Donnerstag, 12. Juli 2012 / Nr. 160 Tagesthema Neue Luzerner Zeitung Neue Urner Zeitung Neue Schwyzer Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Zuger Zeitung «Nordafrika ist eine tickende Zeitbombe» BevölkerunG Während europa schrumpft, wird afrika in 40 Jahren seine Bevölkerung verdoppeln. auch anderswo sind geopolitische Machtverschiebungen absehbar. intervieW Jan flücKiger [email protected] Die globale Bevölkerung hat unlängst die 7-Milliarden-Grenze durchbrochen. Jährlich wächst die Bevölkerung um etwa 80 Millionen – also um die Grösse Deutschlands. Doch nicht überall auf der Welt wächst die Bevölkerung gleich stark. Der Demografieexperte Hans Groth äussert sich anlässlich des gestrigen Weltbevölkerungstages. Hans Groth, Afrikas Bevölkerung explodiert, Europa hingegen schrumpft. Ist Europa vom Aussterben bedroht? Hans Groth*: Wenn die derzeitigen Geburtenraten unverändert bleiben, wird sich die Bevölkerung in Afrika bis ins Jahr 2050 auf mehr als 2 Milliarden verdoppeln. Gleichzeitig wird Europa um 8 Prozent und Russland um 20 Prozent schrumpfen. Kann man das enorme Wachstum Afrikas überhaupt noch bremsen? Groth: Die zukünftigen Geburtenraten in Afrika hängen sehr stark davon ab, ob es gelingt, die nachwachsende Bevölkerung, vor allem die jungen Frauen, besser auszubilden. Natürlich braucht es neben der Bildung eine Wirtschaft mit Arbeitsplätzen, die besonders den jungen Genera- Und woran krankt Europa? Groth: In Europa ist die Geburtenrate seit 200 Jahren kontinuierlich gesunken – parallel zum wirtschaftlichen Aufstieg. Zusätzlich gab es den Pillenknick in den 70er-Jahren mit der Einführung der Antibabypille. Fakt ist: Die durchschnittliche Geburtenrate in Europa liegt bei 1,5 Kindern pro Frau. In Frankreich und Skandinavien, wo es mehr Angebote zur Kinderbetreuung gibt, ist die Zahl etwas höher. Um sich eigenständig zu reproduzieren, bräuchte es etwa eine Rate von über 2 Kindern pro Frau. In Afrika hat es zu viele Menschen, in Europa zu wenig. Heisst die Lösung also mehr Migration? Groth: Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Migration – so hat alles begonnen. Menschen werden immer versuchen, da hinzugehen, wo es Hoffnung auf Erfolg oder ein besseres Leben gibt. Die Frage ist natürlich, welches Mass an Immigration die einheimische Bevölkerung akzeptiert und wie das Verhältnis zwischen erwünschter und unerwünschter Immigration aussieht. Dies ist ein Thema, mit dem sich die westlichen und wirtschaftlich erfolgreichen Ländern zunehmend auseinandersetzen müssen – ob sie wollen oder nicht. In den Ländern der arabischen Revolution in Nordafrika fehlen Jobs ohne Ende. Sitzen wir auf einem Pulverfass? Groth: Allein dieses Jahr werden in der Maghreb-Region weitere 5 Millionen Arbeitsplätze benötigt. Bis 2025 bräuchte es 100 Millionen neue Jobs, nur damit die Arbeitslosigkeit dort nicht weiter ansteigt. Diese vielen jungen Leute voller Erwartungen, aber allzu oft mit enttäuschten Hoffnungen, werden nicht einfach dort bleiben und warten. Das ist eine Art tickende Zeitbombe, ja. Sie kann nur entschärft werden, indem auch die Europäer mithelfen, in dieser Region Chancen für die Jungen vor Ort zu eröffnen. H a n S g r ot H , D e M o g r a f i e - e x p e rt e Wenn sich die Bevölkerungszahlen ändern, ändern sich auch die machtpolitischen Verhältnisse. Welche Entwicklungen sehen Sie? Groth: Machtverschiebungen sind tatsächlich nicht auszuschliessen. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele: In 50 Jahren wird Frankreich eine grössere Bevölkerung aufweisen als Deutschland. Osteuropa hingegen schrumpft. Die Stimmengewichte in der EU werden sich verschieben. tionen Chancen bietet. Und schliesslich ein Regierungs- und Verwaltungssystem, welches verlässlich und berechenbar ist. Gelingt dies, werden auch in Afrika mittelfristig die Geburtenraten auf ein weniger dramatisches Niveau sinken. Und weltweit? Groth: Indien wird China überholen. Nigeria wird 2050 zum viertgrössten Land weltweit aufsteigen und so gross sein wie ganz Europa. Länder wie Indonesien, Pakistan, Bangladesch, Kongo und Mexiko werden ebenfalls stark wachsen «Brasilien und Mexiko könnten grösseres Gewicht erhalten.» Millionen Kaiser ohne frauen PekinG Um die hohe Bevölkerungszahl zu reduzieren, hat Chinas regierende Kommunistische Partei 1979 die Ein-Kind-Politik eingeführt. Jedes Ehepaar darf seitdem nur noch ein Kind auf die Welt bringen. Paare, die sich nicht daran halten, müssen mit einer hohen Geldstrafe und vielen behördlichen Nachteilen rechnen. Die Ein-Kind-Politik bereitet China aber immer mehr Probleme. Bereits in 20 Jahren werden in der Volksrepublik 300 Millionen Rentner leben, das entspricht etwa der Einwohnerzahl der USA. Und auch männlicher wird China. Mädchen lassen viele illegal abtreiben. Bereits 2020 wird es einen Überschuss von 40 Millionen jungen Männern im heiratsfähigen Alter geben. Die Führung in Peking hat das Problem erkannt. In Peking und Schanghai dürfen Eltern, die Einzelkinder waren, auf Antrag inzwischen auch zwei Kinder bekommen. Denn noch ein Problem hat sich ergeben. Viele Städter in China wollen überhaupt keine Kinder mehr. felix lee, peKing [email protected] Die 10 bevölkerungsreichsten Länder der Welt 2011 9 3 6 und weltweit in die Top Ten kommen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass beispielsweise Pakistan im Besitz atomarer Technologien ist und gleichzeitig weit davon entfernt ist, seine sozialen Probleme in den Griff zu bekommen. Gibt es weitere Beispiele? Groth: Russlands Bevölkerung schrumpft stark, es könnte aus demografischer Sicht wie Europa an Bedeutung verlieren. Hingegen könnten Länder wie Brasilien und Mexiko, die wirtschaftlich stabil sind und bevölkerungsmässig wachsen, grösseres Gewicht erhalten. Die Macht- und Anspruchsverhältnisse in internationalen Gremien kommen zwangsläufig auf den Prüfstand. 10 1 2 8 7 4 5 1 China 1345,9 Mio. 6 Pakistan 176,9 Mio. 2 Indien 1241,3 Mio. 7 Nigeria 162,3 Mio. 3 USA 311,7 Mio. 8 Bangladesch 150,7 Mio. 4 Indonesien 238,2 Mio. 9 Russland 142,8 Mio. 5 Brasilien 196,7 Mio. 10 Japan 128,1 Mio. Die grosse Ausnahme unter den westlichen Ländern sind die USA. Sie weisen eine konstante Geburtenrate von 2 Kindern pro Frau auf. Wieso? Groth: In den USA ist dies kulturell bedingt. Vieles hängt mit dem Stellenwert der christlichen Religion zusammen und damit, wie man diese praktiziert. Dazu kommt, dass es in den USA als normal gilt, mehrere Kinder aufzuziehen, ohne gleich den Staat um Unterstützung zu bitten. Weltbevölkerung 6987 Mio. Schweiz 7,9 Mio. Europa 740 Mio. Zurück zu Europa: Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für den alten Kontinent? Groth: Zuerst gilt es, die Alterung der Gesellschaft in den Griff zu bekommen und die Sozialwerke auf eine solide Basis zu stellen. Der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung schrumpft kontinuierlich. Man muss die Lebensarbeitszeit der tatsächlichen Lebenserwartung anpassen. Nur so kann die Wirtschaftskraft erhalten werden. Das Problem der Alterung kennt ja nicht nur Europa. Japan ist weltweit das Land mit dem grössten Demografieproblem (siehe Text unten, d. Red.). Auch Indien und China fangen an zu altern. Im Gegensatz zu Europa und Japan altern diese Länder aber, bevor sie reich werden. Auch dies birgt sozialen Sprengstoff von ganz neuen Dimensionen. Und weiter? Groth: Die westliche Welt muss versuchen, auf Afrika unterstützend einzuwirken, damit dieser Kontinent eine Chance hat, wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen und sein Bevölkerungswachstum zu drosseln. Soziale Stabilität, Chancen und reale Hoffnung, sich Wohlstand zu erarbeiten, sind der Schlüssel für eine nachhaltige Demografie in Afrika. HINWEIS * Hans Groth (58) ist Gastdozent an der Universität St. Gallen und Präsident des World Demographic and Ageing Forum. Von 27. bis 30. August findet das Forum in St. Gallen statt. Mehr Informationen unter www.wdaforum.org Japans drastisches Schrumpfen Tokio Japan wurde nach dem Krieg von dem Willen angetrieben, die globale Nummer 1 zu sein. Wirtschaftlich klappt das schon lange nicht mehr. China hat Japan als Asiens grösste Volkswirtschaft abgelöst. Doch auf einem Gebiet ist Japan noch unangefochten der Pionier: Kein Industrieland hat früher angefangen zu schrumpfen, keines altert schneller. Seit 2006 sinkt die Bevölkerung landesweit. Und der Prozess beschleunigt sich. Nach der neuesten Schätzung des nationalen Forschungsinstituts für Bevölkerungsfragen und soziale Sicherheit wird Japans Bevölkerung bis 2060 von 127 auf 87 Millionen Einwohner fallen. Damit einher geht eine rapide Alterung der Gesellschaft. Der Anteil der über 65-Jährigen wird sich der Schätzung zufolge in den kommenden 50 Jahren auf 40 Prozent verdoppeln, der Anteil der Personen im Erwerbsalter auf 50 Prozent sinken. Der Fluch für Japan ist es in diesem Fall, dass es nicht mehr den Entwicklungsmodellen anderer Nationen folgt, sondern erstmals selbst Antworten finden muss. Es gibt keine Vorbilder, wie eine Nation dieser Grösse einen derart grossen demografischen Wandel ohne Wohlstandseinbruch bewerkstel- ligt hat. Es wird dementsprechend viel experimentiert. Teilweise sind die Folgen positiv. Unternehmen entwickeln immer mehr Produkte für Senioren. Der Stress für die Gesellschaft durch den Übergang von einer wachsenden zu einer schrumpfenden Gesellschaft überwiegt. Besonders laut ächzen schon jetzt die Renten- und Krankenkassen sowie der Arbeitsmarkt unter dem Anpassungsdruck. Theoretisch wird bereits in 50 Jahren ein Berufstätiger einen Rentner ernähren müssen. Vor 50 Jahren waren es noch 12 Personen pro Rentner. Bild: Getty / Quelle: Stiftung Weltbevölkerung / Grafik: Oliver Marx 123 JAHRE Zeitspanne bis zur nächsten Milliarde Menschen Martin Kölling, toKio [email protected] PROGNOSE 2050 10 7 2011 6 1999 5 1987 4 1974 3 1959 Altersvorsorge wird umgebaut Die durch die Arbeitnehmer finanzierte Rentenversicherung wird daher nicht mehr funktionieren. Schon seit 3 Jahren muss die Rentenversicherung ihr riesiges Vermögen angreifen, um die Auszahlungen zu decken. Und die Auslagen steigen rasch. Die Regierung baut daher langsam das System um. Im ersten Schritt wird bis 2015 die Umsatzsteuer auf 10 Prozent verdoppelt, damit auch die Rentner ihre Rente mitbezahlen. Aus den Mehreinnahmen sollen die Mehrausgaben der Sozialkassen finanziert werden. 15 13 12 12 32 1804 1 2 1927 in Milliarden 1800 1850 1900 1950 2000 Die Milliardenschritte der Weltbevölkerung 2050 3