160 Fortbildung – Prothetik Der alternde Patient mit seinen besonderen Bedürfnissen Rekonstruktive Therapie bei eingeschränkten physischen und psychischen Ressourcen Die Herausforderungen bei der rekonstruktiven Rehabilitation alternder Menschen sind vielschichtig. So müssen einerseits die allgemeinmedizinischen und psychosozialen Rahmenbedingungen der Patienten möglichst vollständig erfasst werden, um therapeutische Fehlentscheidungen sowie Über- oder Unterversorgungen vermeiden zu können. Andererseits gilt es zu entscheiden, inwieweit rekonstruktive Maßnahmen überhaupt indiziert sind, und wenn ja, die korrekte Wahl unter der Vielzahl rekonstruktiver Therapiemöglichkeiten zu treffen, die in den letzten Jahrzehnten durch Implantologie und adhäsive Technologien noch wesentlich erweitert wurden. Schließlich ist nach Abschluss der prothetischen Versorgung auch die Langzeitbetreuung alternder Menschen sicherzustellen, um in erster Linie biologische, aber auch technische Misserfolge möglichst zu vermeiden. Diese Herausforderungen können nur bewältigt werden, wenn es uns gelingt, ältere Menschen in einem engen interdisziplinären Verbund von Medizin und Zahnmedizin zu behandeln und zu betreuen, unter Einbezug weiterer beteiligter Fachpersonen und Institutionen, wie dies in der vorliegenden Arbeit in Theorie und Praxis vorgestellt wird. Der Erfolg einer rekonstruktiven Therapie kann beim alternden Menschen durch physiologische und pathologische Veränderungen des Alterns sowie gehäuft auftretende Allgemeinerkrankungen erheblich erschwert oder gar infrage gestellt werden [1–3]. So können Depressionen Ursache funktioneller Störungen oder einer Prothesenunverträglichkeit sein, indem invasive, die orale Situation verändernde Eingriffe Anlass zur Somatisierung der depressiven Verstimmung bieten. Das eigentliche psychische Leiden wird durch eine körperliche Symptomatik maskiert oder überdeckt. Wird eine solche Somatisierungsstörung durch rekonstruktive Maßnahmen ausgelöst, so ist die weitere zahnärztliche Therapie in der Regel deutlich erschwert [4, 5]. Die Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit, beispielsweise durch eine Demenz oder auch eine Depression, kann die Adaptation an formale und funktionelle Veränderungen in der Mundhöhle einschränken. Die Ausbildung neuer, reflektorisch gesteuerter Bewegungsabläufe ist unter Umständen nicht mehr gewährleistet [6, 7]. Das funktionelle Gedächtnis ist nicht nur an natürliche Zähne gebunden. Vor längerer Zeit inkorporierte Prothesen haben ebenfalls ihre zentrale Projektion. Deshalb sollen bei fraglicher Adaptationsfähigkeit orale Strukturen, für welche eine zentrale sensitive Projektion vorhanden ist, soweit wie möglich bewahrt und in eine neue Rekonstruktion übernommen werden [3, 8, 9]. Eine Malnutrition, verursacht durch verschiedenste Krankheiten wie Depressionen, Infekte, oder im Alter oft symptomlos verlaufende, häufig medikamentös verursachte Gastritiden und Magenulcera, können Wundheilungsstörungen zur Folge haben, die sich möglicherweise auch in der Mundhöhle manifestieren. Dies betrifft aus zahnärztlicher Sicht nicht nur Komplikationen nach chirurgischen Eingriffen, sondern auch durch Prothesen verursachte Schleimhautirritationen und -verletzungen [10, 11]. Schließlich soll in diesem Zusammenhang auch auf mögliche negative Auswirkungen der Polypharmakotherapie im Alter hingewiesen werden, die für die zahnärztliche Behandlung und Betreuung betagter Patienten ebenfalls von hoher Relevanz sein können. Die Eliminationshalbwertszeit vieler Medikamente ist durch die im Alter abnehmende Nieren- und Leberfunktion signifikant verlängert. Ein typisches Beispiel sind die Benzodiazepine und zentralnervös wirksame Medikamente, die z. T. sehr lange Eliminationshalbwertszeiten aufweisen. Infolgedessen besteht eine erhöhte Gefahr der Kumulation, Intoxikation und Potenzierung. Nebenwirkungen und Interaktionen mit anderen Medikamenten, auch mit solchen, die von Zahnärzten verschrieben werden, treten gehäuft auf [12, 13]. Aufgrund dieses Sachverhalts sollten eigentlich nur Medikamente verschrieben werden, deren Wirkungseintritt und Eliminationshalbwertszeit beim älteren Menschen bekannt sind. Hierzu stehen aber bislang nur begrenzt Daten zur Verfügung. In diesem Zusammenhang ist auch immer daran zu denken, dass verschiedenste Medikamente die ko- Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. C. E. Besimo CH-Brunnen ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2013; 122 (4) ZWR_4_13.indb 160 12.04.2013 10:54:20 Rekonstruktive Überlegungen zu teil- und hybridprothetischem Zahnersatz Einschränkungen der physischen und psychischen Ressourcen erfordern bei älteren Menschen oft alternative Überlegungen zu den üblicherweise angewendeten rekonstruktiven Strategien, so auch für teil- und hybridprothetischen Zahnersatz sowie zu den im Rahmen der Langzeitbetreuung möglicherweise notwendig werdenden Anpassungsmaßnahmen. Eine enge interdisziplinäre zahnärztlichmedizinische Diagnostik und Therapie sollte dabei gewährleistet sein [11]. Teil- und hybridprothetische Rekonstruktionskonzepte für den älteren Patienten sollen grundsätzlich einfache Lösungen umfassen, die einen rationellen Behandlungsgang und notfalls auch eine praxisexterne Betreuung sowie Nachsorge ermöglichen. Konstruktionselemente, die einer besonderen Geschicklichkeit bedürfen, sind zu vermeiden [16]. Eine leichte Handhabung des Zahnersatzes sowie eine mühelose Mund- und Prothesenhygiene durch den Patienten oder Pflegepersonen müssen gewährleistet sein [17]. Häufig ist die rekonstruktive Planung beim älteren Patienten aufgrund einer unsicheren allgemeinmedizinischen und oralen Prognosestellung kurz- oder längerfristig darauf auszurichten, dass Umbaumaßnahmen nicht vermieden werden können. Entsprechend ist ein Prothesendesign zu wählen, das Anpassungen an veränderte orale Situationen in geeigneten Schritten erlaubt, die Behandlungsfähigkeit sowie Lern- und Adaptationskapazität bei eingeschränkten gesundheitlichen Ressourcen möglichst nicht beeinträchtigen oder gar infrage stellen [16, 18]. Die Außenform von inkorporiertem Zahnersatz wird bei fraglichen physischen und psychischen Ressourcen mit Vorteil nicht verändert. Ein eventuell schrittweise erfolgender Prothesenumbau ist der Neuanfertigung vorzuziehen. Die Erhaltung des gewohnten Zungenraumes und auch der vestibulären Außenflächen zur Bewahrung der etablierten Weichteilfunktionen hat bei der Optimierung oder Erweiterung der prothetischen Okklusion den absoluten Vorrang gegenüber rein statisch-dynamischen Prinzipien der Zahnaufstellung. Bereits der Aufbau von Ventilrändern kann in diesen Fällen die funktionelle Adaptation erschweren oder vereiteln [16, 19]. Gerade bei schwierigen funktionellen Verhältnissen oder fraglichen kognitiven Fähigkeiten sollen auch Zähne mit fraglicher Prognose zumindest vorübergehend erhalten und zur parodontalen Verankerung des Zahnersatzes herangezogen werden. Auf diese Weise kann die Bahnung neuer Reflexmuster und somit die Protheseninkorporation durch die temporäre Erhaltung desmodontaler Rezeptoren erleichtert werden. Zudem wird der Halt und die funktionelle Stabilität des Zahnersatzes im Vergleich zur rein schleimhautgetragenen Prothese erhöht [8, 9]. Klinische Beispiele Fall 1 Eine 54-jährige Patientin stellte sich mit Beschwerden in beiden Kiefern in der Sprechstunde vor. Sie war vor 2 Jahren mit neuen Teilprothesen im Ober- und Unterkiefer versorgt worden. Die Verankerung des Zahnersatzes bestand im Oberkiefer aus Doppelkronen auf den verbleibenden Zähnen 17, 16, 15, 11 und 25, im Unterkiefer aus einer Stegkonstruktion, die an verblockten Kronen auf den Zähnen 34, 33, 43 und 44 befestigt war. Die Zähne 25, 33 und 44 wiesen eine apikale Parodontitis auf, an den Zähnen 17, 16 und 34 bestanden fortgeschrittene parodontale Läsionen im marginalen Bereich (Abb. 1). Das Palatinalband der Prothese im Oberkiefer zeigte eine ungenügende Passform. Die Patientin litt zudem seit Jahren an einer schweren chronischen Depression und war deshalb nur bedingt durch zahnärztliche Maßnahmen belastbar. Die von der Patientin beklagten Beschwerden konnten eindeutig auf die entzündlichen Prozesse und die Speiseretention unter dem ungenügend anliegenden Palatinalband zurückgeführt werden. Eine Somatisierungsstörung wurde von ärztlicher Seite ausgeschlossen. Aufgrund der geringen Belastbarkeit der Patientin wurde in Absprache mit dem Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. gnitive Leistung und somit die zahnärztliche Behandlungs- und Betreuungsfähigkeit gerade älterer Patienten massiv zu reduzieren vermögen [14, 15]. Dies trifft u. a. auf die sog. Anticholinergika zu, die durch ihr komplexes Nebenwirkungsprofil in vielerlei Hinsicht mit zahnärztlichen Maßnahmen interferieren können. Sie verschlechtern nicht nur die kognitiven Fähigkeiten, sie führen auch zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens und verursachen eine Xerostomie. Letztere ist zudem eine häufige Ursache für Komplikationen mit abnehmbarem Zahnersatz [7, 11]. ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2013; 122 (4) ZWR_4_13.indb 161 12.04.2013 10:54:23 Fortbildung – Prothetik Abb. 1 Radiologischer Anfangsbefund in der Panoramaschichtaufnahme mit periapikalen Aufhellungen an den Zähnen 25, 33 und 44 sowie knöchernem Attachment-Verlust an den Zähnen 17, 16 und 34. Abb. 2 Status nach Extraktion der Zähne 17, 16, 25, 34, 33, 44 und Insertion von 2 Implantaten in Regio 24, 34. betreuenden Arzt der Entschluss gefasst, im Oberkiefer die bestehende Prothese weiter zu verwenden. Im Unterkiefer war ein definitiver Prothesenumbau wegen des ungünstigen Designs des bestehenden Zahnersatzes nicht sinnvoll. In einem 1. Schritt wurden die Zähne 17, 16 und 25 extrahiert und die Prothese im Oberkiefer durch Unterfütterung an die veränderte Situation angepasst. In einem 2. Schritt erfolgte die Entfernung der Zähne a b 34, 33 und 44. Die Krone auf Zahn 43 wurde vorerst mit einem kurzen Segment des Steges belassen und diente der temporären Verankerung der vorhandenen Prothese, die ebenfalls unterfüttert wurde. Die parodontale Situation an den verbleibenden Zähnen 15, 21 und 43 konnte im Rahmen der Vorbehandlung stabilisiert werden. Durch dieses sorgfältige schrittweise Vorgehen blieb die phonetische und kaufunktionelle Situation für die Patientin weitgehend unverändert und die psychische Belastung durch die Therapie minimal. In Regio 24 und 34 wurden 6 Wochen später Implantate eingesetzt (Abb. 2). Nach weiteren 3 Monaten konnte der Unterkiefer mit einer neuen Prothese versorgt werden. Diese wurde auf dem Implantat Regio 34 mit einem Zylinderanker, auf dem vitalen Pfeiler 43 mit einer Konuskrone verankert. Der Prothesenkörper wies im Pfeilerbereich eine offene Basisgestaltung mit Verblendkronen auf (Abb. 3). Abschließend wurde in die bestehende Prothese des Oberkiefers in Regio 24 ein implantatgetragener Zylinderanker eingebaut (Abb. 4). In der nachfolgenden Erhaltungsphase von zwischenzeitlich mehr als 6 Jahren konnten gesunde und funktionell stabile orale Verhältnisse zur vollen Zufriedenheit der Patientin erhalten werden. Kommentar Das vorliegende Patientenbeispiel dokumentiert in eindrücklicher Weise, wie durch minimale und gezielte Pfeilervermehrung mit Implantaten eine dauerhafte Verbesserung der funktionellen Situation und Lebensqualität erreicht werden kann Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. 162 c Abb. 3 Neuversorgung im Unterkiefer mit Zylinderanker auf dem Implantat in Regio 34 und Konuskrone auf Zahn 43 (a). Der abnehmbare Prothesenkörper wurde grazil gestaltet und ersetzte lediglich das verloren gegangene Hart- und Weichgewebe. Periimplantär wurde die Prothesenbasis geöffnet. Die Gestaltung der Suprastruktur über den Implantaten erfolgte in Form von Verblendkronen (b, c). a b c Abb. 4 Optimierung der Prothesenfunktion im Oberkiefer durch Pfeilervermehrung mit einem Zylinderanker auf dem Implantat in Regio 24 (a). Das Gerüstteil für die Geschiebematrize des implantatgetragenen Zylinderankers wurde in die bestehende Prothese des Oberkiefers eingebaut (b, c). ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2013; 122 (4) ZWR_4_13.indb 162 12.04.2013 10:54:28 Wolf_F 164 Fortbildung – Prothetik Abb. 5 Beobachtungscheckliste mit den Angaben zu den Verhaltensauffälligkeiten der 84-jährigen Patientin. Abb. 6 Unvollständige Darstellung der Uhr als Hinweis auf ein dementielles Syndrom. [20]. Voraussetzungen sind die Wiederherstellung gesunder und stabiler oraler Verhältnisse sowie die Sicherstellung einer problembezogenen nachhaltigen Langzeitbetreuung. Aufgrund der psychischen Situation der Patientin war eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem betreuenden Arzt absolut notwendig [11, 21]. Diese umfasste nicht nur die Behandlungsplanung, sondern auch die medizinische Begleitung der Patientin während der zahnärztlichen Therapie. Dabei spielte insbesondere die Wahl psychisch günstiger Zeitpunkte für die chirurgischen Interventionen und die funktionell verändernden Maßnahmen eine wichtige Rolle, um Komplikationen wie z. B. eine als Folge der Depression mögliche Somatisierungsstörung mit Gefährdung der Compliance zu vermeiden [4, 5]. Zudem wurde durch das subtile und schrittweise Vorgehen bewusst auf größere formale und funktio- Fall 2 Eine 84-jährige Patientin stellte sich in der Sprechstunde vor, weil sie ihren Zahnersatz im Unterkiefer nicht mehr einsetzen konnte. Anamnese und Befund ergaben eine fortgeschrittene Arthrose in beiden Kiefergelenken mit Verspannung der Kaumuskulatur. Eine deutliche Einschränkung der Mundöffnung war die Folge. Im Oberkiefer lag eine Vollprothese vor, im Unterkiefer eine Hybridprothese mit Stegverankerung. Letztere konnte auch durch den Zahnarzt wegen der großen vertikalen Dimension des Prothesenkörpers und der eingeschränkten Mundöffnung der Patientin nicht mehr eingesetzt werden. Der geriatrisch geschulten und infolgedessen aufmerksam beobachtenden Dentalassistentin war bei der Begleitung der Patientin vom Wartebereich in das Behandlungszimmer aufgefallen, dass diese bei der Beantwortung von Fragen jeweils stehen blieb. Zudem registrierte die Mitarbeiterin, dass die Patientin durch einen Rotkreuzfahrer gebracht wurde und einen Stock als Gehhilfe benutzte. Diese Beobachtungen notierte sie auf einer eigens für das medizinisch-psychosoziale Screening älterer Menschen entwickelten Checkliste und informierte darauf den behandelnden Zahnarzt [21] (Abb. 5). Die beeinträchtigte Fähigkeit, 2 oder mehrere Aufgaben, in diesem Falle Gehen und Sprechen, gleichzeitig ausführen zu können, war ein möglicher Hinweis auf eine Einschränkung exekutiv-kognitiver Funktionen, die sich auch auf die funktionelle Adaptation an eine veränderte prothetische Situation hätte negativ auswirken können. Der Uhr-Test bestätigte die kognitive Einschränkung der Patientin [24] (Abb. 6). Die ärztliche Abklärung ergab das Vorliegen eines dementiellen Syndroms. Entsprechend vorsichtig erfolgten rekonstruktive Planung und Therapie, um die Adaptations- und Kooperationsfähigkeit der Patientin nicht zu überfordern. Die Entfernung des überkonturierten Steges unter Belassung der Wurzelstiftkappen und eine Verkleinerung der Dimensionen der Prothese im Unterkiefer vermochten vorübergehend die Prothesenhandhabung durch die Patientin wieder herzustellen und zeigten, dass trotz kognitiver Einschränkungen die Adaptation an Veränderungen der Prothesenform noch gegeben war. Entsprechend wurde beschlos- Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. nelle orale Veränderungen verzichtet, um die psychische Leistungsfähigkeit der Patientin (Resilienz und Plastizität) zur Bewältigung der zahnärztlichen Behandlung nicht zu überfordern [22, 23]. Angesichts dieser Sachverhalte muss doch erstaunen, dass einer der zur Langzeitbetreuung der im Ausland lebenden Patientin beigezogenen Zahnärzte sich nicht scheute, die vollumfänglich zufriedene Frau in mehreren Versuchen zu einer aufwendigen Neuversorgung mit multiplen Implantaten zu überreden. ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2013; 122 (4) ZWR_4_13.indb 164 12.04.2013 10:54:34 Fortbildung – Prothetik Kommentar Das mehrdimensionale Assessment alternder Menschen gewährleistet, wie das vorliegende Patientenbeispiel zeigt, eine ganzheitlichere zahnärztliche Diagnosestellung und Therapie, um gerade bei rekonstruktiven Maßnahmen eine Überforderung des Patienten zu vermeiden. Es wird also eine bessere Einschätzung der Leistungsfähigkeit und infolgedessen ein der individuellen Lebenssituation eher entsprechender Umgang mit älteren Menschen sichergestellt, frei von stereotypen Altersbildern. Die Grundlage dieses Konzepts bildet ein Patienten-Screening mit einfachen Hilfsmitteln wie Anamnesebogen, Checklisten und wenigen Screening-Verfahren des geriatrischen Assessments, die durch den Zahnarzt und sein Team ohne oder mit nur geringem zeitlichen Mehraufwand im Rahmen der Anamnese, der Diagnostik und der Therapie systematisch zur Anwendung gelangen können [21]. Zu den geriatrischen Screening-Verfahren gehört der Uhrtest. Dieser wird in der Neurologie und Neuropsychologie seit vielen Jahren verwendet. Er erlaubt es, in sehr kurzer Zeit wichtige kognitive Aspekte der Demenz zu untersuchen [24]. Ziel ist die rechtzeitige Erkennung einer Demenz und somit einer möglicherweise beeinträchtigten oralen Lern- bzw. Adaptationsfähigkeit vor Durchführung irreversibel invasiver Therapiemaßnahmen [11]. Es besteht eine signifikante Assoziation zwischen verschlechterter exekutiver Kognition und erhöhter Gangvariabilität bei geteilter Aufmerksamkeit für 2 oder mehrere Tätigkeiten (Dual- oder Multitask). ‚Stops walking when talking‘ ist somit als möglicher Hinweis auf eine kognitive Beeinträchtigung zu werten und gleichzeitig als Indikator für ein erhöhtes Sturzrisiko zu verstehen [25]. Die für die Betreuung der betagten Patientin verantwortliche Dentalassistentin hat somit eine für die rekonstruktive Rehabilitation und die Langzeitbetreuung der betagten Patientin äußerst wichtige Beobachtung an den behandelnden Zahnarzt weitergeleitet, die durch den Uhrtest in ihrer Aussagekraft erhärtet werden konnte. Diese Fallvignette verdeutlicht die Bedeutung des medizinisch-psychosozialen Screenings insbesondere für die prothetische Rehabilitation alternder Menschen. Oft müssen grundlegende Entscheidungen getroffen werden, wie z. B. zwischen einer festsitzenden und abnehmbaren Therapielösung mit oder ohne Implantate bzw. für oder gegen die Erweiterung einer auf weniger als 10 Antagonistenpaare reduzierte Okklusion. Solche Entscheidungen können aber in der Regel ohne weitergehende Informationen zum allgemeinen Gesundheitszustand, zur Ernährung und zu den sozialen Rahmenbedingungen nicht mit ausreichender Sicherheit und Nachhaltigkeit getroffen werden [21, 26]. Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. sen, im Unterkiefer eine neue, deutlich grazilere Modellguss­prothese mit vermessenen Klammern auf den bestehenden Wurzelstiftkappen der verbleibenden Zähne 33 und 34 anzufertigen. Dies erlaubte auch eine Normalisierung der vertikalen Dimension. Die Okklusion wurde nicht verändert. Die Form der Wurzelstiftkappen wurde anhand des vermessenen Studienmodells durch Beschleifen optimiert, sodass eine zuverlässige Verankerung der gegossenen Klammern erreicht werden konnte (Abb. 7, 8). Diese Maßnahmen führten zu einer bleibenden Sicherstellung der Prothesenhandhabung und -funktion, ohne Überforderung der Lern- und Adaptationsfähigkeiten der Patientin. Die Mundöffnung konnte zudem durch Übungen sowie Massage der Kaumuskulatur stabil gehalten werden. 167 Fall 3 Ein 70-jähriger, alleinstehender Patient hatte innerhalb von 9 Monaten 7 kg abgenommen. Er begab sich in dieser Zeit wegen Schmerzen und Ap- Abb. 7 Panoramaschichtaufnahme der klinischen Situation nach Entfernung des Steges. a bc Abb. 8 Meistermodell (a) und Modellgussprothese mit vermessenen Klammern auf den Wurzelstiftkappen der Zähne 33 und 34 (b, c). ZWR ̶ Das Deutsche Zahnärzteblatt 2013; 122 (4) ZWR_4_13.indb 167 12.04.2013 10:54:36 168 Fortbildung – Prothetik Ernährungsparameter im Blut Malnutritionsgrade Norm Mild Schwer Sehr schwer Albumin g/L 35 – 45 31 29 – 34 23 – 28 < 22 19 Eisen mmol/L 9.5 – 33 11.5 5.0 – 9.4 2.5 – 4.9 4.7 < 2.5 Vitamin B12 pmol/L > 300 1224 < 250 < 150 114 < 100 Folsäure nmol/L 9.5 – 45.0 45.5 8.0 – 9.4 5.0 – 7.9 7.5 < 5.0 Hämoglobin g/dL 12.5 – 14.5 9.5 – 12.4 10.3 8.0 – 9.4 8.3 < 8.0 Lymphozyten / mm3 1800 – 4000 500 – 900 880 < 500 6.0 – 8.9 < 6.0 4.5 Zink mmol/L Abb. 10 Ernährungsparameter im Blut des 70-jährigen Patienten zu Beginn der stationären Behandlung (rot) und nach 3 Monaten Ernährungstherapie (grün) (Akutgeriatrische UniversiAbb. 10 tätsklinik Basel). petitlosigkeit in zahnärztliche Behandlung. Es wurde im Oberkiefer eine neue Totalprothese angefertigt. In der Folge akzentuierten sich jedoch die Beschwerden in der Mundhöhle. Es traten multiple Schleimhautreizungen und -läsionen in Form von Druckulcera auf, die prothetisch auch durch weichbleibende Unterfütterung nicht behandelt werden konnten (Abb. 9). Eine Prothesenkarenz bewirkte nur eine zögerliche Wundheilung. Die Irritationen traten mit erneutem Tragen des Zahnersatzes sofort wieder auf. Das Vorliegen maligner Veränderungen konnte histologisch ausgeschlossen werden. Die ärztliche Abklärung ergab schließlich eine Depression und eine schwere Malnutrition als Folge des Todes der Ehefrau vor einem Jahr. Die Depression und die Unfähigkeit, den Alltag alleine zu bewältigen, führten zu einer schleichenden Verwahrlosung des Mannes. Der Mangel an Albumin und Zink sowie die geringe Lymphozytenzahl waren Ausdruck der katabolen Stoffwechsellage und beeinträchtigten die Wundheilung. Die stationäre Behandlung der Malnutrition erfolgte vorerst durch vollbilanzierte flüssige Supplemente und medikamentöse Substitution von Zink, Vitamin B12, Folsäure und Proteinen (Abb. 10). Mit der Rückkehr des Appetits konnte schrittweise zu einer normalen Ernährung übergegangen werden. Die Normalisierung der Stoffwechsellage bewirkte nicht nur eine Verbesserung der physischen Situation, sondern auch die Ausheilung der Schleimhautläsionen in der Mundhöhle. Wegen der Gefahr einer erneuten Vereinsamung mit Depression und Malnutrition bei Verlassen des Krankenhauses wurde der Übertritt des Patienten in ein Altersheim eingeleitet. Kommentar Dieses Fallbeispiel zeigt deutlich, dass funktionelle Probleme mit Zahnersatz in einem weit größeren interdisziplinären Zusammenhang stehen können als die zahnärztliche Einschätzung auf den 1. Blick vermuten lässt. In gleicher Weise erfordert auch eine Malnutrition des älteren Menschen ein wesentlich differenzierteres Verständnis der Ätiopa- thogenese dieser in der Regel multifaktoriellen und somit komplexen Erkrankung, dem die banale Verknüpfung von Zahnzahl, Kaukraft und Kauleistung mit Appetit und Ernährungslage bei Weitem nicht zu genügen vermag [27]. Anhand klinischer Untersuchungen kann auf der einen Seite gezeigt werden, dass durch prothetische Neuversorgung unterschiedlichen Aufwands eine Verbesserung der Kaukraft und Kauleistung möglich ist [28]. Auf der anderen Seite muss aber erkannt werden, dass eine Optimierung der funktionellen Situation nicht zwingend auch eine Verbesserung der Ernährung bewirkt, da in vielen Fällen nicht orale Erkrankungen als Ursachen mangelnden Appetits oder einer schlechten Ernährungslage im Vordergrund stehen. Die Häufung psychosozialer und medizinischer Leiden im Alter führt dazu, dass funktionelle orale Defizite für den Patienten an Bedeutung verlieren. Deshalb kann in diesen Fällen die Verbesserung der Kaufunktion in der Regel auch nicht die gewünschte Verbesserung der Ernährungslage bewirken [29]. Infolgedessen sollte gerade beim älteren Menschen vor rekonstruktiven Maßnahmen die Ernährungssituation durch den Zahnarzt abgeklärt und bei Verdacht auf eine Malnutrition die medizinische Diagnose durch eine ärztliche Ursachenabklärung gesichert werden. Dies kann wesentlich dazu beitragen, die Indikationsstellung einer geplanten rekonstruktiven Therapie besser einschätzen zu können [21, 27]. Zudem sollten prothetische Maßnahmen durch eine professionelle Ernährungsberatung und -lenkung ergänzt werden, um die Verbesserung einer suboptimalen Ernährungslage erreichen zu können [30]. Heruntergeladen von: Thieme Verlagsgruppe. Urheberrechtlich geschützt. Abb. 9 Persistierendes Druckulcus der Alveolarschleimhaut des Oberkiefers. 1000 – 1700 1080 10.7 – 22.9 11.4 9.0 – 10.6 Interessenkonflikt Kein Interessenkonflikt angegeben. 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