abhängigkeiten
Differential- und Integralrechnung
Wahrscheinlichkeit und Statistik
H 1.
H 2.
H 3.
H 4.
I 1.
I 2.
I 3.
I 4.
16
•
K 1.
K 2.
K 3.
Komplexitätsdimensionsachse:
Einsetzen von Grundkenntnissen und Fertigkeiten
Herstellen von Verbindungen
Einsetzen von Reflexionswissen, Reflektieren
Die Anordnung dieser Teilkompetenzen erfolgt wie im M8-Kompetenzmodell. Ebenso
können die beschriebenen Teilkompetenzen durch Kompetenzwürfel beschrieben werden.
Die Entwicklung der Bildungsstandards soll als „work in progress“ gesehen werden. Zu
den Kompetenzbereichen werden laufend Aufgabenbeispiele zu den einzelnen Teilkompetenzen entwickelt. Außerdem werden ständig Änderungen (Stichwort Nachhaltigkeit)
vorgenommen und eine intensive Diskussion innerhalb der Standardentwickler geführt. Dies
alles soll dazu führen, dass das österreichische Bildungssystem international weiterhin beachtet wird und erfolgreiche eigenständige und gut ausgebildete Schüler/innen hervorbringt.
Literatur:
[1] Fuchs, K. J.; Blum, W.: Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen, in: Thonhauser,
J.: Eine zentrale Komponente organisierten Lehrens und Lernens aus der Sicht von Lernforschung, Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik, Waxmann, Münster, 2008,
S. 135–148
[2] BM:BWK: Exemplarische beziehungsreiche Aufgaben, bm:bwk, Wien, 2006
[3] Peschek, W.; Heugl, H.: Standards für die mathematischen Fähigkeiten österreichischer
Schülerinnen und Schüler am Ende der 8. Schulstufe, Version 4/07, Hrsg: Institut für Didaktik der Mathematik – Österreichisches Kompetenzzentrum für Mathematikdidaktik –
Fakultät für interdisziplinäre Forschung und Fortbildung Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Klagenfurt, 2007
[4] Siller, H.-St.: Bildungsstandards im Fach Mathematik – Das mathematische Kompetenzmodell – eine (kompakte) Handreichung für Lehrer/innen, ph-Salzburg, Salzburg,
2008
17
„...Ihr Platz wird von allen der erste sein.“
Ein kleiner Nachtrag zum Eulerjahr
von Gerhard Hanebeck
Anfang 1783, St.Petersburg. Zum ersten Mal leitet eine Frau eine wissenschaftliche Akademie.
Die Fürstin Jekaterina Daschkowa ist nicht einmal 40 Jahre alt, hochgebildet, vielbelesen, weitgereist und weltoffen. In Moskau hatte sie seinerzeit Mathematik studiert. Auf dem Weg in ihre erste
Sitzung ist sie in Begleitung von Leonhard Euler, dem damals ältesten Mitglied der Akademie. Sie
weiß um seine Bedeutung.
Es ist Eulers letztes Lebensjahr. Er ist 76 und seit 12 Jahren fast völlig blind, aber nach
wie vor wachen Geistes. Er kann noch schreiben und zwar mit Kreide auf eine schwarze
Tafel. Ein Assistent, oft sein ältester Sohn Johann Albrecht, überträgt die Inhalte sofort
auf Papier. Kurz vor seinem Tod beschäftigen ihn die Heißluft-Ballonfahrtversuche der
Brüder Montgolfier in Annonay. Er arbeitet an den Gesetzen des Auftriebs. Von der ersten Ballonfahrt mit drei Versuchstieren in Paris erfährt er nichts mehr. Während er mit
einem Enkelkind spielt, lässt ihn am 18. September ein Schlaganfall das Bewusstsein
verlieren. Er stirbt noch am selben Abend.
An einem sonnigen Februarnachmittag des Jahres 2008 besichtigt eine französische Touristengruppe den Friedhof des Alexander NewskiKlosters. Eine Führerin spricht ausführlich vor
mehreren Gräbern berühmter Leute. Für Eulers
Grab interessiert sich niemand. Man kann
ungestört fotografieren. Ursprünglich war Euler
auf dem protestantischen Friedhof der
Wassilewski-Insel beigesetzt worden. 1957 - zu
seinem 250. Geburtstag - hat man seine Gebeine
mitsamt dem schweren Marmor hierher verlegt.
Euler verbringt zwei lange Abschnitte seines
Lebens in der Stadt an der Newa, unterbrochen
von einer 25 Jahre langen Zeit in Berlin. Geboren
1707 in Basel als Sohn eines reformierten Pfarrers
wird er mit 20 Jahren schon nach St.Petersburg
berufen in die Stadt, die 4 Jahre vor seiner Geburt
von Peter dem Großen gegründet worden war.
Allein schon die Reise legt Gewicht auf den Entschluss. Sie dauert damals lang. Zuerst per Schiff
den Rhein hinunter bis Mainz, dann mit Postkutschen nach Lübeck, dann weiter auf der Ostsee.
Die meist westlichen Winde helfen dem
Vorwärtskommen. Später wird er als erster die
Idee eines Radantriebes für Schiffe haben.
Eulers Grab in St.Petersburg
Tiefe Frömmigkeit bewahrt er sich ein Leben lang. Sein Charakter macht diese in jeder
Lebenslage glaubwürdig. Eine Gedenktafel in Riehen bei Basel am Wohnhaus seiner
Kindheit spricht nicht nur vom großen Gelehrten, sondern auch vom „gütigen
18
Menschen“.
Er wird Vater von 13 Kindern, aber bis auf fünf sterben sie früh, sehr früh. Nur drei
überleben ihn. Er ist kinderliebend. „Mit einem Säugling auf dem Schoß habe ich die
besten Ideen“, wird er zitiert. Mit 31 erblindet er halbseitig. „Nun werde ich weniger
abgelenkt sein.“
Opfer von Ablenkung ist er wohl selten. Zu den hervorstechendsten Eigenschaften seines Genies
gehört seine hochkonzentrierte, fixierende Aufmerksamkeit. Dazu kommen sein beharrlicher
Arbeitseifer und ein phänomenales Gedächtnis, das alle, die ihn kennen, immer wieder erstaunen
lässt. Er kann sich noch an Notizen erinnern, die er 50 Jahre vorher irgendwo gemacht hat. Und
sein Fleiß ist bis heute legendär. Über 800 Schriften und Bücher zeugen davon. 3000 Briefe an ihn
und von ihm sind erhalten. Seine Veröffentlichungen verfasst er meist in Latein, aber auch auf
Deutsch und Französisch. Etliche schreibt er in Russisch. Und sie befassen sich nicht nur mit
mathematischen Themen, auch mit Optik, Astronomie, Ballistik, Kanalbau, Schiffsbau, Brückenbau, Strömungslehre, Musik, Geographie, Navigation usw....
Gedenktafel am Wohnhaus
Der Leutnant Schmidt-Kai Richtung Meer
Eulers Wohnhaus
Von der Leutnant Schmidt-Brücke aus gesehen
Die Gedenktafel an seinem Wohnhaus (Leutnant Schmidt-Kai 15) auf der Wassilewski-Insel
am Ufer der großen Newa nennt „Леонард Эйлер“ deshalb mit Recht einen großartigen
Mathematiker, Techniker und Physiker. Unerwähnt geblieben ist die herausragende pädagogische Art, sich mitzuteilen. „Es fehlte ihm nur eine Eigenschaft zum Genie, nämlich unverständlich zu sein“, sagt Frobenius später nicht ohne Ironie. Eulers Lehrer und Förderer aus
Jugendtagen, Johann Bernoulli (1667 - 1748), selbst berühmter Mathematiker, dem er über die
19
Zeit verbunden bleibt, steigert seine brieflichen Anreden von „Hochbegabter junger Mann“
oder dergleichen bis schließlich zum „Fürst unter den Mathematikern“. So groß ist der Respekt
vor dem Schüler von einst geworden.
Johann Bernoulli unterrichtet den jungen Euler unkonventionell. Die Basler
Universität vermittelt Mathematik sehr elementar. Modernere Inhalte kann
man nur in teuren Privatkursen hören, die sich Euler nicht leisten kann. Aber
von Bernoulli erhält er Bücher zum Selbststudium mit der Einladung, ihn an
Samstag-Nachmittagen zu besuchen, um anfallende Fragen zu klären. Indirekt
über seinen Lehrer kommt Euler auch nach St.Petersburg. Denn im Sinn des
bekannt westlich orientierten Zar Peter holt man zwei Söhne Johann
Bernoullis an die neue Akademie, was Euler den Weg bereitet.
Warum verdient Euler nach einem Vierteljahrtausend solche Verehrung? Vielleicht beruht
seine wichtigste Leistung auf der Fähigkeit, schon vorhandenes Wissen auf Wesentliches hin
durchschauen zu können und dementsprechend zu formulieren. Er ist der Vater mathematischer
Bezeichnungskultur. Er erfindet Symbole, schafft Schreibweisen, die bis heute gültig sind und
wichtig wie - der Vergleich sei erlaubt - die Notenschrift für die Musik. Euler macht
Mathematik kommunizierbar.
Er revolutioniert die Analysis, also den Bereich der Mathematik, der als wesentlicher Grundpfeiler von Physik und Technik angesehen werden kann. Erst seit Euler kann man funktionale
Abhängigkeiten im modernen Sinn handhaben. Er entwickelt die Variationsrechnung, beschäftigt sich mit Differential- und Integralrechnung, klärt den Zusammenhang zwischen Winkelund Exponentialfunktionen und … und ... und ...
Seine ungewöhnliche, stets lebendige Neugier ist immer darauf gerichtet,
Grundsätzliches zu erkennen. Dazu einige Beispiele:
Seit der Antike beschäftigt man sich mit Raumgeometrie. Wie gut muss etwa Johannes
Kepler die platonischen Körper begriffen haben, um sein „Mysterium Cosmographicum“ zu
finden, das zwar nach heutigen Messdaten keine astronomische Relevanz hat, seinen weiteren
Forschungsantrieb aber entscheidend stimuliert. Aber erst Euler entdeckt den Polyedersatz,
nach dem die Summe aus Ecken- und Flächenanzahl vermindert um die Kantenanzahl für konvexe Vielflächner stets 2 ist. Das ist einer der ersten topologischen Sätze der Mathematik.
Damit öffnet Euler die Tür zur algebraischen Topologie, einem der wichtigen Forschungsgebiete der Gegenwart.
Eine topologische Fragestellung ist auch die folgende: Euler kommt nie in seinem Leben nach Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, aber er interessiert sich für das nach dieser Stadt benannte Brückenproblem. Der Fluss Pregel teilt sie in vier Bereiche.
Damals sind sieben Brücken vorhanden, um Flussarme zu queren. Die Frage: Kann man durch je
einmaliges Benutzen aller Brücken alle Stadtteile
betreten und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren? Euler systematisiert das Problem, ersetzt die
Stadtteile durch Punkte (Knoten), die Brücken durch
Verbindungslinien
(Kanten),
findet
die
Abhängigkeit
von
gerader
bzw.
ungerader Kantenanzahl, formuliert in Verallgemeinerung den "Eulerschen Satz" und beweist
speziell für Königsberg die Unmöglichkeit einer Lösung. Damit legt er 1736 den Grundstein
zur Graphentheorie.
20
http://www.hanebeck.at/Euler/Springerproblem.html
Probieren Sie selbst!
Euler befasst sich intensiv mit lateinischen Quadraten, also solchen aus n mal n
Feldern, in welche die natürlichen Zahlen
von 1 bis n so eingetragen werden müssen,
dass in jeder Zeile und jeder Spalte jede
Zahl genau einmal vorkommt. In späten
Jahren veröffentlicht er sogar eine in Französisch verfasste Schrift darüber. Er ist
fähig, mit unendlicher Geduld herumzuprobieren. So sitzt er immer wieder vor
einem Schachbrett, um sich dem schon
lange bekannten Springerproblem zu widmen. Auf einem sonst leeren Brett soll ein
Springer entsprechend seiner Zugregel („2
Felder längs, 1 Feld quer“) so bewegt
werden, dass er jedes Feld des Brettes genau ein Mal besetzt. Als erster nähert sich
Euler dem kombinatorischen Problem mit
mathematischen Methoden.
Aber inzwischen verlässt er St.Petersburg, lebt ein Vierteljahrhundert lang in Berlin und
übersiedelt schließlich wieder zurück. Wie kommt es zu den Ortswechseln?
1740 stirbt die Zarin Anna Iwanowna und die politischen Verhältnisse erscheinen weniger
sicher. Ferner lebt Eulers Frau Katharina in ständiger Furcht vor Bränden, da Petersburg regelmäßig von Feuersbrünsten heimgesucht wird. Immer sind alle Habseligkeiten gepackt, um sie
im Notfall gleich retten zu können, was wiederum die Furcht bestärkt, sie bei einem Einbruch
oder Überfall sofort samt und sonders zu verlieren. Außerdem sind immer wieder Offiziere einquartiert, da in der Stadt große Wohnungsnot herrscht. Euler selbst ist gezwungen, sehr anstrengende kartographische Arbeiten zu verrichten, was ihm wenig Freude bereitet. Infolge
völliger Erschöpfung nach einer solchen Tätigkeit wird er sterbenskrank und verliert wegen
einer dadurch bedingten Entzündung die Sehkraft des rechten Auges. So folgt er letzten Endes
gerne 1741 einem verlockenden Angebot Friedrichs des Großen an die damals noch erst
geplante Berliner Akademie.
Berlin, Behrenstraße, ehemaliges Wohnhaus mit Gedenktafel
Unmittelbar südlich verläuft parallel zu Unter den Linden die Behrenstraße. Schon von
weitem erkennt man an der Nummer 21 eine blau-weiße Fahne. Hier hat sich die Bayerische
Vertretung in der deutschen Hauptstadt etabliert. Eine Tafel an der Fassade identifiziert aber
auch das Haus als Wohnort Eulers während der meisten seiner Berliner Jahre. Natürlich sieht
das Haus zu Eulers Zeiten nicht so aus wie heute. Selbst die ganze Straße entsteht erst so richtig
ab 1774 im Zuge der so genannten zweiten Stadterweiterung. Da ist Euler längst wieder zurück
21
in St.Petersburg.
Euler ist in seinen zweieinhalb Jahrzehnten in Preußen von unvergleichlicher
Schaffenskraft. Er verbringt hier mit Katharina, der Mutter seiner 13 Kinder,
glückliche Jahre. Berlin erinnert heute mit einer „Eulerstraße“ an seinen
genialen Gast. Sie ist allerdings von geringer Bedeutung und liegt nördlich
der S-Bahn-Station Nordkreuz.
Was verheißungsvoll beginnt und Harmonie verspricht, muss nicht so enden. Im Laufe der
Zeit kommt es zwischen Euler und dem Preußenkönig zur Entfremdung. Friedrichs Vorliebe für
glatte französische Eloquenz verträgt sich schlecht mit der einfachen Art Eulers, der zwar des
Französischen mächtig ist, aber Zeit seines Lebens Basler Dialekt spricht und dem jedes
intellektuelle Geschwätz zuwider ist. Mehr und mehr gewinnen auch „Freigeister“ Einfluss am
Hof, womit der tiefreligiöse Euler zunehmend Schwierigkeiten hat. Und obwohl Euler für das
Land Erstaunliches leistet wie etwa die Verbindung Oder-Havel, den sog. Finow-Kanal mit
vielen Schleusen, die Planung der Wasserspiele von Sanssouci, Verbesserung der Münzprägung
usw., findet er keine hinreichende Wertschätzung des Monarchen, dem Mathematik nichts bedeutet und der auch keine Ahnung von ihr hat. Auch wird Euler in einen heftigen Gelehrtenstreit um einen angeblich gefälschten Leibniz-Brief an einen bis heute unbekannten Adressaten
verwickelt, in dem er gemeinsam mit anderen nach Meinung mancher nicht gerade glücklich
agiert. Schließlich verlässt er 1766 Berlin, um einem neuerlichen Ruf nach St.Petersburg zu
folgen, wo er triumphal empfangen wird.
Euler bleibt seiner Heimatstadt Basel immer verbunden. Selbstverständlich
will die Universität den berühmten Sohn der Stadt zurück haben, besonders,
nachdem sein ehemaliger Lehrer Johann Bernoulli gestorben ist, hat aber
nicht die Möglichkeit, ihm die idealen Bedingungen zu gewähren, die er in
Berlin und dann in St.Petersburg vorfindet.
Er kann praktisch seine gesamte Zeit der Forschung widmen, vor allem nach Herzenslust
schreiben -Bücher, die noch lange nach seinem Tod Standardwerke der Studierenden sind und
Briefe, Briefe, Briefe..... - allein 234 an die junge Markgräfin Sophie Charlotte. Die „Lettres à
une princesse d'Allemagne“ erscheinen in Buchform, übersetzt in viele Sprachen. Sie behandeln
ausführlich und klar formuliert viele mathematische, naturwissenschaftliche und auch philosophische Themen des 18. Jahrhunderts. Ein wichtiger Briefpartner Eulers ist der um 17 Jahre
ältere Christian Goldbach. Dieser schreibt ihm einmal, er glaube, dass jede natürliche Zahl
größer als 2 als Summe dreier Primzahlen (einschließlich 1) geschrieben werden kann - die bekannte „Goldbachsche Vermutung“.
Der graue Star und eine nicht ganz geglückte Operation ruinieren Euler das
verbliebene Auge. Aber er arbeitet ungebrochen weiter. Wo andere in Unterlagen vor- und zurückblättern müssen, hat er sein einmaliges Gedächtnis.
Dann stirbt 1773 nach fast 40-jähriger Ehe Katharina. Er arbeitet weiter.
Auch heute noch ist sein Werk hochaktuell. So liegt etwa die nach ihm benannte φ-Funktion,
die zu jeder natürlichen Zahl n die Anzahl der im Intervall [1, n] zu n teilerfremden Zahlen
liefert, der RSA-Kodierung zugrunde, dem wohl am meisten verbreiteten Public-Key-Verfahren
moderner Datenübertragung. Immer wieder ehrt ihn die Wissenschaft. Zum Beispiel trägt ein
Mondkrater seinen Namen ebenso wie ein erst kürzlich entdeckter Asteroid.
Noch nach Jahrhunderten sorgt er für Überaschungen. Im Jahre 1944 lässt man
in der ETH Zürich eine Turbine nach einer Vorlage Eulers bauen, die er ohne
irgendwelche Experimente rein theoretisch entworfen hatte. Zur
22
Verwunderung aller erreicht sie einen Wirkungsgrad von 71 Prozent, ein
erstaunlicher Wert, wenn man bedenkt, dass die modernsten, computerberechneten Turbinen von heute es auf gerade mal 80 Prozent bringen.
Aber zurück ins Jahr 1783, wenige Monate vor Eulers Tod. Als die Fürstin Daschkowa mit
ihm den Sitzungssaal der Akademie betritt, muss sie feststellen, dass sich auf dem Ehrenplatz
neben dem Präsidentensessel schon ein anderer breit gemacht hat, wohl damit rechnend, dass
Euler nicht mehr kommen würde. Dieser - in seiner Bescheidenheit - sucht woanders einen
Stuhl, begleitet von den Worten der Fürstin: „Sie haben nicht den Platz, der Ihnen gebührt. Aber
wo immer Sie auch sitzen werden, Ihr Platz wird von allen der erste sein.“
Über den Sitzungssaal hinaus und die Zeit hinweg mag die Bemerkung der Fürstin als
Kompliment gelten, das man bis heute kaum einem anderen mit gleicher Berechtigung machen
könnte.
Literatur:
Euler kommt fast in jedem Mathematikbuch vor. Im Internet gibt es eine Fülle
an Informationen über seine Leistungen. Es sei hier deshalb nur verwiesen auf Autoren der Universität Basel wie Hanspeter Kraft (Präsident der Euler-Kommission)
und Hans Walser, dem ich für manchen Hinweis dankbar bin, sowie auf das EulerArchiv in Basel unter Martin Mattmüller, ferner auf die Bücher
•
„Leonhard Euler“ von Emil A. Fellmann, Birkhäuser‐Verlag, 2006 ‐ eine Biographie, •
„Leonhard Euler Opera Omnia“ Reihe 4A (Commercium Epistolicum), Band 1, Birkhäuser‐Verlag, 1975. Die Fotos entstanden im Februar 2008 auf Reisen, die den Verfasser „Eulers Spuren folgend“ nach Berlin und St.Petersburg geführt hatten.
23
Was ist Didaktik der Mathematik?
Die persönliche Sicht auf ein Universitätsfach
Erweiterte schriftliche Fassung eines Impulsreferats am Lehrer/innen/fortbildungstag „West“
der ÖMG an der Universität Innsbruck, April 2008
von Karl Josef Fuchs, Universität Salzburg
Abstract: Der Beitrag beschreibt das Universitätsfach Didaktik der Mathematik über die Aufgaben, die ein
Fachdidaktiker in Lehre und Forschung zu erfüllen hat. Wesentliches Anliegen des Autors ist es, die Fachdidaktik als Vermittler zwischen Theorie und Praxis zu positionieren. Jede Vernachlässigung oder Überbetonung einer Seite wird dem Bild einer modernen Wissenschaft einer Didaktik der Mathematik nicht gerecht.
1. Über die Schwierigkeit einer Antwort
Zunächst erlaube ich mir, die Frage „Was ist Didaktik der Mathematik?“ auf die nach meiner
Meinung bedeutend einfacher zu beantwortende Anfrage „Was macht ein Fachdidaktiker1?“ herunter zu brechen. Der Blick richtet sich auf die Tätigkeit eines „professionellen“ Fachdidaktikers an einer österreichischen oder deutschen Universität.
Nun bin ich mir sicher, dass die Antworten auf Anfragen wie „Was macht ein Dachdecker /
ein Installateur?“ oder selbst Akademiker betreffend „Was macht ein Arzt / ein Richter?“ von
zahlreichen „Leuten auf der Straße“ die jeweiligen Berufsgruppen trefflichst beschreiben. Allerdings wird man keine oder bestenfalls unbefriedigende Antworten auf unsere Eingangsfrage
„Was macht ein Fachdidaktiker?“ erhalten.
Unbefriedigend vor allem deshalb, weil die Antworten aufgrund ihrer „Kopflastigkeit“ von
Theorie oder Praxis kein vollständiges Bild einer zeitgemäßen Fachdidaktik vermitteln. So weisen Ansichten wie etwa „Lehrer erlernen ihren Beruf ohnehin erst in der Schule“ auf die Wichtigkeit der Praxis hin, Meinungen wie „Die Fachdidaktik als theoretische Disziplin hat sich vor
allem der Wissenschaft verpflichtet zu fühlen“ betonen wiederum die mindestens ebenso wichtige Rolle der Forschung neben der Lehre.
Die Aufgabe moderner Fachdidaktik beiden Seiten, nämlich der Theorie und Praxis in gleicher Weise gerecht zu werden, möchte ich als Theorie – Praxis – Problem bezeichnen. Die
moderne Fachdidaktik hat aber auf ihrem Weg der Emanzipation von anderen Disziplinen auch
mit einem Synthese – Problem zu kämpfen. Ganz konkret meine ich damit, dass zum einen die
Fachdidaktik zwar unter dem Einfluss zahlreicher Bezugswissenschaften steht, zum anderen,
dass sie aber bemüht sein muss, ihre „Zuständigkeiten“ durch die Gewichtungen und Bewertungen
einzelner
Themen und Methoden klar herauszustellen. Aktuell muss sich die Fachdidaktik Mathematik
auch noch mit einer ebenfalls nach Selbständigkeit strebenden In-formatikdidaktik auseinandersetzen [5].
Als Antwort auf die Eingangsfrage setze ich in diesem Beitrag keine explizite Definition von
Fachdidaktik, die Theorie und Praxis in befriedigender Weise gerecht werden sollte. Vielmehr
werde ich versuchen, die theoretischen Seite der Fachdidaktik durch eine Aufzählung einer Viel1
Im Beitrag habe ich von einer durchgehenden gendersensiblen Unterscheidung zwischen Fachdidaktikerin und
Fachdidaktiker abgesehen. Selbstverständlich werden jedoch Vertreter beiderlei Geschlechts adressiert.
24
zahl von Themen und Methoden fest zu machen, die praktische Seite durch die Nennung von
bedeutenden Funktionseigenschaften der Fachdidaktik für den Lehreralltag.
2. Über die Vielfalt der Themen
Auch der Fachdidaktiker arbeitet zunächst als Mathematiker. Er entwirft praktikable Kurse
[7] für den Mathematikunterricht, diskutiert alternative Begriffsbildungen (z. B. ein grenzwertfreier Zugang zur Differenzierbarkeit [11, 12]) oder präsentiert – wie in diesem Heft Fritz
1
Schweiger mit seinem Beitrag Kann man die Gleichung − = 1 + 3 + 9 + 27 + … sinnvoll
2
interpretieren? - Ein Einstieg zu p - adischen Zahlen – Einheiten jenseits des traditionellen Mathematikunterrichts.
Geht es um die Beurteilung des Lehr- und Lernprozesses als Ganzes, um die Formulierung
von Bildungsstandards (vgl. Hans – Stefan Siller in diesem Heft) oder um Fragen der Inneren
Differenzierung im Mathematikunterricht so wird der Fachdidaktiker zum Erziehungswissenschaftler.
Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg sind Themen, die den Mathematik-unterricht
seit jeher begleiten. Ein Fachdidaktiker, der dazu befragt wird, argumentiert als Psychologe,
wenn er auf Motivationskonstrukte aus der differentiellen Psychologie zurückgreift.
Nimmt der Fachdidaktiker zu gesellschaftsrelevanten Fragen seines Faches Stellung, so handelt er als Soziologe. Denken wir hier etwa an die große Bedeutung der bildungspolitischen Diskussion über Notwendigkeit und Umfang von Kenntnissen im Umgang mit Neuen Technologien,
eine
Debatte, bei der vor allem die Mathematik und die inhaltlich nahe verwandte Informatik eine
zentrale Rolle spielten [8] und spielen [3, 14].
Sollte nun der Leser vermuten, dass sich meine Aufzählung an der von Erich Ch. Wittmann in
seinen Grundfragen des Mathematikunterrichts präsentierten thematischen Charakterisierung
[16] mit der Didaktik der Mathematik im Zentrum beeinflusst von einer Reihe von Bezugswissen-schaften
orientiert, so hat er Recht. Obwohl dieses Schema nahezu 25 Jahre alt ist, halte ich es immer
noch für eine der gelungensten Darstellungen, aus der sich die Vielfalt der Themen mit denen
sich ein Fachdidaktiker in Lehre und Forschung beschäftigt, unmittelbar ableiten lässt.
25
3. Über die Vielfalt der Methoden
Aus der Vielzahl der Themen sowie aus den Rollen, die der Fachdidaktiker übernimmt, leiten
sich eine Fülle von Methoden ab.
Als Mathematiker legt der Fachdidaktiker ein besonderes Augenmerk auf die formale Korrektheit der dargestellten Themen, auf immer wiederkehrende Strategien sowie auf grundlegende
Beweistechniken.
Als immer wiederkehrende Strategie möchte ich das zielführende Hinzufügen und Wegnehmen
– von einigen Kollegen auch aussagekräftig Teleskop - Prinzip bezeichnet – nennen. Konkrete
Beispiele aus dem Schulunterricht sind die Quadratische Ergänzung zur Ermittlung der Lösungs-formel einer quadratischen Gleichung
⎛ 2
⎞
p2 p2
⎜⎜ x + p ⋅ x + q = x 2 + p ⋅ x +
−
+ q ⎟⎟ oder die Begründung der Produktregel der
4
4
⎝
⎠
Differenzialrechnung
⎛
f ( x) ⋅ g ( x) − f ( x0 ) ⋅ g ( x0 )
f ( x) ⋅ g ( x) + f ( x) ⋅ g ( x0 ) − f ( x) ⋅ g ( x0 ) − f ( x0 ) ⋅ g ( x0 ) ⎞
⎜⎜ lim
⎟⎟
= lim
x → x0
x → x0
−
−
x
x
x
x
0
0
⎝
⎠
Grundlegende Beweistechniken sind exemplarisch etwa
der konstruktive Beweis für die Innenwinkelsumme eines Dreiecks,
der indirekte Beweis für die Irrationalität von Wurzel aus 2 oder
der Beweis für die Summe
n
∑i =
i =1
n ⋅ (n + 1)
durch Vollständige Induktion.
2
Als Erziehungswissenschaftler, Psychologe und Soziologe benützt der Fachdidaktiker empirische Methoden, um Lernvoraussetzungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Lernenden
zu studieren. Eine gute Übersicht über die große Zahl an quantitativen (Fragebogen, Test) und
26
qualitativen Methoden (Gespräch, Interview) erhält man in dem Buch Lehrer erforschen ihren
Unterricht [1].
Der Fachdidaktiker arbeitet aber auch historisch – interpretierend, wenn er Themen des
Schulunterrichts in ihrer historischen Entwicklung darstellt [10].
Lebendig ist ein Unterricht immer dann, wenn der Lehrstoff mit den Studierenden im Lehrer
– Schüler – Gespräch, also dialogisch, entwickelt wird [8].
Macht der Fachdidaktiker die Verwendung von Symbolen und Symbolsystemen zum Gegenstand seiner Forschung, so ist er in gewissem Sinn sprachwissenschaftlich tätig [13].
Durch die Hinzunahme dieser historisch – interpretierenden, dialogischen und sprachwissenschaftlichen Methoden erfährt das in Kapitel 1 dargestellte Rollenbild des Fachdidaktikers noch einmal eine Erweiterung. Ich möchte sagen, der Fachdidaktiker handelt als Historiker,
Philosoph und Sprachwissenschaftler.
4. Fachdidaktik als Orientierungshilfe und Berufswissenschaft
Der Fachdidaktiker muss sich auch stets der Schulpraxis verpflichtet fühlen. Sehr treffend
nennt der bereits zuvor genannte Wissenschaftler Erich Ch. Wittmann die Fachdidaktik die Berufswissenschaft des Mathematiklehrers.
Wesentliche Aufgaben des Fachdidaktikers die Schulpraxis betreffend sehe ich
•
•
•
in der Bereitstellung von praktikablen Modellen zur Sequenzierung von Inhalten
(logisch – deduktive, aufgabenzentrierte oder genetische Orientierung) bzw. zur
Planung eines zielführenden Mathematikunterrichts einschließlich deren Bewertung.
in der Formulierung von Leitideen – so genannter Fundmentaler Ideen [15] -, die
das Lernen von Mathematik ‚durchsichtiger’ erscheinen lassen.
in einer aktiven, verantwortungsbewussten Partizipation an der Bildungspolitik.
Der Mathematiker und Fachdidaktiker Roland Fischer nennt dies die ‚Aktive Rolle’ des Wissenschaftlers in einer breiten – öffentlichen bildungs-politischen Diskussion [4].
Das weite Betätigungsfeld des Fachdidaktikers reicht dabei von einer regelmäßigen Beteiligung an Lehrerfortbildung und Weiterbildung [6] über die Mitwirkung in Lehrplankommissionen bis hin zur Diskussion über mathematische Kompetenzen.
Nachwuchsförderung (d. h. Förderung von Publikationen, Vorträgen auf nationalen und internationalen Konferenzen, Fachdidaktische Diplomarbeiten und Dissertationen) ist schließlich ein
bedeutsames Anliegen des Fachdidaktikers. Seit jeher ist die Lehrerschaft ein besonderer Adressatenkreis für dieses Anliegen. Bedauerlicher Weise wurden durch zahlreiche Novellierungen
vor allem das Doktoratsstudium betreffend ein berufsbegleitendes Studium fast unmöglich gemacht.
5. Schlusswort
27
Ich möchte aber diesen Beitrag nicht mit pessimistischen Betrachtungen der augenblicklichen
Rahmenbedingungen ausklingen lassen. Trotz aller bürokratischen Hindernisse sehe ich die Zukunft der Fachdidaktik optimistisch. In den genau 20 Jahren seit dem Abschluss meiner Dissertation und genau 10 Jahre nach der Verleihung der Venia Docendi aus Didaktik der Mathematik
nach Abschluss des Habilitationsverfahrens habe ich zahlreichen Studierenden in Salzburg, Innsbruck und Brixen (Univ. Bozen) meine Sicht auf die Didaktik der Mathematik vermittelt. Viele
dieser
Studierenden haben mir positive Rückmeldung gegeben, einige ließen sich auch für fachdidaktische
Diplomarbeiten und Dissertationen begeistern.
Daher bin ich zutiefst überzeugt, dass ein vor ca. 30 Jahren von Johan van Dormolen [2] gezeichnetes Bild des Lehrers keine Gültigkeit mehr haben sollte:
Zitat Dormolen: Die meisten Lehrer haben ihren Beruf fast ausschließlich in der Praxis
erlernt. Ihre Art zu lehren hat handwerklichen Charakter. Man lehrt das Fach durch
„Hinfallen und Aufstehen“ gepaart mit gefühlsmäßiger Intuition für Gutes und Unmögliches. Geleitet wird man von der Strategie eines Schulbuchs, das man einfach benutzt und
das Kollegen geschrieben haben, die ihren Beruf auf genau dieselbe Art gelernt haben.
Moderne Fachdidaktik wird heute von Lehrenden und Forschern im Sinne eines in den vorangehenden Kapiteln dargestellten Rollenbildes vertreten und weiter entwickelt.
Literatur:
[1]
Altrichter, Herbert / Posch, Peter (1998): Lehrer erforschen ihren Unterricht: eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
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Dormolen, Johan von (1978): Didaktik der Mathematik. Braunschweig / Wiesbaden:
Vieweg.
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Eder, Christoph (2007): Bildungsstandards in Informatik. Diplomarbeit aus Didaktik der
Informatik an der Universität Salzburg.
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Fischer, Roland (1988) : Mittel und System: Zur sozialen Relevanz der Mathematik. In:
Zentralblatt für Didaktik der Mathematik. 1988, Nr. 1, S. 20-28.
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Fuchs, Karl Josef (2005): How Strict May, Should, Must the Borders be Drawn? In: Innovative Concepts for Teaching Informatics (Micheuz, Antonitsch, Mittermeir Hrsg),
Wien: Ueberreuther Verlag, S. 7 – 14.
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Fuchs, Karl Josef (2005): Fördernde und Fordernde Lernumgebungen. Vortrag im Rahmen der Lehrerfortbildung, ARGE Mathematik, PI Salzburg – Sommersemester 2005.
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Griesel, Heinz (1971): Die Neue Mathematik für Lehrer und Studenten. Hannover.
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Hettrich, Monica (2005): Entdecken, Erleben, Beschreiben – Der Dialogische Mathematikunterricht. In: Magazin Schule, Ausgabe 15.
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Hüffel, Clemens / Reiter, Anton (Hrsg) (1996): Praxis der EDV / Informatik. Wien:
Jugend & Volk.
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Kronfellner, Manfred (1998): Historische Aspekte im Mathematikunterricht. Eine didaktische Analyse mit unterrichtsspezifischen Beispielen (Habilitationsschrift),Wien: Verlag
Hölder-Pichler-Tempsky.
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2, Heft 1, S. 1 – 32
[12]
Lunter, Karl Heinz (1982): Ein algebraischer Einstieg in die Analysis – 3.4. Ableitungsregeln. In: Didaktik der Mathematik 4/1982, S. 279 – 280.
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Verwenden von Fachsprache im Mathematikunterricht. Wien: öbv & hpt.
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Öhlinger, Philipp (2007): Bildungsziele im Mathematikunterricht. Diplomarbeit aus Didaktik der Mathematik an der Universität Salzburg.
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Schlöglmann / J. Maasz Hrsg.), S. 63 – 74.
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Wittmann, Erich Ch. (1981): Grundfragen des Mathematikunterrichts. Braunschweig /
Wiesbaden: Vieweg.
29
Exaktheit im Mathematikunterricht
von Georg Wengler & Rudolf Gruber, ph Salzburg
Abstract: Fragen zur Benennung und Bezeichnung von Objekten. Sensibilisierung für
Nomenklaturen und eine gewisse „Bezeichnungshygiene“. Bedeutung der Notation von
Gedankenketten und der Anwendung von Rechengesetzen. Wie exakt muss/darf die
Schulmathematik sein? Wo sind präzise Denkstrukturen aus didaktischer Sicht notwendig
und wo genügt ein intuitiver Zugang?
1 Beispiele aus der Arithmetik
Wenn wir in der unterrichtlichen Tätigkeit mit Zahlen hantieren, Berechnungen durchführen
und Textaufgaben lösen, dann stellt sich in jeder Lernphase die Frage, wie exakt geht man
mit den Rechenobjekten um. Da kann es ohne weiteres sein, dass man für einen intuitiven
Zugang zu einem Problem ganz salopp eine Ideenskizze mit umgangssprachlicher
Formulierung entwirft, die erst in der weiteren Analyse quasi im Nachhinein einen gewissen
Grad an Exaktheit erfährt. Andrerseits kann es die Einführung eines neuen Begriffes
notwendig machen, dass man diesen mit einer präzisen und wohldurchdachten Definition
abgrenzt. In einer fortgeschrittenen Phase mag man diesen Begriff dann vielleicht auch
unscharf verwenden, wenn aus dem Kontext ganz deutlich hervortritt, was der Partner meint.
Der Lehrkraft wird es allerdings in jeder Unterrichtsphase helfen, wenn sie den exakten
mathematischen Hintergrund kennt, damit sie entsprechend didaktisch entscheiden kann.
Mit den folgend angeführten Beispielen möchten wir solche Situationen kurz beschreiben
und zum Nachdenken anregen.
1.1.
Die direkte und indirekte Proportionalität
Diese wird im Schulalltag auch gerne als „direkte und indirekte Schlussrechnung“ bezeichnet
und bedient sich oft der Formulierungen
(1) „je mehr …, desto mehr …“ bzw.
(2) „je mehr …, desto weniger …“.
(3)
In wie weit kann man diese sprachliche Ausdrucksweise akzeptieren? Was steckt
mathematisch dahinter? Bei der direkten proportionalen Beziehung y = k ⋅ x , wie wir sie
wohl kennen, wird in vielen Aufgabenstellungen unausgesprochen angenommen, dass der
Proportionalitätsfaktor k>0 ist. Zumindest die klassisch gestellten Textaufgaben operieren
mit einem positiven Faktor k. Schauen Sie sich in den entsprechenden Schulbüchern um. Bei
einem negativen Faktor k stimmt die Formulierung (1) wohl nicht mehr, oder? Wenn man
aber nun annimmt, es handelte sich um eine indirekte Proportion, weil ja Formulierung (2)
zutrifft, dann läge man ganz ordentlich daneben.
An Hand folgender Beispiele möge man sich selber vergewissern, dass man aus der
Formulierung (2) nicht notwendigerweise auf eine indirekte Proportion schließen darf:
Bsp.1:
Peter hält seinen Radiergummi hoch und lässt ihn fallen.
„je mehr Zeit vergeht, desto geringer wird die Höhe (Entfernung zum Boden).“
30
Bsp.2:
Wenn jemand seine Schuld von 1000 € mit monatlich konstantem Betrag von 50 €
zurückzahlt, dann kann man sagen: „je mehr Zeit vergeht, desto weniger Schulden.“
Bsp.3:
Zahlt man die Schuld von 1000 € zu 5% monatlich zurück, dann wird man ebenfalls sagen:
„je mehr Zeit vergeht, desto weniger Schulden.“
Bsp4:
Wir teilen 600 € auf eine gewisse Anzahl von Personen gleichmäßig auf. Es wird gelten:
„je mehr Personen vorhanden, desto weniger Geld bekommt jede einzelne Person.“
Was darf aus der Formulierung (2) gefolgert werden? Was haben alle vier Beispiele
gemeinsam? Die Antwort zeigt die jeweilige grafische Darstellung der geltenden Beziehung:
In allen vier Fällen ist der Graph nämlich monoton fallend. Formulierung (1) beschreibt
hingegen einen monoton steigenden Graphen. Hat man etwa eine reziproke Funktion der
c
Art y =
mit c<0 vor sich, so ist der Graph in seinem Definitionsbereich {x ∈ ℜ x ≠ 0}
x
überall monoton steigend und es gilt Formulierung (1). Damit hat man ebenfalls ein
bestechendes Beispiel dafür, dass man aus (1) ganz und gar nicht ein direktes Verhältnis
ableiten kann. Für den Unterricht bedeutet dies, dass die Formulierung (1) bzw. (2) nicht
notwendigerweise eine direkte bzw. indirekte proportionale Beziehung darstellt. Kündigt
allerdings eine Überschrift im Schulübungsheft, im Schulbuch und/oder auf der Tafel für die
nächsten Wochen eine Beschäftigung mit der „direkten bzw. indirekten Proportionalität“ an,
dann wird für SchülerInnen vermutlich aus diesem Kontext heraus der Eindruck entstehen,
dass es eine andere Beziehung als diese Proportionalität gar nicht gibt. Man kann
diesbezüglich nur entgegensteuern, wenn man geeignete „Gegenbeispiele“ zitiert und das
Thema in ein breiteres Umfeld einbettet.
Angenommen, wir haben es nun tatsächlich mit einer direkten bzw. indirekten Proportion zu
tun, dann kennt man das übliche, schematische Auflösungsritual mit den Pfeilen:
klassisches Beispiel einer direkten Proportion:
3 kg Äpfel
1,8 €
5 kg Äpfel
x€
klassisches Beispiel einer indirekten Proportion:
2 Arbeitskräfte 4 Std.
3 Arbeitskräfte x Std.
Betrachten wir einmal das Grundsätzliche einer direkten bzw. indirekten Proportion:
Das Wesen der direkten Proportion ist, dass quotientengleiche Paare vorliegen,
d.h. y / x ist konstant.
Quotientengleiche Paare:
3 kg Äpfel
5 kg Äpfel
/
/
1,8 €
x€
oder
1,8€
x€
/
/
3 kg Äpfel
5 kg Äpfel
Dieser Ansatz ist nun ebenso schematisch wie die „Pfeilmethode“, verwendet aber
unmittelbar die Quotientengleichheit der direkten Proportion, wobei man in der rechts
stehenden Variante etwas leichter nach x auflösen kann!
31
In jedem Fall wird erst eine Analyse per Tabelle und Graph diese Beziehung übersichtlich
und verständlich machen.
Masse
[kg]
Wert
[€]
3
12
__
1
__
5
1,8
__
3,6
__
1
x
Abb. 1 Linearität der direkten Proportion
Das Wesen der indirekten Proportion hingegen ist, dass produktgleiche Paare vorliegen,
d.h. y * x ist konstant.
Produktgleiche Paare
2 Personen
3 Personen
*
*
4 Std.
x Std.
Auch dieser Ansatz ist so schematisch wie die „Pfeilmethode“, verwendet aber unmittelbar
die Produktgleichheit der indirekten Proportion.
Wiederum verschafft die Aufbereitung in einer Tabelle und die Darstellung als Graph eine
Übersicht über die Eigenschaften der indirekten proportionalen Beziehung, wie etwa die
Krümmung, das asymptotische Verhalten etc.
Leistung
[manpower]
2
10
__
1
__
3
Dauer
[h]
4
__
2
__
1
x
Abb. 2 Reziprozität der indirekten Proportion
Immer dann, wenn ein Verhältnis konstant bleibt, z.B. Weg-Zeit-Gesetz für lineare
Bewegungen mit konstanter Geschwindigkeit v: v = s/t => s(t) = v.t, liegt direkte Proportion
vor.
Immer da, wo ein Produkt konstant bleibt, z.B. Rechteckfläche mit konstantem Inhalt F:
F = l.b => l(b) = F/b, liegt indirekte Proportion vor.
32
Weiter Beispiele liefern das Hebelgesetz oder die Geschwindigkeit-Zeit-Beziehung bei
konstantem Weg.
1.2.
Näherungswerte und Maßzahlen
In den meisten CAS-Programmen - wie etwa DERIVE - wird zwischen exaktem und
Näherungsmodus unterschieden und für die jeweilige Auswertung das Zeichen „=“ bzw. „≈“
verwendet. Diese konsequente Unterscheidung scheint auch für den Alltagsunterricht
nützlich. Wie können SchülerInnen besser zum Ausdruck bringen, ob sie gerade mit einem
gerundeten, geschätzten, abgeschnittenen (abgebrochenen), gemessenen oder mit einem
exakten Wert zu tun haben. Andererseits wird dadurch die Notwendigkeit der Symbolik
bewusst.
Wir schreiben etwa vom Taschenrechner ab: 2 ≈ 1.4142 statt 2 = 1.4142 .
Gerade bei der Benutzung des Taschenrechners stellt sich speziell die Frage nach der
sinnvollen Genauigkeit. Was bedeuten wohl folgende Maßangaben?
5,345275869 € oder 84,73281924 km/h etc.
Maßzahlen unterliegen ebenfalls einer präzisen Schreibweise, was die Fehlerbehaftetheit
angeht. Es ist ein Unterschied, ob man 1 cm schreibt oder 1,0 cm, weil damit die geforderte
Genauigkeit einher geht. Die Angabe a ≈ 10±0,5 cm bedeutet als Intervall 9,5≤a≤10,5.
Ist a = 10,0 als gerundeter Wert angegeben, dann gilt: 9,5≤a<10,5.
Ist a =10,0 als abgeschnittener Wert bekannt, dann gilt: 10,0≤a<11.
An Hand folgender Beispiele möge man sich diese Thematik näher überlegen:
a) Die Länge eines Fußballfeldes soll 110m betragen. Baubedingt treten Fehler von ±10 cm
auf.
b) Auf Grund von Messungenauigkeiten gibt Hans seine Körpergröße mit 165±0,5cm an.
c) Die mittlere Entfernung Erde – Mond beträgt ungefähr 3,844⋅105 Kilometer.
d) In einem Stromkreis mit der Sollspannung 110 V fließt 1 A Strom. Das Messgerät hat
eine Toleranz von 0,05 A.
Wie groß können Abweichungen der Spannung sein, wenn der Widerstand höchstens um
5% schwankt?
Wie groß dürfen Abweichungen des Widerstands sein, damit die Spannung höchstens um
5V schwankt?
Unterscheide dabei:
Wie groß darf etwas sein, damit ....
Wie groß kann etwas werden, wenn ....
e) Der Durchmesser einer Kugel sei mit einem Messfehler von p% behaftet. Mit welchem
relativen Fehler muss man bei der Bestimmung des Gewichts der Kugel rechnen?
f) M sei die Menge aller Zahlen, deren Dezimalbruchdarstellung nach 2 Kommastellen
abbricht, a ⊕ b sei die zugehörige Addition und a ⊗ b die zugehörige Multiplikation.
(M,⊕) ist eine kommutative Gruppe, (M\{0},⊗) hingegen nicht. Überlege warum?
33
Betrachten wir einmal folgendes Gleichungssystem:
3.29x+2.01y = 7.365
1.8 x + 1.1 y = 4.03
Wie man nachrechnen kann, hat das Gleichungssystem den Lösungspunkt A=(1.2,1.7).
Welcher der beiden folgenden Punkte stellt die „bessere“ Näherungslösung dar?
B=(0.9,2.2) oder C=(1.4,1.7)
Die folgende grafische Darstellung mag die Situation verdeutlichen:
Abb. 3 welcher Punkt gilt als bessere Näherung?
Die Abb. 3 suggeriert, dass C „besser“ ist als B, weil C gemäß Abstand näher an der Lösung
liegt. Berechnen wir aber die sogenannten Residuen, d.h. setzen wir die beiden
Näherungspunkte jeweils in die Gleichungen ein und berechnen die Differenzen zu den
Randwerten, dann erhält man für B die Residuen r1 = -0.018 und r2 = -0.01, für C hingegen
die wesentlich gröberen Werte s1 = -0.658 und s2 = -0.36. Wie sieht dein Urteil nun aus?
1.3.
numerische versus algebraische Äquivalenz
Dass algebraische Äquivalenz nicht immer auch numerische Äquivalenz bedeuten muss, soll
das folgende Beispiel zeigen. Es gilt wegen 1 = 9801 − 9800 = (99 − 70 2)(99 + 70 2) die
1
.
(3)
algebraische Äquivalenz: 99 − 70 2 =
99 + 70 2
Ein Programm wie DERIVE vereinfacht dabei zu 99 − 70 2 .
Berechnet man die Terme auf den beiden Seiten von (3) mit DERIVE im Näherungsmodus,
dann erhält man:
Was stimmt nun?
Setzt man für 2 ≈ 1.4 ein, so wird die Sache noch drastischer:
bzw.
34
Schauen wir uns den Sachverhalt an, wenn man
Linker Term:
d.h. eine Änderung h bei
Rechter Term:
2 mit einem Änderungswert h versieht:
2 bewirkt das 70-fache von h im Ergebnis.
Hier bewirkt die Änderung h bei 2 weniger als das 0.0017-fache von h im Term.
Man sieht also, dass der Differenzterm wesentlich mehr „daneben“ liegt als der Bruchterm.
Dies ist umso bemerkenswerter als DERIVE bei der algebraischen Vereinfachung auf die
Differenz reduziert und somit numerisch den schlechteren Wert anzeigt. Das Rationalmachen
des Nenners durch Erweitern erscheint also aus numerischer Sicht in diesem Beispiel
unvernünftig.
Dieses Phänomen beruht auf der Tatsache, dass die Subtraktion ein instabiler Algorithmus
ist, d.h. bei der Subtraktion kann es zur Löschung signifikanter Dezimalstellen kommen und
die interne Darstellung „hüpft“ ohne Vorwarnung auf Null.
2 Beispiele aus der Algebra
An der Tafel steht der einfache Term: –a. Welches Vorzeichen hat dieser Ausdruck? Es ist
unmittelbar einzusehen, dass man dies nicht sagen kann, solange nicht klar ist, wie die
Variable a belegt ist. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, welche grundsätzlichen
Überlegungen bei der Verwendung von Variablen in der Algebra angestellt werden müssen.
Jede Variable erfordert eine Fallunterscheidung hinsichtlich ihrer möglichen Belegung aus
einem Wertevorrat. Sehen wir uns zunächst die Situation bei Gleichungen an.
2.1.
Gleichungen
Wie exakt läuft das Lösen einer Gleichung ab?
Abb. 4 Vergleich der beiden Terme der Gleichung
Zur Diskussion sei gestellt, wie man zwischen einer Probe, bei der man das ermittelte
Resultat auf die Zugehörigkeit zur Lösungsmenge überprüft und jener Probe, bei der man
lediglich kontrolliert, ob man sich eventuell verrechnet hat. Ein bewußtes Trennen dieser
beiden Vorgänge könnte damit erreicht werden, dass man die eine Vorgehensweise Probe
und die andere Kontrolle nennt.
35
Als weitere Idee sehen wir in der Art, wie etwa in DERIVE die Lösung mit der Zuweisung
an einen festen Speicherplatz umgesetzt wird.
Abb. 5 Lösung als Zuweisung an die Variable
Mit der Zuweisung der Lösung an die Variable ist nämlich auch die Auswertung der
Gleichung in einem Zug zu erledigen. Vielleicht ist es didaktisch ganz klug, diesen
Zuordnungsoperator „:=“ bei der Lösung zu verwenden.
2.2.
Terme und Formeln
2.2.1. Flächeninhaltsformel Trapez Die Flächeninhaltsformel für ein Trapez lautet allgemein:
a+c
h ⎛a b⎞
Fl =
⋅ h = (a + c ) ⋅ = ⎜ + ⎟ ⋅ h
2
2 ⎝ 2 2⎠
Gibt man einem dieser Terme den Vorzug? Wenn ja, welchem und warum? Wird von den
SchülerInnen erkannt, dass diese Terme algebraisch äquivalent sind?
Die nachfolgenden Grafiken Abb.6 bis Abb.8 zeigen, wie unterschiedlich äquivalente
Formelterme geometrisch interpretiert werden können:
a+c
Was bedeutet die Formel Fl =
⋅ h geometrisch?
2
C
D
h
A
(a+c)/2
B
Abb. 6 geometrische Interpretation der Flächenformel
Was wird hingegen die Formel Fl = (a + c) ⋅
h
geometrisch interpretiert?
2
36
D
C
h/2
A
a+c
B
Abb. 7 geometrische Interpretation der Flächenformel
⎛a c⎞
Und welche geometrische Vorgehensweise liegt in der Formel Fl = ⎜ + ⎟ ⋅ h ?
⎝ 2 2⎠
(
)
C
D
h
A
a/2+c/2 B
Abb. 8 geometrische Interpretation der Flächenformel
Eine Variation der Aufgabe bietet sich in der Umkehrung der Fragestellung:
Welcher Variante der Flächenformel für ein Trapez entspricht die geometrische
Interpretation in Abb.9?
D
C
h
A
a+c
B
Abb. 9 geometrische Interpretation der Flächenformel
37
2.2.2. Die Sache mit dem Zinsfuß Folgendes findet sich in einem Schulbuch der 4.Klasse (8.Schulstufe):
Abb. 10 Rovina, Schmid:»Blickpunkt Mathematik 4«. öbv&hpt, Seite 142
Dazu wird etwa in Wikipedia folgende Begriffserklärung angegeben:
Zinsfuß p = Wert (z.B.10)
Zinssatz i=p/100(z.B.0,1=10%)
Zinsfaktor=1+i=1+p/100 (z.B.1,1)
Im Text des Schulbuchs Abb.10 wird von p als Zinssatz gesprochen, obwohl es in der Formel
als Zinsfuß verwendet wird. Setzte man hier konsequent für peff die 1,5% ein, dann erhielte
man den falschen Faktor 1,00015!
In dieser Art sind immer wieder Zinsaufgaben auch in Schulbüchern zu finden, wie etwa:
Z=
K⋅p
100
(4)
Geg.: K=200 €, p = 5%. Berechne die Zinsen gemäß der Formel (4)!
Unterscheidet man schon begrifflich deutlich zwischen Zinsfuß und Zinssatz, dann müsste
entweder die Zinsformel mit p = 5% als Zinssatz schlicht nur Z = K ⋅ p lauten oder die
Angabe mit p = 5 als Zinsfuß vorgegeben sein, wobei aus Gründen der Einfachheit die erste
Variante am klügsten erscheint.
2.3.
Rechengesetze
Folgende „Klammernregeln“ kann man
etwa im Internet finden:
Werden hier tatsächlich Vorzeichen
umgedreht? Möchte man pedantisch sein,
so könnte man sagen, dass sich beim
Umkehren von Vorzeichen nichts ändert,
weil Vorzeichen symmetrische Symbole
sind.
Abb. 11 problematische Auflösungsregel von Klammern
38
Nun Spaß beiseite; sehen wir uns die Sache etwas genauer an:
Welche Regeln liegen z.B. folgender Rechnung zu Grunde?
12 − (3 − 2 + 1) = 12 – 3 + 2 – 1
Rechnung 1:
Wenn SchülerInnen die Klammern wirklich nach der in Abb.10 verkündeten
„Klammernregel“ „auflösen“ und die Vorzeichen ändern, dann müsste ihr Ergebnis so
aussehen:
12 – (-3) – (-2) +(-1).
Erinnern wir uns zunächst an die Gesetze der Gruppentheorie:
Sei ( M , ) eine kommutative Gruppe, dann gelten die bekannten Axiome:
(1)
∀a, b ∈ M : a b ∈ M (abgeschlossen)
(2)
∀a, b, c ∈ M : (a b) c = a (b c) (assoziativ)
(3)
∃1n ∈ M : ∀a ∈ M : a n = a (Existenz eines neutralen Elementes)
(4)
∀a ∈ M : ∃a* ∈ M : a a* = n (Existenz der inversen Elemente)
(5)
∀a, b ∈ M : a b = b a (kommutativ)
Denken wir uns also die inversen Elemente bezüglich der Addition nicht mit Vorzeichen
behaftet sondern mit einem hochgestellten Stern (*) markiert.
So gesehen erscheint
- die Subtraktion als Addition des inversen Elementes: etwa 5 – 3 = 5+3*
- das Inverse des inversen Elementes: etwa 2** = 2
- das neutrale Element: etwa 0 = 3+3*
In der Rechnung 1 ist die Subtraktion folglich so zu interpretieren: 12 + (3+2*+1.
12 + (3+2*+1)* liefert nach den Regeln mit dem Inversen den Term: 12 + (3*+2**+1*).
Laut Assoziativgesetz darf man die Klammern weglassen und man erhält:
12 + 3* + 2 + 1*.
Dort, wo wir im Ausdruck noch ein inverses Element vorfinden, können wir wieder die
inverse Rechenoperation verwenden: 12 – 3 + 2 – 1. Voila!
Was hat man letztendlich getan? Man hat die Operationszeichen geändert. Diesen Vorgang
könnte man einfachheitshalber als „Umpolungsregel“ bezeichnen, weil bei der Auflösung
der Klammern kurzerhand alle Operationszeichen (und nicht die Vorzeichen) umgepolt
werden.
12 : (4 ⋅ 2)
Rechnung 2:
Bei der Punktrechnung verläuft die Sache ganz analog. Die Division ist die inverse Operation
der Multiplikation. Dieser Interpretation zufolge werden auch hier die Klammern „aufgelöst“
indem man die Rechenoperation in den Klammern ändert. Also 12/(4.2) ergibt 12.(4.2)* bzw.
12.(4*.2*). Laut Assoziativgesetz darf man die Klammern nun weglassen und kriegt
12.4*.2*, wobei wir bei jedem inversen Element wieder die Gegenoperation schreiben
können: 12/4/2.
a/b/c =
Die nebenstehenden drei Beispiele möge man selber auf diese Weise
a /(b / c) =
durchspielen.
( a / b) / c =
39
Auch folgende Aufgabenstellung in Abb.12 erscheint in diesem Sinne algebraisch und
deshalb didaktisch bedenklich:
Abb. 12 Klammerregel unter : http://www.stephan-schmoll.de/Inhalt/mathe/online/klammerregel1.htm
Sind - so wie in Abb.10 - Variablen im Spiel, dann stellt sich zusätzlich die Frage, wie man
das Vorzeichen ändert. Das inverse Element von x ist (–x), wird die Antwort lauten.
⎧ x, x ≤ 0
und das
Dahinter verbirgt sich streng genommen eine Fallunterscheidung: − x = ⎨
⎩ − x, x > 0
„Minus“ wird hier als einstellige (unäre) Rechenoperation verwendet, die nur besagt, dass
der Inhalt der Variablen x sein Vorzeichen ändert.
Gemäß der in Abb.11 zitierten „2.Klammernregel“ müsste das Beispiel fälschlicherweise so
ausgerechnet werden: (3x + y) – (2x – 4y) = 3x + y – 2(-x) – 4(-y) = 3x + y + 2x + 4y.
Fazit: Die 2.Klammerregel erscheint korrekt in der Formulierung als „Umpolungsregel“ .
1. Klammerregel:
a + (b + c) = a + b + c
a + (b − c) = a + b − c
2. Klammerregel
a − (b + c) = a − b − c
a − (b − c) = a − b + c
Falls vor der Klammer ein +-Zeichen, dann kann man die Klammern weglassen.
Falls vor der Klammer ein – Zeichen , dann die Operationszeichen innerhalb der Klammern
umpolen und die Klammern weglassen.
3 Beispiele aus der Geometrie
Eine Fülle von Fragen stellt sich im Hinblick auf die Bezeichnung, Benennung und
Beschriftung von geometrischen Objekten. Die aufgeworfenen Fragestellungen sollen
einerseits dazu anregen, zu dieser Thematik eigene Gedankengänge zu entwickeln, sie sollen
aber auch auf mathematische Hintergründe hinweisen, die eine exakte Verwendung
notwendig machen.
3.1.
der Punkt
Wie soll man einen Punkt mit seinen Koordinaten angeben? Hier einige Angebote:
P(3|1) oder P(3,1) oder P(3;1) oder P = (3|1) oder P=[3,1]
Wie sieht dies in den verschiedenen mathematischen Softwareprodukten aus?
Punkte werden üblicherweise mit Großbuchstaben bezeichnet.
40
Mögliche Darstellung in Zeichnungen und Konstruktionen:
Abb. 13 Markierung und Bezeichnung von Punkten
Welche Darstellung scheint zweckmäßig? Ist eine Normierung sinnvoll und notwendig?
3.2.
die Strecke
Auch bei der Angabe einer Strecke gibt es einige Möglichkeiten:
uuur
AB oder AB oder AB oder AB oder s(A,B) oder s(AB) oder A sB ?
Eindimensionale Objekte werden üblicherweise mit kleinen Buchstaben bezeichnet.
Grafische Darstellung einer Strecke:
Ist die Beschriftung mit Buchstaben ein Name für die Strecke als
Punktmenge oder ist ihre Länge gemeint?
Unterscheidungsvariante
zwischen
Namensgebung
und
Längenbezeichnung mit eigener Bemaßung, wie sie im technischen
Zeichenbereich üblich ist.
Die Strecke als Teil einer Geraden. Soll man die Trägergerade immer
dazu zeichnen? Was spricht dafür, was eventuell dagegen?
Welche Darstellung der Streckenendpunkte scheint zweckmäßig?
Aus der Schreibweise ]a,b[ bzw. [a,b] ist bekannt, dass man offene
und geschlossene Intervalle unterscheidet, d.h. dies könnte man bei
Strecken ebenfalls einfließen lassen, was es sinnvoll erscheinen lässt,
dass man dann für Punkte den vollen und den hohlen Kleinkreis als
Unterscheidungsmerkmal heranzieht.
Abb. 14 Darstellung und Bezeichnung einer Strecke
Der Umgang mit mathematischen Programmen spricht für eine funktionelle Verwendung der
Objekte. l(s) für Länge einer Strecke, wobei s die Bezeichnung für das Objekt Strecke ist.
Die Strecke ihrerseits hängt etwa von den Endpunkten A und B ab => ST(A,B). In jedem
Fall ist eine diesbezügliche Vereinbarung notwendig.
3.3.
der Strahl
Gibt es für die Halbgerade eine vernünftige Schreibweise? s(A,B), wobei hier die
Reihenfolge der Parameter besonders wichtig ist, weil A der Anfangspunkt und der Strahl
über den Punkt B hinaus gezeichnet wird.
Abb. 15 wie soll ein Strahl korrekt dargestellt und beschriftet werden?
41
Wie soll die unendliche Fortsetzung markiert werden? Verwechslung mit Vektoren liegt auf
der Hand, ein Umstand, der in der Unterstufe allerdings weniger ins Gewicht fällt.
3.4.
die Gerade
Wie soll man eine Gerade durch zwei Punkte festlegen:
g(A,B) oder g(AB) oder AgB
Abb. 16 wie kann die Unendlichkeit von Geraden vernünftig angedeutet werden?
Soll die Unendlichkeit mit Pfeilspitzen angedeutet werden? Ist eine Idee der Unendlichkeit
ohne weitere grafische Pointierung zumutbar?
3.5.
das Dreieck
Auch für das Dreieck findet man unterschiedliche Schreibweisen:
DE(A,B,C) oder ΔABC oder nur ABC?
Im Prototyp eines Dreiecks ist es üblich, dass eine
Seite und der gegenüberliegende Eckpunkt mit
dem selben Buchstaben benannt werden.
Abb. 17 Dreiecksbenennungen
Wie sieht die Situation bei speziellen Dreiecken wie rechtwinkeligem, gleichschenkeligem
oder gleichseitigem Dreieck aus?
Soll der rechte Winkel immer in der Ecke C sitzen?
Abb. 18 rechtwinkeliges Dreieck
Soll die Basis immer AB sein? Sollen gleich lange Seiten
unterschiedlich benannt werden?
Die geometrischen Softwareprogramme tun dies, weil die Objekte
für die Programmlogik eine eindeutig unterscheidbare Bezeichnung
benötigen. In GeoGebra etwa wird im Hintergrund der
Bezeichnung a dann doch die Länge zugewiesen.
Abb. 19 gleichschenkeliges Dreieck
42
Ist die Höhe in einem Dreieck eine Strecke oder eine Gerade? Um etwa die Höhe in einem
stumpfwinkeligen Dreieck konstruieren zu können, muss man die Trägergerade der
zugehörigen Dreieckseite vor sich haben. Deshalb scheint es günstiger, mit dem Begriff
Höhe die Gerade zu meinen. Eindeutig wird es, wenn man von der Höhenlinie oder der
Höhengerade spricht. Auch die Bezeichnung Trägergerade ist sinnvoll, weil sie die Strecke
quasi auf sich „trägt“.
3.6.
der Winkel
Welche Schreibweise soll für Winkel verwendet werden? Griechische Buchstaben α, β, γ etc.
oder ∠ACB oder w(A,C,B).
Die Reihenfolge der Punkte in ∠ACB definiert den Winkel gemäß dem Gegenuhrzeigersinn,
wobei der mittlere Buchstabe dem Scheitel entspricht:
∠ACB
∠BCA
Abb. 20 richtige Winkelbezeichnung über den Drehsinn
In der angelsächsischen Literatur findet man auch die Variante, dass der Winkel mit dem
Eckbuchstaben identifiziert wird, d.h. im Dreieck ABC wäre mit „A“ gleichzeitig auch der
Winkel bei A bezeichnet.
Bei der funktionellen Sichtweise für den Winkel γ im Dreieck ABC ist die Form w(A,C,B)
zweckmäßig.
Wie soll der rechte Winkel markiert werden?
so?
oder nach modernen Vorgaben in der Darstellenden Geometrie:
Abb. 21 Markierung des rechten Winkels
Ähnlich den Seiten eines Dreiecks stellt sich auch beim Winkel die Frage, ob mit dem
griechischen Buchstaben der Name des Winkels oder das zugehörige Winkelmaß gemeint ist.
Um gleich große Winkel hervorzuheben, werden auch gerne folgende
Markierungsmöglichkeiten benutzt:
oder
Abb. 22 gleich große Winkel
Um den Drehsinn anzugeben, wird der Winkelbogen oft mit einem (Dreh-)Richtungspfeil
versehen. Wann ist das sinnvoll?
43
3.7.
das Viereck
Wie schreibt man am besten: VE(ABCD) oder VE(A,B,C,D)? Mit den Beistrichen ist klar
erkennbar, dass die Funktion VE vier Parameter in einer bestimmten Reihenfolge als Input
erhält. Was passiert, wenn ich in dieser Logik VE(A,C,B,D) schreibe?
Der Flächeninhalt wird in vielen Büchern mit A bezeichnet, was Verwechslungen mit dem
Eckpunkt A geben kann; deshalb bietet sich Area(A,B,C,D) oder kurz Ar(A,B,C,D) an.
In der interaktiven Geometrie kann durch Ziehen mit der Maus aus einem allgemeinen
Viereck ein Quadrat dynamisch hergestellt werden:
Abb. 23 dynamisch orientierte Geometrieprogramme bezeichnen keine zwei Objekte mit gleichem Symbol
In solchen Programmen lassen sich zwei Seiten gar nicht mit dem selben Buchstaben
benennen. Darum bleiben auch bei einem Quadrat die Seitenbezeichnungen bei a, b, c, d. Nur
die Länge der vier Seiten ist dann gleich, d.h. genau besehen gilt dann l(a)=l(b)=l(c)=l(d)
oder |a|=|b|=|c|=|d| je nachdem, welche Schreibweise man für den Streckeninhalt wählt.
Rechteck: RE(A,B,C,D) und Flächeninhalt Ar(RE) oder Ar(l,b).
Quadrat: QU(A,B,C,D) und Flächeninhalt Ar(QU) oder Ar(a).
In jedem Fall ist die funktionelle Sicht die Grundlage für die Form. Was unterscheidet aber
ein Quadrat von einem Rechteck? Handelt es sich dabei um zwei verschiedene
Figurentypen?
Irrtümer im Umgang mit Rechteck und Quadrat bestehen bei SchülerInnen oft in der
Tatsache, dass die Figuren als Angehörige zweier verschiedener Klassen1 betrachtet werden,
obwohl es sich in Wahrheit um eine Teilmengenrelation handelt: QU ⊆ RE
1
Die Einteilung einer Menge in Klassen erfolgt so, dass je zwei Klassen disjunkt sind und alle Klassen
zusammen die Grundmenge ergeben.
44
Wie bringt man zum Ausdruck, dass ein Quadrat auch ein (spezielles) Rechteck ist?
Rechtecke: Ar=l.b, u = 2(l+b)
Quadrate: l=b=a,
Ar=a², u = 4a
Abb. 24 die Menge der Quadrate ist eine Teilmenge der Menge der Rechtecke
Wenn man dennoch zwischen einem typischen „Quadrat“ mit vier gleich langen Seiten und
einem typischen „Rechteck“ mit zwei verschieden langen Seiten unterscheidet, was ja in
manchen Situationen notwendig ist, wenn man etwa quadratische und nicht rechteckige
Fliesen bestellen will, dann wählt man nicht das Mengenmodell, sondern hat jeweils einen
Prototypen vor dem geistigen Auge. Die Sicht auf den Prototypen rechtfertigt zwar die
Trennung zweier Objekte hinsichtlich ihrer Eigenschaften, aber die Teilmengenrelation
muss dabei ja nicht aufgegeben werden.
3.8.
das Koordinatensystem
In vielen Grundschulbüchern wird das Koordinatensystem folgendermaßen mit Pfeilspitzen
markiert:
Abb. 25 das kartesische Koordinatensystem mit der Windrosenmarkierung
45
Gegen diese Art der Markierung spricht die Tatsache, dass in der Ordnungsrelation z.B. auf
der x-Achse alle Punkte, die weiter links liegen, kleiner sind als jene, die weiter rechts liegen.
Die Pfeilspitze am negativen Achsenende widerspricht diesem Beziehungsmuster. Außerdem
sieht es so aus, als würde das Koordinatensystem aus vier Strahlen bestehen. Es ist also zu
überlegen, ob das Koordinatensystem nicht von Beginn an so wie in Abb. 26 eingeführt und
beschriftet wird:
Abb. 26 Markierung entsprechend der Ordnungsrelation auf der Zahlengerade mit Beschriftung der
Längeneinheiten
Bei der Einführung des Zahlenstrahls bzw. der Zahlengerade muss man bereits in
Vorbereitung auf das Koordinatensystem diesen Sachverhalt berücksichtigen und ebenfalls
eine korrekte Markierung und Beschriftung vornehmen. Um anzudeuten, dass die negativen
Zahlen auf der Zahlengerade von minus unendlich „herkommen“, könnte man eine
Pfeilspitze anbringen, welche die Orientierung von minus nach plus hat.
Noch eine Bemerkung zum Koordinatensystem. Es bietet eine hervorragende Möglichkeit,
die Multiplikation von ganzen (spez. negativen) Zahlen zu veranschaulichen, weil es mit den
vier Quadranten und den zugehörigen Koordinatenvorzeichen die Möglichkeit von
orientierten Flächen gibt.
Abb. 27 das Koordinatensystem mit orientierten Flächen
46
Es gibt orientierte Strecken(Vektoren), orientierte Halbgeraden (Strahlen), orientierte
Winkel, bei Dreiecken bzw. Vielecken einen Umlaufsinn, gleich- und gegensinnige Figuren,
was liegt folglich näher als auch bei Flächen von Orientierung zu sprechen. Man denke
dabei an das bestimmte Integral, wo sich das Vorzeichen ändert, wenn man die
Integrationsrichtung ändert oder Flächenteile vor sich hat, die unterhalb der x-Achse liegen.
In Abb.27 kann man die Rechteckflächen in den einzelnen Quadranten je nach Orientierung
der Seiten positiv oder negativ belegen. Über diesen Weg kann man auch die Multiplikation
von ganzen Zahlen ohne viel Aufwand einführen und erklären:
Quadrant Umlaufsinn ABCD: ( + 6).( + 5) = + 30
I.
( – 6).( + 5) = – 30
II. Quadrant Umlaufsinn ADC1B1:
( – 6).( – 5) = + 30
III. Quadrant Umlaufsinn AB1C2D2:
( + 6).( – 5) = – 30
IV. Quadrant Umlaufsinn AD2C3B:
In diesem Zusammenhang werden die Vorzeichenregeln wie etwa „minus mal minus ist
plus“ einsichtig, während diese in der problematischen Klammerregel von Abb.11 nicht
angebracht ist.
4 Schlußbemerkung
Die Sachanalyse des Lehrers verlangt ein hohes Maß an Exaktheit, weil so manche
didaktische Entscheidung und Maßnahme davon abhängt. Ist das Minuszeichen z.B. ein
Operationszeichen, ein Vorzeichen oder gar nur ein einstellige Umpolfunktion. Die
Umsetzung im unterrichtlichen Alltag verlangt hingegen oft einen intuitiven Zugang, wenn
man die SchülerInnen selbst entdecken und experimentieren lässt. Manche der im Text
gestellten Fragen – speziell zu Bezeichnungen und Benennungen von geometrischen
Obejkten – sind bewusst offen gelassen, weil sie aus unserer Seite nicht per Vorschrift
sondern nur in der konkreten Unterrichtstätigkeit als überlegenswerte Maßnahme zu
entscheiden sind. Die angeführten Beispiele sollten aber auch zeigen, wann eine
Präzisierung für die SchülerInnen angebracht ist und wann nicht. Mit der Grundregel, dass
eine didaktische Entscheidung den SchülerInnen in erster Linie eine Hilfe zum Verständnis
und ein Gerüst für sachlich korrekte Grundvorstellungen sein soll, liegt man sicher richtig.
5 Literatur
Gander, Walter [1985]: Computermathematik. Basel/Boston/Stuttgart: Birkhäuser
(Programm-Praxis; Bd.3)
Ade, Hans /Schell, Hugo [1975]: Numerische Mathematik. Stuttgart: Klett
Humenberger,J. /Reichel, H.-Ch. [1995]: Fundamentale Ideen der Angewandten
Mathematik.
Lehrbücher und Monographien zur Didaktik der Mathematik Bd.31
Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: BI Wissenschaftsverlag
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