Frau Donath: „Ich kämpfe um Selbstbestimmung, und zwar jeden Tag." Frau Donath ist 56 Jahre alt, seit dreißig Jahren verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie wohnt mit ihrem Mann in einem Eigenheim am Rande einer größeren Stadt im Ruhrgebiet Der Sohn und die Tochter sind bereits erwachsen und leben nicht mehr zu Hause. Von Beruf ist die Interviewpartnerin Politologin. In der ersten Zeit ihrer Ehe war sie als Referatsleiterin im öffentlichen Dienst beschäftigt. Aus familiären Gründen gab sie diese Stelle auf und arbeitete anschließend als Oberstudienrätin in der Schule. Jahrelang war sie außerdem ehrenamtlich in der Frauenpolitik aktiv. Frau Donath hat eine nichtentzündliche, degenerative Netzhauterkrankung, die zu vollständiger Erblindung führen kann. Derzeit verfügt sie noch über eine stark reduzierte Sehfähigkeit. Wegen dieser Erkrankung wurde sie im Alter von vierzig Jahren frühzeitig pensioniert. Anschließend arbeitete sie zehn Jahre lang im Vorstand einer Selbsthilfegruppe. Danach erhielt sie eine hauptberufliche Tätigkeit in der Politik. die sie einige Jahre innehatte. Derzeit ist sie nicht berufstätig und engagiert sich ehrenamtlich in verschiedenen Organisationen und Gremien der Behindertenselbsthilfe. Frau Donath gehört zu den Betroffenen, deren gesundheitliche Beeinträchtigung sich im Laufe der Jahre allmählich entwickelt hat. Den größten Teil ihres Lebens hat die Gesprächspartnerin als nichtbehinderte Frau zugebracht; sie absolvierte Schule und Studium, ging eine Ehe ein, wurde Mutter und war lange Jahre berufstätig. Für eine Frau ihrer Generation noch eher ungewöhnlich, gelang es ihr, Mutterschaft und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden, wenngleich sie aus familiären Gründen eine vielversprechende Karriere aufgeben musste. Die Sehbehinderung führte zu dem frühzeitigen Ausscheiden aus dem Schuldienst. einer bedeutenden Zäsur in ihrer Biographie, die sie offenbar nur widerstrebend akzeptiert hat. Ein gewisses Angewiesensein auf Hilfeleistungen besteht. nicht jedoch eine umfassende Pflegebedürftigkeit. Als behinderte Frau hat Frau Donath in den letzten sechzehn Jahren reichlich Erfahrung sammeln können; entscheidende Phasen ihrer Lebensgeschichte sind gleichwohl von einer nichtbehinderten Perspektive geprägt. Quelle: Waldschmidt, Anne, Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer. Opladen, 1999