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Photorin.
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Photorin.
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ISSN 0936-4242
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Wilhelm Seggewiß
Lichtenberg und die Kometen
The devil is in comets I believe.1
Kometen gelten als Vorboten drohenden Unheils; sie sind Teil des Aberglaubens,
der Astrologie. Andererseits sind sie ein leuchtendes Zeugnis fortschreitender
Erkenntnis in der Wissenschaft, der Astronomie. - Auch für Lichtenberg und seine
Zeit erscheinen die Kometen eingebettet zwischen den Polen Sterndeutung, Prophezeiung und wissenschaftlich begründeter, exakter Forschung. Lichtenberg schlägt sich
auf die Seite der letzteren; davon wird in den ersten Kapiteln die Rede sein. Während
man in der 2. Hälfte des 18. Jh. in der Beobachtung und Berechnung der Kometenbahnen bedeutende Forschritte erzielt (Kap. I), steckt das Wissen über die Natur und
Herkunft der Kometen, über Aufbau und Enwicklung von Kometenkopf und -schweif
noch in den ersten Anfängen. Lichtenberg spart hierzu nicht mit Vermutungen und
Hypothesen, die uns heute wegen ihrer vorausweisenden Kühnheit und Treffsicherheit
erstaunen lassen (Kap. III).
Einen breiten Raum widmet Lichtenberg besonders in seinen populärwissenschaftlichen Schriften selbstverständlich dem Kometenglauben. Hier gilt es weniger, die alte
Furcht vor den Kometen als Unheilsboten zu bekämpfen, als seinen wissenschaftlich
immer mehr aufgeklärten Lesern die Furcht vor einem verheerenden Zusammenstoß
der Erde mit einem Kometen zu nehmen (Kap. IV).
Die zahlreichen Stellen in Lichtenbergs Schriften, an denen er die Kometen nicht
um ihrer selbst willen zitiert, sondern um Dinge und Zustände durch den Vergleich
mit Kometenerscheinungen zu erhellen, sollen hier nicht vorgebracht werden - außer
dem Hinweis, daß Kometen auch für das Erscheinen hübscher „Mägdgen" stehen
können, denn das Leitzitat setzt sich fort mit „I saw her, the white one, and the brown
flat one too".
I. DIE NATUR DER KOMETENBAHNEN
Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Stand der Kometenforschung in der
2. Hälfte des 18. Jh.: Im Jahre 1758/59 war mit der von Edmund Halley
(1656-1742) vorausberechneten Wiederkehr des nach ihm benannten Kometen zum
erstenmal erwiesen, daß sich die Kometen in geschlossenen elliptischen Bahnen im
Verein mit den Planeten um die Sonne bewegen können. - Im Mittelalter war man
der Auffassung des Aristoteles gefolgt, daß Kometen Erscheinungen der irdischen
Atmosphäre seien2. Als dann im ausgehenden 15. Jh. und beginnenden 16. Jh.
insbesondere durch Regiomontan (Joh. Müller, 1436-1476, aus Königsberg in
57
Franken) und Peter Apian (1501-1552) in Ingolstadt die sorgfältige Beobachtung von
Kometenpositionen eingeleitet wird, kann den Astronomen nicht lange verborgen
bleiben, daß die Kometen in ihren Bewegungen mehr den Planeten folgen als Objekten
der Erdatmosphäre. Aber erst Tycho Brahe (1546-1601) gelingt beim Kometen des
Jahres 1577 durch koordinierte Beobachtungen von der Uranienburg auf der Insel
Hven und von Prag aus nach Art geodätischer Landvermessung der Nachweis, daß die
Kometen nicht der sublunaren Sphäre sondern dem planetaren Raum angehören3.
Es folgt die erregende Auseinandersetzung zwischen „The Curved and the
Straight": Joh. Kepler (1571-1630) konstruiert aus seinen Beobachtungen des
Kometen von 1607, des Halleyschen, eine Gerade als Bahn4. Zwei Generationen
später findet der Pfarrer Georg Samuel Dörffel (1643-1688) aus Plauen im Vogtland
für den Kometen von 1680/81 eine Parabelbahn, in deren Brennpunkt die Sonne
steht5.
Bereits im Jahre 1687 kann Isaac Newton (1643-1727) durch sein Gravitationsgesetz die Erklärung für die Bewegung der Mitglieder des Planetensystems um die
Sonne liefern6. Die Auseinandersetzung um die Natur der Kometenbahnen wird
jedoch erst durch Halleys klassische Arbeit „Astronomiae Cometicae Synopsis",
Oxford 1705, zu einem vorläufigen Abschluß gebracht7. Er berechnet zunächst
parabolische Bahnen für 24 Kometenerscheinungen. Er erkennt sogleich, daß die
Bahnelemente der Kometen von 1531 (beobachtet durch Apian), 1607 (Kepler) und
1682 (John Flamsteed, Vorgänger Halleys im Amt des Astronomer Royal in Greenwich) auffallend übereinstimmen, so daß es sich im denselben, periodisch wiederkehrenden - fortan nach Halley benannten - Kometen handeln muß. Diese Erkenntnis
erzwingt eine elliptische Bahn mit 76 Jahren Umlaufszeit um die Sonne. Die von
Halley vorausberechnete Wiederkehr wird durch die Auffindung des Kometen durch
den Bauern und Liebhaberastronomen Joh. Georg Palitzsch in Prohlis bei Dresden am
1. Weihnachtstag des Jahres 1758 glanzvoll bestätigt.
Ob der sechzehnjährige Lichtenberg diese Erscheinung des Halleyschen Kometen
während seiner Schulzeit in Darmstadt bewußt zur Kenntnis genommen hat, läßt sich
nicht ermitteln. Seine erste astronomisch-wissenschaftliche Kometenbeobachtung
kann man durch einen Bericht von A. G. Kästner über den zweiten Kometen des
Jahres 1766 im Hannoverschen Magazin nachweisen. Kästner zitiert die Beobachtungen des jungen Lichtenberg und bescheinigt ihm, daß er „sich hier mit glücklichem
Eifer auf die Mathematik gelegt hat" 8 .
Die 2. Hälfte des 18. Jh. kann man als eine Zeit der Kometenjäger und Kometenberechner charakterisieren. Zwischen der Wiederkehr des Kometen Halley 1759 und
dem Ende des Jahrhunderts, dem Todesjahr Lichtenbergs, werden 42 Kometen
entdeckt9. Charles Messier (1730-1817) aus Paris hält mit 13 Entdeckungen die
Spitze. Ludwig XV. nennt ihn spöttisch „le furet des comètes", das Kometenfrettchen.
Es folgen P. F. A. Méchain (1744-1804), ebenfalls in Paris tätig, mit 9 Entdeckungen und Caroline Herschel (1750-1848), die Schwester des berühmten Friedrich
Wilhelm Herschel, in Slough in England mit 7 Kometen. Deutsche Astronomen sind
mit bescheidenen 4 Entdeckungen beteiligt, darunter J. E. Bode (1747-1826), der
Herausgeber des Berliner Astronomischen Jahrbuches und der Bremer Artzt Wilhelm
Olbers (1758-1840), letzterer mit zwei Entdeckungen. Alle werden später durch Jean
58
Louis Pons (1761-1831) überflügelt, der zwischen 1801 und 1827 in Marseille,
Marlia und Florenz 37 Kometen entdeckt.
Lichtenbergs Zeit ist auch eine Zeit der Bahnbrecher. Im Prinzip kann man die
aktuelle Bahn eines Kometen - die „oskulierende Bahn", wenn der Komet die Sonne
„küßt" - aus der Beobachtung von 3 Örtern an der Sphäre zu drei Zeiten
bestimmmen. Von übergeordnetem Interesse ist jedoch der Gesamtverlauf der Bahn
und deren Entwicklung über große Zeiträume. Dieses Problem kann aber nur gelöst
werden, wenn der Einfluß der gravitativen Kräfte aller Massen im Sonnensystem auf
den Kometen verfolgt wird. So tritt zu der Schwierigkeit, die Bahnbrechung im
Zwei-Körper-System Sonne-Komet in den Griff zu bekommen (L. Euler, J. H. Lambert, J. de Lagrange, P. S. de Laplace, C. F. Gauß), die Aufgabe, den Einfluß
insbesondere der großen Planeten Jupiter, Saturn und des 1781 durch F. W. Herschel
entdeckten Uranus auf die Kometenbahnen zu bestimmen. Da dieses Viel-Körper-Problem sich als analytisch unlösbar erwies, brachte man ad hoc „Störungen" an die
Kometenbahnen an (Lagrange10, Laplace11). Die Folge solcher Störungen ist z. B.,
daß die Bahn des Kometen Lexell 1770 bei nahen Vorübergängen an Jupiter zweimal
vollständig umgewandelt wurde. Merkliche Störungen erleidet auch der Komet
Halley, als deren Folge seine Umlaufszeit zwischen 74.42 Jahren (1835-1910) und
79.25 Jahren (451-530) geschwankt hat. Heute läßt sich das Viel-Körper-Problem
mithilfe der Großrechner numerisch beliebig genau lösen und damit beispielsweise die
Erscheinungen des Halleyschen Kometen bis weit vor die Zeitenwende exakt datieren.
A. G. Kästner berichtet verschiedentlich12, daß Lichtenberg Positionen von Kometen bestimmt hat. In einem Brief an Kästner vom 22. Mai 1771 zeigt Lichtenberg, daß
er die exakte Ortsbestimmung astronomischer Objekte anläßlich der Erscheinung des
mit bloßem Auge sichtbaren Kometen Messier trefflich beherrscht (siehe Abb. 1). Es
läßt sich aus Lichtenbergs Veröffentlichungen allerdings nicht entnehmen, daß er
auch eine oskulierende Bahn berechnet habe.
II. DIE SUCHE NACH PERIODISCHEN KOMETEN
Es gab zu Lichtenbergs Zeiten eine brennende Frage, deren Antwort als wichtiger
empfunden wurde als Ergebnisse nächtelanger Kometenjagd oder Seiten weise Formeln
zu Störungsrechnungen, nämlich die Frage: Gibt es außer dem Halleyschen noch
weitere periodische Kometen? - Denn die Bahnstücke, die man bei der Annäherung
der Kometen an die Sonne beobachten konnte, ließen sich einfacher und besser durch
eine Parabel darstellen - also durch eine offene Bahn, bei der der Komet nicht in
Sonnennähe zurückkehrt - als durch eine geschlossene elliptische Bahn, die dann
außerordentlich langgestreckt wäre, den Kometen viele tausend Astronomische Einheiten (mittlere Entfernung Erde-Sonne) aus dem inneren Bereich des Sonnensystems
herausführte, aber ihn auch wieder in Sonnennähe zurückbrächte. Lichtenberg vertritt
mit Entschiedenheit die These 14 , daß sich alle Kometen in Ellipsen um die Sonne
bewegen. Daß Dörffel beim Kometen von 1680/81 dennoch nur eine Parabelbahn
fand, entschuldigt Lichtenberg, denn „dieses kann bey einer so langen Ellipse, von der
59
wir nur ein so kleines Stück übersehen, gar für keinen Fehler gerechnet werden"15. In
der Tat kann auch heute bei den meisten Kometen erst durch außerordentlich genaue
Beobachtungen die Parabelapproximation durch die langgestreckte Ellipse ersetzt
werden.
Zurück zur Hauptfrage jener Zeit, die wir nach Lichtenbergs Überzeugung, daß
schließlich alle Kometen, weil in Ellipsen laufend, periodisch seien, präzisieren
müssen: Gibt es außer dem Halleyschen Kometen weitere „kurzperiodische" Kometen,
solcherart, daß sie von der Menschheit in überschaubaren Zeiten mehrmals registriert
wurden oder in Zukunft registriert werden?
In Lichtenbergs Schriften wie in denen seiner Zeitgenossen16 finden sich zwei, nur
zwei, brauchbare Vermutungen:
• Für 1789/90 erwartet Lichtenberg17 die Wiederkehr des Kometen von 1532
(Apian) und 1661 (Hevelius u. a.); seine Periode müßte also etwa 128 Jahre betragen.
Aber schon 1785 weist Mechain nach, daß diese Kometen nicht identisch sind, und er
behält recht, da 1789/90 kein entsprechender Komet erscheint.
• Die zweite Vermutung18 bezieht sich auf die Kometen von 1264 und 1556
(Periode dann ungefähr 292 Jahre). Der Komet von 1556 ist auch als Kaiser Karl V.
Komet bekannt, da Karl in ihm seinen nahen Tod erkannt haben will 19 . Der Traum
einer Wiederkehr im Jahre 1848 erfüllt sich nicht; verbesserte Bahnberechnungen des
Niederländers M. Hoek zeigen, daß die Erscheinungen von 1264 und 1556 doch zwei
unterschiedlichen Kometen zuzuordnen sind. - Eine Vermutung E. Halleys selbst,
daß die Kometen von 43 v. Chr., 531, 1106 und 1680 n. Chr. (Periode als etwa 574
Jahre) identisch seien, erwies sich bald als unhaltbar, wurde aber dennoch von
W. Whiston in seiner Sündfluterklärung aufgegriffen (siehe Kap. IV).
Und dann geschieht das Wunder: Charles Messier entdeckt am 14. April 1770 in
Paris einen Kometen, A. J. Lexell in Petersburg berechnet im Sommer des Jahres 1770
Erläuterndes Diagramm Lichtenbergs zur Ortsbestimmung des Kometen Messier am 21. Mai 1771 1 3 . Im
Zentrum C des Fadenkreuzes AB-DE des Teleskops
stand Pollux, der hellste Stern des Sternbildes Zwillinge. Der Komet trat bei b in das Gesichtsfeld ein und
passierte um 22 h 59 m 09 s den Stundenfaden DE im
Punkt c. Aus der Durchgangszeit und dem linearen
Abstand cC zu Pollux errechnete Lichtenberg dann den
Kometenort unter Anbringung aller notwendigen Korrekturen wie Refraktion, Nutation und Aberration comme il faut!
60
aufgrund gesammelter Positionsbeobachtungen die Bahn mit dem Ergebnis20: Die
Periode beträgt nur 5.6 Jahre! Außerdem kommt der Komet der Erde so nahe wie
nach unserer heutigen Erkenntnis erst wieder der Komet IRAS-Araki-Alcock 1983 2 1 ,
nämlich etwa 4.8 Millionen km oder 12 Mondentfernungen. Lichtenberg berichtet:
„So kam im Jahr 1770, im Sommer, einmal des Nachts ein Comet, den ich selbst
beobachtet habe, unserer Erde so nahe, daß es aussah, als wolle er uns mehr etwas im
Vertrauen sagen, als aus der Ferne verkünden"; da es Lichtenberg aber um die
Widerlegung des Kometenaberglaubens geht, fährt er fort „und diesen verschliefen die
Leute, und es krähte kein Hahn darnach"22.
Daß im Jahre 1775 der Komet Lexell nicht wiedergesehen wird, kann man noch
mit ungünstigen Sichtbedingungen erklären; einen Fehler enthalten Lexells Berechnungen jedenfalls nicht. Als aber auch 1780/81 der Komet ausbleibt, ist die Enttäuschung groß. Nach der Jahrhundertwende kann Laplace zeigen23, daß der Komet
1767 durch Jupiterstörungen in seine kurzperiodische Bahn gelenkt wurde, daß
Jupiter ihn aber bei der nächsten Annäherung im Jahre 1779 auch wieder aus der
Bahn hinauswarf. - Gleiches Schicksal erlitten auch die Kometen Helfenzrieder 1766
und Pigott 1783, jedoch wurden erst nach 1800 die Bahnen berechnet und ihre kurzen
Gastbesuche im Innern des Sonnensystems offenbar24.
Ironischerweise haben Lichtenberg und seine Zeitgenossen eine Reihe kurzperiodischer Kometen beobachtet, aber die so sehr gesuchte Eigenschaft an ihnen nicht
erkannt. Zu diesen zählt der Komet Encke, der mit 3.30 Jahren die kürzeste Periode
aller bekannten Kometen aufweist, beobachtet 1786 und 1796, aber erst 1819 von
J. F. Encke (1797-1865) berechnet. Ferner gehört dazu der Komet Biela, 1772
erstmals beobachtet, aber nach einer weiteren Beobachtung 1806 erst im Jahre 1826
von dem Hauptmann W. von Biela in Josephstadt in Böhmen wiederentdeckt und
berechnet (Periode 6.6 Jahre). Dieser Komet teilt sich 1846 unter den Augen der
Beobachter, wird 1852 in zwei getrennten Nebelmassen nochmals gesehen und macht
sich seitdem nur noch durch einen starken Meteorstrom, die Bieliden, bemerkbar.
III. DIE NATUR DER KOMETEN
Während Lichtenbergs Zeit war das Wissen über die Herkunft der Kometen, über
ihren Aufbau und ihre Zusammensetzung nur bescheidenes Stückwerk. Wesentliche
Fortschritte konnten erst erzielt werden, nachdem in der 2. Hälfte des 19. Jh. die
Spektroskopie auch in die Kometenastronomie Einzug hielt, nachdem die Photographie die Entwicklung von Kometenkopf und -schweif dokumentarisch festhalten
konnnte, nachdem die Photometrie auch kleinste Helligkeitsvariationen registrieren
konnte. Zweifellos ein gewaltiger Fortschritt gegenüber dem 18. Jh.; aber selbst die
In-situ-Beobachtungen von 6 Raumsonden am Kometen Halley 1986 werden nur
einen kleinen Beitrag aber keineswegs eine umfassende Antwort auf alle Fragen
bringen.
In einem längeren Aufsatz im Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1787
vermittelt Lichtenberg den Lesern seine Kenntnisse und Ansichten über die Natur der
61
Kometen; hier erfahren wir etwas zur „Physik" der Kometen, gelegentlich flankiert
von Bemerkungen in den Briefen und Sudelbüchern.
In der Frage der Herkunft der Kometen folgt Lichtenberg der Kosmogonie Kants:
Kometen entstehen gleichzeitig mit den Planeten durch gravitatives „Zusammenfallen
in einen Klumpen"25 aus dem fein verteilten Sonnennebel. Lichtenberg zieht Kants
Theorie der Buffonschen vor, nach der die Planeten durch einen Deus-ex-machina-Kometen aus der Sonne gerissen werden. Erst recht wendet er sich gegen die
Meinung des Aristoteles, Kometen seien Ausdünstungen der Erde („hätte dieser
außerordentliche Mann mehr Beobachtungen gekannt"26), denn „diese Hypothese
mußte den Fortgang der Wissenschaft nicht wenig hindern"27.
Wir erfahren auch Lichtenbergs originelle Ideen zum letzten Schicksal der Kometen: Sie müssen sich durch die Einwirkung der Sonne auflösen, denn, je näher sie der
Sonne kommen, so erleiden sie „durch die Wärme eine stärkere Auflösungskraft . . .,
die Kometen werden also vermutlich immer kleiner"28. - In der Tat kann man heute
die Verluste an Materie, Gas und Staub, abschätzen, die ein Komet durch teilweises
Verdampfen aufgrund der Sonneneinstrahlung erfährt. Bei starker Annäherung an die
Sonne kann der Verlust bis zu 1 % seiner Gesamtmasse betragen; nach einhundert
Annäherungen an die Sonne wäre dieser Komet aufgelöst. - Lichtenberg zieht auch
die Möglichkeit in Betracht, daß Kometen in die Sonne stürzen („in die Sonne
herabregnen"29) oder mit Planeten zusammenstoßen könnten. Wenn wir wiederum
aufgrund heutiger Kenntnis diesen Gedanken Lichtenbergs beleuchten, erstaunen wir
aufs neue über die weit vorausreichende Einsicht Lichtenbergscher Vermutungen.
Denn eine Reihe von Kometen ist erschienen, die tief in die solare Korona eintauchten, die sun-grazing comets. Der Komet Ikeya-Seki beispielsweise kam 1965 der
Oberfläche der Sonne, der Photosphäre, bis auf 470000 km oder zweidrittel Sonnenradien nahe. Der Komet Howard-Koomen-Michels, im Jahr 1979 durch einen
amerikanischen Militärsatelliten entdeckt, ist offenbar kurz nach seiner Entdeckung
in die Sonne gestürzt. Die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit der Erde rief im
18. Jh. die neue Kometenfurcht hervor, von der gleich zu sprechen sein wird. Lichtenberg erwägt übrigens nicht die Möglichkeit, daß ein Komet auch auseinanderbrechen und in viele kleine meteoritische Teilchen zerfallen könnte, wie es 1846/52
beim Bielaschen Kometen und 1975 wieder beim Kometen West beobachtet wurde.
Wenn der französische Naturforscher G. Buffon (1707-1788) durch einen Kometen die Planeten aus der Sonne gerissen glaubt, so hat er sicherlich die Vorstellung von
Kometen als große, massereiche Körper. Anders jedoch Lichtenberg: Selbst von der
Autorität J. de Lalandes (1732-1807), der die Kometen bei einer möglichen Annäherung an die Erde aufgrund ihrer Masse einen alles vernichtenden Flutberg hervorbringen läßt, wird er nicht beeindruckt. Denn er bemerkt zurecht, daß weder beim
Kometen von 1454, der nach St. de Lubienietzkis „Theatrum cometicum" von 1681
zwischen Mond und Erde durchgegangen sein soll, noch bei dem schon mehrmals
erwähnten Kometen Lexell 1770, der nach Lichtenbergs eigener Abschätzung der
Erde so nahe kam wie der Mond, „auch nur die mindeste Erhöhung der Fluth
bemerkt worden wäre" 30 . Seine Schlußfolgerung ist, daß die Kometen eine kleine
Masse („Dichtigkeit" - und damit auch „Schädlichkeit") haben. Wir wissen heute
62
zwar, daß der Lexellsche Komet in 12 Mondentfernungen an der Erde vorbeizog
(siehe Kap. II) und Lubienietzkis Komet von 1454 wohl eine Falschmeldung war.
Dennoch: Kometen sind kleine Körper von nur wenigen Kilometern Durchmesser und
von nur 1 0 1 2 (einem Billionstel) Erdmassen.
Schließlich äußert sich Lichtenberg an mehreren Stellen zur „Physik" der Kometenschweife, zu ihren Dichten und zu ihrer Entstehung. Er beobachtet, daß sogar
schwächere Sterne durch den Kometenkopf und die Schweife hindurchscheinen31,
während „bei sonst heiterm Himmel, selbst das, was man dicke Luft nennt, uns die
Sterne erster Größe bei ihrem Auf- und Untergange" verdeckt32. Lichtenberg zieht
daraus den Schluß, daß die Dichte der Schweife sehr gering sein müsse, geringer als
die der irdischen Atmosphäre und daß die Erde durch einen Schweif hindurchgehen
könnte, „ohne daß wir im mindesten etwas davon gewahr würden"33. - Am 19. Mai
1910 befand sich der Halleysche Komet zwischen Erde und Sonne; die Erde lief für
mehrere Stunden in nur etwa 0.15 Astronomischen Einheiten Entfernung vom
Kometenkopf durch dessen Schweif hindurch, ohne daß auf der Erde eine Wirkung,
etwa durch Registrierung von Ionen der Schweifmaterie, verspürt wurde.34
Eine zu allen Zeiten faszinierende Frage ist sicherlich, wodurch denn die Ausbildung der Kometenschweife hervorgerufen wird (Abb. 2). Daß die Wirkung von der
Sonne ausgehen müsse, war augenfällig, da die Schweife immer von der Sonne
weggewandt sind und ihre Längen bei der Annäherung an die Sonne wachsen - bis
auf 40 Millionen Meilen 35 , bemerkt Lichtenberg völlig richtig. Aber wie kann Materie
von der Sonne weggetrieben werden, wo doch Newtons schöne Gravitationstheorie
gerade die Anziehung zwischen Massen lehrt? Obwohl Lichtenberg gegen die Theorie
der negativen Schwere, der „Antigrave" des Hallenser Apothekers und Chemikers
F. A. C. Gren (1760-1798) gelegentlich scharf zu Felde zieht 36 , macht er schließlich
doch die vorsichtige Bemerkung, Kometenschweife seien wohl etwas, „was sehr wie
Antigrave aussieht"37. In seinem Kometenartikel im Taschen Calender folgt Lichtenberg der Meinung L. Eulers (1707-1783), daß das Sonnenlicht die kometare Materie
aus dem Kopf heraustreibt und den Schweif ausformt38, obwohl Lichtenberg sich
bewußt ist, daß mit dieser Vermutung noch keine physikalische Erklärung für den
Wechselwirkungsprozeß zwischen Licht und Kometenmaterie gegeben ist. Er folgt
ausdrücklich nicht der Schweiftheorie Newtons, der im Sonnensystem einen fein
verteilten Äther annimmt, in dem Kometenmaterie seiner Gravitationstheorie zum
Trotz aufsteigen kann wie Rauch in der irdischen Atmosphäre39. - Euler und
Lichtenberg behalten mit ihrer Vermutung nur teilweise recht. Zwar gelingt es, die
Ausbildung des sogenannten Staubschweifes (siehe Abb. 2) durch Strahlungsdruck des
Sonnenlichtes zu erklären. Staubschweife sind aber nur leicht von der Sonne weggewandt und folgen eher der Bahnbewegung der Kometen. Für die Ausbildung der
nahezu radial von der Sonne wegweisenden lonenschweife, erkennbar an ihrer
verwirbelten Form im Gegensatz zu den homogen leuchtenden Staubschweifen,
reichen die Kräfte des solaren Strahlungsdrucks nicht aus. L. Biermann40 postuliert im
Jahre 1951 einen ständig von der Sonne ausgedehnten Teilchenstrom, ein Plasma aus
Protonen und Elektronen, den „Sonnenwind", dessen Wechsel Wirkungskräfte mit den
Kometengasen den Ionenschweif aus dem Kopf heraustreibt. Im Jahre 1959 wird der
Sonnenwind durch die sowjetische Mondfähre Luna 1 erstmals nachgewiesen und im
63
folgenden Jahr durch die amerikanische Venussonde Mariner II während ihres
gesamten Fluges beobachtet.
Im Zusammenhang mit der Schweifbildung äußert Lichtenberg den kühnen Gedanken: „Sollten nicht alle Planeten so etwas hinter sich haben, wie Kometen-Schweife
wenn wir es auch gleich nicht sehen?"41 - Wir sehen sie heute, diese Planetenschweife, wenn auch nicht mit eigenen Augen, so doch mit den Meßinstrumenten der
künstlichen Raumsonden. Wiederum ist es die Wirkung des Sonnenwindes, die die
Ionosphären und Magnetosphären der Planeten auf der sonnenabgewandten Seite zu
einem Schweif ausformt, in dem sich das Plasma ebenfalls zu einem Schweif
verdichtet (s. Abb. S. 66).
IV. DIE NEUE KOMETENFURCHT
Im Altertum und Mittelalter gelten die Kometen als Königssymbole, die Anfang
und Ende eines großen Herrschers ankündigen. Als Beispiele seien der Komet von
44 v. Chr. erwähnt, der bei der Leichenfeier für Julius Caesar erscheint, oder der im
Teppich von Bayeux dargestellte Halleysche Komet von 1066 n. Chr., der den
Untergang König Harolds und den Aufstieg Wilhelms vom Herzog der Normandie
zum Eroberer Englands signalisiert. Lichtenberg zitiert hierzu in Briefen an F. H. Jacobi und W. Olbers die Worte des Tacitus: „Sidus cometes effulsit, de quo vulgo
opinio est, tanquam mutationem regis portendat."42 Gleichzeitig bemerkt er, daß der
Januarkomet des Jahres 1793, der während des Prozesses gegen Ludwig XVI. kurz
vor dessen Hinrichtung erscheint, ein treffendes Beispiel für die älteste Art des
Kometenglaubens sei.
Erst im 15. Jh. zu Zeiten großer sozialer und religiöser Spannungen und außenpolitischer Bedrohung durch die Türken setzt die Welle der Kometenfurcht ein, die in
ihnen Vorboten von Unheil, Krankheit, Krieg, ja vom nahen Weltende sieht.
Kometenflugblätter tragen wesentlich zur Verbreitung von Angst und Schrecken bei
(Abb. 3). Im 17. Jh., just als die Astronomen die wahre Natur der Kometenbahnen
aufdecken und sie als Mitglieder der Planetenfamilie erkennen, erreicht die Kometenfurcht ihren Höhepunkt. Aber gerade die wissenschaftliche Erkenntnis beschwört eine
„neue" Kometenfurcht herauf: Wenn die Kometen auf langgestreckten elliptischen
Bahnen in das Innere des Sonnensystems eindringen, können dann nicht verheerende
Zusammenstöße mit unserer Erde auftreten?
Mit der alten Kometenfurcht konnte Lichtenberg schnell abrechnen. Es gibt zu viele
Gegenbeispiele; insbesondere weist er darauf hin, daß die großen Kriege eigentlich nie
durch besondere Kometenerscheinungen angekündigt wurden43. Er hingegen fürchtet,
daß bereits eine Zeile ernsthafter Widerlegung des alten Aberglaubens von seinem
Leser als „das gröbste Mißtrauen gegen die Gesundheit seiner (des Lesers) Vernunft
und für Herabwürdigung seiner selbst"44 gehalten werden könnte. Einen ähnlichen
Optimismus verrät er, wenn er notiert: „Aberglauben trieb damals den Beobachter,
jetzt tut es Ehrgeiz und Wißbegierde."45
Sehr ausführlich nimmt Lichtenberg zur neuen Kometenfurcht in seinem Kalenderbericht und in einem Artikel in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen aus
64
dem Jahre 1778 Stellung - und er tut sich schwer. Wenn er nämlich zunächst
ausführlich darlegt, daß der Komet des Jahres 1770 zwischen Mond und Erde
durchgegangen sei, muß es Mühe bereiten, einige Zeilen später dem Leser erklären zu
wollen, daß ein Zusammenstoß der Erde mit einem Kometen völlig auszuschließen
sei.
Außerdem muß Lichtenberg gegen die damals populäre Schrift „The cause of the
Deluge demonstrated" des englischen Mathematikers und Geistlichen W. Whiston
(1667-1752) argumentieren. Whiston, „ein physikalischer Schwärmer im höchsten
Grad, und daher ein schlechter Physiker"46, so die Charakterisierung durch Lichtenberg, bestimmt den Ablauf der Weltgeschichte durch vier Kometen: Der erste sei die
Erde selbst, die dann durch Zusammenstoß mit einem zweiten Kometen in rasche
Rotation versetzt worden sei; der dritte Komet habe die Wasser der Sündflut (Deluge)
gebracht und der vierte endlich werde die Erde anzünden.47
Schließlich gibt es auch wissenschaftliche Gründe, die die Argumentation Lichtenbergs so schwierig erscheinen lassen: Die Astronomie seiner Zeit hat das Gesamtverhalten des Planetensystems nicht im Griff. Das Anbringen von Störungen (siehe
Kap. I) wird nur als Behelf verstanden, um die gröbsten Unregelmäßigkeiten in den
Bahnbewegungen erklären zu können. Dennoch hat Lichtenberg die Gewißheit: „Alle
diese scheinbaren Unregelmäßigkeiten, folgen einer Regel, die wir noch nicht kennen,
die aber künftige Zeiten ausmachen werden."48 Überhaupt, „vor Gott ist keine
Störung, alles folgt einem einzigen ewigen unveränderlichen Gesetz."49
Lichtenberg bemüht die bekanntesten Kapazitäten seiner Zeit, um die Möglichkeit
eines Zusammenstoßes herunterzuspielen: P. de Maupertuis (1698-1759), eher durch
seine Erdvermessung als durch Kometenrechnungen berühmt geworden, den bereits genannten gefeierten Astronomen J. de Lalande50 und Dionis du Séjour
(1734-1794), Parlamentsrat aus Paris. Lalande selbst wurde durch ein Mißverständnis unterschoben, er habe den Weltuntergang durch den Zusammenstoß der Erde mit
einem Kometen für den 12. Mai 1773 vorausberechnet; auch die Veröffentlichung
seiner Originalschrift „Réflexion sur les Comètes qui peuve approcher de la terre"
kann die Aufregung in Paris nicht dämpfen. Du Séjour liefert für Lichtenberg den
Beweis, daß selbst dann, wenn Erd- und Kometenbahn sich schneiden, „sich noch
752 730 gegen 1 verwetten ließe", daß der Komet nicht mit der Erde zusammenstoße 51 . Daraus werden dann „eine Million Nieten gegen einen Treffer" oder „das
Unendliche gegen eins". Trotzdem spürt Lichtenberg beim Leser noch einen Rest
Mißtrauen, so daß er als letztmögliche Steigerung „die Hand eines großen und gütigen
Gottes" beschwört; ungewöhnlich eindringlich beruft sich Lichtenberg auf den
allgütigen Gott, den schützenden Vater, den Kometenlenker.
Das Problem des Zusammenstoßes der Erde mit einem Kometen oder einem
anderen Kleinkörper des Planetensystems wird heute im Lichte unserer Kenntnisse
über die räumliche Dichte solcher Kleinkörper diskutiert. Aus einer Reihe neuerer
Arbeiten kann man als bemerkenswerte Zahl herausfiltern, daß die Erde im Mittel
einmal in einer Million Jahre mit einem Körper von mehr als einem Kilometer
Durchmesser kollidiert.52 Das Nördlinger Ries ist ein frühes Zeugnis einer Kollision,
der Einschlag an der Steinigen Tunguska im Jahre 1908 ein recht neues Beispiel. - Ob
man die genannte Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes für gering oder groß
65
hält, ist letztlich Ansichtssache. Immerhin führte sie in neuerer Zeit dazu, daß einige
Geologen die Abfolge erdgeschichtlicher Epochen auf Impakte kosmischer Körper
zurückführen, wie etwa das Ende der Kreidezeit mit dem Aussterben der Saurier. Hier
schimmert wieder Whistons Katastrophentheorie durch. Aber auch W. Olbers, Arzt
im Hauptberuf und vielbeachteter Astronom, Kometenentdecker und -berechner zu
Lichtenbergs Spätzeit, sinnt über das Aussterben von Tiergattungen nach einer
Kometenkollision nach und vermittelt uns die Kenntnis, daß bereits Halley den ersten
Anstoß zu diesen Theorien gegeben hat. 53
Bei Lichtenberg klingt schon an, was bei der Erscheinung des Halley sehen Kometen
im Jahre 1910 eine dritte Art der Kometenfurcht hervorruft, daß nämlich Kometenschweife giftige Dämpfe verbreiten könnten54. Nachdem Astronomen im Jahre 1908
Linienbanden des CN-Moleküls, des Radikals der giftigen Blausäure HCN, im
Spektrum des Kometen Morehouse analysiert hatten, war es dem „räsonnierenden
Aberglauben"55 ein leichtes, die Bevölkerung angesichts des Durchgangs der Erde
durch den Schweif des Halley sehen Kometen (siehe Kap. III) in Aufregung zu
versetzen, die durch Einwände der Astronomen, die Moleküldichte sei viel zu gering
für eine Gesundheitsgefährdung, eher noch geschürt wurde56.
Eigentlich sollte uns heute eine vierte Art von Kometenfurcht bedrängen. Denn der
nicht gerade unbekannte englische Astronom Fred Hoyle (geb. 1915) glaubt nachgewiesen zu haben, daß Grippeepidemien durch Viren erzeugt werden, die von Kometen
auf die Erde herunterfallen. Aber nicht nur lokale und regionale Krankheitsherde,
sondern die gesamte Evolution des Lebens auf unserer Erde sei durch „kosmischen
Der Komet Mrkos 1957 V. Deutlich kann man zwischen dem verwirbelten, von der Sonne radial
wegweisenden Ionenschweif und dem homogenen Staubschweif unterscheiden.
66
Genimport" 5 7 gesteuert worden. Zweifellos offenbart sich Hoyle damit als Vertreter
der Panspermietheorie, die durch den schwedischen Chemiker Svante Arrhenius
( 1 8 5 9 - 1 9 2 7 ) begründet wurde, obwohl schon Louis Pasteur ( 1 8 2 2 - 1 8 9 5 ) durch
seine Erkenntnis, daß Leben nur durch Leben entstehen könne, Anstöße zu dieser
Theorie gegeben hat. - Aber wußten sie alle, daß bereits Lichtenberg erwägt, der
Lebenssamen sei durch Kometen und ihre Zersetzungsprodukte, die Meteoriten, die
als Sternschnuppen und Feuerkugeln in die Atmosphäre eindringen, auf die Erde
gelangt? In den Sudelbüchern notiert er: „Wer weiß was die Feuer-Kugeln für Samen
zu uns bringen. Sind die Kometen vielleicht Schwärme kosmischer Insekten?" 58
Die Zitate aus Lichtenbergs Briefen, Sudelund Tagebüchern sind der Werksausgabe
von W. Promies, Hanser-Verlag, München,
1967-1972, entnommen. - Lichtenbergs
Artikel „Fortsetzung der Betrachtung über das
Weltgebäude. Von Cometen44 aus dem Göttinger Taschen Calender vom Jahr 1787,
S. 81-134, wird mit Calender zitiert. Sein
Aufsatz „Etwas über den fürchterlichen Cometen, welcher, einem allgemeinen Gerücht
zufolge, um die Zeit des ersten Aprils unsere
Erde abholen wird", in Göttingische Anzeigen
von gemeinnützigen Sachen, 1778, St. 9, vom
28. 2. 1778, S. 3 6 - 3 9 , wird mit Anzeigen
zitiert.
1 Tagebuch 1771, Aug. 12.
2 Aristoteles, Meteorologie, Werke Bd. 12,
I. Akademie-Verlag, Berlin, 1979.
3 Tycho Brahe, Observationes Septem cometarum, hrsg. von F. R. Friis, Chr. Steen &C
Söhne, Kopenhagen, 1867; siehe auch Opera omnia, Bd. 4, J. L. E. Dreyer (Hrsg.),
Kopenhagen, 1923.
4 Joh. Kepler, De cometis libelli tres, Augsburg, 161$.
5 G. S. Dörffel, Astronomische Beobachtungen des großen Kometen, welcher im ausgehenden 1680. und angehenden 1681. Jahre
höchst verwunderlich und entsetzlich erschienen, Plauen, 1681.
6 Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, London, 1687.
7 Gegen Ende des 19. Jh. wird die Frage
heftig diskutiert, ob es auch Kometen auf
hyperbolischen Bahnen gebe. Der Eichsfelder Pfarrer und Astronom Anton Thraen
(1843-1902) konnte als erster zeigen, daß
hyperbolische Bahnen existieren (Komet
1886 II), daß diese aber durch Planetenstö-
rungen zustande kommen und „nicht als
Beweis für das Eindringen interstellarer
Kometen in das Sonnensystem dienen können", nach J. Dorschner, in Die Sterne
Bd. 61, 1985, S. 209.
8 A. G. Kästner, Nachricht von dem im April
zu Göttingen gesehenen Kometen, in Hannoverisches Magazin 1766, St. 33 vom
25. 4. 1766, S. 523-526.
9 B. G. Marsden, Catalogue of cometary
orbits, Smithsonian Astrophys. Obs., Cambridge, Mass. 3 r d Edition, 1979.
1 0 Von J. de Lagrange sei besonders die Arbeit
„Recherches sur les équations séculaires des
mouvements des nœuds et des inclinaisons
des orbites des planètes" aus den Mémoirs
der Pariser Akademie von 1774 genannt.
1 1 P. S. de Laplace, Mécanique céleste, 5 Bde.
in 4, Paris, 1799-1825.
1 2 Siehe Anm. 8; außerdem in Göttingische
Anzeigen von gelehrten Sachen vom
8.7.1770,
27.5.
und
24.6.1771,
17. 1. 1774 (Kästner berichtet hier, daß er
bei der Sitzung der Akademie am 15. Januar Lichtenbergs Zeichnung der Bahn des
Kometen Messier 1773 vorgelegt habe) und
10. 3. 1774.
1 3 Briefe S. 27, 12. An Abraham Gotthelf
Kästner, Göttingen, 22. Mai 1771.
1 4 Calender S. 92.
1 5 Calender S. 109.
1 6 Siehe insbesondere D. du Séjour, Essai sur
les comètes en général, et particulièrement
sur celles qui peuvent approcher de l'orbit
de la terre, Paris, 1775.
1 7 Calender S. 82; Anzeigen S. 37, 2. Spalte,
hier verwechselt Lichtenberg offenbar den
Kometen Messier 1771 mit dem Kometen
Lexell 1770, der gemeint ist.
67
Sudelbücher J 20.
Karl V. soll beim Anblick des Kometen
ausgerufen haben: „His ergo indiciis me
mea fata vocant." (Durch diese Anzeichen
rufen mich meine Geschicke.) Nach
R. Wolf, Handbuch der Astronomie, Zürich, 1890.
2 0 A. J. Lexell, Tentamen astronomicum de
temporibus periodicis cometarum et speciatim de tempore revolutionis cometae,
A. 1770 observati, in Acta Acad. Sei. Petropol. 1777, S. 332.
2 1 Internat. Astron. Union, Circular No.
3799, 1983, May 6.
2 2 Anzeigen S. 37.
2 3 Siehe Anm. 11, Bd. 4, 1805, S. 216-228.
2 4 Der Komet Helfenzrieder 1766 ist der erste
von Lichtenberg beobachtete Komet; siehe
Anm. 8.
2 5 Calender S. 87.
2 6 Calender S. 99.
2 7 Calender S. 100.
2 8 Sudelbücher F922.
2 9 Calender S. 132.
3 0 Calender S. 132.
3 1 Calender S. 114.
3 2 Sudelbücher K 402.
3 3 Sudelbücher K 402.
3 4 Der Astronom. Jahresbericht, Berlin, 1912,
verzeichnet für das Jahr 1910 mehr als 50
Arbeiten, die sich mit dem Schweifdurchgang beschäftigen. Außer einigen atmosphärischen Besonderheiten, die jedoch
auch zu anderen Zeiten beobachtet wurden,
werden keine besonderen Vorkommnisse
registriert.
3 5 Calender S. 116.
3 6 z. B. im Brief an Karl Friedrich Hindenburg, Göttingen, 10. Mai 1774, Briefe
S. 875, 655.
3 7 Sudelbücher J2038.
3 8 Calender S. 117.
3 9 Calender S. 119.
4 0 Ludwig Biermann, Kometenschweife und
solare Korpuskularstrahlung, in Zeitschrift
für Astrophysik Bd. 29, 1951, S. 274.
4 1 Sudelbücher J2039, ähnlich auch in J1604.
4 2 Wenn ein Komet erscheint, so gilt die landläufige Meinung, daß ein Regierungswechsel bevorsteht. Briefe S. 841 (631. An Friedrich Heinrich Jacobi, Göttingen, 6. Februar
1793) und S. 843 (632. An Heinrich Wilhelm Matthias Olbers, Göttingen, 8. Februar 1793).
4 3 Anzeigen S. 37.
18
19
68
Calender S. 123.
Sudelbücher D 404.
4 6 Calender S. 124.
4 7 W. Whistons Buch, das zwischen 1696 und
1737 allein in England 5 Auflagen erreichte, geht offensichtlich auf eine zunächst
unveröffentlichte Schrift E. Halleys für die
Royal Society in London, 1694, zurück wie uns W. Olbers berichtet , siehe
Anm. 53.
4 8 Anzeigen S. 38.
4 9 Calender S. 133.
5 0 Uber das Auftreten Lalandes beim Astronomenkongreß 1798 in Gotha vgl. P. Brosche
in Photorin Heft 5, 1982, S. 38.
5 1 Bezgl. du Séjour siehe Anm. 16; dieses und
die folgenden Lichtenberg-Zitate stammen
aus den Schlußabschnitten von Calender
und Anzeigen.
5 2 Siehe z. B. L. Kresâk, in Asteroids, hrsg.
von T. Gehreis, University of Arizona
Press, Tucson, 1979, S. 289 und Z. Sekanina und D. K. Yeomans, Close encounters
and collisions of comets with the earth, in
Astron. Journal Bd. 89, 1984, S. 154.
5 3 W. Olbers, Ueber die Möglichkeit, dass ein
Komet mit der Erde zusammenstossen könne, in Monatl. Korrespondenz, Bd. 22,
1810, S. 409; Nachdruck in: Wilhelm
Olbers, sein Leben und seine Werke,
hrsg. von C. Schilling, Bd. 1, Berlin, 1894,
S. 92; siehe insbesondere S. 113, Anm. 2
(Aussterben von Tiergattungen) und S. 93,
Anm. 2 (Halleys Ideen).
5 4 Calender S. 127.
5 5 Anzeigen S. 38.
5 6 Siehe z. B. P. Veron, Is comet Halley really
dangerous? In: Proc. ESO Workshop on
„The need for coordinated groundbased
observations of Halley's comet", Garching
1982, S. 5.
5 7 „Evolution durch kosmischen Gen-Import"
lautet der Titel eines Aufsatzes von F.
Hoyle in: Die Sterne Bd. 61, 1985, S. 342;
siehe auch den Artikel und das Interview
mit F. Hoyle in: Bild der Wissenschaft
Bd. 19, 1982, Heft 1.
5 8 Sudelbücher J 1658.
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