Abschnitt 2-5 - Fakultät für Mathematik, TU Dortmund

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Lineare Algebra I – WS 2015/16
2.5
c Rudolf Scharlau
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Dimensionstheorie Linearer Gleichungssysteme
In diesem Abschnitt wird der in 2.3 behandelte Begriff der Dimension
eines Vektorraumes benutzt, um den im Abschnitt 2.2 informell und
vorläufig eingeführten Begriff des Rangs eines Linearen Gleichungssystems exakt zu definieren. Hierzu wird zunächst der Rang eines Vektorsystems definiert, der den Zeilenrang und den Spaltenrang einer Matrix
als Spezialfälle enthält. Ein wichtiger Satz, der sich keineswegs unmittelbar aus den Definitionen ergibt, besagt dann, dass der Zeilenrang einer
Matrix immer gleich dem Spaltenrang ist. Sobald auf diese Weise die
Begriffe geklärt sind, ergibt sich eine bekannte Formel für die Dimension des Lösungsraumes eines homogenen LGS unmittelbar aus den Herleitungen des früheren Abschnitts 2.2. Dieser Abschnitt wird mit zwei
Korollaren zur Dimensionsformel beschlossen, die den Fall der eindeutigen beziehungsweise, wie man sagt, “universellen” Lösbarkeit eines LGS
behandeln.
Früher eingeführte Konzepte für Lineare Gleichungssysteme wie elementare Umformungen (siehe 2.2.6) und die Stufenform aus 2.2.8 übertragen sich unmittelbar auf Matrizen. In diesem Fall spricht man genauer
b hat Zeilenstufenform, falls Indices
von Zeilenstufenform. Eine Matrix A
k1 < k2 < . . . kr existieren mit b
aiki = 1, b
aij = 0 für j < ki oder i > r.
b auch die Pivotspalten von
Man nennt die entsprechenden Spalten von A
b Der provisorisch definierte Rang von A
b ist gleich r, der provisorisch
A.
definierte Rang einer beliebigen Matrix ist definitionsgemäß gleich dem
Rang einer durch elementare Umformungen daraus erzeugten Matrix
im Zeilenstufenform. Allerdings kann man von einer gegebenen Matrix
zu verschiedenen Zeilenstufenformen gelangen, und dieser Rang könnte
vielleicht nicht immer der gleiche sein. Um dieses Problem zu beseitigen,
geben wir wie angekündigt nun eine Neubegründung des Begriffs Rang“
”
mit Hilfe des Dimensionsbegriffs.
Definition 2.5.1 (Rang)
a) Der Rang eines Vektorsystems v1 , v2 , . . . , vm in einem Vektorraum
V ist definiert als
rang{v1 , v2 , . . . , vm } := dim Lin{v1 , v2 , . . . , vm }.
b) Der Spaltenrang einer Matrix A mit Spalten ~a1 , ~a2 , . . . , ~an ∈ K m
ist definiert als rang{~a1 , ~a2 , . . . , ~an }
c) Der Zeilenrang einer Matrix mit Zeilen a1 , a2 , . . . , am ∈ K 1×n ist
definiert als rang{a1 , a2 , . . . am }.
Der von den Zeilen einer m × n-Matrix A erzeugte Unterraum des K 1×n
heißt auch Zeilenraum von A; der von den Spalten von A erzeugte Unterraum des K m = K m×1 heißt Spaltenraum von A. Der Zeilen- bzw.
Spaltenrang ist also definitionsgemäß gleich der Dimension des Zeilenbzw. Spaltenraumes.
Unten in Satz 2.5.6 werden wir sehen, dass der Zeilenrang immer gleich
dem Spaltenrang ist. Das ist sehr praktisch und leicht zu merken, aber
nicht ganz so leicht zu beweisen.
Lemma 2.5.2 Bei den folgenden Umformungen eines Vektorsystems
v1 , v2 , . . . , vm ändert sich die lineare Hülle Lin{v1 , v2 , . . . , vm } und somit auch der Rang nicht.
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1. Vertauschen zweier Vektoren;
2. Ersetzen eines der vi durch αvi für einen Skalar α 6= 0;
3. Ersetzen eines der vi durch vi + αvj für einen Skalar α und ein
j 6= i.
Wie man sieht, handelt es sich hier um eine offensichtliche Verallgemeinerung der elementaren Zeilenumformungen von Matrizen.
Korollar 2.5.3 Der Zeilenrang einer Matrix A ist gleich der Anzahl
der von Null verschiedenen Zeilen einer daraus durch elementare Zeileb in Zeilenstufenform. Er entspricht
numformungen erhaltenen Matrix A
somit dem früher definierten Rang des zugehörigen linearen Gleichungssystems.
Zum Beweis der zweiten Behauptung muss man sich noch überlegen,
b linear unabhängig sind, also eine Basis des
dass die ersten r Zeilen von A
Zeilenraumes bilden. Das ist nicht schwierig und wird als Übungsaufgabe
überlassen.
Die 2. Interpretation der Matrix-Vektormultiplikation (siehe 2.4.2) liefert
folgende wichtige Interpretation des Spaltenraumes:
Bemerkung 2.5.4 Der Spaltenraum einer Matrix A besteht aus genau
denjenigen Vektoren ~b ∈ K m , für die das LGS A~x = ~b eine Lösung hat.
Er kann auch als das Bild der zur Matrix A gehörigen linearen Abbildung
FA (siehe 2.4.4) aufgefasst werden.
Wenn man elementare Zeilenumformungen durchführt, erhält man eine
eins-zu-eins-Korrespondenz (bijektive Abbildung) zwischen den möglichen rechten Seiten, d.h. den Bildmengen von FA , zur alten und neuen
Matrix. Diese Beobachtung liefert zwar keinen exakten Beweis, aber eine
gute Begründung für folgendes wichtige Lemma.
Lemma 2.5.5 Der Spaltenrang einer Matrix ändert sich bei elementaren Zeilenumformungen nicht.
Beweis: (Skizze, Details siehe Vorlesung) Man überlegt sich, das linear
unabhängige Spalten nach einer elementaren Zeilenumformung linear unabhängig bleiben, und benutzt ferner, das jede elementare Zeilenumformung durch eine andere, ebenfalls elementare Umformung (des gleichen
Typs) rückgängig gemacht werden kann.
Es folgt relativ leicht der folgende erste wichtige Satz dieses Abschnitts:
Satz 2.5.6 Der Zeilenrang einer Matrix ist immer gleich ihrem Spaltenrang.
Dieses ist ein wirklich bemerkenswerter Satz, auch wenn er einfach klingt.
Wir weisen noch einmal auf die völlig unterschiedliche Bedeutung des
Zeilen- und Spaltenraumes hin.
Der Rang einer Matrix A wird nun als der gemeinsame Zeilen- und Spaltenrang definiert und im folgenden mit rang(A) bezeichnet. Der Rang
einer m×n-Matrix kann höchstens gleich der kleineren der beiden Zahlen
m und n sein.
Wir wollen im Rest dieses Abschnittes den Begriff des Ranges auf lineare Gleichungssysteme anwenden, genauer auf deren Lösbarkeit und die
Struktur der Lösungsmenge.
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Gegeben sei ein LGS A~x = ~b, wobei A eine m × n-Matrix ist. Die m ×
(n + 1)-Matrix (A, ~b) heißt auch erweiterte Matrix des Systems. Es wird
also die rechte Seite ~b des LGS der Koeffizientenmatrix als weitere Spalte
hinzugefügt.
Proposition 2.5.7 Das Gleichungssystem A~x = ~b hat genau dann eine Lösung, wenn der Rang der Koeffizientenmatrix mit dem Rang der
erweiterten Matrix übereinstimmt: rang A = rang(A, ~b).
Wenn man Gleichungssysteme wie üblich mit dem Gauß-Verfahren löst,
braucht man diesen Satz nicht (das System ist genau dann lösbar, wenn
der Vektor ~b nach Umformung in der r + 1-ten bis m-ten Komponente
eine Null hat). Er ist eher von prinzipieller Bedeutung: jedes wie auch
immer geartete Verfahren zur Rangbestimmung liefert auch einen Test
auf Lösbarkeit eines LGS (aber noch nicht unbedingt die explizite Bestimmung der Lösung).
Nun kommen wir zum Hauptsatz der Lösungstheorie linearer Gleichungssysteme. Wir erinnern daran, dass die Lösungsmenge L(A, ~0) eines homogenen LGS mit n Unbestimmten ein Untervektorraum des K n ist.
Theorem 2.5.8 (Dimensionsformel für LGS) Der Lösungsraum eines homogenen LGS A~x = ~0, wobei A eine m × n-Matrix ist, hat die
Dimension
dim L(A, ~0) = n − rang(A).
Für inhomogene Systeme A~x = ~b brauchen wir keine eigene Dimensionsformel. Falls es nämlich überhaupt eine Lösung ~c gibt, so ist bekanntlich
die Lösungsmenge
L(A, ~b) = ~c + L(A, ~0)
ein affiner Unterraum. Seine Dimension ist definitionsgemäß gleich der
Dimension des zugehörigen Untervektorraumes.
Übrigens nennt man zwei affine Unterräume v + U und w + U eines Vektorraumes auch parallel. Alle Verschiebungen von U sind nach Definition
parallel zu U selbst.
Ein paar Worte zur Veranschaulichung und Interpretation des Dimensionssatzes 2.5.8. Zunächst betrachten wir einige Spezialfälle.
• Wenn man eine nicht-triviale Gleichung in zwei Unbestimmten hat,
so ist die Lösungsmenge eine Gerade im K 2 , also von der Dimension 1 = 2 − 1.
• Wenn man eine nicht-triviale Gleichung in drei Unbestimmten hat,
so ist die Lösungsmenge eine Ebene im K 3 , also von der Dimension
2 = 3 − 1.
• Wenn zwei nicht proportionale Gleichungen mit drei Unbestimmten vorliegen, so ist der Rang gleich 2 und die Lösungsmenge von
der Dimension 1 = 3 − 2, also eine Gerade (nämlich der Schnitt
zweier verschiedener Ebenen).
• Wenn man eine weitere Gleichung hinzunimmt, die jedoch abhängig
von den beiden ersten ist, das heißt die entsprechende Zeile eine Linearkombination der ersten beiden Zeilen, dann ändert sich
die Lösungsmenge nicht. Passend zur Dimensionsformel ändert der
Rang r = 2 sich auch nicht.
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Es ist eine offensichtliche Beobachtung, dass eine Lösungsmenge um so
kleiner wird, je mehr Gleichungen man hat. Jedenfalls wird die Lösungsmenge kleiner (bleibt allenfalls gleich), wenn man Gleichungen hinzunimmt. Der Satz 2.5.8 liefert eine präzisierte und quantifizierte Version
dieser Bemerkung. Dabei ist das Maß für die Größe eines Vektorraums
seine Dimension. Allerdings ist die Dimension eines Lösungsraumes nicht
n − m, wie man naiverweise erwarten könnte, sondern die Anzahl der
Gleichungen m ist durch den Rang r zu ersetzen. In der Tat kann der
Zeilenrang r als die Anzahl der wesentlichen verschiedenen“ (d.h. linear
”
unabhängigen) Gleichungen aufgefasst werden.
Wir schauen uns zwei Spezialfälle von 2.5.8 an, nämlich die Fälle mit
größtmöglichem Rang.
Korollar 2.5.9 Gegeben sei ein LGS A~x = ~b, das wenigstens eine Lösung
besitzt. Dabei ist A eine m × n-Matrix vom Rang r. Die Lösung ist eindeutig bestimmt genau dann, wenn r = n ist.
Zum Beweis zieht man sich auf den homogenen Fall zurück: es ist L(A, ~b) =
~c + L(A, ~0), wobei ~c die nach Voraussetzung existierende Lösung ist. Diese Menge besteht genau dann nur aus ~c, wenn L(A, ~0) nur aus der Null
besteht, d.h. als Vektorraum die Dimension 0 hat. Nach der Dimensionsformel läuft das auf r = n hinaus.
Korollar 2.5.10 Gegeben sei eine m × n-Matrix vom Rang r. Das LGS
A~x = ~b ist für jedes ~b ∈ K m lösbar (man sagt auch: universell lösbar)
genau dann, wenn r = m ist.
Dieses folgt leicht aus der Bemerkung 2.5.4 zusammen mit Korollar
2.3.20: Lösbar ist das LGS genau dann, wenn ~b im Spaltenraum liegt,
und dieser ist genau dann gleich ganz K m , wenn seine Dimension r gleich
m ist.
Mit Hilfe der linearen Abbildung FA : K n → K m könnten die beiden
zuletzt betrachteten Sachverhalte wie folgt ausgedrückt werden: Eindeutige (wenn überhaupt) Lösbarkeit liegt genau dann vor, wenn FA injektiv
ist; universelle Lösbarkeit bedeutet, dass FA surjektiv ist.
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