Zwölf Jahre allgemeinmedizinische Versorgung und Betreuung

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ZfA 2004 "041", 23.2.04/dk köthen GmbH
F. Höhn
Zwölf Jahre allgemeinmedizinische Versorgung
und Betreuung geistig behinderter
und psychisch kranker Heimpatienten ±
ein Erfahrungsbericht aus Sachsen
Zusammenfassung
Abstract
Die Betreuung geistig Behinderter und chronisch psychiatrisch
Kranker stellt eine hohe Herausforderung an den Hausarzt/Facharzt für Allgemeinmedizin dar. Er wird mit vielfältigen Problemen konfrontiert, die sowohl fachlich-medizinischer, als auch
organisatorischer Natur sind und oft eine unkonventionelle
Herangehensweise erfordern.
The care for mentally retarded persons or chronically ill psychiatric patients is a great challenge for a general practitioner. He or
she will be confronted with diverse problems, which can be of
medical or administrative nature and which often will have to
be approached in an unconventional manner.
Schlüsselwörter
Hausarzt/Facharzt für Allgemeinmedizin ´ Heimbetreuung ´ geistig Behinderte ´ chronisch psychiatrisch Kranke
Seit April 1991 betreue ich als Fachärztin für Allgemeinmedizin
ca. 200 geistig behinderte und chronisch psychisch Kranke im Alter von 17 bis 90 Jahren. Ich besuche die Patienten ein- bis zweimal wöchentlich; bei Dringlichkeit auch noch zusätzlich. Es handelt sich um Patienten mit frühkindlichem Hirnschaden und daraus folgender Intelligenzminderung vom Grad der Debilität bis
hin zur Idiotie (mit zum Teil auch erheblichen körperlichen
Missbildungen), um chronisch psychiatrisch Kranke mit Defektzuständen sowie um Demenzkranke.
Die nervenärztliche Betreuung und Behandlung obliegt drei niedergelassenen Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie.
Versorgungssituation
Bei dem von mir betreuten Heim handelte es sich bis ca. Mitte
der Neunzigerjahre um ein Pflegeheim, in dem traditionsgemäû
aus DDR-Zeiten sehr viele Krankenschwestern arbeiteten, teilweise mit vielen Dienstjahren. Das hatte zur Folge, dass das
Praxisbericht
Twelve Years of Care for Mentally Retarded and Psychiatrically Ill
Institutionalized Patients in General Practice ± A Report from Saxony
Key words
General Practitioner ´ Specialist ´ mentally handicapped ´ psychiatric patients
Heim doch etwas ¹krankenhausartigª geführt wurde. Man
sprach von ¹Stationenª; es herrschte ein relativ strenges Tagesregime, allerdings mit groûem Freizeitangebot.
Aus ärztlicher Sicht war die Zusammenarbeit mit der Oberschwester und den Schwestern auf den Stationen durchaus kooperativ: Es gab ein prinzipielles Verständnis über medizinische
Sachverhalte, der Blick der Schwestern für Krankheiten oder pathologische Zustände war geschärft. ¾rztliche Anordnungen
wurden gewissenhaft durchgeführt und dokumentiert.
Nachteilig war die DDR-Philosophie, wonach diese Patienten eigentlich nur ordentlich versorgt und ¹verwahrtª wurden. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, diese Patienten nach
ihren individuellen Möglichkeiten zu fördern, ihre Fähigkeiten
und Fertigkeiten zu erhalten, weiter zu entwickeln und sie auch,
so weit möglich, in das öffentliche Leben zu integrieren. Dazu
wurden teilweise kleine Auûenwohngruppen gebildet, um Patienten mehr Eigenständigkeit zu gewähren und sie individueller
zu betreuen. Ebenso wurden neue Plätze in Werkstätten für Be-
Korrespondenzadresse
Dr. med. Frauke Höhn ´ Fachärztin für Allgemeinmedizin ´ Weststraûe 34 ´ 09112 Chemnitz
Bibliografie
Z Allg Med 2004; 80: 85±87 Georg Thieme Verlag Stuttgart ´ New York ´ ISSN 0014-336251 ´
DOI 10.1055/s-2004-816224
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ZfA 2004 "041", 23.2.04/dk köthen GmbH
hinderte geschaffen, um mehr Heimbewohnern die Möglichkeit
zu geben, einer Arbeit nachzugehen.
Aus dieser Integrationstendenz heraus und ± leider zu vordergründig ± aus wirtschaftlich-finanziellen Erwägungen wurde in
der Mitte der Neunzigerjahre gravierend Personal abgebaut.
Krankenschwestern mit reicher Berufserfahrung wurden durch
Sozialpädagogische Erziehungskräfte ersetzt! Die eigentliche
pflegerische Arbeit wurde zunehmend nur noch von wenigen Altenpflegern und Altenpflegerhilfskräften erledigt. Zivildienstleistende und Mädchen im freiwilligen Sozialen Jahr ergänzen seitdem den Personalbestand.
Praxisbericht
Erklärt wurde diese Vorgehensweise mit der Umbenennung des
Heimes in ein Sozialtherapeutisches Wohnheim, in dem der Personalschlüssel in diesem Rahmen vorgesehen ist. Auûerdem
wurde nun dieses Sozialtherapeutische Wohnheim einer GmbH
angeschlossen, in der wirtschaftliche Zwänge auch daraus entstehen, dass die Bilanz der gesamten GmbH stimmen muss.
Wichtige medizinische Grundsätze verloren deutlich an Bedeutung. Die Tatsache, dass behinderte Menschen, auch chronisch
psychiatrisch Kranke, mehr an somatischen Beschwerden leiden,
öfter krank sind, wurde negiert.
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Der materielle Fortschritt, der Mitte der Neunzigerjahre spürbar
war z. B. durch Bau neuer Gebäudeteile, Einrichtung einer Tonund Holzwerkstatt, Errichtung einer Cafeteria und eines Bewegungsbades, wurde in den letzten Jahren durch finanzielle ¹Austrocknungª und fehlende Renovierung und Instandsetzung nahezu völlig zunichte gemacht. Das überlastete Personal ist frustriert und resigniert zunehmend. Die Zusammenarbeit mit dem
Arzt ist aus verschiedenen Gründen schwierig geworden:
Probleme und Besonderheiten
Die allgemeinmedizinische Betreuung dieser Patientengruppe
allgemein und in diesem Heim im Besonderen ist gekennzeichnet durch:
± verminderte oder fehlende sprachliche Kommunikationsfähigkeit der Patienten mit dem Arzt;
± eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit von Krankheitssymptomen der Patienten selbst;
± häufig verminderte Schmerzempfindlichkeit der Patienten;
± hohe Inzidenz schwerwiegender Krankheiten;
± Vorkommen unglaublicher und ungewöhnlicher Ereignisse;
± fehlende Compliance der Patienten bzw. fehlende Compliance-Vermittlung durch das Personal;
± laienhafte oder mangelhafte medizinische Ausbildung des Betreuungspersonals und
± mangelhafte Kenntnis des Personals von medizinisch-organisatorischen Strukturen in der Stadt.
Aufgaben für den Allgemeinarzt
Der Allgemeinmediziner steht vor dem Problem, dass die medizinischen Anforderungen äuûerst unterschiedlich sind, nur in
seltenen Fällen korrelieren Anforderungsgrund und GesundHöhn F. Zwölf Jahre allgemeinmedizinische ¼ Z Allg Med 2004; 80: 85 ± 87
heitsstörung. Es kommt vor, dass eine vermeintlich ¹harmlose
Gesundheitsstörungª vom Personal nur am Rande erwähnt wird,
es stellt sich jedoch heraus, dass es sich um eine schwerwiegende Erkrankung handelt.
In Bezug auf die Anordnung und Durchführung von Maûnahmen
muss der zuständig Arzt berücksichtigen, dass das ausführende
Personal nur über eine beschränkte Fachkompetenz verfügt:
Vom Arzt angeforderte Kontroll-Messungen, z. B. des Blutdrucks
oder des Blutzuckers, werden vom Personal zwar durchgeführt,
es bleibt aber ungewiss, ob die Ausführung einer Messung technisch korrekt durchgeführt wurde, somit sind auch die Messwerte nur von begrenztem Wert. Weiterhin fehlt oft das Basiswissen
für eine Interpretation der Messwerte. Das heiût, (hoch-)pathologische Werte werden nicht immer erkannt und demnach nicht
gemeldet. Das bedeutet für den Arzt einen sehr groûen Aufwand
an Aufklärungsarbeit beim Personal. Es muss vom Arzt auf eine
penible Dokumentation sowohl von Kontroll-Messungen, als
auch der Medikamentengabe durch das Personal gedrungen
werden. Die Durchführung muss kontrolliert werden.
Ein groûes Problem stellt die Versorgung von Wunden im Heim
dar. Da nur recht selten qualifiziertes Personal zur Verfügung
steht, sind mehrmalige Verbandwechsel im Heim sehr schwierig
zu realisieren. Oft fehlt es an den grundlegenden Kenntnissen
der Wundversorgung. Steriles Vorgehen ist zwar nicht immer
nötig, aber in diesem Heim eigentlich nicht erreichbar. Es sind
keine sterilen Utensilien verfügbar, auûer den im Handel befindlichen und vom Arzt zu verschreibenden Einwegartikeln. Aber
auch das Herausnehmen steriler Gegenstände aus ihrer Verpackung macht diese schon unsteril, wenn es nicht sachgerecht gemacht wird. Allzu oft werden Wunden mit Pflastern verklebt.
Als ein weiteres Problem stellt das der Berufskleidung dar. In den
¹Wohnbereichenª wird Tageskleidung getragen, da das Personal
den Eindruck von ¹Häuslichkeitª und ¹Gleichstellungª vermitteln
soll. Wichtig ist, darauf zu dringen, dass auf Pflegebereichen aus
hygienischen Gründen konsequent Berufskittel getragen werden. Diese sollten dann auch beim Verteilen von Speisen getauscht werden.
Bei der Betreuung geistig Behinderter wird der Arzt mit unglaublichen und ungewöhnlichen Situationen konfrontiert. Oftmals
muss der Arzt jedwede Logik fallen lassen und seiner Kreativität
freien Lauf lassen, um zur Diagnose zu gelangen.
So erlebte ich Patienten, die Fremdkörper verschluckten (Teile
von Zahnprothesen, Pfirsichkerne, Legosteine, Schrauben, Unterlegscheiben etc.); weiterhin Ingestition von Seifen, Ölen, Pflegemitteln; Verletzungen durch gegenseitiges Schlagen und Beiûen,
Verbrennungen an Heizkörpern und Verbrühungen mit Wasser
und heiûen Getränken.
Verletzungen jeglicher Art kommen bei behinderten Menschen
mit beispielsweise Gangstörungen und spastischen Syndromen
sehr viel häufiger vor als bei gesunden Menschen; gelegentlich
geschehen auch Rollstuhlunfälle.
Aufgrund notwendiger Psychopharmaka-Gabe werden die Patienten oft schmerzunempfindlicher, was dazu führt, dass Ver-
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letzungen manchmal spät bemerkt werden und der Hergang des
Unfalls schlecht zu rekonstruieren ist.
Kooperation mit anderen medizinischen Einrichtungen
Dem Betreuungspersonal muss eingeschärft werden, niemals
unangemeldet in die Praxen ¹einzufallenª, denn es kann wirklich
den Praxisbetrieb in unerhörter Weise stören, so dass auch die
Behandlung der Behinderten leidet. Erfahrungsgemäû dauert
eine Konsultation eines geistig Behinderten länger (längere Zeit
zur Anamnese, Befunderhebung, Therapieabsprache).
Zum Glück haben sich bei uns über die Jahre gute Kontakte entwickelt, so dass nach Terminabsprache ± auch am selben Tag ±
Konsultationen möglich sind, meist etwas am Rand der Sprechstunde. Dieses Vorgehen hat keineswegs etwas mit Benachteiligung der Behinderten oder gar der Sorge um den Praxisruf zu
tun, wie ich es auch schon gelegentlich hörte, sondern tatsächlich mit der Tagesorganisation in einer Praxis. Im Gegenteil: viele
Patienten sprechen mit Hochachtung von ihrem Arzt, der in seiner Praxis geistig Behinderte behandelt. Meine Patienten werden
in einer Praxisbroschüre auf diese Praxisbesonderheit hingewiesen.
Die Inneren Kliniken des Städtischen Krankenhauses nehmen
mir diese Patienten sehr schwer ab, weil ihr Personalschlüssel
nicht für die Beaufsichtigung der geistig Behinderten ausgerichtet ist. Auûerdem ist eine Krankenhausaufnahme auch für einen
geistig Behinderten eine Ausnahmesituation, die zu noch auffälligerem Verhalten führen kann, was wiederum den Mitpatienten
im Krankenhaus nicht zumutbar ist.
Die Psychiatrie wiederum, die personalseitig der Situation gewachsen wäre, sieht sich ± auch auf Konsiliarbasis ± nicht in der
Lage, ein internistisches Problem zu klären.
Praxisbericht
Ein schwieriges Kapitel bei der medizinischen Versorgung dieser
Patienten ist das der notwendigen Kooperation mit anderen Praxen oder mit Kliniken. Zunächst gibt es erhebliche Probleme, Termine bei anderen niedergelassenen ¾rzten für behinderte Patienten zu bekommen (z. B. beim Gynäkologen, beim Orthopäden, beim Chirurgen, beim Gastroenterologen). Natürlich ist es
schwierig, mit ein, zwei Behinderten, die durch ihr ¾uûeres und/
oder ihr Benehmen auffällig sind, in eine voll besetzte Praxis zu
kommen. Manchmal fehlt auch die Sensibilität des Betreuungspersonals für solche Situationen, und es kommt vor, dass das Personal wegen eines kranken Patienten noch weitere 3±5 Heimbewohner mitbringen muss, weil sonst deren Beaufsichtigung
nicht gewährleistet wäre. Wenn in solchen Fällen der Praxisinhaber unerfreut reagiert, ist das allzu verständlich.
Schwieriger noch ist das Problem der stationären Einweisung:
Für manche Untersuchungen, die üblicherweise ambulant
durchgeführt werden, wie Gastroskopien und Koloskopien,
muss ich Termine in einer Klinik vereinbaren, da mit Narkose untersucht werden muss. Auch für diagnostische Abklärungen von
Erkrankungen bei schwer geistig Behinderten benötige ich Termine in einer Klinik.
So liegt es einzig am Geschick, an der Geduld und Hartnäckigkeit
des Allgemeinmediziners, trotz zahlreicher widriger Umstände
zu einer (besonders für die betroffenen Patienten) befriedigenden Lösung zu gelangen.
Bisher hatte ich durch persönlichen Kontakt zur Kinderklinik die
Möglichkeit, schwer geistig und Körperbehinderte dort unterzubringen, was aber zunehmend aufgrund der Intervention durch
die Krankenkassen schwieriger wird.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Betreuung geistig Behinderter und chronisch psychiatrisch Kranker eine hohe
Herausforderung an den Hausarzt/Facharzt für Allgemeinmedizin darstellt. Er wird mit vielfältigen Problemen konfrontiert,
die sowohl fachlich-medizinischer als auch organisatorischer
Natur sind und oft eine unkonventionelle Herangehensweise erfordern.
Interessenkonflikte: keine angegeben.
Höhn F. Zwölf Jahre allgemeinmedizinische ¼ Z Allg Med 2004; 80: 85 ± 87
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