Gerold Scholz Teilnehmende Beobachtung Abstract Gliederung 1. 2. 2.1 3. 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 4. 5. 6. 7. 8. 9. Vorwort Problemaufriss und Fragestellung Darstellungsprobleme Überblick Geschichte Merkmale der qualitativen Forschung „Natural setting und key instrument“ Beschreiben statt Zählen Prozess statt Produkt Induktion statt Deduktion Bedeutung von „Bedeutung“ Erste Zwischenüberlegung Zum Kulturbegriff Teilnehmende Beobachtung als Beobachtung der Rahmung von Handlungen Zweiter Zwischenüberlegung Dateninterpretation am Beispiel Forschung mit Kindern Literatur 1 Vorwort Teilnehmende Beobachtung gilt heute als die zentrale Methode der Ethnologie, hat eine gewisse Verbreitung in soziologischen Studien gefunden und ebenso in einem Teilbereich der Erziehungswissenschaft. Damit ist bereits ein grundlegendes Problem angedeutet. Denn man kann fragen, wie es möglich ist, dass eine Methode relativ unabhängig von den Rahmentheorien der einzelnen Wissenschaften, in deren Zusammenhang sie Verwendung findet, begründet werden kann. Es besteht sicher Einigkeit darüber, dass Teilnehmende Beobachtung die physische Anwesenheit eines Forschers in einem Feld für eine längere Zeit voraussetzt. Darüber hinaus ist aber genauer zu klären, auf welche Weise die Methode mit der Konstruktion des Forschungsgegenstandes verbunden ist. Mein Eindruck ist, dass diese Frage in allen drei genannten Wissenschaften wenig diskutiert wird. Deshalb teilt sich der folgende Beitrag in zwei längere Teile. Im ersten Teil wird eine ausführliche Kritik der Diskussion unternommen. Der zweite Teil beschreibt einen Ansatz, der die Verbindung von Methode und Gegenstand leisten soll. 2 Problemaufriss und Fragestellung Entlang eines Textes von CHRISTIAN LÜDERS lassen sich einige der wichtigen Fragen darstellen. Kennzeichnend für Teilnehmende Beobachtung ist für LÜDERS die persönliche Teilnahme der Forscherin, des Forschers an der Praxis derjenigen, die er oder sie erforschen will: „über deren Handeln und Denken er bzw. sie Daten erzeugen möchten (...) Dabei ist die Annahme leitend, dass durch die Teilnahme an face-to-face-Interaktionen bzw. die unmittelbare Erfahrung von Situationen Aspekte des Handelns und Denkens beobachtbar werden, die in Gesprächen und Dokumenten – 1 gleich welcher Art – übe diese Interaktionen bzw. Situationen nicht in dieser Weise zugänglich wären“ (LÜDERS 2003, 151). LÜDERS attestiert der Teilnehmende Beobachtung eine eigenständige Methodologie dann, wenn qualitative Daten erhoben werden, sei es in Form von Feldnotizen oder Beobachtungsprotokollen. Davon abzugrenzen sei Teilnehmende Beobachtung als ein neben anderen möglicher methodischer Zugang innerhalb eines Verständnisses von Ethnografie als „ein allgemeines, methodenplurales, triangulatives Forschungskonzept“ (LÜDERS 2003, 151f). LÜDERS kritisiert, dass in der Forschungspraxis ein weitgehender Verzicht auf methodische Regeln zu beobachten sei und damit auch die Besonderheiten und spezifischen Herausforderungen der Teilnehmende Beobachtung gar nicht oder nur heterogen diskutiert würden. Er sieht eine Ursache für die Vernachlässigung der Teilnehmende Beobachtung als eigenständiger Methodologie darin, dass sich – als Erbe der Rollentheorie – die Diskussion verkürzt habe auf Fragen nach der Rolle des Beobachters. Zentral dafür ist die Debatte um den Widerspruch zwischen notwendiger „Nähe zum Feld, die er benötigt, um die entsprechenden Daten erzeugen zu können, und Distanz, die er wahren muss, um überhaupt beobachten zu können“ (LÜDERS 2003, S. 152). LÜDERS kritisiert die Diskussion um Teilnehmende Beobachtung als zu wenig tiefgreifend. Diskutiert würden vor allem Fragen des Zuganges, des Aufenthaltes im Feld und dem Ausstieg aus dem Feld sowie Gütekriterien. Diese Fragen beträfen aber alle ethnografischen Methoden. Deshalb sei es notwendig, in Bezug auf die Teilnehmende Beobachtung die folgenden Fragen zu stellen: - „was eigentlich wie durch einen Feldaufenthalt eines relativ `fremden´ Forschers bzw. einer relativ fremden Forscherin in einer konkreten Situation zugänglich bzw. beobachtbar wird“. - Was unter „Protokoll“ zu verstehen ist. Ob Protokolle aufzufassen sind als „vergleichsweise neutrale Beschreibung von Sachverhalten“ oder als „Erzählungen des Beobachters.“ - Genauer nach der ethischen Dimension zu fragen. Zum einen erzeuge jede Teilnehmende Beobachtung „de facto personenbezogene Daten“, zum zweiten sei der kulturelle Unterschied zwischen Beobachter und Beobachteten zu reflektieren (Vgl. 2003, S. 152f.). Alle drei Fragen richten sich gegen ein Verständnis von Teilnehmender Beobachtung in dem implizite Authentizitätsannahmen mitspielen. Lüders wendet sich gegen die Annahme, dass die Teilnehmende Beobachtung zu echteren oder wahreren Einsichten führe als etwa retrospektive Berichte der Beteiligten und hebt hervor: „Demgegenüber kann es nur – z.B. im Vergleich zum Interview – um andere Einsichten gehen und es wäre methodologisch und inhaltlich zu präzisieren, was diese andere Qualität jeweils auszeichnet (LÜDERS 2003, S. 152) Ich gehe nun den genannten Fragen nach. Dabei wird leitend sein, ob es sich bei der Teilnehmenden Beobachtung um eine eigenständige Methodologie handeln kann und muss oder ob es nicht nur mangelnde Diskussionstiefe ist, sondern systematisch in der Methode angelegt, dass sie nur als eine Möglichkeit ethnografischen Forschens verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang ist dann auch die Funktion anderer Aufzeichnungsmethoden, wie Interview, Tonband, Video, Photo etc zu diskutieren. Die Frage nach den Gütekriterien Teilnehmender Beobachtung stelle ich an den Schluss, denn sie wird von den zuvor gegebenen Antworten abhängen. Als Leitfragen kristallisieren sich mithin zwei heraus: 1. Was ist das Feld? 2. Was kann ein Beobachter beobachten? 2.1 Darstellungsprobleme 2 Grundsätzlich gibt es aus meiner Sicht zwei fundamentale Darstellungsprobleme bei der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Methoden. MERKENS schreibt: „Der Wert von Forschungsmethoden stellt sich erst im Zusammenhang mit konkreten Fragestellungen heraus (diesen Teil des Arguments wird niemand in Frage stellen). Deshalb müssen sie in bezug auf konkrete Untersuchungen entwickelt und in ihrer Anwendung dargestellt werden, weil sich erst so ihre Wirksamkeit belegen läßt“ (1984, S. 1). In meinen Worten meint dies, dass die Forschungsmethode abhängt von der zu beantwortenden Frage. Es gibt Fragen, die nach Quantitäten fragen, nach mehr oder weniger, nach stark oder schwach usw. und es gibt Fragen, die nach Qualitäten fragen, also nach Bedeutungen oder nach Bedeutsamkeit. Auch Bedeutungen lassen sich quantifizieren, aber dann geht es eben um deren Häufigkeiten und nicht um ihre differenzierten Inhalte. Und auch innerhalb qualitativer Forschung lassen sich Bedeutsamkeiten unterscheiden. Auch hier wäre genauer zu klären, inwieweit die gewählte Methode eine Antwort auf die gestellte Frage ermöglicht. Nun muss eine Übersicht genau diese Regel verletzen, die Merkens aufstellt, da sie nicht von einer konkreten Forschung berichtet, sondern versucht allgemeine Fragen zu behandeln. Diese allgemeinen Fragen an einem Beispiel zu verdeutlichen, sprengt den Umfang des Textes. Das zweite Problem ist, dass sich Methoden nicht unabhängig von einer sie begründenden Theorie darstellen lassen. LÜDERS unterscheidet deshalb in seinem Text auch zurecht zwischen Methodologie und Methode. Ich versuche nun dem zweiten Problem dadurch gerecht zu werden, dass ich die einzelnen methodischen Aspekte dadurch in einem methodologischen Rahmen lasse, dass ich sie entlang einer in Deutschland wenig bekannten Monographie (BOGDAN/BIKLEN: Qualitative Research for Education 1982) darstelle und deren Aussagen dort ergänze, wo es notwendig ist. Der Fokus dieser Monographie liegt auf der Diskussion von Methoden in der Erziehungswissenschaft. Das schließt notwendig Verweise auf Soziologie und Ethnologie ein. 3. Überblick 3.1 Geschichte Nach BOGDAN/BIKLEN war BOAS der erste Anthropologe, der sich mit Erziehungsfragen beschäftigte und Feldforschung betrieb. Als theoretische Voraussetzung dafür sehen BOGDAN/BIKLEN an, dass Boas ein „cultural relativist“ war: „believing that each culture studied had to be approached inductively“ (S. 9). Die Aufgabe und Funktion der Teilnahme an normalen Leben der beobachteten Kultur beruhen damit auf einem Paradigmenwechsel. Nicht mehr der Vergleich zwischen der eigenen und der fremden Kultur entlang der Maßstäbe der eigenen Kultur ist das Ziel, sondern: „Boas believed that anthropologists should study cultures with the intent of learning how the culture was understood by its members“ (S. 9). Kulturen wurden – entsprechend der Situation des 19. Jahrhunderts – als relativ voneinander unabhängige Gebilde aufgefasst. Entsprechend sprechen BOGDAN/BIKLEN auch von „native cultures“. Diese Situation stellt sich für die Ethnologen des 21. Jahrhunderts nun gänzlich anders. Es gibt keine Kultur, die nicht mit anderen in Berührung gekommen ist. Die Entgegensetzung von „native“ und „civilised“ macht als Unterscheidungsbegriff keinen Sinn mehr. Es kann nicht mehr um Gegenüberstellungen gehen, sondern um Differenzen. Ebenfalls verändert hat sich die Diskussion aus der umgekehrten Sicht. MERKENS kann 1984 noch in bezug auf Forschung in Schulen im eigenen Land, in der eigenen Kultur, schreiben: „Der teilnehmende Beobachter kommt nicht als Fremder“ (S.3). Auch hier hat sich die Diskussion differenziert. WIESEMANN spricht unter Berufung auf AMMAN/HIRSCHAUER von „Befremdung“: Der ethnographische Blick auf die Grundschule ist ein fremder Blick auf allzu Vertrautes.“ (Wiesemann 2003, MS) 3 Schon in 20igsten Jahrhundert war diese doppelte Bewegung erkennbar. Wenn die Ethnologie klassisch von einer "„fremden Kultur“ ausgegangen ist, so musste sie erkennen, dass die sog. „fremde Kultur“ in vielfältiger Weise mit der sog. „eigenen Kultur“ in Verbindung steht. Dies öffnete wohl auch den Weg für ethnologische Forschung in der sog. „eigenen Kultur“. Daraus resultiert dann der methodische Auftrag zur „Befremdung“, also die eigene Kultur mit den Augen eines Fremden sehen zu lernen. Aus dieser Sicht wiederum wurde deutlich, dass in einer „Kultur“ eine Vielfalt von „Kulturen“ oder „Subkulturen“ existieren. Für die Erziehungswissenschaft spielt hier die Neue Kindheitsforschung eine gewisse Rolle, da sie davon ausgeht, dass Kinder über eine eigenständige Kultur verfügen. Im Sinne von Eindeutigkeit scheint es angebracht, Gruppen, die eine Kultur ausgebildet haben, im Anschluss an NORBERT ELIAS als „Sozietät“ zu bezeichnen. BOGDAN/BIKLEN sehen wie viele andere Autoren in Bronislaw Malinowski den Begründer der modernen ethnographischen Feldforschung.1 Sie heben hervor, dass Malinowski eine lange Zeit in einem Dorf der Einheimischen verbracht hat, dass er beschrieben habe, wie er zu seinen Aufzeichnungen gelangt sei und „what the fieldwork experience was like“ (S. 9) Die Theorie müsse induktiv durch Beobachtungen und Erfahrungen mit der Kultur entwickelt werden ist die These, die MALINOWSKI zugeschrieben wird. Tatsächlich unterscheidet MALINOWSKI zwischen „dem sporadischen Eintauchen in die Gesellschaft der Eingeborenen und dem wirklichen Kontakt mit ihnen“ (MALINOWSKI 1984, S. 29). Wirklicher Kontakt setzt das Leben im Dorf voraus und die Teilhabe an dem gesamten Dorfleben: „Wenn ich meinen Morgenspaziergang durch das Dorf machte, konnte ich intime Details des Familienlebens sehen, Toilettemachen, Kochen, Essen. Ich konnte die Erledigungen der Tagesarbeiten beobachten, Leute, die mit ihren Besorgungen begannen oder Gruppen von Männern und Frauen, die mit irgendwelchen Handarbeiten beschäftigt waren. Streitigkeiten, Scherze, Familienszenen – Ereignisse, die gewöhnlich trivial, manchmal dramatisch, aber immer bedeutsam waren, bildeten die Atmosphäre meines täglichen Lebens wie auch des ihren“ (S. 29). Nun bedürfte es nicht der Veröffentlichung seiner Tagebücher um erkennen zu lassen, dass Induktion nur eine der methodischen Haltungen MALINOWSKIS war. Er hat massiv seine eigenen kulturellen Denkweisen und Gewohnheiten auf die Trobiand Inseln mitgebracht. Er schreibt: „Aber der Ethnograph muß nicht nur sein Netz am rechten Ort auswerfen und auf das warten, was sich darin fängt. Er muß aktiver Jäger sein, das Wild in sein Netz hineintreiben und ihm in seine unzugänglichen Verstecke folgen“ (S.30). Die Gegenüberstellung von Induktion und Deduktion ist nicht haltbar. Da alle Erfahrung und alles Wissen mit Interpretation verbunden ist, da Wahrnehmung ohne Interpretation nicht denkbar ist, kann es nur darum gehen, sich der eigenen „Netze“ bewusst zu werden und sie zu reflektieren. Irvin Rock schreibt: „Ist die Welt, die wir wahrnehmen, wirklich identisch mit der realen Welt, die unabhängig von unserer Erfahrung existiert? Wenn ja, dann wäre es nur zu verständlich, das Sehen als eine Art Photographieren der Umwelt aufzufassen. Wir müssen uns aber von dieser Vorstellung lösen, wenn wir Wahrnehmungsvorgänge verstehen wollen, denn nur so können wir verfolgen, daß unser Geist ein eigenständiges Bild der Welt schafft, anstatt ein bloßes Abbild wiederzugeben“ (ROCK 1998, S. 3). Die Frage lautet nicht mehr allein: Was nehme ich wahr, sondern auch: Wie kommt es, dass ich das wahrnehme, was ich wahrnehme – vor allem: Was ist mein eigener Anteil daran? BOGDAN/BIKLEN deuten in ihrer knappen Geschichtsschreibung auch die Übertragung oder Ausdifferenzierung der Feldforschung in die Soziologie an. Aus ihrer Sicht ist Kennzeichen der Chicagoer Schule der Focus auf teilnehmender Beobachtung, „on firsthand data gathering“, the importance of understanding different people´s grasp of reality and their points of view“ (S. 10) 1 Wahrschein war Frank Hamilton Cushing der erste Ethnologe, der die Methode der Teilnehmenden Beobachtung anwendete (Vgl. Dewalt/Dewalt 2202, S. 5). 4 Seitdem wird – wenn ich es recht sehe – nicht mehr deutlich zwischen einem ethnologischen und einem soziologischen Ansatz der Teilnehmende Beobachtung unterschieden. Es macht aber einen Unterschied, ob man daran interessiert ist zu erforschen, was eine Gesellschaft zu einer Einheit macht oder daran, was die einzelnen Mitglieder einer Kultur denken und tun. Es scheint notwendig zu fragen, ob mit der gleichen Methode eine Gesellschaft und eine Kultur erforscht werden kann. Die Chicagoer Schule hat sicher auch einen Einfluss auf die Anthropologie ausgeübt und zwar durch ihren interaktionistischen Ansatz. Wenn es, wie BOGDAN/BIKLEN schreiben, zu den herausragenden Merkmalen dieser Schule gehörte „that all opinions, public or private are a social product“ (S. 11), sie dementsprechend davon ausgingen, dass Realität durch Interaktion hergestellt wird, so verflüssigte diese Annahme die ältere Gegenüberstellung von Kultur und Interaktion. Kultur kann ebenso wie Gesellschaft aus dieser Perspektive nicht mehr als etwas vorgegebenes gesehen werden, sondern als etwas, was Menschen miteinander herstellen. Dennoch muss offen bleiben, ob „reality“ im Sinne der Soziologie gleich bedeutend ist mit „culture“. BOGDAN/BIKLEN beschreiben in ihrem kurzen Abriss der Geschichte eine bis in die Gegenwart anzutreffende Diskussion. Sie konstatieren für die „educational sociology“ einen Mangel an ausgearbeiteten Methoden. Angesichts der Durchsetzung quantitativer Methoden in der Bildungsforschung habe sich die Frage gestellt, ob die qualitative Sozialforschung im Bildungsbereich überhaupt eine Wissenschaft sei oder werden könne oder ob sie bei ihrem anekdotischen Charakter bliebe. Dennoch, so BOGDAN/BIKLEN, haben sich zwischen den dreißiger und sechziger Jahren eine ganze Reihe von Praktiken entwickelt, so wie theoretischen Ansätzen. Für die sechziger Jahre konstatieren BOGDAN/BIKLEN (für die Vereinigten Staaten von Amerika) eine zunehmende Anerkennung qualitativer Methoden. In das Blickfeld gerieten die Armen, die Machtlosen und die Ausgeschlossenen. BOGDAN/BIKLEN machen auf einen weiteren für die gegenwärtige Diskussion wichtigen Aspekt aufmerksam, wenn sie schreiben: „Qualitative research methods represented the kind of democratic impetus on the rise during the sixties“ (S. 20). Forschungsmethoden sind involviert in gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Perspektive der Teilnehmer ist in der Regel nicht die Perspektive der Mächtigen, seien die „Teilnehmer“ nun Arbeiter, Arbeitslose, Schwarze, Immigranten oder Schüler. Insofern stellt sich für den Forscher auch immer die Frage, auf welcher Seite er steht; auf der der Farbigen in bezug auf Rassenintegration (U.S.A.), auf der der Ausgebeuteten in bezug auf die Frage sozialer Beziehungen in einer Klassengesellschaft (England) oder auf der Seite der Unterdrückten in bezug auf Machtkonstellationen (Deutschland). Einen „neutralen“ Beobachter kann es nicht geben. Mit der allmählichen Durchsetzung qualitativer Verfahren und einem sich abzeichnenden gegenseitigen Respektieren von quantitativen und qualitativen Methoden entwickelte sich, so BOGDAN/BIKLEN, auch eine Vielfalt an qualitativen Ansätzen. Am Beispiel von MEHAN wird der Einsatz technischer Mittel erläutert, um den erhobenen Daten eine empirische Grundlage geben zu können. So versah MEHAN jeden Schüler und den Lehrer einer Schulklasse mit einem Mikrophon. Und am Beispiel der Ethnomethodologie wird der holistische Ansatz kritisiert: „the sociology of everything is ridiculus“ (S.22). 3.2 Merkmale der qualitativen Forschung Teilnehmende Beobachtung ist eine Methode oder Methodologie der qualitativen Feldforschung. Dies macht es sinnvoll, zunächst diese allgemeinen Merkmale zu betrachten. BOGDAN/BIKLEN führen fünf Charakteristiken auf. Diese werden dargestellt und im Vergleich zu FRIEBERTSHÄUSER betrachtet bzw. um Anmerkungen und Fragen ergänzt. 3.2.1 „Natural setting und key instrument“ 5 „Qualitative research has the natural setting as the direct source of data and the researcher is the key instrument“ (BOGDAN/BIKLEN 1982, s. 27). So oder ähnlich finden sich Formulierungen in vielen Texten. Die Rede ist von „Teilnahme am alltäglichen Leben“ (FRIEBERTSHÄUSER 1997, S. 503), von Verhalten „in vivo“ (ebd. 505), von dem Interesse für das „Alltägliche, Gewöhnliche und Wiederkehrende“ (ebd. 510), von „Lebenswelt und Lebensstil“ (ebd. 509) die erforscht werden sollen. Diese Vielfalt der aufgeführten Begriffe kann skeptisch machen, vor allem, wenn sie noch mit der Forderung verbunden werden, die Perspektive der Teilnehmer an einem Alltag zu verstehen, der ihnen, wie dem Forschenden nicht gänzlich zugänglich sein kann. Der kurze Satz enthält tatsächlich zwei hochkomplexe Fragen: Auf welche Weise kann der Forscher „key instrument“ sein und was ist eigentlich ein „natural setting“. Zur ersten Frage sind die Angaben sowohl bei BOGDAN/BIKLEN wie bei FRIEBERTSHÄUSER nicht sehr aussagekräftig. Ich werde später darauf zurück kommen. Für die Frage nach dem „natural setting“ sollen sowohl die Ausführungen von BOGDAN/BIKLEN wie von Friebertshäuser kurz dargestellt werden, weil sich so eine Vertiefung der Problemstellung erreichen lässt. Für BOGDAN/BIKLEN lautet die Antwort: „Qualitative researchers go to the particular setting under study because they are concerned with context (...) they want to know where, how, and under what circumstances it came into beeing (...) To divorce the act, word or gesture from ist context is, for the qualitative researcher, to lose sight of significance“ (S. 27). Kontext meint hier einerseits den historischen Kontext, die Geschichte der Entstehung von etwas, meint die Bedingungen einer Entwicklung aber auch die Methoden, Formen, Umstände, Einflüsse, Entscheidungen, Motive, Hintergründe etc. einer Entwicklung. Es geht darum zu wissen, wie das geworden ist was ist. Kontext meint zweitens: „qualitative researcher assume that the human behavior is significantly influenced by the setting in which it occurs, and wherever possible, got there“ (S. 28) Das ist deutlich ein hermeneutischer Ansatz: Das Einzelne aus der Gesamtheit erklären zu wollen und die Gesamtheit, das komplexe Ganze, aus der Stimmigkeit des Einzelnen zu einem Gesamtbild. Teilnehmende Beobachtung reklamiert einen „holistischen Ansatz“. Nun stellt sich das grundsätzliche Problem, dass jede wissenschaftliche Methode Komplexität reduzieren muss. Alle Alltagssituationen sind gewissermaßen überkomplex. Über eine Szene, die vielleicht 1 Minute dauert, lässt sich ein Buch mit 500 Seiten schreiben. Es gibt keine Szenen, die sich – unabhängig von einer gestellten Frage – voneinander logisch abgrenzen lassen. Und es gibt keine Wörter, die nicht in einem unendlichen Kontext mit anderen Wörtern stehen. Ebenso ist die Komplexität zwischen „human behavior“ und „setting“ als „überkomplex“ bezeichenbar, d.h. in ihrer Vollständigkeit nicht beschreibbar. Jede Wahrnehmung eines Beobachters ist begrenzt und im Kern interessengeleitet. Aber auch das Feld ist nicht im Ganzen beobachtbar. Man kann nicht gleichzeitig an mehreren Orten sein, nicht zu allen Teilnehmern eines Feldes gleiche Beziehungen herstellen und schließlich wird man nicht zu allen Orten und Situationen zugelassen. Am Beispiel eines Forschungsprojektes in Krankenhäusern schreibt Hauser-Schäublin: „Was damit deutlich wurde (und was wir eigentlich schon immer gewusst hatten), war, (...) dass der mit der Teilnehmenden Beobachtung verbundene holistische Ansatz der Ethnologie – nämlich Menschen als soziale Akteure schlechthin, und nicht nur Teilaspekte ihres alltäglichen Handelns, in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen – gar nicht anwendbar war und ist.“ (S.41) FRIEBERTSHÄUSER operationalisiert den Kontext ähnlich wie BOGDAN/BIKLEN, hebt aber den „Kulturaspekt menschlichen Lebens“ (S. 504) hervor. „Das bedeutet, Individuen und Gruppen werden immer im Kontext der sozialen, ökologischen und historischen Umwelt betrachtet, in der sie leben.“ (S. 504) Sie spricht im Anschluss an LEGEWIE (1991, S. 193) von ganzheitlicher Erfassung und versucht die Komplexität einzugrenzen durch die Konstruktion „sozialräumlich überschaubare(r) Einheiten menschlichen Zusammenlebens“ (S. 504). FRIEBERTSHÄUSER bezeichnet Komplexität als „Vielschichtigkeit“ und eröffnet sich damit die Möglichkeit, 6 Komplexität zu schichten. Dies wiederum als Grundlage für einen methodischen Ansatz, der Triangulation in das Zentrum stellt. Für die Teilnehmende Beobachtung hebt sie hervor, dass sie im Unterschied zu Befragungen auch jene Aspekte erfassen könne, die den Befragten nicht bewusst seien. Die Schwächen der Teilnehmende Beobachtung wiederum versucht sie auszugleichen durch die Hinzuziehung anderer Methoden, wie quantitative Daten, standardisierte Erhebungen, Interviews, Befragungen in Alltagssituationen etc. Nun lässt sich hier kritisch einwenden, dass der Begriff „sozialräumlich“ nicht mehr zu halten ist, dass es nicht möglich ist, einen Sozialraum von einem anderen systematisch abzugrenzen. Abgrenzen lassen sich Sozialräume nur tentativ, d.h. entlang von Fragestellungen. Der zweite Einwand betrifft die Triangulation. Man kann Triangulation auf zwei unterschiedliche Weisen verstehen. In dem einen Fall geht es darum, Aussagen von einer Person oder eigene Beobachtungen durch Aussagen anderer Personen oder andere Beobachtungen zu kontrollieren. In diesem Sinne argumentiert FETTERMAN und stellt nachvollziehbar fest: „Triangulation always improves the quality of data and the accuracy of ethnographic findings“ (FETTERMAN 1989, S. 91). In einem anderen Verständnis wird Triangulation in dem Sinne gebraucht, dass mit unterschiedlichen Methoden erzeugte Daten trianguliert werden. Nun kann man sagen, dass unterschiedliche Methoden unterschiedliche Formen von Daten erzeugen. Mithin stellt sich die Frage, wie man nicht vergleichbare Daten aufeinander beziehen kann. Helga KELLE kritisiert an dem Ansatz, dass die Anwendung verschiedener Einzelmethoden nicht die epistemische Kraft der qualitativen Forschung erhöhe, sondern zunächst einmal die Reflexivität in bezug auf Gegenstandskonstruktion und Leistungsfähigkeit der konkreten einzelnen Verfahren. „In konstruktivistischer Sicht konstitutieren sie mögliche Perspektiven, `den´ Gegenstand erfaßt man aber weder in einer einzelnen Perspektive noch am Schnittpunkt einer Summe von Perspektiven“ (KELLE 2001, S. xxx). Der wesentliche Punkt ist, ob man einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie folgt oder wie KELLE schreibt, „einer reifizierenden Rhetorik in bezug auf `den Gegenstand verbunden´“ bleibt (ebd.). Ich folge ihr darin, dass es keine Möglichkeit gibt, das „Wesen“ von irgendetwas zu verstehen, folglich auch keine, mit unterschiedlichen Methoden erzeugte Daten zur Übereinstimmung zu bringen. Vielmehr: „Plausibler erscheint mir, die Anwendung unterschiedlicher theoretischer Perspektiven und methodischer Verfahren innerhalb eines Forschungsprojektes als Produktion von verschiedenen Relevanzzusammenhängen zu begreifen, die füreinander Kontexte darstellen, sich aneinander reiben und nicht notwendig zur Übereinstimmung gebracht werden können. Nicht theoretische Sättigung, sondern eine prinzipiell unabschließbare Kontextuierung spezifischer Forschungszugängen und –gegenstände wäre hier das Modell der analytischen Verdichtung“ (S.xxx). Schließlich stellt sich die Frage, ob Vielschichtigkeit nicht im Widerspruch steht zu dem Gedanken: „Denn verschiedene gesellschaftliche Felder besitzen eine je eigene soziale Logik, nach der sie sich organisieren und nach der sie funktionieren.“ (FRIEBERTSHÄUSER 1997, S. 509) Eine „eigene soziale Logik“ müsste sich eindeutig und nicht vielschichtig beschreiben lassen. Der Versuch, eine Komplexitätsreduktion dadurch vorzunehmen, dass die Wechselwirkung zwischen Verhalten der Individuen und Kultur unterdetiminiert wird, scheint aus meiner Sicht das Problem der Komplexität nicht zu lösen. „Sinn“ scheint mir eine Kategorie zu sein, die ohne den Bezug zu Individuen nicht auskommen kann. 3.2.2 Beschreiben statt Zählen „Qualitative research is desciptive. The data collected is in the form of words or pictures rather than numbers. (...) qualitative researchers do not reduce the pages upon pages of narration and other data to numerical symbols. They try to analyze it with all its richness as closely as possible to the form in which it was recorded or transcribed.“ (BOGDAN/BIKLEN 28) 7 Wenn man diese Bestimmung ernst nimmt, so wird das Problem der Triangulation von quantitativen und qualitativen Daten deutlich. Unabhängig davon verbergen sich wiederum mehrere Probleme in dem Zitat. In Deutschland ist es weitgehend üblich geworden qualitativ erhobene Daten in einer Weise zu bearbeiten, dass daraus Quantifizierungen möglich werden. Dies geschieht durch Codierung, durch Kategorienbildungen und Clusteranalysen und hat – wohl auch gestützt durch entsprechende Computerprogramme – eine große Ausweitung erfahren. Relativ unbeachtet bleibt dabei, dass jede Umsetzung qualitativ erhobener Daten in quantitative Daten davon ausgehen muss, „its richness“ zu vernachlässigen. Jede Form der Kategorisierung muss notwendig danach fragen, was an dem konkret aufgenommenen Text nicht das Besondere ist, sondern das daran Verallgemeinerbare. Und zwar unabhängig davon, ob man nach Gleichheit oder nach Familienähnlichkeit sucht. Wer sich an „richness“ orientiert, muss die Besonderheit z.B. einer Aussage gegenüber ähnlichen Aussagen in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stellen. Das unterscheidet sich grundsätzlich von einer Vorgehensweise, die versucht, „... das Material so zu reduzieren, daß die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Corpus zu schaffen, der immer noch ein Abbild des Grundmaterials ist“ (MAYRING 1993, S. 54). Als Beispiel: Die Aussagen: „ich komme pünktlich zur Arbeit; immer pünktlich; fast immer pünktlich“ werden bei Codierungen unter die Rubrik „pünktlich“ fallen – im Unterschied zu „unpünktlich, manchmal pünktlich usw.“ Nun lenkt die Frage nach Kultur im Sinne von – wer darf wo, wann, was, mit wem, unter welchen Bedingungen, tun, denken, fühlen – die Aufmerksamkeit zum Beispiel auf das „fast“ in der Aussage „fast immer“. Denn interessant wäre hier zu erkunden, unter welchen Bedingungen das „fast“ zustande kommt. Für qualitative Forschung kann gelten: „that nothing is trivial“ (BOGDAN/BIKLEN 1982, S. 28). Ziffern haben notwendig die Eigenschaft, von Inhalten abzusehen und können nur bestimmte Merkmale von Phänomenen eben unter Absehung von Motiven, Ursachen und Bedingungen zu Quantitäten aggregieren. Quantitative und qualitative Fragen sind aus meiner Sicht grundsätzlich zu unterscheiden. Beide haben ihren Sinn. Aber es macht einen Unterschied, ob man fragt, wie viel schlechte Schüler in einer Klasse sind oder was ein schlechter Schüler ist oder warum in einer Klasse so viele oder so wenige schlechte Schüler anzutreffen sind. Quantitative Studien können eine Vielzahl von Beziehungen zwischen einzelnen an Phänomenen festmachbaren Aspekten miteinander vergleichen. Sie bleiben damit immer statistische Aussagen über Zusammenhänge. Dies gilt auch für aufwendige Studien, wie etwa die PISA-Studie. Sie muss „literacy“ in einer Weise definieren, die die Vielfalt des Begriffs zugunsten einer einzigen Bestimmung aufhebt – sonst könnte nicht quantitativ gearbeitet werden. Ein zweites grundsätzliches Problem der Quantifizierung qualitativ erhobener Daten besteht darin, dass sie als gewissermaßen „gleichwertig“ angesehen werden müssen. Tatsächlich aber gibt es bei jeder Feldforschung nicht nur einen Prozess der Veränderung auf Seiten der Erforschten, sondern auch einen Lernprozess beim Forschenden. Faktisch verändert sich die Qualität der erhobenen Daten in Abhängigkeit von der im Feld verbrachten Zeit. Dies kann durchaus auch in der Spanne gesehen werden von zunehmender Professionalität der Beobachtung durch Stabilisierung der Beobachtungsfähigkeiten, aber auch durch bessere Einsicht in die Komplexität des Feldes. Und es kann auch dazu führen, dass durch den Prozess des „going native“ die erhobenen Daten weniger qualifiziert werden, weil ein schleichender Prozess der Anpassung von Forscher und Erforschten stattgefunden hat. Auf ein ganz anderes Problem macht SPERBER aufmerksam. Ausgehend von der Beobachtung, dass in ethnographischen Texten so gut wie nie wörtliche Rede vorkommt und stattdessen eine Beschreibung des Forschers, kommt SPERBER zu der These: „Die Beschreibung, die daraus hervorgeht, ist dann genau genommen das, was der Ethnograph von dem behalten hat, was er auf der Grundlage dessen verstehen konnte, was ihm seine Gewährsleute über das erzählt haben, was sie ihrerseits in Erfahrung gebracht haben.“ (SPERBER 1989, S. 29). Er weist darauf hin, dass ethnographische Notizen nicht Deskriptionen sind, sondern Interpretationen und lenkt so die Aufmerksamkeit auf die Praxis der Forschung. Der Forscher als „key instrument“ unterliegt einer 8 Reihe von Bedingungen, die sich nicht hintergehen lassen. Gleich, ob während der Beobachtung oder nachträglich protokolliert, gleich, ob er filmt, fotografiert oder Tonaufnahmen vornimmt: er unterliegt der Differenz zwischen Lebenszeit und dokumentierbarer Zeit. Jede Dokumentation – und das gilt allerdings auch für wörtliche Wiedergabe – ist eine von der Person des Forschers, seinem Wissen, seinen Interessen, seinen Vorurteilen usw. gesteuerten Auswahl. Daraus wird deutlich, dass die – auch bei SPERBER vorhandene – Trennung von Wahrnehmung und Interpretation nicht zu halten ist. Dennoch macht es einen Sinn, zwischen wörtlicher Rede und Paraphrase zu unterscheiden. Einfach deshalb, um dem Leser als Mitinterpreten einen Spielraum zu eröffnen. Die wörtliche Rede ist aber eben so wenig authentisch wie die Paraphrase. Es ist der Forscher, der entscheidet, was er veröffentlicht und die Rahmung der wörtlichen Rede besteht darin, den Sprecher als Exemplar einer Kultur darzustellen und den Forscher als Individuum (vgl. Clifford 1993), Insofern enthält SPERBERS Ratschlag die Gefahr, das Problem, das mit dem Anspruch verbunden ist, die Perspektive der Erforschten zu beschreiben, für gelöst zu halten, sofern diese nur ausreichend zu Wort kommen. Die Teilnehmende Beobachtung kommt nicht ohne Paraphrase aus, d.h., den Versuch, dem Wahrgenommenen einen Sinn zu geben. Entscheidend ist deshalb die Reflexion der Interpretation. 3.2.3 Prozess statt Produkt „Qualitative researchers are concerned with process rather than simply with outcomes or products.“ (BOGDAN/BIKLEN 28) In dieser Bestimmung liegt m.E. ein Grund für die Attraktivität qualitativer Verfahren für Erziehungs- Unterrichts- und Bildungsprozesse. Kinder und Jugendliche werden als Werdende interpretiert. Nun enthält der Prozessbegriff zwei unterschiedliche Sachverhalte. Einmal kann man fragen, wie etwas, was sich am Ende als Produkt bezeichnen lässt, entstanden ist. Zum zweiten aber lässt sich fragen, wie sich etwas verändert. In diesem Fall werden gewissermaßen „Produkte“ betrachtet und zwar in bezug auf Prozesse, denen sie unterliegen. Generell ist also zu unterscheiden zwischen einer Orientierung an einem „Zustand“ und der Frage, wie er entstanden ist und der Beobachtung von Prozessen verbunden mit der Frage, was die Veränderung bewirkt oder vorangetrieben hat. Man kann den Zusammenhang zwischen Zustand und Prozess an der Neuen Kindheitsforschung verdeutlichen. Sie ist orientiert an dem „hier“ und „heute“ von Kindern, an ihrer Weltsicht, der Bedeutung der peer-group, an ihren Wahrnehmungen und Interpretationen, kurz: an ihrer Kultur. Gleichzeitig kann aber das nicht unterschlagen werden, was man „Entwicklungstatsache“ nennen kann. Damit ist nicht „Entwicklung“ als von Natur aus gegebener Fakt gemeint, sondern ein kulturelles Konstrukt, das grundsätzlich Kinder als Menschen wahrnimmt, die sich in einer Entwicklung befinden. Für die Wahrnehmung der Kinder über sich und damit ihr Verhältnis zu Welt ist dieser Aspekt ebenfalls konstitutiv. Kinder sehen sich notwendig in unserer Kultur selbst als Menschen, die noch erwachsenen werden, d.h. sich in einer Entwicklung befinden. Dieses Ineinander von Zustand und Prozess gilt für jegliche qualitative Forschung in modernen Kulturen. Denn moderne Kulturen sind als offene Kulturen beschreibbar, die prinzipiell auf Veränderung angelegt sind. Man kann aber auch fragen, ob der Begriff der „traditionalen Kultur“ aus heutiger Sicht noch haltbar ist. Möglicherweise ist dieser Begriff aus einer Forschungshaltung entstanden, die ihre Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen der eigenen und der fremden Kultur legte und nicht aufmerksam war auf Veränderungsprozesse in der fremden Kultur. Wissenschaftstheoretisch verbirgt sich hinter dem Prozessbegriff die Frage, ob nicht die Beschreibung von Menschen und ihren sozialen und kulturellen Prozessen grundsätzlich nur als Prozess und nicht als Zustand geschehen kann. Von einem Stein kann man erwarten, dass er sich nicht ohne Einwirkung von außen verändert. Für menschliche Zusammenhänge kann diese Erwartung nicht gelten, weil sie selbst tätig sind und grundsätzlich alle Zustände, Ergebnisse eines Prozesses sind, eine Geschichte haben, deren Zeitdichte, im Unterschied zu Steinen, die sich nur 9 langfristig ändern, parallel zur Zeitdichte des Forschenden verhalten. Forschungsberichte, die auf der Teilnehmenden Beobachtung basieren, können nur Geschichten erzählen, aber keine Regeln im Sinne naturwissenschaftlicher Gesetze aufstellen. Im Sinne einer naturwissenschaftlichen Regel kann die gleiche Handlung nicht verschieden interpretiert werden. Im Kontext einer Geschichte ist dies sehr wohl möglich, weil die einzelne Handlung kontextualisiert ist. An die erzählte Geschichte lässt sich allerdings auch der Anspruch stellen, dass sie plausibel sein muss: Sie muss die einzelnen Handlungen als sinnvolle Elemente eines Prozesses darstellen können. 3.2.4 Induktion statt Deduktion „Qualitative researchers tend to analyze their data inductively“. Als Erläuterung schreiben BOGDAN/BIKLEN: „Your are not putting together a puzzle, whose picture you already know. You are constructing a picture which takes shape as you collect and examine the parts.(...) The qualitative researcher plans to use part of the study to learn what the important questions are.“ (29) Man kann BOGDAN/BIKLEN ergänzen: Es geht auch nicht um eine Ansammlung von Puzzelteilen. Damit ist man allerdings mitten in einer komplizierten Debatte. Denn man kann fragen, wie man als Forscher dazu kommt, bestimmen zu können, welches die wichtigen Fragen sind. Eindeutig ist: im Unterschied zu einer hypothesenüberprüfenden Forschungsmethode wird hier der Forschungsprozess (auch) als Lernprozess des Forschers betrachtet. In diesem Kontext spielt sich ein großer Teil der forschungsmethodischen Literatur ab. Im Kern geht es dabei immer um die Beziehung zwischen theoretischer Konstruktion und empirischer Beobachtung. Die „grounded theory“, auf die sich auch schon BOGDAN/BIKLEN berufen, hat dafür ein eigenständiges Verfahren entwickelt. Der Forscher geht auf der Grundlage von Vorannahmen in das Feld und begibt sich von da an in ein Wechselspiel von Anwendung seiner Vorannahme auf die Interpretation seiner Beobachtungen und die Veränderung seiner Vorannahmen durch die Beobachtung. FRIEBERTSHÄUSER spricht von „... –Wechsel zwischen Erhebungsphase (intensive Feldforschung) und Auswertungsphase (sowohl Verschriftlichung und Dokumentation von Feldforschungsmaterialien als auch theoretisch analytische Arbeit)“ (1997, S. 511). Die von ihr betonte „Gleichzeitigkeit“ ist sicher zutreffend, dennoch scheint mir der Gewinn des Ansatzes von Anselm STRAUSS darin zu bestehen, dass dieser Vorgang mehrfach wiederholt wird. Er verlangt also eigentlich Langzeitstudien, was häufig übersehen wird. Ganz grundsätzlich kann man sagen, dass es naiv wäre, von einem Forscher absolute Offenheit gegenüber einem Feld zu verlangen. Jeder bringt Vorwissen, Vorannahmen und Vorurteile mit. Von daher hat sich auch die Forderung nach Offenheit verschoben zugunsten von methodischen Ansätzen, mit denen sich dieser wechselweise Prozess kontrollieren lassen soll. Das Feldforschungstagebuch, die „memos“ usw. sind Dokumente, mit denen der Forschende seine eigene Wahrnehmung, seine Befindlichkeit und seine Vorannahmen, Vorurteile, Interpretationen, theoretischen Gedanken etc. festhalten soll. In den unterschiedlichen Verfahren und Ratschlägen spiegeln sich Probleme eines jeden hermeneutischen Ansatzes und darüber hinaus, jeder empirischen Forschung. Als Verfahrensratschlag gilt ein Wechsel zwischen Entwicklung einer präzisen Fragestellung, Offenheit im Feld auch mit der Intention die Fragestellung zu überprüfen oder auch grundlegend zu verändern und sich dann auf eine systematische, also die Frage betreffende Beobachtung zu beschränken. PLÜMACHER meint alle empirische Forschung, auch die naturwissenschaftliche, wenn sie schreibt: „Die Vorstellung einer Datensammlung als eines ersten Schritts auf dem sich eine Theorie aufbauen ließe, wird dem Prozess der Theoriebildung in den empirischen Wissenschaften nicht gerecht. Dieser setzt schon bei der Datenqualifizierung an, die eine Qualifizierung für eine Hypothese oder im Rahmen einer Theorie ist. Ein theoretischer Vorgriff existiert deshalb nicht nur 10 in der Hermeneutik. Generell lässt sich der Prozess empirischer Theoriebildung charakterisieren als die Findung von Prinzipien und allgemeiner Anschauungsformen in theoriegeleiteter Beobachtung und Auseinandersetzung mit den verbleibenden Widersprüchen zwischen Denkkonstruktionen und empirischen `Fakten´“ (1996, S. 188). PLÜMACHER setzt das Wort „Fakten“ in Anführungsstriche, um deutlich zu machen, dass etwas durch eine Theorie zu einem „Fakt“ wird. Das bedeutet aber auch, dass es nicht möglich ist „... Kategorien aus den Daten zu generieren“, wie FRIEBERTSHÄUSER schreibt (1997, S. 512). Kategorien lassen sich nur an Daten herantragen – oder genauer formuliert – Kategorien konstruieren Daten. Das gilt ebenso für jeden quantitativen wie jeden qualitativen Ansatz. Diese These rückt die Vergewisserung über den Prozess der Entwicklung von Kategorien in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Forschende muss sich beim Beobachten beobachten. Gegenstand der Beobachtung ist der Forscher sowohl als Forscher als auch als Mensch. Dieser Zusammenhang ist unabweisbar, wenn man den Forscher zum „key instrument“ macht und seine Forschung als „Lernprozess“ betrachtet. Zunächst zur Beobachtung des Forschers. Es gehört zu den Mythen der Wissenschaftsgeschichte, dass sich die Wissenschaften entlang ihrer, gewissermaßen in der Natur vorfindbarer Gegenstände unterschieden. Tatsächlich konstruieren die einzelnen Wissenschaften mit ihren Methoden einen Gegenstand, den sie dann wieder mit ihren Methoden untersuchen. Wissenschaften haben nicht mit Phänomenen zu tun – aus meiner Sicht auch nicht die Phänomenologie – sondern mit bestimmten Methoden, aus „Etwas“ etwas Bestimmtes zu machen. Die Abbildtheorie lässt sich nicht mehr halten. Und wenn man es nicht konstruktivistisch fassen will, dann entlang der Sprachtheorie, des „lingustic turn“. Was immer man im einzelnen dazu sagen kann, fest steht, dass es einen Zusammenhang von Sprache und Sachverhalt gibt, in den wir schon immer eingewoben sind, mit dem wir handelnd, analysierend und interpretierend umgehen. Es ist nicht möglich, den Sachverhalt losgelöst von der Sprache und die Sprache losgelöst vom Sachverhalt zu betrachten. Alles andere ist Metaphysik. Jede Wissenschaft ist damit eingebunden in ihre Geschichte und die Geschichte der Kultur oder Gesellschaft in der sie existiert. Jede wissenschaftliche Frage konstruiert das zu beobachtende Feld in einer bestimmten Weise. Die Tatsache der kulturellen Unterscheidung zwischen Forschern und Erforschten ist systematisch unhintergehbar. Und dies geht weit über Debatten hinaus, die sich mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz oder dem Einfluss des Forschers auf das Feld beschäftigen. Wenn man fragt, was der Forscher als Wissenschaftler wissen kann, so wird man untersuchen müssen, mit welchen Konstruktionsweisen sich seine Wissenschaft die Gegenstände konstruiert. Für die Soziologie gelten andere Konstruktionsregeln als beispielsweise für die Psychologie und wieder andere für die Erziehungswissenschaft. DEVEREUX schreibt: „Einzig die Art von Theorie, deren man sich bedient, entscheidet, ob ein gegebenes Phänomen nun zum Datum der eignen oder anderen Wissenschaft wird“ (1967, S. 40). Erst vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, auf welche Weise die Methode der Teilnehmenden Beobachtung als Methodologie ein Feld zu einem Gegenstand der Forschung macht. Am Beispiel der Kindheitsforschung kann dies deutlich werden. Es ist in unserer Kultur nicht möglich, die Unterscheidung zwischen „Kind“ und „Erwachsenem“ zu negieren. Auch wer sich mit Kindern auf den Teppich setzt und mit ihnen spielt (least adult) weiß, das er erwachsen ist und die Kinder wissen es auch. Diese Unterscheidung ist die Voraussetzung der Erziehungswissenschaft. Sie kann, etwa entlang einer Debatte über die Entdifferenzierung von Kindern und Erwachsenen, versuchen die Voraussetzung selbst zu untersuchen, sie wird sie zugleich in ihrer Forschungsfrage schon machen müssen. Es gibt in unserer Kultur sicher eine Vielzahl von Kindheitskonstruktionen, aber es nicht möglich ohne irgendeine Konstruktion des Kindes zu denken. Am Beispiel der Kindheitsforschung wird deutlich, dass jede Forschung mit der Differenz zwischen Forschern und Erforschten zu tun hat. Was, so kann man fragen, ist eigentlich das Interesse der Forscher an der Kultur der Kinder? Eine Antwort könnte lauten: Durch qualitative Forschung, vor allem durch 11 Teilnehmende Beobachtung, lässt sich eine sehr gute Einsicht in die Binnenstrukturen kindlichen Denkens und Handelns gewinnen. Dies als Voraussetzung für effektivere Erziehungsmaßnahmen. Man kann Kinder nicht fragen, ob sie daran interessiert sind. Das Interesse der Forschung ist – im Kern – die Veränderung der Erforschten. Wie sehr das Kindheitsbild die Forschung bestimmt, wird auch deutlich, wenn man sich fragt, ob man als Forscher eine Bande kriminell handelnder Kinder beobachten darf. Hier greift die Unterstellung von Autonomie der Erforschten nicht mehr. Niemand kann zusehen, wie Kinder kriminell handeln ohne einzugreifen. Die schon bei Jugendlichen vorhandenen Möglichkeiten der Abwägung der Schwere der Handlungen ist hier kaum gegeben. Die jeweiligen Konstruktionen lassen sich nicht auflösen, allerdings reflektieren. Für die Kindheitsforschung besteht eine dieser nicht auflösbaren Fragen darin, ob das Konstrukt des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjektes“ (HURRELMANN 1983) eine Konstruktion von Erwachsenen ist, mit denen sie ihre Abstinenz von Erziehung und Verantwortung legitimieren oder endlich ein Konstrukt, dass der Autonomie des Kindes gerecht wird. Ähnliche Fragen lassen sich für soziologische oder ethnologische Ansätze stellen. Eben weil qualitative Methoden und vor allem die Teilnehmende Beobachtung die Möglichkeiten der Erforschten sich zu verstellen, sich taktische oder strategische Antworten auf die Fragen der Forschung zu geben, einschränkt, steigt die Verantwortung der Wissenschaftler für die Reflexion ihres eigenen Weltbildes. Nun ist die Frage, was ein Wissenschaftler über sich als Wissenschaftler wissen kann, zumindest theoretisch bearbeitbar. Schwieriger wird es in bezug auf den Wissenschaftler als Menschen. Die Debatte innerhalb der qualitativen Forschung, nach der man zwischen Datenerhebung und Dateninterpretation trennen könne übersieht, das Wahrnehmung Interpretation ist. Jede halbwegs ausreichend dokumentierte ethnographische Studie verrät etwas über die Erforschten und über den Forscher. Das Feldtagebuch, die memos, die Dokumentation der Forschungsgeschichte, der eigenen Lage und Befindlichkeiten, der eigenen Wertvorstellungen, Sichtweisen, Interessen und Gefühle sind für diesen Zusammenhang wichtige Instrumente. Übersehen wird dabei aber oft, dass sie nicht nur eine Rolle spielen bei der Reflexion des eigenen Lernprozesses, sondern eigentlich eine Kategorie bei der Interpretation erhobener Daten sein müssten. Die eigene Interpretation ist eigentlich immer in bezug auf die Perspektivität der eigenen Wahrnehmung zu prüfen. Wenn man sich auf Wahrnehmungstheorie einlässt, so stellt sich die Frage, was eigentlich die Bedingungen für Wahrnehmung sind. Sagen lässt sich, dass Wahrnehmungen Differenzen zur Voraussetzung haben, seien es Differenzen im beobachten Gegenstand oder Differenzen zwischen Beobachtung und der Erwartung, was man beobachten würde. Es ist banal aber Tatsache: Eine schwarze Wand lässt sich nicht vor einer schwarzen Wand erkennen. Es muss zumindest minimale Farbunterschiede geben. Ebenso trivial ist die Tatsache, dass es offenbar zu menschlichen Gewohnheiten gehört in etwas Beobachtetes eine Ordnung hineinzulegen. Konsequent gehen DEVEREUX und auf ihm aufbauend Gerd E. SCHÄFER von einem Störungsbegriff aus. Wahrnehmung setzt eine Störung voraus. In der Theorie von Devereux findet die Störung „innerhalb“ des Beobachters statt. (Vgl. Devereux 1967, S. 336) DEVEREUX plädiert dafür, dass der Beobachter sich selbst „qua Beobachter“ verstehen solle, „... daß das Objekt, das am ehesten dazu taugt, wissenschaftlich auswertbares Verhalten zu manifestieren, der Beobachter selber ist“ (1967, S. 20). Der Beobachter als Selbstbeobachter beobachtet danach die Wirkung der Szene auf sich, die er gemeinsam mit den von ihm erforschten Menschen konstruiert hat. Wenn es zutreffend ist, dass er auch dabei aus dem Hintergrundrauschen seiner Wahrnehmungen nur für bestimmte aufmerksam ist, so lässt sich sagen, dass er für jene Wahrnehmungen aufmerksam ist, die sich als „Störung“ bezeichnen lassen. Die Untersuchung der „Störungen“ ist es nun, die wissenschaftlich verwertbare Daten abgibt. Eine Störung erlebt der Forscher in zwei möglichen Bereichen: im körperlichen Bereich oder dem seiner mehr oder minder theoretisch begründeten Erwartungen. Ein Verhalten kann ihn stören, weil 12 es seinen, ihm selbst nicht bewussten Alltagsroutinen widerspricht oder es kann ihn stören, weil es dem Bild widerspricht, dass er ein anderes Verhalten erwartet hat. Wenn in den bisherigen Beispielen davon die Rede war, dass sich die Störung an der Person des Forschers lokalisieren lässt, so besteht die zweite Möglichkeit einer Störung darin, dass der Forscher die von ihm beobachteten Personen „stört“ und er dies selbst wahrnimmt. Die in einer Szene beobachtbare Störung des Erforschten durch den Forscher ist für den Forscher ein wichtiger Beobachtungsgegenstand. Denn die Art und Weise, in der der Forscher als Störung wahrgenommen wird, gibt Auskunft über die Handlungs- und Deutungsmuster, gegen die sein Verhalten verstoßen hat. Der Forscher ist also in einem doppelten Sinne das geeignete Forschungsobjekt. Einmal in dem, dass er sich selbst gewissermaßen als Seismograph verstehen kann und zum zweiten, indem er beobachtet, welche „Wellen“ der Erregung er verursacht. Theoretisch lässt sich gegen dieses Verständnis einwenden, dass es in eben jenem Bereich versagen muss, den Forscher wie Erforschte für selbstverständlich halten. Das Menschen essen in der Regel nicht als etwas intimes empfinden, ist in diesem Sinne eine Selbstverständlichkeit, die als solche erst in den Blick gerät, wenn diese Gewohnheit durchbrochen wird. DEVEREUX setzt mit seiner Methode Fremdheit zwischen Forscher und Erforschten voraus. Dies kann dort zum Problem werden, wo Befremdung als bewusste Konstruktion eingesetzt werden muss, wie in der Kindheitsforschung. Die Tatsache, dass wir uns nicht wundern, wenn wir einem Menschen begegnen, der über zwei Augen verfügt, wird sich nicht beseitigen lassen. Allerdings ist es zum Beispiel gut möglich, sich der Besonderheit zu vergewissern, dass in Deutschland in der Regel Unterricht in geschlossenen Räumen stattfindet. Eine Hilfe zur Schärfung der eigenen Wahrnehmung kann darin bestehen, zu erkunden, wie das, was man beobachtet zu anderen Zeiten oder in anderen Kulturen gehandhabt wurde bzw. wird. 3.2.5 Bedeutung von „Bedeutung“ „`Meaning´ is of essential concern to the qualitative approach. Researchers who use this approach are interested in the ways different people make sense out of their lives. In other words, qualitative researchers are concerned with what are called participant perspectives“ (BOGDAN/BIKLEN S. 29). So oder ähnlich formuliert gehört dieser Gedanke zu den Grundlagen der Teilnehmenden Beobachtung. Man wird aber genauer fragen müssen. Für mich kann ich sagen, dass ich nicht weiß, was mir das bedeutet, was mir wichtig ist. Ich erfahre es eigentlich erst, wenn es mir fehlt. Wie andere Menschen auch kann ich darüber sprechen, aber es bleibt eine Differenz zwischen dem, was ich sage und sagen kann und dem, was ich ahne, fühle, denke. Ich kann bei Kindern beobachten, dass die einen sich zu einem Fußballspiel zusammenfinden, die anderen nicht. Ich kann also Alltagsroutinen beobachten. Was das gemeinsame Fußballspiel für das eine mitspielende Kind bedeutet, wird es mir als Forscher nicht sagen können, weil sich niemandem, weder einem Kind noch einem Erwachsenen der Sinnzusammenhang des eigenen Lebens erschließt. Als erwachsener Forscher wird man – gewissermaßen stellvertretend für das Kind – auf Theorien basierende Hypothesen generieren können. Gleiches gilt auch für die Frage, warum in der Regel Jungen und nicht Mädchen Fußball spielen. Die Perspektive der Erforschten ist eine Forscherperspektive. Es sind die Forscher, die einer Beobachtung einen Sinn verleihen. Die Erforschung der Perspektiven der Erforschten, gleich ob Kinder oder Erwachsene, ist ein Paradigma der Forschung. Es grenzt Fragen ein und fokussiert sie. In keinem Fall aber, auch dann nicht, wenn die Erforschten fast nur selbst zu Wort kommen, kann von einer Wiedergabe der Perspektive der Erforschten gesprochen werden. Worüber Erwachsene Auskunft geben können ist ihre Interpretation eines Sinnzusammenhanges. Ein anderer Teilnehmer wird die Handlungen des zuerst Befragten anders 13 interpretieren, in einen anderen Sinnzusammenhang stellen. „I“ und „Me“ sind keine realen Sprecher, sondern erfundene Aspekte einer Rollentheorie. In jeder konkreten Handlung sind beide so miteinander verflochten, dass sie kein Sprecher aus einander halten kann. Deutlich wird dies bei Kindern, aber es gilt grundsätzlich. Wenn man Jungen im Grundschulalter fragt, ob sie mit Mädchen spielen, so werden sie dies verneinen. Wenn man sie beobachtet, so stellt man eine Vielfalt von Spielen zwischen Jungen und Mädchen fest. Wenn man sie mit dem Widerspruch konfrontiert, wird das entsprechende Mädchen nun als etwas Besonderes und nicht als „Mädchen“ klassifiziert. Bedeutung ist von daher eine Kategorie, die eigentlich nicht zugänglich ist. Nun ist „meaning“ ein zentraler Begriff der Teilnehmenden Beobachtung. Es geht darum, zu begründen, wie die Methode der Teilnehmenden Beobachtung dazu geeignet sein kann, Sinndeutungen der Erforschten zu beschreiben. “Sinndeutung“ muss sich dabei, wenn man nicht metaphysisch argumentieren will, aus einer Methode ergeben, die in der Lage ist, die Herstellung ihrer empirisch erhobenen Daten zu beschreiben und zu begründen. Die bisherigen Ausführungen sollten zeigen, dass Authentizitätsannahmen auf der wissenschaftstheoretischen Grundlage einer Gegenüberstellung von bereits vorhandener und damit erkennbarer Welt und einem zum Erkennen dieser Welt kompetenten Forscher beruhen. Wenn dieser Dualismus nicht länger herangezogen werden kann, dann lässt sich auch nicht mehr von „verstehen“ sprechen, sondern nur noch von „auslegen“ oder „interpretieren“. 4. Erste Zwischenüberlegung Teilnehmende Beobachtung lässt sich als Verfahren verstehen, als Methode und als Methodologie. Typisch für ein Verständnis der Teilnehmenden Beobachtung als Verfahren scheint mir der Beitrag der Ethnologin Hauser-Schäublin. Ausgehend von der „physischen Anwesenheit“ des Forschers in einem Feld beschreibt ihr Beitrag, was der oder die Forscherin tun und beachten muss, um zu verwertbaren Daten zu gelangen. Es sind gewissermaßen Erfahrungsregeln für den forschenden Umgang mit Situationen, von denen der Forscher abhängig ist und die sich auch nicht wiederholen lassen. Letzteres im Unterschied zur Forschung im Labor. Die Verfahrensratschläge sind vielfältig und Ergebnis von Erfahrungen. Sie reichen vom Umgang mit Informanten bis zu der Frage, ob man für seine Teilnahme an Ereignissen auch eine materielle Gegenleistung erbringen sollte. Erkenntnistheoretisch verbirgt sich hinter diesem Verständnis ein pragmatischer Relativismus, der anders als BOGDAN/BIKLEN oder FRIEBERTSHÄUSER keine ontologischen Annahmen über seinen Gegenstand braucht. HAUSER-SCHÄUBLIN schreibt: „Tatsächlich ist mit der Teilnehmenden Beobachtung als Methode immer eine Fragestellung zu verbinden, die in ethnologische Diskussionen eingebettet ist (Theorie) und die meistens gleichzeitig mit einem bestimmten Thema (Problem) verbunden ist.“ (S. 46) . Sie wendet sich gegen die Vorstellung, dass „.. es möglich ist `alles´ zu sammeln (vgl. S. 46). Der Beitrag von BOGDAN/BIKLEN wie von FRIEBERTSHÄUSER gründet erkenntnistheoretisch auf einem Rationalismus. Angenommen wird, dass ein erkennendes Subjekt ein erkennbares Objekt erforscht. Das Problem der Komplexität wird entweder nicht deutlich herausgearbeitet, wie bei BOGDAN/BIKLEN oder methodisch versucht dadurch einzuklammern, dass eine Vielfalt von Methoden herangezogen werden soll, deren Ergebnisse durch Triangulation auf einander bezogen werden sollen. Dabei bleibt unklar, worin der besondere Beitrag der physischen Anwesenheit im Feld besteht. Ich versuche nun im folgenden Teil einen methodologischen Ansatz in der Weise, dass ich die Teilnehmende Beobachtung auf eine Rahmentheorie beziehe, nämlich eine Kulturtheorie. Ebenfalls ausgehend von der Unterstellung, dass es nicht möglich ist, alles zu sammeln, wird ein Kulturbegriff entwickelt, der es erlaubt, jene Aspekte von Kultur zu beschreiben, die nur durch die 14 Teilhabe an der Kultur erfahrbar werden. Daraus ergibt sich auch eine Antwort auf die Frage, welche Art von Daten durch Teilnehmende Beobachtung konstruiert werden. 5. Zum Kulturbegriff Nach LUHMANN ist der Kulturbegriff im 18. Jahrhundert in England entstanden. Und zwar als ein Begriff, der im Zusammenhang zu sehen ist mit der Entdeckung und Kolonialisierung traditionaler Völker. LUHMANNS These lässt sich so erzählen: Für die Europäer stellte sich durch die Entdeckungen die Frage nach dem Verhältnis dessen, was sie über sich zu wissen glaubten, zu dem, was sie nun sahen. Die Kaufleute, Seeleute und Missionare trafen auf Menschen, die auf völlig andere Weise ihr Leben führten als sie selbst. „Kultur“ wurde aus dieser Situation heraus zu einem Begriff, der Unterscheidungen möglich machen sollte. LUHMANN schreibt: „Kultur ist, so gefaßt, ein Weltprojekt, das sowohl Geschichte als auch regionale (`nationale´) Unterschiede als Vergleichsmaterial einbezieht. Mit dem Begriff der Kultur wird der Begriff der Nation aufgewertet, ja in seiner modernen Emphase überhaupt erst erzeugt. Und erst von diesem Standort aus erscheint Kultur als etwas, was immer schon gewesen ist, und löst damit die alten ontologisch-kategorialen Weltinvarianten, die für Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen galten, auf – und ab“ (1999, S. 41). Mit dem Kulturbegriff lassen sich nun sowohl regionale Unterschiede erklären wie auch zeitliche Unterschiede. Gerade diese Idee der Zeitleiste ist attraktiv, denn auf dieser Grundlage konnten die Europäer sich selbst als höherstehende Kultur verstehen. LUHMANN fragt nicht danach, was ist, sondern danach, wie es beschrieben wird. Für den Kulturbegriff versucht er folglich dessen Bedeutung für die Veränderung des Redens über die Welt für Europa nachzuzeichnen. Entscheidend ist sein Verdikt: “Vergleiche generieren, rückblickend gesehen, Kultur, aber noch nicht einen Begriff von Kultur und noch nicht Kommunikation über Kultur“ (1999, S. 49). Und am Ende dieses Kapitels schreibt er: „Es kann deshalb nicht gelingen, den Sachverhalt `Kultur´ auf der Gegenstandsebene zu fixieren und Kulturgegenstände von anderen Gegenständen zu unterscheiden. Das Scheitern aller Definitionen, die dies versucht haben, ist neben der historischen Analyse selbst ein starkes Argument dafür, daß die universalistische Perspektive `Kultur´ gesellschaftsgeschichtliche Wurzeln hat“ (S. 54). Wenn Kultur nicht auf der Gegenstandsebene zu bestimmen ist, dann auf der Kommunikationsebene: „Kultur ist, so können wir festhalten, das Gedächtnis sozialer Systeme, vor allem des Gesellschaftssystems. Kultur ist, anders gesagt, die Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation“ (S. 47). Was nun eine „Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation“ sein kann, lässt sich an Norbert ELIAS verdeutlichen. Er schreibt: „Menschliches Wissen, (...) ist das Ergebnis des langen anfanglosen Lernprozesses der Menschheit. Jeder einzelne Mensch, wie groß sein innovatorischer Beitrag auch sein mag, baut auf einem schon vorhandenen Wissensschatz auf und setzt ihn fort“ (1997, S. XII). ELIAS versucht ohne eine anthropologische Setzung des Anfangs der Menschheit oder des Mensch-Seins auszukommen. Das Wort „anfanglos“ meint nicht, dass es keinen Anfang gegeben hat, sondern, dass man ihn nicht bestimmen kann. Und „menschliches Wissen“ meint nicht das Wissen eines einzelnen Menschen, sondern das Wissen, das in einer Gemeinschaft von Menschen vorhanden ist. Wissen ist etwas, was Menschen gemeinsam entwickeln. Und sie tun dies, weil sie gemeinsam als Menschen in der Natur leben. ELIAS schreibt: „Nicht `Mensch´ und `Natur´ als zwei getrennte Gegebenheiten, sondern `Menschen in der Natur´ ist die Grundvorstellung (...)“ (S. XV) Man kann sich das so vorstellen: 15 Eine Gruppe von Menschen organisiert ihr Leben, ihre Nahrung, ihr Zusammenleben aus den Möglichkeiten heraus, die die Natur bietet und die die soziale Organisation des Zusammenlebens gestattet. Eines bestimmt nicht das andere, es ist vielmehr ein Wechselverhältnis. Die konkrete umgebende Natur, der Lebensraum, hat Einfluss auf die soziale Gestaltung des Zusammenlebens und die gefundenen Formen des Zusammenlebens haben Einfluss auf den Umgang mit der konkreten umgebenden Natur. In der Gruppe entwickelt sich ein Wissen über beides, die Form des Zusammenlebens in ihren Handlungen und Symbolen und die Form des Umgangs mit der Natur, wiederum in ihren Handlungen und ihren Symbolen. „Wissen“ lässt sich dann zunächst als das bestimmen, was kommunizierbar ist. Wissen und Symbole entwickeln sich aus dieser Sicht aus dem Zusammenleben und Zusammenarbeiten von Menschen. Symbole sind nach ELIAS Ausdruck einer Verarbeitung von Wahrnehmungen durch wissende Menschen. Am Beispiel „Zeit“ schreibt er: „Sie (die Verarbeitung von Wahrnehmung – G.Sch.) findet ihren Ausdruck in einem kommunizierbaren sozialen Symbol, dem Begriff `Zeit´, der innerhalb einer bestimmten Gesellschaft das erlebbare, aber nicht mit Sinnen wahrnehmbare Erinnerungsbild mit Hilfe eines wahrnehmbaren Lautmusters von einem Menschen zum anderen tragen kann“ (S. XVIII). Ohne das ELIAS dies ausdrücklich formuliert, wird deutlich, dass er Sprache als entscheidenden Faktor einsetzt. Weil Menschen miteinander sprechen können, verfügen sie über die Möglichkeit, Wissen zu entwickeln, das sich als Symbol von den Ereignissen trennen kann. Wenn man, wie ELIAS, davon ausgeht, dass Natur, Gesellschaft und Individuen ineinander eingebettet und interdependent sind (vgl.S. XXIV), dann stehen sich Kultur und Natur nicht gegenüber. Dann kann man – im Anschluss an LUHMANN – sagen, es gibt immer nur einen bestimmten Beobachterstandpunkt, von dem aus anderes beobachtet wird. Und dann ist in das Verhältnis von Individuum und Kultur die Natur einzubeziehen. Kultur ist kein Produkt, sondern ein Prozess. Clifford GEERTZ schreibt: „Der Kulturbegriff, den ich vertrete (...) ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen“ (1994, S. 9) . Sein Kulturbegriff ist als Arbeitsbegriff zu verstehen, er ist heuristisch. Man kann dies wohl so verstehen, dass es für Menschen eine Notwendigkeit gibt, zu deuten, zu bedeuten – oder in einer anderer Formulierung: Sinn zu geben. Mit anderen Worten: Die verschiedenen Gewebe unterscheiden sich, aber die Existenz von Geweben lässt sich für alle Kulturen als gegeben unterstellen. Ebenso, dass bei aller Unterschiedlichkeit der Gewebe, sich Strukturen angeben lassen müssten, die nun nicht mehr bloß funktionalistisch zu bestimmen wären als Organisationsform des Lebens und Überlebens, sondern als eine Antwort auf die Herausforderung, dem, was man wahrnimmt, denkt und tut, eine Bedeutung zu geben. Geertz versteht Kultur als Systeme auslegbarer Zeichen: „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen (wie ich unter Nichtbeachtung landläufiger Verwendungen Symbole bezeichnen würde) ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind“ (1994 S. 21). Kultur ist danach ein Kontext, dessen Systeme auslegbarer Zeichen (Symbole) beschreibbar sind, jedenfalls auf eine spezifische Weise, nämlich als „dichte Beschreibung“. Aber auch die Symbole sind wiederum nur im Kontext von Kultur beschreibbar. 16 Eine Schwierigkeit dieser nun in einem anderen Sinne „dichten“ Definition ist die Bestimmung des Ortes von Kultur. Kultur, schreibt GEERTZ ist „öffentlich“. Alle Versuche, sie entweder als „subjektiv“ oder als „objektiv“ zu verorten „gehen total in die Irre“ (1994, S. 16). Er wendet sich explizit gegen einen Ansatz, der Kultur gewissermaßen in die Köpfe von Menschen verlegt, wonach Kultur sich aus psychologischen Strukturen zusammensetze. Damit ebenso gegen die populäre These der Erlernbarkeit von Kultur als einem System von Regeln, dem das Individuum zu folgen habe, um als Mitglied einer Gesellschaft akzeptiert zu werden (vgl. S. 16f). Aus seiner Sicht ist Kultur auch nicht ein Instrument zur Programmierung des Verhaltens, zur Unterscheidung dessen, was erlaubt ist, von dem, was nicht erlaubt ist. Diese Bestimmung bezieht sich auf die Zulässigkeit von Handlungen in einer Gemeinschaft. Er bezieht sich auf „Zeichen“ und greift auf die Metaphorik des Textes zurück – nicht auf den Textbegriff – wenn er schreibt: „Das Verstehen dessen, was im Innern von Eingeborenen (um dieses gefährliche Wort noch einmal zu gebrauchen) vor sich geht, gleicht eher dem richtigen Erfassen eines Sprichworts, dem Begreifen einer Anspielung oder eines Witzes, oder, wie ich vorgeschlagen habe, dem Lesen eines Gedichts als einer mythischen Kommunion“ (1994, S. 309). Die Textmetapher ist der Versuch einer Konkretisierung des Begriffes „Bedeutung“. Es gibt Dinge, es gibt Gespräche, Verhaltensweisen, Regeln, Gewohnheiten etc. GEERTZ interessieren all diese Phänomene nicht an sich, sondern in ihrer Bedeutung. Ihre Bedeutung knüpft sich an die Handlung oder das Ereignis – aber ist damit nicht deckungsgleich. Die Handlungen etwa sind Handlungen und zugleich Zeichen oder Symbole, die zusammengenommen so etwas bilden wie eine Vorstellungswelt, ein System. Die Kultur ist einerseits der umfassende Kontext und andererseits gewissermaßen zwischen den Dingen und Menschen angesiedelt und integriert. Kultur ist das Selbstverständliche, das, was die einzelnen Menschen als „Normalität“ ihres Lebens wahrnehmen. GEERTZ versucht seinen Kulturbegriff an einem Text von Gilbert RYLE zu verdeutlichen, am Zwinkern mit einem Auge. Augenzwinkern kann bedeuten, dass der zwinkernde Mensch einen organischen Fehler hat. Es kann bedeuten, dass jemand dabei ist, zu lernen, wie man mit den Augen zwinkert. Das beobachtete Augenzwinkern kann auch die Ursache darin haben, dass jemand einem anderen gewissermaßen mit den Augen winkt. Übersetzt hieße das: "Du weißt schon ..." Es könnte auch sein, dass derjenige nur so tut, als ob er dem anderen mitteilen würde "Du weißt schon." Tatsächlich gibt er einem dritten die Botschaft, "ich lasse ihn glauben, dass ich eine besondere Verbindung zu ihm habe". Es könnte auch ein religiöses Ritual sein. Oder: Jemand parodiert das Augenzwinkern usw. Die Augenbewegung selbst ließe sich beschreiben: „Sowieso zwinkert mit den Augen“. Das könnte man auch detaillierter beschreiben. Am Augenzwinkern ist das schwierig. Aber ich könnte sagen, das von mir beobachtete Kind spannt seine Muskeln des rechten Armes an, ich könnte im Detail die Hebung des Armes beschreiben und schließlich das Ausstrecken des Fingers. Dies nennt GEERTZ „dünne Beschreibung.“ Wenn man sagt: Das beobachtete Kind meldet sich, dann ist dies eine dichte Beschreibung, weil den beobachteten Handlungen eine Bedeutung gegeben wird, nämlich: melden. GEERTZ schreibt nun: „Wichtig jedoch ist, daß zwischen Ryles `dünner Beschreibung´ (...) und der `dichten Beschreibung´ (...) der Gegenstand der Ethnographie angesiedelt ist: eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden und ohne die es all dies – was immer man mit seinem rechten Augenlied getan haben mag – faktisch nicht gäbe (...)“ (1994, S. 11f). Das Zitat macht deutlich, dass keine Trennung von Handlung und Bedeutung vorgenommen wird. 17 Eine der Schwierigkeiten der Rezeption von GEERTZ besteht darin, dass er nicht zwischen Handlung und Symbol unterscheidet. Es gibt bei Geertz kein Symbolsystem auf das Menschen zurückgreifen, um ihre Erfahrungen zu deuten. Jede Handlung kann zu einem Zeichen oder Symbol werden und umgekehrt: Menschen empfinden, denken, urteilen und handeln in Symbolen: Die menschliche Erfahrung ist keineswegs reine Empfindung, sondern interpretierte Empfindung, begriffene Empfindung. Aus dieser Sicht ist „Text“ nicht das Gegenteil von „Erfahrung“. Greift man die beiden Begriffe, Text und Empfindung auf, so setzt sich Erfahrung aus beidem zusammen: den textlich durchwebten Empfindungen und den von Empfindungen bestimmten Texten. Die Zeichen ermöglichen Verhaltensdispositionen. „Hand“ und „Wort“ sind, um eine andere Metaphorik zu gebrauchen, nicht getrennt, sondern auf eine bestimmte Weise miteinander verwoben. Ebenso wenig zu trennen sind die schon vorhandenen kulturellen Bedeutungen des Zwinkerns oder des Meldens von den im Moment ausgeführten und aufgeführten Bedeutungen. Am Beispiel des Meldens. Das ist sicher eine schulische Konvention. Schon Kindergartenkinder wissen, dass man sich in der Schule melden muss. Aber wo lernt man eigentlich, dass man auch so tun kann, als ob man sich meldet und wann lernt man, diese Absicht eines Kindes, so zu tun, als ob es sich meldet, auch zu verstehen? Die Bedeutung eines Symbols ergibt sich daraus, was mit ihm gemacht wird, nicht, was darüber gesagt wird. Die Bedeutung eines Symbols ergibt sich aus seinem Gebrauch. Wenn man ein Symbol gebraucht, so geht dies nicht ohne Rückgriff auf das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft – aber der Gebrauch eines Symbols ist nicht identisch mit seinem Inhalt in dem kulturellen Gedächtnis. Mit anderen Worten: Kultur ist kein Produkt, sondern ein Prozess. Als Prozess baut er schon auf Produkten auf, aber wandelt die Produkte um. Deutlich ist auch, dass Symbole sich nicht nur auf Handlungen oder Wissen beziehen. Menschen empfinden, denken, urteilen und handeln in Symbolen. Der Ausdruck „Dichte Beschreibung“ hat zu mancher Verwirrung geführt. An dem Beispiel mit dem Zwinkern oder dem Melden ist deutlich geworden, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, was die Handlungen bedeuten können oder was ein kultureller Kontext sein kann. In meiner Interpretation meint GEERTZ, es gäbe zwar eine Vielfalt an Bedeutungen, aber keine Willkür. Bei aller Komplexität sei die Welt nicht zufällig und nicht willkürlich. Es gibt Grundsituationen wie Liebe und Hass, die Unhintergehbarkeit des eigenen Leibes, die Tatsache der Endlichkeit der Existenz, die Notwendigkeit zu essen, die Unterschiedlichkeit der Geschlechter, alte Menschen und Junge usw. Seine Texte zum Beispiel über die kulturelle Bedeutung des Hahnenkampfes auf Bali sind Texte, die mit den Mitteln des Stils und der Dramaturgie universelle menschliche Themen behandeln, wie Tod, Männlichkeit, Wutz, Stolz, Verlust, Gnade und Glück. Die „dichte Beschreibung“ beschreibt so verstanden Darstellungsformen universeller Themen. Den Grund der Darstellung sieht Geertz in der Notwendigkeit, Verhältnisse zu deuten, oder Zusammenhänge herzustellen (vgl. 1994, S. 246). Man kann auch sagen, sich und der Welt einen Sinn zu geben. Keine Kultur kann diese Notwendigkeit um- oder hintergehen. Für jede Kultur aber ist die Auswahl der Themen, die sie dramatisiert, unterschiedlich und auch die Art und Weise ihrer Darstellung. Insofern ist die Ausdrucksform nicht unabhängig von der Kultur – oder anders herum formuliert – die Ausdrucksform als öffentliche Form ist interpretierbar als Ausdruck einer bestimmten Kultur. 18 Von hier aus wird auch der Widerspruch interpretierbar, der darin besteht, dass Geertz einerseits behauptet, die Perspektive der Teilnehmer wiederzugeben, andererseits seine Kritiker zu recht feststellen können, dass die Beteiligten in den Texten von Geertz nicht vorkommen. Die teilnehmende Beobachtung – so meine These – dient Geertz als Anlass für universalistisch orientierte Erzählungen. Damit verlagert sie die Qualität der Forschung zu einem hohen Maße in die erzählerische Qualität der Darstellung. Dies ist wohl ein eher lebensweltlicher Ansatz. Aus einer wissenschaftstheoretischen Position enthält er die Schwäche, dass eine Behauptung, eben die Universalität kultureller Themen, ein Axiom bildet und nicht selbst kritisch in Frage gestellt werden kann. Man kann dagegen einwenden, dass die faktische Welt als eine zufällige anzusehen ist (vgl. Häußling 2003, S. 122). 6. Teilnehmende Beobachtung als Beobachtung der Rahmung von Handlungen Aus der Sicht des „linguistic turn“ kann die Teilnehmende Beobachtung kommunikationstheoretisch erklärt werden. Das betrifft zunächst die Rolle des Forschers im Feld. Der Forscher kann auch als Forscher in einer Kultur anerkannt werden. Voraussetzung dafür ist die Unterstellung der anderen als kompetente Teilnehmer in der Kommunikation (vgl. DAMMAN 1991, S. 124). Wenn der Ethnologe ebenso Objekt Teilnehmender Beobachtung ist, wie die von ihm Erforschten (vgl. Hauser-Schäublin 2003, S. 52), dann ist Teilnehmende Beobachtung eine Methode, die auf gegenseitiger Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Rollen beruht. Teilnahme im Rahmen Teilnehmender Beobachtung bedeutet damit Teil der Kultur zu werden. Der Forscher bleibt dennoch ein anderer als die anderen, eben ein akzeptierter Beobachter. Er wirkt mit bei der Aushandlung von Bedeutungen. Teilnehmende Beobachtung ist „.. grundsätzlich nur durch eine Kooperation aller Beteiligten möglich... “(Damman 1991, S. 134) und es ist Sache der Erforschten ist, den Forscher zu akzeptieren. Verstehen und Verständnis, das arbeitet DAMMAN heraus, ist nicht durch Anpassung, Einfühlung oder Empathie zu erreichen, „... sondern nur über einen grundsätzlich kommunikativen Akt des Herstellens gemeinsamer Bedeutungen...“ (S. 135). Dieser grundsätzlich „reziproke Prozeß“ (S. 139) bedarf zwar einerseits der ständigen Kontrolle und der Selbstreflexion, ermöglicht aber andererseits eine bewusste Übernahme geeigneter Rollen durch den Forscher. Zur Teilnahme gehört damit ein gewisses Maß an „impression management“ (1991, S. 139).2 „Daß der Feldforscher seinem Selbst- wie dem Fremdverständnis der untersuchten Anderen entsprechend immer ein Außenseiter bleibt und zu bleiben hat, sollte sich dabei methodisch als durchaus fruchtbar erweisen“ (S. 139f.). Ich möchte diesen Ansatz, der sich bei Damman noch auf die Frage nach der Beziehung von Forscher und Erforschten, von Nähe und Distanz beschränkt, grundsätzlich ausweiten. Teilnehmen lässt sich aus dieser Sicht an der Kommunikation der Erforschten. Und durch die Teilnahme an der Kommunikation wird dem Forscher erkennbar, was sich als „Bedeutung in einer Kultur“ bezeichnen lässt. Innerhalb einer Sozietät ist Bedeutung dasjenige, was darüber Auskunft gibt, wie das verstanden werden soll, was getan wird. Bedeutung ist eine Rahmung von Handlungen. Jede Sozietät hat sich schon immer nonverbal darüber verständigt, was das bedeuten soll, was man gerade tut. Erst im Konfliktfall muss die Bedeutung verbalisiert werden. Man kann dies an Als-Ob-Spielen von Kindern erläutern. Wenn Kinder sich in einem Als-Ob-Spiel prügeln, so vermitteln sie sich, solange das Spiel läuft die folgende Botschaft: Die Handlungen, die 2 Auf humorvolle Weise macht John Lofland darauf aufmerksam, dass Feldforscher meistens jung sind und folglich in den Augen ihrer Umgebung einer Unterweisung bedürfen und er rät, sich in diese Rolle zu fügen, denn sie bringe eine große Menge an Informationen, auch wenn sie erniedrigend sein mag (vgl. Lofland 1971, S.101). 19 ich jetzt in dem Spiel ausführe bedeuten nicht das, was sie bedeuten würden, wenn wir nicht spielen würden. BATESON nennt dies: „Rahmung“. Wichtig ist beides zu sehen: Den Rahmen und die Selbstdarstellung des Einzelnen, der an der Herstellung des Rahmens beteiligt ist (vgl. Bateson 1981). Was GEERTZ „Perspektive der Teilnehmer“ nennt, ist nämlich nicht das subjektive Wissen der Teilnehmer, sondern jener Kontext, der im Zusammenwirken mit mehreren Menschen gemeinsam produziert wird und den Rahmen abgibt, auf den sich die individuellen und subjektiven Sinndeutungen beziehen. Die einzelnen Individuen produzieren zusammen etwas, was nicht die Addition der Produkte der Individuen ist. Wenn ich die konkrete Perspektive des einzelnen Individuums beschreiben will, so muss ich nach seinem Verhältnis zu dem von ihm mit produzierten Kontext fragen. Also nach der Beziehung von Kontext und Biographie. Lasse ich die biographische Frage weg, erfahre ich etwas über die Kultur – und zwar über eine konkrete Kultur. Die These ist: Die leibliche Teilnahme eines Forschenden an der Interaktion und Kommunikation von Menschen ermöglicht ihm, die – in der Regel – nonverbale Verständigung über die Rahmung mitzubekommen. Dies unterscheidet die Teilnehmende Beobachtung grundlegend von allen Verfahren, die experimentell arbeiten, die die zu Beobachtenden hinter eine Glasscheibe setzen, nur interviewen oder nur mit technischen Mitteln arbeiten. Die leibliche Teilnahme ist Teilnahme an Situationen. Die Beobachtung bezieht sich auf die Kommunikation und Interaktion der in der Situation beteiligten Menschen. Diese verständigen sich, wie gesagt notwendig, darüber, was das bedeuten soll, was sie gerade tun und sagen. Insofern sind der konkrete Raum und die konkrete Zeit wesentlicher Aspekt der Situation. Beobachtet wird also nicht das Gespräch oder die Interaktion an sich, sondern das, was dem Sprechen und Handeln als Vereinbarung über die Bedeutung des Sprechen und Handelns entnommen werden kann. Der Forscher wirkt also mit bei der Herstellung dessen, was er beobachtet. Alle von ihm wahrnehmbaren Daten sind Ergebnis einer KoKonstruktion von Forscher und Erforschten. Günter Mey schreibt: „Diese vorgeschlagene Verknüpfung von Prozeßanalyse und qualitativer Forschung geht vor allem von der forschungsprogrammatischen Leitlinie aus, daß jedes Datum in einer (Erhebungs-) Situation das Ergebnis eines gemeinsamen Herstellungsprozesses der an der Situation Beteiligten ist“ (MEY 2000, S. 12). Um dies an einem Beispiel zu erläutern. Es macht einen Unterschied, ob ich mit Studierenden in einem Seminarraum spreche oder im Schwimmbad. Die Studierenden im Seminar gehen bei jedem Satz, den ich sage, davon aus, dass ich sie mit meiner Aussage auf etwas hinweisen möchte. Das also mein Satz für etwas steht, was außerhalb des Seminarraumes existiert und etwas erklären soll. Bei der Teilnehmenden Beobachtung ist der Forscher Teil einer Situation, die von allen Beteiligten in soweit bestimmt werden muss, dass sie darin gemeinsam handeln können. Dirk HÜLST schreibt in Bezug auf die Möglichkeit sozialen Verstehens unter Erwachsenen: „Handlungen tragen neben ihrem materiellen Inhalt zugleich Zeichencharakter, sie werden als Beziehungszeichen in konkreten Situationen dazu verwendet, spezifische Positionen zu eröffnen, zu erkämpfen oder zu behaupten. Wesentlich wird damit ihr Verweisungscharakter, sie organisieren die alltägliche Interaktionsstrukturen, indem sie einen Kontext mitführen, berufen und aufbauen, der als Handlungsrahmen soziale Orientierung ermöglicht. Die Beteiligten sind gezwungen, auf der Basis der abgespielten Handlungssequenzen diesen Rahmen immer wieder zu berufen, manchmal zu korrigieren, aber nur in den seltensten Fällen zu thematisieren. Die wechselseitige interaktive Aushandlung eines gemeinsamen Handlungsschemas legt die Bedeutung nicht nur derjenigen Handlungen und Aussagen fest, die in seinem Rahmen abgewickelt werden, sondern zusätzlich auch noch die übergeordnete Logik des gesamten Interaktionsverlaufs, der bisweilen eine Sequenz verschiedener Handlungsschemata enthält“ (2000, S. 43). 20 Aus meiner Sicht ist dieser eher kognitive Ansatz um eine phänomenologische Position zu ergänzen. Hermann SCHMITZ schreibt: „Zu einer Situation in meinem Sinn kann alles Beliebige gehören, als obligatorischer Kern aber ein binnendiffuser, d.h. nicht vorgängig in lauter Einzelnes aufgegliederter Hof der Bedeutsamkeit, der aus Sachverhalten, Programmen oder Problemen besteht, in dem er das Ganze der Situation zusammenhält und nach außen abhebt oder abschließt“ (2002, S. 46). Menschen schaffen Situationen. In diesen Situationen enthalten ist alles, was die Umgebung ermöglicht und die Menschen in sie einbringen: ihre Gefühle, ihre Erfahrungen, ihr Wissen, ihre Absichten usw. In Schmitz´ Worten: Sachverhalte, Programme und Probleme. Situationen verdichten sich zu Atmosphären. Eine bestimmte Atmosphäre entsteht dadurch, dass alle Beteiligten eine gemeinsame Haltung gegenüber dem einnehmen, was sie tun. In dem Begriff „Haltung“ stecken sowohl leibliche Momente, wie Momente der Deutung der Situation. Wichtig ist also nicht nur – und dies in Abgrenzung zur Phänomenologie - was man tut, sondern wie es geschieht und was man denkt, was das bedeutet, was man tut, also die eigene Konstruktion der Realität. Die Atmosphäre und damit die Situation wird mitbestimmt durch Körperhaltung, durch Mimik und Gestik, durch die Stimmlage, die Stimmhöhe, die Redegeschwindigkeit usw. Aber auch durch Erwartungen, die wiederum durch einen kulturellen Lernprozess erzeugt sind, die mit bestimmten Situationen verbunden werden. Situationen beruhen auf einer Kultur des Umgangs mit Dingen und Menschen. Mit diesem Ansatz lassen sich sowohl der Begriff „Feld“ als auch der des Forschers als „key instrument“ bestimmen. „Feld“ ist danach jene Art von Kommunikation zwischen Menschen, mit denen sie sich versichern, was die Handlungen bedeuten, die sie gerade durchführen. Nur wer an dieser Kommunikation beteiligt ist, versteht diese Rahmung. Diese Kommunikation geschieht in der Regel nonverbal, sie geschieht im Wissen um Situationen. Sie kann nur von demjenigen verstanden werden, der an der Situation teilnimmt und zwar leiblich. Dies ist die Bedeutung des Forschers als „key instrument“. Alles was er sonst noch an Daten sammeln mag – Interviews, Gespräche, Photos, Videoaufzeichnungen, Tonbandmitschnitte – bleibt in diesem Sinne „sinnlos“, wenn ein Wissen über die Rahmung der Situation fehlt in der die Dokumente erhoben wurden. HUHN u.a. schreiben aus ihrer Erfahrung in einem Forschungsprojekt, was m.E. für alle technischen Aufzeichnungsformen gilt: „Für die Wahrnehmung von Videobildern heißt dies, daß sie in einem Abgleich zusammen mit Erinnerungen verarbeitet werden, als Wiedererkennen oder Neukonstruktion einer schon vorhandenen Konstruktion von Realität“ (2000, S. 152). Ich würde allerdings weniger von „Wiedererkennen“ ausgehen, sondern von einer Verbindung des Wissens aus der Teilnehmenden Beobachtung mit den aufgezeichneten Bildern oder Redebeiträgen. Deshalb spreche ich auch nicht von Triangulation, vielmehr davon, dass diese Daten das Wissen aus der Teilnehmenden Beobachtung in Frage stellen können und damit den Beobachter zur Reflexion seiner Beobachtung zwingen oder die Daten aus seiner Teilnehmenden Beobachtung modifizieren und unterstützen. Protokolle sind damit interpretierte Daten. Sie enthalten schon immer die Interpretation der Wahrnehmung und als Interpretation die Rahmung der beobachteten Handlungen. Rahmungen beschreiben keinen Zustand, sondern einen Prozess der Verständigung. Die Interpretation konstitutiert als hermeneutische Interpretation „die hypothetische Vergegenwärtigung des Vergangenen“ (SOEFFNER 1989, S. 139). Die Leistung der Teilnehmenden Beobachtung besteht im Unterschied zu anderen Methoden gerade darin, nicht Zustände, sondern Prozesse zu beschreiben, eben deshalb, weil sie langfristig angelegt ist. Die 21 Beschreibung von Prozessen wiederum kann nur in Form einer Geschichte erfolgen. Die Geschichte hat einen Anfang, eine Dramaturgie und ein Ende. Sie kann als Lerngeschichte des Forschers geschrieben werden oder als Geschichte über einen Prozess, den die Erforschten gemeinsam gestaltet haben. Wenn die Erforschten Kinder sind, wird es sich um einen Bildungsprozess handeln; bei Erwachsenen um den Prozess der kreativen Gestaltung ihres Zusammenlebens in und mit Natur und in mit ihrer Kultur. 7. Zweite Zwischenüberlegung Ich denke also, dass die Teilnehmende Beobachtung eine eigene Methodologie begründen kann. Mein Ansatz beruht auf der Anbindung der Methode an einen bestimmten Kulturbegriff und einer Antwort auf die Frage, was sich über empirisch erhobene Daten sagen lässt ohne Rückgriff auf nicht verifizierbare Annahmen. Erkenntnistheoretisch ist der Ansatz pragmatisch: „If there is anything we have learned from our modern fixation on knowledge it is that all knowing, scientific and otherwise involves interpretation“ (GIARELLI xxx, S. 23) Der Erzählung statt der Beschreibung als wissenschaftlich haltbare Form der Darstellung von Forschungsergebnissen Anerkennung zu verschaffen ist dabei ein noch zu bewältigendes Projekt. Für die Erforschung von Kindern bleibt das von HÜLST beschriebene Problem der möglichen Reziprozität von Forscher und Erforschten und die Unterstellung der Übereinstimmung der gegenseitigen Relevanzsysteme bei Erwachsenen (vgl. 2000, S. 43). Für die Beziehung von Kindern und Forscher lassen sich diese beiden Voraussetzungen nicht umstandslos machen. Bei Kindern muss man damit rechnen, dass ihre Sprache sowohl als öffentliche Sprache wie als Privatsprache zu verstehen ist. Es gehört zu den grundlegenden Irrtümern mancher Kindheitsforschung, dass sie davon ausgeht, dass Kinder unter dem gleichen Wort das gleiche verstehen wie Erwachsene. HÜLST schreibt: „Kinder beleben eine autonome und von der Erwachsenenwelt unterschiedene Welt, innerhalb derer sie auf der Basis eigener Regeln, Deutungsmuster und Vorhaben als kompetente Akteure auftreten können. Wenn Kinder jedoch an einer anderen Sinnwelt partizipieren, ist das, was sie tun, teilweise unerkennbar, unzugänglich“ (2000, S. 47). Das trifft auch dann zu, wenn man nicht mit dem Kindheitskonstrukt „Kinder als eigenartige Ethnie“ arbeitet, sondern auch dann, wenn „Kindheit als sozial konstruierte Eigenwelt“ konstruiert wird (vgl. S. 46f.). Ein Beispiel dafür ist das gemeinsame Lachen von Kindern über Situationen, über die kein Erwachsener lachen kann. Wenn man dies als Sprachproblem auffasst, als Prozess der Einsozialisierung von Kindern in eine öffentliche Sprache, dann wird man immer beides finden: Für Forscher verstehbare und für Forscher unverständliche Teile. Sich darüber bewusst zu sein und dies auch zu schreiben, wäre ein Gewinn für die Forschung über Kinder. 8. Dateninterpretation am Beispiel Forschung mit Kindern Die wichtigste Frage zur Interpretation von Beobachtungsdaten findet sich nicht in der wissenschaftlichen Literatur, sondern in einer Erzählung von Friedrich DÜRRENMATT. In „Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ lässt Dürrenmatt den Logiker D. erklären. „Jeder fühle sich von jedem beobachtet und beobachte jeden, der Mensch heute sei ein beobachteter Mensch, der Staat beobachte ihn mit immer raffinierteren Methoden, der Mensch versuche sich immer verzweifelter dem Beobachtet-Werden zu entziehen“ (1988, S. 20). Alle Staaten, so D. weiter, beobachten sich gegenseitig und ebenso die Menschen die Natur, wie nun wohl auch die Natur die Menschen. Die Frage lautet: Warum wird beobachtet – warum beobachte ich? In der DÜRRENMATTS Novelle geht es um die Vermeidung von Angriff oder seine Ermöglichung. Die Beobachtung ist notwendig, weil man dem anderen nicht traut, weil er etwas tun könnte, was den Beobachter schädigt. Die Beobachtung dient der Aufrechterhaltung oder Durchsetzung der eigenen Macht. 22 Die wissenschaftliche Formulierung dafür lautet: „Generalisierbarkeit“. Wissenschaftliches Wissen als generalisiertes Wissen ist von dem sozial handelnden Wissensträger abgelöst worden. Es kann nun ohne ihn gebraucht werden oder auch gegen ihn. Generalisiertes Wissen ist losgelöst von den Situationen, in denen es angewendet wird und damit losgelöst von den Personen, die in einer Situation ihr Wissen zur Anwendung bringen können. Generalisiertes Wissen ist implizit Herrschaftswissen. Die einzelne Situation kann manipuliert werden, weil sie nun nur ein „Fall von“ ist. Technik ist dafür ein Beispiel, sowohl als Anwendung naturwissenschaftlichen Wissens auf die Natur, wie im Sinne einer Sozialtechnik als Anwendung sozialen Wissens auf Menschen oder Sozietäten. Ich argumentiere nicht moralisch. Es gibt gute Gründe für die Entwicklung von Techniken, auch von Sozialtechniken. Es geht mir hier um Unterscheidungen. Teilnehmende Beobachtung eignet sich kaum für Generalisierungen. Auch dann nicht, wenn man dem Konzept der analytischen Induktion folgt, „ ... bei der nach der Entwicklung einer vorläufigen Theorie auf der Basis von Fallanalysen solange nach von den bis dahin gewonnenen Ergebnissen abweichenden Fällen gesucht wird, bis eine universelle Annahme etabliert ist“ (Krüger 2000, S. 324f.) Diese, an Poppers Falsifizierungsthese erinnernde Wendung, operiert implizit mit dem Bild einer gegebenen Welt, die erkennbar und beschreibbar sei. Diese Welt benötigt neben Natur und Kultur ein Drittes: Gott. Nur ein Gott wäre in der Lage, die Welt, die er selbst gemacht hat, zu verstehen. Wir Menschen können nichts Wirkliches erkennen, wir können nur das, wir als Wirklichkeit wahrnehmen, was uns betrifft, auslegen. „Auslegen“ meint: Erkenntnisse über etwas zu gewinnen, von dem man selbst Teil ist. Es gibt keinen Beobachterstandpunkt, der außerhalb der eigenen Kultur, der menschlichen Geschichte und für Forscher außerhalb der eigenen Methodologie liegt. Über „den Menschen“, „das Kind“ usw. lässt sich nichts sagen, wohl aber über die Geschichtlichkeit der Perspektiven. Wir leben in einer pluralisierten Welt in der faktisch die Möglichkeit der Einheit von Gott, Natur und Kultur zerbrochen ist, wenn auch nicht die Sehnsucht danach. Aber wissenschaftlich wird man auf dieser Grundlage fragen müssen, was wir wissen können und unterscheiden müssen zwischen dem, was wir können und dem, was wir wünschen. Der Wunsch nach Wahrheit treibt uns, aber wir können wissen, dass er nicht erfüllbar ist. Worüber wir wissenschaftlich nur verfügen, sind Standorte und Perspektiven: „Wir können und sollen uns nur auf jenes konzentrieren, was uns jeweils, aber gerade nicht als Anfang auch tatsächlich gegeben ist. Das sind und waren unsere Worte bzw. Begriffe und Urteile, mit denen wir glauben, die für uns erforderliche Wahrheit sagen zu können. Denn wir haben objektiv nichts außer der je in Begriffen und Urteilen vorgestellten Welt. Und so sind und waren wir immer wieder nur die Antwort auf Begriffe und Urteile: mit neuen, verwegeneren Begriffen und Urteilen“ (Häußling 1998, S. 341). Eine Antwort auf die Frage, warum wir beobachten, lautet also: Um verwegenere Begriffe oder Urteile zu finden. Nun kann dies die Kunst ebenso gut wie die Wissenschaft. Was unterscheidet dann künstlerischästhetische von wissenschaftlichen Aussagen? In der Kunst, im Roman, ist alles eine Erfindung. Wenn ein Romanautor schreibt, er wisse dieses oder jenes so ist dies ebenso erfunden, wie die Aussage, er wisse dieses oder jenes nicht. Der Romanautor ist alleiniger Herr der Welt, die er beschreibt. Die Logik der Geschichte, die er erzählt, ist eine von ihm erfundene Logik. Das Dokumentarische darin muss sich dieser Logik anpassen. Wissenschaftler müssen ihre Logik dem Dokumentarischen anpassen. Feldforscher zudem, müssen nachweisen können, dass sie dies oder jenes getan haben, dass sie tatsächlich an dem angegebenen Ort waren, dass die Menschen von denen sie berichten, tatsächlich existieren usw. Wissenschaft verfügt über Regeln der Zulässigkeit von Argumenten und schließlich müssen wissenschaftliche Aussagen anschlussfähig sein und sei es im begründeten Widerspruch zu dem Diskurs in der jeweiligen Wissenschaft. Wissenschaftler und Künstler unterscheiden sich m.E. fundamental gegenüber ihrer Haltung zu Welt. An wissenschaftliche Aussagen schließlich wird der Anspruch gestellt, dass sie theoretisch fundiert sein sollen, d.h., dass die einzelne Aussagen nicht im Widerspruch zu anderen Aussagen stehen, 23 dass es ein begründetes System von Regeln gibt, mit der Aussagen verbunden werden können. In anderen Worten: Wissenschaftliche Aussagen benötigen eine Methodologie. Eine Grundlage der Methodologie ist die Historizität alles Wahrnehmbaren; alles Beobachtete steht in einem historischen Zusammenhang. Es gibt keinen Sachverhalt für sich allein; jeder steht mit einer nicht überschaubaren Menge von Sachverhalten in Beziehung. Insofern steht die Beobachtung überschaubarer Situationen immer in der Gefahr, den Kontext auszublenden, der die Situation erst ermöglichte. Typisch dafür ist eine Kindheitsforschung, in der vergessen wird, dass die beobachteten Kinder Schüler sind. Notwendig ist also die Beschreibung der Situation, in der die Beobachtung stattfindet im Sinne eines ökologischen Ansatzes. Faktisch stellt sich das Problem der Reduktion von Komplexität. Wenn keine Mikrostudie ohne Bezug zum Makrobereich auskommt, so gibt es die Notwendigkeit, den Makrobereich zu begrenzen. Dafür gibt es nur eine zulässige Methode: Die Begrenzung ergibt sich aus der Fragestellung. Die Frage, warum beobachte ich, lässt sich operationalisieren zu der Frage: Welche Frage habe ich, was will ich wissen? Martha S. FELDMAN macht dies an vier Ansätzen deutlich: „One way to describe these techniques involves whether they emphasize process (how) our outcome (what). Of course, all of the techniques deal to some extent with both process and outcome. Ethnomethodology, however, has process as its primary focus while dramaturgy and deconstruction tend to be more outcome oriented. Ethnomedology focuses on how an outcome occurs. Dramaturgy and deconstruction focus more on what is happening or what has happened. Where interpretations are concerned, ethnomethodology is attentive to how the interpretaton came to be; dramaturgy and deconstruction are attentive to what the interpretations consists of. Semiotic analyses may focus on either what or how“ (1995, S. 66). Die Frage ist immer eine theoretische Frage. Teilnehmende Beobachtung dient m.E. nicht dazu relevante Forschungsfragen zu finden, wie HAUSER-SCHÄUBLIN schreibt (vgl. 2003, S. 45), sondern dazu, Antworten auf Forschungsfragen zu finden. Die Fragen entstehen aus dem biographischen Kontext des Forschers und damit aus dem Zusammenhang des theoretischen Diskurses in dem er forscht. Das ändert nichts daran, dass die Frage vage sein mag und sich erst während der Teilnehmenden Beobachtung konkret formulieren lässt. Im Kern wird sie an das Feld herangetragen und sie kann auch als beantwortet gelten, wenn dem Forschenden keine neuen Antwortmöglichkeiten mehr einfallen. In diesem Sinne ist die Sättigungsthese der „grounded theory“ zu verstehen (vgl. Strauss 1994). Die gefundene Antwort ist dann eine verwegene Antwort aus der Perspektive des Forschers. Es gibt die Möglichkeit, wissenschaftlich Erzählungen zu schreiben: Die erkenntnistheoretische Grundlage der Perspektivität von Welt erlaubt es eben, neue Perspektiven zu erobern. DENZING unternimmt einen radikalen Versuch. Seiner Meinung nach gibt es vier Kriterien für ethnographisches Schreiben: „It must evidence a mastery of literary craftmanship, the art of good writing. It should present a well-plotted, compelling, but minimalistic narrative, based on realistic, natural conversation, with a focus on memorable, recognizeable characters. These characters shoud be located in well-described `unforgettable scenes´. Second, the work should articulate clearly identificable cultural and political issues, including injustices, based on the structures and meanings of race, class, gender, and sexual orientation. Third, the work should articulate a politics of hope. It should criticize how things are and imagine how they could be different. Finally, it will do these things through direct and indirect symbolic and rhetorical means.“ (2000, S. 403) Die Frage und die Interpretation stehen also in einem Lebenszusammenhang und nehmen darin eine Position, eine Perspektive ein. Es gibt keinen wissenschaftlichen Text, der sich nicht auf eine Auseinandersetzung bezieht. Das gilt auch und wahrscheinlich erst recht für jene Texte, deren Autoren allein die Wahrheit für sich beanspruchen. Ethnographie ist Teilnahme an einem Streit. Folglich schreibt DENZING auch: „This is writing that angers the reader ...“ (S. 403). 24 Dieser Gedanke der Perspektivität und Positionalität findet sich in anderer Form bei FINE und SANDSTROM: „Basically, research with children can be grouped into three categories: studies that find that children are more mature or capable than expected, studies that find that they are more tendentious or rebellious, and studies that find that children change (are socialized) in ways directed largely by themselves“ (1988, S. 72) In allen drei Beispielen geht es um die Differenz zwischen dem Ergebnis der Beobachtung und dem tradierten Kindheitsbild. Forschung mit Kindern dient also der Veränderung der eigenen Kindheitskonstruktionen. FELDMAN schreibt: „The dificulty in interpreting qualitative data is not in learning how to create interpretations but in learning how to get away from preestablished interpretations“ (1995, S. 64). Dazu zwei Beispiele. PIAGET fragt Kinder nach der Bildung des Regens, bekommt sexuell konnotierte Antworten und schreibt: „Üblicherweise wird freilich das Wasser des Regens auf eine Fabrikation im eigentliches Sinne des Wortes zurückgeführt, wobei man sich oft fragen darf, ob das Schweigen oder Kichern der jüngeren Kinder, wenn sie von den `Hahnen“ oder Schläuchen sprechen, nicht in bestimmten Fällen bis zu einem gewissen Grade eine ziemlich eindeutige symbolische Bedeutung haben (mehr soll damit nicht unterschoben werden“ (1981, S. 248). FINE und SANDSTROM erzählen eine Geschichte über den Kindheitsforscher CORSARO. Zwei fünfjährige Mädchen gehen in ein Zelt, lassen den Forscher aber nicht mitkommen, wohl aber dessen Mikrophon. Durch den Kopfhörer kann er nun hören, dass sie ihn mit sexuellen Ausdrücken bedenken. CORSARO gibt den beiden Mädchen keinen Namen, sondern nennt sie „A“ und „B“ und schreibt auch nicht auf, was er gehört hat. Er ist, obwohl nach eigenen Aussagen nicht prüde, so FINE und SANDSTROM „ ... apparently is so shocked by his data (and what it implies about these girls) that he cannot bring himself to report it. It has shaken his belief in the `innocence´ of these children“ (1998, S.44). Hier sind offenbar mehrere Grenzen erreicht. Zum einen die Zumutbarkeit für den Forscher, zum zweiten die Vorstellung darüber, was er seinen Lesern zumuten kann. Weitere Aspekte der Geschichte sind für Kindheitsforschung zentral, aber wohl nicht nur für sie. CORSARO respektiert einerseits, dass ihm der Zutritt zu dem Zelt versagt wurde. Andererseits ist er natürlich gerade an dem interessiert, was Kinder als Geheimnisse untereinander haben. Nun bietet ihm auch das Mikrophon keinen Zugang zu der geheimen Welt der Kinder. Denn vermutlich ist es zutreffend anzunehmen, dass die beiden Mädchen ihn als Zuhörer antizipiert haben. Ihre Ausdrücke waren also für ihn bestimmt. Sagen lässt sich also, dass die fünfjährigen Mädchen über die Kenntnis tabuisierter Wörter verfügen; nichts sagen lässt sich darüber, welche Bedeutung dieses Kenntnis für die Kommunikation der Kinder untereinander hat. Wörter sind nicht gleich Bedeutungen. Hier wurden sie zur Markierung einer grundlegenden Differenz genutzt, nämlich der zwischen einem Erwachsenen und Kindern. Schließlich wird an der kleinen Geschichte deutlich, was ich Ko-konstruktion nenne. Alles, was ein Forscher in der Forschung mit Kindern erfährt, unterliegt dem Wissen der Kinder darüber, dass man bestimmte Dinge nicht in Anwesenheit von Erwachsenen tun und sagen sollte. Das gilt auch dann, wenn man eine so vorsichtige Annäherungsmethode an die Kinder praktiziert, wie CORSARO es tut. Die Situation besteht also aus einem Kinderbild des Forschers, einem Erwachsenenbild der Kinder und einer kommunikativen und sozialen Situation. Damit stellt sich die Frage, worüber sich eigentlich etwas aussagen lässt. Aus meiner Sicht: Genau über dieses „Gespräch“ zwischen Kindern und Forschern. Die Interpretation wäre danach eine Geschichte, die von solchen 25 Gesprächen und deren Veränderungsprozessen berichtet. Die Interpretation wäre eine Erzählung. Ihre historisch - theoretische Kontextualisierung könnte zum Beispiel geschehen durch Analyse der beteiligten Bilder von Kindern und Erwachsenen und der Veränderung dieser Bilder im Zuge der Forschung. Beschrieben würde also die Geschichte einer kulturellen Assimilation. In diesem Sinne spreche ich von „Erzählung“. Auf die Frage, warum wir beobachten gibt es noch eine Antwort. FINE und SANDSTROM schreiben: „... we must confess that getting to know children is fun (...) While children are constructing their own worlds, they sometime permit us to stand with them to enjoy the monuments that they have made“ (1998, S. 76). Dies kann man verallgemeinern. Wenn es nicht darum geht, eine „Wahrheit“ zu finden, dann darum, sich der Unterschiedlichkeit von Lebensformen bewusst zu werden. Das Wissen um von den eigenen Formen differenten Lebensweisen – von anderen Menschen, zu anderen Zeiten, an anderen Orten – ist Basis für die Wahrnehmung der eigenen Lebensform. Auf dieser Grundlage kann Beobachtung ein Wissen über Alternativen des Lebens schaffen, die eigene Lebensform im Sinne ihrer „Zufälligkeit“ und Kontingenz verstehen mit all ihren Gewinnen und Verlusten, Vorteilen und Nachteilen. Und dieses Wissen kann dazu führen, neue Lebensformen zu erfinden und zu wählen. 9. Literatur Bateson, Gregory (1985): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/M. Beck, Gertrud/Scholz, Gerold (1995): Beobachten im Schulalltag. Ein Studien- und Praxisbuch. Frankfurt am Main. Beck, Gertrud/Scholz, Gerold (1997): Fallstudien in der Lehrerausbildung. 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