Deutsch-französische Gedenkfeier zur Erinnerung an den Ausbruch

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Deutsch-französische Gedenkfeier
zur Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Rede von Staatspräsident François Hollande am Nationaldenkmal
Hartmannsweilerkopf
Wattweiler, 3. August 2014
Wir nehmen heute an einer außergewöhlichen Feierstunde teil. Zum ersten Mal
kommt ein Präsident der Bundesrepublik Deutschland hier an diesen Ort, und wir
werden gleich den Grundstein für ein deutsch-französisches Museum an dieser
Gedenkstätte legen.
Vor einem Jahr war ich mit Ihnen, lieber Joachim Gauck, in Oradour-sur-Glane, wir
sprachen über die Vergangenheit, diese schreckliche, diese furchtbare
Vergangenheit Oradours. Die Völker müssen ihre Geschichte in aller Klarheit
betrachten, wenn sie die Herausforderungen der Gegenwart annehmen und die
Zukunft vorbereiten wollen. Das haben wir zusammen in Oradour getan, und das tun
wir heute hier am Hartmannsweilerkopf, wo vor 100 Jahren der Krieg seine ersten
Opfer forderte.
Genau vor 100 Jahren haben Deutschland und Frankreich sich gegeneinander
gestellt in einen Konflikt, der 72 Länder treffen und 65 Millionen Menschen in ein
Gemetzel stürzen sollte. Alles ging sehr schnell, nachdem am 28. Juni in Sarajewo
Erzherzog Franz Ferdinand ermordet worden war. Eine wahnsinnige Maschinerie
setzte sich in diesem Augenblick in Gang und löste eine Kettenreaktion aus.
Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, am 30. Juli mobilisierte
Russland – die Schutzmacht Serbiens – seine Soldaten. Am 1. August schloss
Deutschland sich Österreich-Ungarn an. Sogleich riefen Frankreich und Russland die
Generalmobilmachung aus. Und am 3. August war Krieg.
Der Krieg wartete nicht. Am Vorabend, nicht weit von hier, in Joncherey, fielen ein
deutscher und ein französischer Soldat: Albert Mayer, 22, und Jules-André Peugeot,
21 Jahre alt. Die beiden ersten Namen einer langen Liste, die mehrere Millionen
zählen sollte: 1.500.000 auf französischer Seite; 2 Millionen auf deutscher Seite.
Nicht zu vergessen die Verletzen, Versehrten, Vergasten, die Verstümmelten und
Entstellten, die lebenslang an ihren Körpern, in ihren Gesichtern von den Narben der
Auseinandersetzung gezeichnet waren.
Die Narben des Ersten Weltkriegs – das sind auch die Schlachtfelder, die heute Orte
der Erinnerung sind; der Hartmannsweilerkopf gehört dazu. Die Franzosen nannten
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und nennen ihn heute noch Vieil-Armand, auch „Menschenfresserberg“; er sollte
30.000 Soldaten verschlingen.
Die Gedenkstätte, an der wir heute stehen, wurde 1932 eingeweiht, ein Jahr, bevor
sich von Deutschland ausgehend eine weitere Katastrophe anbahnte. Diese
Gedenkstätte wurde von dem Architekten Robert Danis in Zusammenarbeit mit dem
Bildhauer Antoine Bourdelle geschaffen. Zwei Engel am Eingang scheinen über die
Seele der Toten zu wachen; über die Seelen der Toten zu wachen, leider ohne
weitere Tote zu verhindern.
Bald wird ein binationales Museum errichtet werden. Es wird ein Symbol der
Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland sein, vor allem aber für den
Willen, zusammen eine gemeinsame Erinnerung zu gestalten. Es gab auf dem VieilArmand 1 256 Gräber und daneben die sterblichen Überreste von 386 Soldaten, die,
wie viele andere, nicht identifiziert werden konnten. Deshalb erfasst unsere beiden
Nationen, die nicht wissen können, ob diese unbekannten Soldaten Franzosen oder
Deutsche sind, dieselbe Trauer.
Dem Filmemacher François Truffaut war das klar, als er diesen ehrwürdigen und
symbolischen Ort auswählte, um einige der stärksten Szenen von „Jules und Jim“ zu
drehen, diesen großen Film, der der Freundschaft zwischen Frankreich und
Deutschland gewidmet ist.
Wir sind hier im Elsass, einer Region, die schwere Wunden aus dem Krieg
davongetragen hat, eine Region, die in den Herzen der Franzosen von 1914 stets
gegenwärtig war, eine Region auch, die im Zweiten Weltkrieg die schlimmsten
Qualen zu erleiden hatte. Ich begrüße die Mandatsträger, die hier sind und an den
Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs
maßgeblich beteiligt sind.
Wir befinden uns hier auf der „blauen Linie der Vogesen“, die so lange den Riss
zwischen Frankreich und Deutschland markiert hat. Wir sind hier auf einem Berg, auf
dem eine der heftigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs stattfand. Ziel war es, hier
an diesem Ort die Verbindungswege in den Tälern zu kontrollieren. Achtmal, ja,
achtmal zwischen Dezember 1914 und Dezember 1915 wechselte der Gipfel
zwischen den Seiten, bevor er bis zum Waffenstillstand unangetastet blieb, während
die beiden Armeen sich hier in rund 20 m Entfernung gegenüberstanden.
Der Vieil-Armand – das war die Angst zu sterben oder verletzt zu werden, das war
Hunger, Durst, Kälte, Lärm und Regen, ich meine Bombenregen. Ein Überlebender,
André Maillet, hat erschütternde Seiten über dieses infernalische Töten geschrieben,
das hier am Vieil-Armand vor sich ging. Er schrieb: „Gestalten, die sich bewegen,
andere, die bewegungslos wie festgenagelt am Boden liegen und wehklagen, oh
mein Gott, nimm mich zu Dir, oh Mama, Mama, holen Sie mich hier raus. Doch
niemand kam den Märtyrern, die sich im letzten Schmerz wanden, zu Hilfe. Der
angebetete Gott blieb den Anrufungen gegenüber taub, und die Mütter, ja die lieben
Mütter, die geliebten Mütter beugten sich nicht über die brennenden Lippen, die so
verzweifelt nach ihnen riefen.“ Das haben die erlebt, die hier auf dem Vieil-Armand
waren.
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Meine beiden Großväter waren im Krieg, in diesem und in dem darauffolgenden
ebenfalls. Meine beiden Großväter hatten Mühe, zu erzählen, was sie ertragen, was
sie erlebt hatten. Sie verschwiegen, sicherlich aus Scham, aber auch aus
Berechnung, die Schrecken des Krieges, damit wir, auch ich selbst, uns besser in der
Vorstellung des Friedens einrichten konnten. Nun, genau das Gegenteil müssen wir
heute tun. Es ist an uns, den Nachkommen, an den Leidensweg zu erinnern – an
den Leidensweg, den sie gegangen sind –, damit wir die Barbarei besser verstehen
und jede Rückkehr dorthin verhindern.
Gedenken heißt nicht, alte Wunden aufzureißen; Gedenken ist nicht Nostalgie.
Gedenken ist die Erinnerung an Prüfungen, die die Völker durchstehen mussten; ist
die Lehre aus der Geschichte; ist ein Aufruf zur Einigkeit, zur Vereinigung; ein Aufruf,
aufzustehen
angesichts
anderer
Problemstellungen,
Gefahren
und
Herausforderungen. Gedenken gibt unserer heutigen Welt eine Richtung vor,
zuallererst in Bezug auf das, was Patriotismus sein muss.
Den Mut der Soldaten zu würdigen, heißt vor allem, das zu würdigen, was es in der
Liebe zu seinem Land an Allgemeingültigem gibt; ja, ich sage Allgemeingültigem,
also die Fähigkeit jedes Einzelnen von uns, über sich und seine Eigeninteressen
hinauszuschauen. Die Notwendigkeit, sich Tag für Tag in seiner Zugehörigkeit zur
nationalen Gemeinschaft zu behaupten; zu verstehen, was uns eint und was uns
erlaubt, uns anderen zu öffnen. Patriotismus – das ist der Wille, zusammenzuleben
und dieselben Werte zu verteidigen.
Patriotismus entfernt uns nicht von Europa, er macht es uns möglich, das
europäische Projekt zu verstehen. Europa ist nicht entstanden, um Zugehörigkeiten
und Souveränitäten aufzulösen, sondern um eine Wertegemeinschaft zu gründen, in
deren Zentrum die Forderung nach Frieden und geteilter Verantwortung steht.
Europa verwässert nicht die Nation, sondern bildet ein stärkeres Ganzes, dessen
Bestimmung es nicht ist, die Länder, die es bilden, zu schwächen. Europa hat es
geschafft, den Krieg zu besiegen; Europa ist es gelungen, den Kontinent in
Demokratie zu vereinen. Europa hat sich beispielhafte Institutionen gegeben, Europa
hat einen Markt eröffnet, eine Währung eingeführt, Politikbereiche festgelegt. Das ist
auch heute noch ein außergewöhnliches Abenteuer in der Geschichte der
Menschheit.
Und zugleich, das muss man eingestehen, schien Europa Krisen gegenüber auch
ohnmächtig, es hat nicht den erwarteten Wohlstand gebracht; es hat sich daran
gewöhnt, eine Selbstverständlichkeit und kein Ideal mehr zu sein. Deshalb wird
Europa angefochten; nicht für das, was es ist, sondern für das, was es nicht ist. Um
also das verloren gegangene Vertrauen wiederherzustellen, um die Zustimmung der
Völker zu gewinnen, um wieder ein Ideal zu werden, muss Europa Perspektiven für
Wachstum, Beschäftigung, Solidarität, aber auch für Kultur, Bildung und Wissen
bieten. Das zu erreichen, wird in vielem von der Freundschaft zwischen Frankreich
und Deutschland abhängen.
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Frankreich und Deutschland haben, über alle Leiden und Trauer hinaus, den Mut zur
Versöhnung aufgebracht. Das war die schönste Form, die Toten zu ehren und den
Lebenden eine Friedensgarantie zu bieten.
Bundeskanzler Adenauer und General de Gaulle bewiesen diesen Mut mit der
Unterzeichnung des Elysée-Vertrags 1963; auch diesen Jahrestag haben wir wieder
einmal gemeinsam gefeiert. Später dann haben Bundeskanzler Kohl und
Staatspräsident Mitterrand die Menschen zutiefst berührt, als sie sich am
22. September 1984 in Verdun die Hände reichten. An einem Ort der Verzweiflung
haben sie ein Versprechen auf die Zukunft und eine Hoffnung zum Ausdruck
gebracht.
Das werden auch wir gleich tun, Herr Bundespräsident Gauck, wenn wir den
Grundstein für das deutsch-französische Museum am Hartmannsweilerkopf legen.
Es wird die erste deutsch-französische Einrichtung zum Ersten Weltkrieg sein. In das
Fundament eingelassen wird die Friedensbotschaft der jungen Deutschen und
Franzosen, die diese gemeinsam für künftige Generationen verfasst haben.
So wird der Vieil-Armand nicht nur an die Menschen erinnern, die sich hier vor 100
Jahren bekämpft haben, sondern er wird auch eines der Symbole für die deutschfranzösische Freundschaft und den Frieden sein.
Der Friede ist nicht so selbstverständlich und so gefestigt, dass wir nichts mehr tun
müssen, um ihn zu bewahren. Es liegt in der Verantwortung jeder Generation, den
Frieden immer wieder aufs Neue zu verteidigen; und bei jeder nachfolgenden
Generation ein Bewusstsein dafür zu wecken, wie brüchig er ist. Das ist eine
Aufgabe, die uns vereint, Herr Bundespräsident. Frankreich und Deutschland, die
sich ein ganzes Jahrhundert lang so sehr bekämpft haben, sind ein Beispiel für die
Welt. Es ist eine Kraft und eine Aufforderung überall dort, wo der Friede in Gefahr ist,
überall, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, überall dort, wo die
Grundsätze des Völkerrechts missbraucht werden.
Diesem Weg folgen wir, Frankreich und Deutschland, um einen Ausweg aus der
ukrainischen Krise zu finden; um die Tür zum Dialog und zur Verhandlung zu öffnen;
aber auch, um Verletzungen der territorialen Integrität der Ukraine zu ahnden.
Ebenso, wenn Unschuldige aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Meinung, ihrer Religion
verfolgt werden, wenn sie Opfer ihrer eigenen Regierung sind oder wenn sie vom
Terrorismus oder von rückschrittlichen Sekten bedroht werden, wie die Christen in
Irak oder die Frauen in Nigeria, dann müssen Frankreich und Deutschland darauf
reagieren und auf diese Notrufe eingehen.
Diesem Weg folgen wir auch in Afrika, in der Sahelzone, um terroristische Gruppen
aufzuhalten; ebenso in der Zentralafrikanischen Republik, wo ein Genozid drohte;
und immer noch und immer wieder in Nahost, damit die Massaker aufhören. All
unsere Anstrengungen müssen darauf ausgerichtet sein, im Gazastreifen heute mehr
denn je eine Waffenruhe durchzusetzen und den Leiden der Zivilbevölkerung ein
Ende zu setzen. Ich sage das hier, an einem Ort des Gedenkens.
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Doch welch schönere Botschaft als die heutige können wir jenen übermitteln, die am
Friedensprozess in Nahost verzweifeln. Die Geschichte Frankreichs und
Deutschlands zeigt, dass der entschlossene Wille immer über die vermeintliche
Unabänderlichkeit siegen kann, und dass Völker, die als Erbfeinde angesehen
wurden, sich in wenigen Jahren aussöhnen können. Das ist es, was wir allen Völkern
vermitteln können, die sich Fragen zur Zukunft stellen und die sich noch heute
bekämpfen.
Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren, das Gedenken an den Ersten
Weltkrieg ist nicht mehr das Gedenken von Zeugen, sie sind schon lange nicht mehr
unter uns. Es ist das Gedenken der Nachkommen; wir sind die Nachkommen. Und
doch sprechen die Männer von 1914-1918 nach all den Jahren noch immer zu uns,
wir hören sie, sie sprechen zu uns wie diese deutschen Soldaten, die 1916 in einer
lothringischen Stadt stationiert waren und eine Nachricht in einer Flasche
zurückließen, bevor sie wieder auf das Schlachtfeld von Verdun zurückkehrten.
Diese Flaschenpost wurde 65 Jahre später gefunden. Auf dem Papier stand, damit
Unbekannte sie eines fernen Tages lesen, eine einfache Botschaft: „Die Zukunft
einer besseren Welt wird sich nur in einem geeinten Europa finden lassen, unter
befreundeten Völkern; in einem Europa, in dem sich die göttliche Wahrheit
verwirklichen wird, dass wir alle Brüder sind.“ Das war ihre Hoffnung in der tiefsten
Nacht des Ersten Weltkriegs. Es ist nun an uns, zu Beginn des 21. Jahrhunderts
diese Hoffnung zu beleben, gegen Intoleranz, gegen Fanatismus, gegen Rassismus,
für Kultur, für Bildung, für Menschenwürde, für Fortschritt und für Frieden.
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