Jürgen Weber: Das Jahr 1920 – Kiel und Schleswig-Holstein in der neuen Republik Vortrag zum 90. Jubiläum des Wirtschaftspolitischen Clubs am Institut für Weltwirtschaft am 12.November 2010 Bis auf den heutigen Tag ist die Novemberrevolution 1918 in Deutschland fest mit dem Namen der Stadt Kiel verbunden. Auch wenn die Proteste und der Widerstand der Matrosen in der kaiserlichen Flotte in Wilhelmshaven begannen, sind die Ereignisse in der schleswig-holsteinischen Metropole als Beginn einer revolutionären Bewegung in die Geschichte eingegangen, die das Ende von Krieg, die Abdankung des Kaisers und die Beseitigung der Monarchie als Ergebnis bedeutete. Die faktische lokale Machtübernahme von Soldaten- und Arbeiterräten in der Marine- und Werftstadt wurde zum politischen Flächenbrand im ganzen Reich. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich auch von Sonderburg bis Lübeck, von Eckernförde bis Brunsbüttel, von Eutin bis Tönning. Die konkrete Erfahrung der revolutionären Ereignisse wurde fast überall in Schleswig-Holstein gemacht, zumindest in den städtischen und kleinstädtischen Milieus. Die Räte übten politische Macht aus, schafften sich aber keine eigene Exekutive. Den bestehenden Verwaltungen wurden Vertreter der Räte als Beigeordnete an die Seite gegeben. Vom Regierungspräsidenten bis zu den Bürgermeistern gab es eine erstaunlich weitgehende Kontinuität - mit einem Vertreter der Revolution quasi im Vor- oder Nebenzimmer. Diese halfen vor allem bei den dringenden Fragen der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung, der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Demobilisierung der Militärangehörigen. Sie füllten staatliches Handeln mit 1 neuer Autorität. Sie ergänzten zwar, aber sie ersetzten eben nicht die alten Autoritäten, als diese ins Wanken geraten waren. Da die überwiegende Zahl dieser Beigeordneten in Schleswig-Holstein der Mehrheitssozialdemokratie nahestand bzw. SPD-Mitglied war, verzichteten sie auf eine Stabilisierung ihrer politischen Einflussnahme und orientierten sich auf die demokratischen Wahlen zur Nationalversammlung und zu den regionalen und lokalen Parlamenten und Selbstverwaltungen. Zu Beginn des Jahres 1920 war auch diese Struktur fast überall schon Geschichte. Die Deutschen hatten sich eine neue Legislative auf allen Ebenen gewählt und damit die neue deutsche Republik auf repräsentativ-demokratische Beine gestellt. Die Exekutive, die Verwaltung auf Reichs-, Provinz- und kommunaler Ebene erwies sich als weitgehend unangefochten durch die politische Umwälzung in ganz Deutschland. Die kurzfristige „Herrschaft“ der Räte von Arbeitern und Soldaten – auch zu einzelnen Bauernräten auf dem Land war es gekommen – hinterließ einen überaus zwiespältigen Eindruck: Die bürgerlichen und bäuerlichen Schichten nahmen diese Phase als Verunsicherung, als Chaos und als Bedrohung war, auch wenn es gerade die große Mehrheit der sozialdemokratisch geprägten Räte im Land war, die politische Unruhen letztlich bekämpft und bewältigt hatte. Bestrebungen, die Revolution nach russischem Muster oder zumindest in Anlehnung an die Räterepublik in Bayern weiterzutreiben, führten auch in Kiel zu blutigen Auseinandersetzungen. Der Rückhalt und der Einfluss der ultralinken Kräfte auf die organisierte Arbeiterbewegung im Norden waren aber eher begrenzt. Wenn diese Konflikte eine nachhaltige Wirkung hatten, dann dadurch, dass zum einen der Graben zwischen Sozialdemokraten und dem linken Flügel der USPD unüberwindbar tief geworden wurde. Zum anderen dienten fortan die gewalttätigen Konflikte des Frühjahrs 1919 den konservativen und 2 rechtsextremen politischen Kräften zum Angst einflössenden Fanal einer „Gefahr von links“, die zu einem festen Bestandteil eigener Propaganda aufgebaut wurde. Das politische Trauma der Arbeiterbewegung lässt sich hingegen mit dem Begriff der „unerfüllten Hoffnungen der Novemberrevolution“ beschreiben. Für die Unabhängigen Sozialdemokraten und die noch kleine Zahl der Kommunisten standen die uneingelösten Erwartungen an die Revolution im Vordergrund (der revolutionäre Umbau von Staat und Gesellschaft bzw. die Verstaatlichung der Industrien), für die Sozialdemokraten war es die zwiespältige Erfahrung von politischen Reformen einerseits und steckengebliebener sozialer Umwälzung andererseits sowie die frühe Erfahrung, zwischen den Fronten von revolutionärer Linken einerseits und bürgerlich-konservativer Beharrung bis hin zu deutschnationaler und monarchistischer Reaktion andererseits zu agieren. Zu Beginn des Jahres 1920 hat die junge demokratische Republik in Deutschland ihren ersten Jahrestag noch nicht erreicht. Die Wahl zur Nationalversammlung am 19.Januar 1919 hatte Schleswig-Holstein ein Ergebnis beschert, dass diese preußische Provinz als eine Hochburg der für die repräsentative demokratische Republik eintretenden Parteien auszuweisen schien. Die SPD errang knapp 46% und die aus der Fortschrittlichen Volkspartei hervorgegangene liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) erhielt gut 27%. Das waren knapp drei Viertel aller Wählerstimmen für zwei Parteien der sog. Weimarer Koalition, also den politischen Trägern der neuen Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs. Die dritte Kraft, das katholische Zentrum, spielte in Schleswig-Holstein erwartungsgemäß keine Rolle. 3 Dass die Stimmen für die DDP kein nachhaltiges Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie im Allgemeinen und zum Linksliberalismus im Besonderen darstellten, sollte sich bald zeigen. Viele konservative und vor allem viele bäuerliche Wählerinnen und Wähler versprachen sich offenbar – noch unter dem Eindruck der einschneidenden Veränderungen in Deutschland nach dem Sturz der Monarchie – von der DDP eine Rückversicherung gegen einen politischen Durchmarsch der Sozialdemokratie. Schon bei der nur wenige Wochen nach der reichsweiten Wahl stattfindenden Kommunalwahl zeigte sich, dass das bürgerliche Lager sich bei der Stimmenabgabe zu differenzieren begann. Bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung in Kiel am 2.März 1919 erreichte die MSPD mit knapp 45% zwar 5% weniger als bei der Wahl zur Nationalversammlung in der Stadt, blieb aber dennoch dominierende Partei. Die DDP kam in Kiel aber nur noch auf 8,4%. Dafür erreichten die Rechtsparteien DVP und DNVP, die sich zunehmend organisatorisch etablierten, zusammen über 15%. Andere bürgerliche Gruppierungen wie das „Volkswohl“ oder die Liste der Hausbesitzer errangen zusammen über 20%. Auf der linken Seite des Parteienspektrums schafften die Unabhängigen Sozialdemokraten fast 10%. Die Kommunalpolitik aus der Stadtverordnetenversammlung wurde fortan von einer Kooperation aus SPD und Liberalen bestimmt. Es war ein Zeichen für das Spannungsfeld von politischem Neuanfang einerseits und des Beharrungsvermögens rechtlicher Strukturen anderseits, dass die schleswig-holsteinische Städteordnung von 1869 auch in der Weimarer Republik in Kraft blieb. Zwar war das Zensuswahlrecht abgeschafft und selbstverständlich galt das durch die Weimarer Verfassung eingeführte Frauenwahlrecht auch für die Kommunen. Die Mitglieder des Magistrats wurden aber nicht vom Kommunalparlament bestimmt, sondern durch die ganze 4 Bevölkerung direkt gewählt. Der SPD gelang es zwar im September 1919 erstmals einen besoldeten Stadtrat bei der Wahl durchzubringen. Bei der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters der Stadt wurde am 10. April 1920 aber Dr. Emil Lueken gewählt, der der DVP angehörte und Kandidat aller bürgerlichen Parteien in der Stadtverordnetenversammlung war. Die Kieler Stadtverordnetenversammlung spiegelte eine typische Entwicklung in den Parlamenten der Weimarer Republik. Die bürgerlichen Parteien und hier in der Kommunalpolitik vor allem die bürgerlichen Sammellisten standen einer zum Teil sozialdemokratischen und zum Teil kommunistischen Linken gegenüber, die sich aber zutiefst uneins war. Kiel war 1920 und auch in den folgenden Jahren eine Hochburg der SPD. In der Stadt prägten SPD und Gewerkschaften in erkennbarem Maße die politische Kultur der Stadt. Mit Gustav Radbruch wurde ein Professor der ansonsten politisch reaktionär dominierten Christian-Albrechts Universität 1920 sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter. Im März 1921 rückte mit Otto Eggerstedt, ehemaliger Geschäftsführer des Kieler Arbeiter- und Soldatenrates und SPD Stadtverordneter, ein weiterer Sozialdemokrat aus Kiel in den Reichstag nach. Trotzdem gelang es der SPD nie, eine eigene Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung und im Magistrat zu erringen oder den Oberbürgermeister der Stadt zu stellen. Die ersten Reichstagswahlen endeten im Juni 1920 mit einer eklatanten Niederlage der Weimarer Regierungsparteien und mit einem erheblichen Zuwachs vor allem der rechten Republikgegner. Wegen der durch den Versailler Vertrag notwendig gewordenen Abstimmung in Nordschleswig über die Neuordnung der deutsch-dänischen Grenze fand die Reichstagswahl in Schleswig-Holstein erst am 20. Februar 1921 statt. Die Ergebnisse bekräftigten den Haupttrend vom Juni 1920; sie zeigten auch hier, dass nach den 5 grundlegenden Weichenstellungen durch die notgedrungene Annahme des Versailler Vertrages und das Inkrafttreten der neuen Verfassung nicht einmal die Hälfte der Wähler für die konsequent republikanisch-demokratischen Parteien stimmte. Entscheidend dafür waren die gewaltigen Verluste, die die DDP in der Provinz hinnehmen musste; aber auch die Stimmen für die SPD gingen auf 37,5% zurück. Die gegenüber dem Reichsdurchschnitt auffallende, relative Stabilität der sozialdemokratischen Wählerschaft in Schleswig-Holstein war vor allem darauf zurückzuführen, dass die extreme Linke hier eine noch vergleichsweise geringe Resonanz fand. In Kiel wie im ganzen Land hatte sich der größere linke Flügel der USPD zur Aufnahme in die Kommunistische Internationale bekannt und die Mehrzahl der USPD-Mitglieder füllte damit die KPD zu einer Partei mit erst allmählich wachsendem Einfluss in der Arbeiterschaft auf. Die bürgerlich-bäuerliche Wählerschaft stimmte nun zu einem stark überwiegenden Teil für jene Parteien, die gegenüber der demokratischen Republik skeptisch eingestellt waren. Auch die ebenfalls zu Beginn des Jahres 1921 abgehaltenen Wahlen zum Preußischen Landtag, zum SchleswigHolsteinischen Provinzial-Landtag und zu den Kreistagen bestätigten, dass in der Schleswig-Holsteinischen Bevölkerung eine sozialdemokratische Minderheit einem relativ geschlossenen bürgerlich-bäuerlichen Block gegenüberstand. Es ist symptomatisch, dass die regionalen Zeitungen die Ergebnisse der Kommunalwahlen nicht nach den einzelnen Wahllisten gegliedert, sondern in der antagonistischer Zweitteilung – hier „bürgerlich“ dort „sozialistisch“ bekannt gaben. Das Ergebnis der Kreistagswahlen in den 17 Landkreisen konfrontierte 152 „sozialistische“ mit 236 „bürgerlichen“ Mandatsträgern. Im Provinzial-Landtag stellten die bürgerlichen Vereinigungen von insgesamt 56 Abgeordneten zusammen 30; allein 26 davon gehörten der Liste 6 „Wiederaufbau“ an, die von dem Kieler Bankier Ludwig Ahlmann (DNVP) angeführt wurde. Der Dezimierung des Einflusses der republikanischen und demokratischen Elemente im Jahr 1920 stand ein Anwachsen der restaurativen und reaktionären Kräfte gegenüber. Der gesellschaftliche Antagonismus war in der Stadt Kiel zwar anders gewichtet war als in den ländlichen Regionen Schleswig-Holsteins. Er bestimmte aber auch hier zunehmend die politische Kultur und den politischen Alltag. Der ideologisch-politische Kampf vor allem um die sogenannte „Kriegsschuldlüge“ oder „Dolchstosslegende“ sind Beispiele für die scharfen Auseinandersetzungen in Presse und Wahlkämpfen. Pro oder kontra Republik, pro oder kontra Akzeptanz der revolutionären Umgestaltung vom November 1918, pro oder kontra der sozialen und politischen Errungenschaften der Novemberrevolution wie 8-Stunden-Tag und parlamentarischer Demokratie, pro und kontra Hinnahme des Versailler Friedens – das waren maßgebliche Determinanten der politischen Selbstverortung der Menschen. Der so genannte Flaggenstreit hatte in der Hafen- und Marinestadt Kiel noch eine zusätzlich brisante Bedeutung. Zur Erklärung: Selbst in der Weimarer Verfassung konnte die Festlegung auf die Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold nur als Kompromiss gelingen. Selbst Teile der Weimarer Koalition widersetzten sich einer konsequenten Abschaffung des wilhelminischen Schwarz-Weiß-Rot. 7 Die Trikolore der 1848er Demokraten wurde deswegen nicht alleinige Reichflagge. Die Handelsmarine sollte auch künftig die Farben der Monarchie führen dürfen. Die Sozialdemokraten, die den Verzicht auf die rote Fahne gegen die USPD und viele ihrer Anhänger durchargumentieren mussten, setzt schließlich als einzige politische Kraft in der Nationalversammlung mit ihrer geschlossenen Zustimmung die Farben der bürgerlich-demokratischen Revolution von ’48 durch. Tatsächlich hielt das aber viele Institutionen nicht davon ab, der „Kaiserflagge“ treu zu bleiben. Auch und gerade in der Stadt Kiel war das 1920 sichtbar – in der Universität ebenso wie auf den Schiffen der Handelsmarine. Die politischen Konflikte mit ökonomischem Hintergrund können im Rahmen dieses Vortrages nicht ausgeführt werden. Die Auseinandersetzungen um die Reparationen, der Kampf um Kohle und Stahl, die Hyperinflation, die Anforderungen der Rüstungskonversion und die Schuldenkrise der Landwirtschaft - um einige wichtige Beispiele zu nennen - stehen im Jahr 1920 in Schleswig-Holstein nicht bzw. noch nicht auf der Tagesordnung. Zwei Ereignisse prägen das politische Jahr 1920 in Schleswig-Holstein und Kiel in besonderem Maße: Die Volksabstimmung in Schleswig und der KappLüttwitz im März des Jahres. Die Nachricht vom Staatsstreichversuch unter Führung des ostpreußischen Generallandschaftsdirektors Wolfgang Kapp und des Reichswehrgenerals Walter Freiherr von Lüttwitz in Berlin erreichte Kiel am Morgen des 13. März 1920. Reichspräsident und Reichsregierung waren aus Berlin geflohen. Die von Teilen der Reichswehr unterstützen Putschisten hatten sich als neue Regierung ausgerufen. Der Leiter der Marinestation Ostsee in Kiel, Konteradmiral von 8 Levetzow, unterstellte sich sofort der neuen „Regierung“ und organisierte die Unterstützung der Putschisten in Berlin. In Kiel wird der verschärfte Belagerungszustand ausgerufen. Prominente Sozialdemokraten, unter ihnen Gustav Radbruch, werden in Haft genommen. Militär besetzt die Stadt. Freikorpsverbände kommen nach Kiel. Auf der Gegenseite wird auch in Kiel der reichsweite Generalsstreik, den die Arbeiterparteien und Gewerkschaften ausrufen, befolgt. Es kommt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militär und Arbeitern. Auf Seiten der Putschisten beteiligt sich neben Freikorpsangehörigen auch eine erhebliche Zahl von Studenten an den Kämpfen. Die Auseinandersetzungen in Kiel halten an, auch als der Staatsstreich in Berlin längst zusammengebrochen ist. Am 18. März spitzt sich in Kiel die Lage noch einmal zu. Am Dreiecksplatz und in der Brunswik liefern sich bewaffnete Arbeiter und zwei Kompanien des sog. Freikorps-Bataillons Claassen blutige Kämpfe, vor allem um die von den Putschanhängern besetzte Maschinenbauschule (heute: MuthesiusKunsthochschule). Über 70 Tote und über 200 Verletzte werden an diesem Tag gezählt. Die Kämpfe tobten in Kiel am heftigsten. Sie waren aber auch in anderen Städten des Landes ausgebrochen. In vielen Orten gab es Unterstützung für den Staatsstreich bei deutschnational gesinnten Beamten und Parteigängern. Aber die Mehrheit auch der konservativ ausgerichteten Bürger blieb abwartend, zurückhaltend und ruhig. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch hinterließ im Land tiefe Spuren. So wurden in Schleswig-Holstein zwar einige illoyale hohe Beamte vom Dienst suspendiert und in Kiel wurde auf Antrag der SPD-Stadtverordneten eine Kommission 9 eingesetzt, um das Verhalten der städtischen Beamten während des Putsches aufzudecken: Die Versuche einer Demokratisierung der Kommunalbehörden blieben aber im Ansatz stecken. Das kurzfristige gemeinsame Agieren von Mehrheitssozialdemokraten und USPD fand wieder ein schnelles Ende. Der eindrucksvolle lange Trauerzug am 24. März 1920, auf dem die Opfer des Putschversuches zu Grabe getragen wurden, war der letzte Auftritt einer einigen Arbeiterschaft in Kiel. Die Kluft innerhalb der politischen Linken wurde irreversibel, nachdem der linke USPDFlügel sich im Herbst 1920 für den Anschluss an die KPD ausgesprochen hatte. Mindestens ebenso resignativ in seiner Wirkung für die Machtstellung der Parteien der „Weimarer Koalition“ in Kiel und in den Städten des Landes war die faktisch ausgebliebene gerichtliche und politische Bestrafung der Putschisten und ihrer Gehilfen. Während Kapp und Lüttwitz ohnehin ins Ausland fliehen konnten, waren die Verantwortlichen für die Vorgänge in Kiel gar nicht oder nur zu sehr geringen Strafen verurteilt worden. Bereits Ende September 1920 sind von Levetzow und Lindemann, die Kieler Usurpatoren, amnestiert worden. Der Freikorpsführer Loewenfeld, dem das Kieler Bataillon Claassen unterstand, wurde nicht nur nicht aus der Marine entlassen, sondern vielmehr kurz darauf zum Kommandanten eines Kreuzers befördert. Die deutsche Arbeiterbewegung hatte im März 1920 noch einmal gezeigt, dass sie einheitlich streiken und sich wehren konnte. Doch letztlich haben auch die Vorgänge in Kiel gezeigt, dass der Kapp-Putsch nicht mit einer Niederlage des Militärs, sondern letztlich mit einer Niederlage der organisierten Arbeiterschaft endete. 10 Die Ereignisse von Frühjahr 1920 konnten die Ergebnisse der Novemberrevolution von 1918 noch nicht beseitigen. Die demokratisch-sozialen Grundlagen der Weimarer Republik zu konsolidieren, gelang allerdings ebenso wenig. Die Märzereignisse von 1920 waren viel mehr der Auftakt, die weithin ungeliebte, ja sogar verachtete Republik teils gewaltsam, teils mit legalen Mitteln aus den Angeln zu heben. Zum zweiten großen politischen Thema des Jahres 1920: Der „Kampf um die Grenze“ im Norden bestimmte monatelang die politische Öffentlichkeit im Land. Eine im Versailler Vertrag festgelegte Volksabstimmung sollte in zwei Zonen am 10. Februar und 14. März 1920 die deutsch-dänische Grenze festlegen. Die offiziellen deutschen Vertreter und Akteure im Abstimmungsprozess waren dabei durchaus Demokraten. Staatskommissar der preußischen Regierung, der mit der Vertretung der deutschen Interessen bei der Grenzziehung beauftragt wurde, war der in Kappeln an der Schlei aufgewachsene Sozialdemokrat und spätere kurzzeitige Reichsaußen- und -innenminister Adolf Köster. Köster und der ebenfalls sozialdemokratische Beigeordnete beim Regierungspräsidenten in Schleswig, Eduard Adler, gründeten mit dem „Deutschen Schutzbund für Nordschleswig“ einen Dachverband, der die verschiedenen Aktivitäten im deutschen Interesse zusammenfassen sollte. Der Schutzbund vertrieb Schriften in deutscher, dänischer und friesischer Sprache. Gab es anfangs auch Kontakte zu demokratischen dänischen Parteien, entfaltete die nationale Propaganda auf beiden Seiten ihre Eigendynamik. Es bleibt aber festzuhalten, dass die lautstarke rechte Propaganda, die nationale Interessenvertretung und Ablehnung der parlamentarischen Demokratie zu zwei Seiten einer Medaille stilisieren wollte, sich faktisch auf die Auseinandersetzung um die Grenzziehung im Norden nicht berufen konnte. Trotzdem verfing diese Propaganda zunehmend im Land. 11 Die Mobilisierung des Chauvinismus trieb damit Anfang des Jahres 1920 einem ersten Nachkriegshöhepunkt entgegen. Die schleswigsche Grenzfrage bot hinreichend Anlass, die nationalen Auseinandersetzungen zu eskalieren. Schließlich wurde die Grenzfrage in der von der Konfrontation zwischen „sozialistischen“ und „bürgerlichen“ Selbstverortungen beherrschten politischen Auseinandersetzung zum „Prüfstein der Gesinnung“. Auf der einen Seite standen die republikanischen demokratischen Kräfte, die in der Mehrzahl entweder die Grenzziehung akzeptierten oder einen Weg der Grenzrevision durch eine Verständigung mit dem Nachbarn Dänemark suchten. Auf der anderen Seite standen die „vaterländisch-nationalen“ Verbände, Parteien und Medien, die ihre Forderung nach teilweiser oder vollständiger Rückgabe des an Dänemark abgetretenen Gebietes vor allem auf die Macht eines in der in Zukunft wieder politisch und militärisch starken Deutschen Reiches gründeten. Diese Auseinandersetzung war nicht nur national zugespitzt. Sie führte auch zur Reaktivierung eines ausgeprägten schleswig-holsteinischen Sonderbewusstseins. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende „Nordmark-Mythos“, der SchleswigHolstein als „Vorposten des Deutschtums“ begriff, erlebte in dieser Phase eine Renaissance und neue Popularität. Eingepflegt waren antiliberale und antisemitische Ressentiments, die auch gegen die kulturelle Moderne in den Städten, gegen die „Bevormundung“ durch Preußen und gegen die Republik insgesamt gerichtet waren. Kultiviert und verbreitet wurden diese irrationalen Leitbilder insbesondere von der so genannten „Schleswig-Holstein-Bewegung“. Sie wurde vornehmlich von den neuen Aufschwung nehmenden Heimatbünden und völkischen Vereinigungen getragen. Darüber hinaus wirkten faktisch aber auch viele andere kulturelle Institutionen und Organisationen der Provinz inkl. der „Grenzlanduniversität Kiel“ in diesem Sinne. 12 So halfen, insgesamt gesehen, die Grenzagitationen und die mit ihr popularisierten Ideologiemuster erheblich mit, in Schleswig-Holstein die Vorbehalte gegenüber der neuen politischen Ordnung zu fördern und das politische Bewusstsein der Bürger auf dem Land und in den Städten in hohem Grad anfällig für nationalistische und republikfeindliche Bewegungen zu machen. Den Republikfeinden gelang es schrittweise, nationale Agitation zu irrationalisieren und zu monopolisieren. Das Jahr 1920 war ein prägender Auftakt dafür. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch war noch in erster Linie ein Werk reaktionärer wilhelminischer Kräfte, die den Blick zurück durch die monarchistische Brille warfen. In ihrem Sog entfaltete sich zunehmend ein „antidemokratisches Denken neuen Stils“, wie es der Politologe Kurt Sontheimer formuliert hat: Eine Mixtur aus Frontkämpferideologie, sozialromantischer Verklärung der Vergangenheit, Anti-Intellektualismus, einem stilisierten Kampf gegen Individualismus und „Mammonismus“ und der Projektion einer scheinbaren klassenlosen Gesellschaft. Antisemitismus einbegriffen. Schleswig-Holstein wurde somit frühzeitig zu einem wichtigen Aufmarschgebiet antidemokratischer Kräfte. Zu ihnen zählten die sogenannten Selbstschutzorganisationen. Sie verfügten im Land über eine zahlreiche Anhängerschaft und einen großen Rückhalt bei der ländlichen und städtischkleinbürgerlichen Bevölkerung. Das zeigte sich drastisch, als der sozialdemokratische Oberpräsident und damit ranghöchste Vertreter Preußens in der Provinz Schleswig-Holsteins, Heinrich Kürbis, im Spätsommer 1920 die gesetzliche Auflösung der sog „Orgesch“ Verbände - bewaffnete paramilitärische Organisationen der politischen Rechten - durchzuführen 13 versuchte. Diese Maßnahmen riefen erhebliche Protestaktionen hervor, die von fast allen Regionalzeitungen im Land aufgegriffen und verstärkt wurden. Diese Verbände hatten in Schleswig-Holstein eine geschätzte Gesamtstärke von 20.000-30.000 Mitgliedern und waren eine Keimzelle der antidemokratischen Aktivitäten im Land. Ihre Unterstützung oder zumindest ihre Akzeptanz reichte weit in die bürgerlichen Kreise hinein. Aber die junge Republik hatte im Jahr 1920 gewiss nicht nur zögerliche, biedere und mutlose Vernunftrepublikaner, wie es der Weimarer Republik für die späteren Jahre einmal vorgehalten werden wird. Republik und Demokratie: Das ist 1920 immer noch Aufbruchstimmung, Hoffnung und Begeisterung: Das zeigt ein Blick auf das kulturelle und künstlerische Leben in der Stadt Kiel: Das experimentierfreudige Theater (Zuckmayer, Ernst Busch, Gustav Gründgens) und die breite Kulturbewegung der Volksbühne, Die Expressionisten in Malerei und Literatur und die Schulreformer, die neue Wege beschreiten. Demokratische Kultur wächst aus in Politik und Wissenschaft. Junge liberal und links eingestellte Wissenschaftler sprechen vor Arbeiterjugendlichen und halten gemeinsam Seminare ab, ganz unakademisch aber mit wissenschaftlichem und aufklärerischem Anspruch. Und mit dem gemeinsamen Impuls zu demokratischem Handeln im neuen demokratischen Gemeinwesen: Adolf Löwe, Alfred Meusel, Hermann Heller, Paul Hermberg und auch Gustav Radbruch sind als Beispiele zu nennen. Ein positives Bekenntnis zu Staat und Nation verbunden mit sozialreformerischen, oft sozialistischen Fundament wird gerade in Kiel zu einer prägenden geistigen Strömung im jungsozialistischen, sozialdemokratischen und linksliberalen Lager. 14 Die neue Republik hatte durchaus starke und einflussreiche Vertreter in Schleswig-Holstein und dort v.a. in den großen Städten mit einer starken organisierten Arbeiterbewegung. Die neue Republik hatte aber gleichermaßen eine wachsende Zahl von erbitterten Gegnern, die gerade hier im Norden einen ertragreichen politischen Boden fanden –vor allem in den ländlichen Regionen. Beides markiert das Jahr 1920 bereits in aller Deutlichkeit. 15