OGH 5 Ob 565/93 Entziehung der elterlichen Obsorge von Zeugen

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5 Ob 565/93
NL 1994, S. 104 (NL 94/2/27)
OGH 5 Ob 565/93
Beschluß vom 23. November 1993
Entziehung der elterlichen Obsorge von Zeugen Jehovas und Art. 13 EMRK
Sachverhalt:
Die Eltern eines Minderjährigen, der sich eine Oberschenkelfraktur zugezogen hatte, stimmten zwar einer
Operation grundsätzlich zu, verweigerten jedoch wegen ihrer religiösen Überzeugung als Zeugen Jehovas ihre
Zustimmung zu einer Bluttransfusion, die bei dem Eingriff möglicherweise erforderlich werden konnte. Daraufhin
wurde ihnen die Obsorge durch Gerichtsbeschluß teilweise entzogen. An ihrer Stelle sollte die
Bezirkshauptmannschaft als Sachwalter gemäß § 145 b ABGB die Zustimmung zu einer allenfalls erforderlich
werdenden Bluttransfusion erteilen. Letzten Endes wurde an einer anderen Klinik eine Alternativbehandlung
vorgenommen, bei der eine Bluttransfusion in jedem Fall entbehrlich war. Das Rekursgericht schloß daraus, daß
der Beschluß des Erstgerichts gar keine Wirkung entfaltet hatte. Da die Obsorge nur euentualiter für die betreffende
Operation eingeschränkt worden war, werde der Beschluß auch in Zukunft keinerlei Bedeutung haben, weshalb der
Rekurs mangels Beschwer zurückgewiesen wurde.
Gegen diesen Beschluß des Rekursgerichts erhoben die Eltern den vorliegenden außerordentlichen
Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof.
Rechtsausführungen:
Die Frage, ob eine Operation, bei der eine Bluttransfusion möglicherweise erforderlich ist, oder eine
Alternativbehandlung, die eine solche überflüssig macht, hätte vorgenommen werden sollen, ist nicht Gegenstand
des vorliegenden Verfahrens. Die Gerichte sind zu Recht davon ausgegangen, daß die Beschwerdeführer der
Operation prinzipiell zustimmen, weshalb deren Vorbringen zur Möglichkeit alternativer Behandlungsmethoden am
Kern der hier zu lösenden Rechtsfrage vorbeigeht.
Die Beschwerdeführer äußerten jedoch auch Bedenken gegen die Ansicht, wonach sie durch den Beschluß des
Erstgerichts nicht beschwert seien. Art. 13 EMRK gewährt bei behaupteten Verletzungen der materiellen
Konventionsrechte das Recht auf eine wirksame Beschwerde vor einer nationalen Instanz. Diese Bestimmung
gewährt nicht nur dem einzelnen ein entsprechendes Individualrecht, sondern schafft auch eine positive
Verpflichtung des Staates zur Gewährung eines wirksamen Rechtsschutzes. Um für den Betroffenen bei
behaupteten Verletzungen von Konventionsrechten einen wirksamen Rechtsweganspruch sicherzustellen, sind die
vom Staat gewährten Rechtsschutzeinrichtungen im Lichte des Art. 13 EMRK auszulegen. Daraus folgt, daß auch
nach Beendigung der angefochtenen Maßnahme ein rechtliches Interesse an der Feststellung besteht, ob diese zu
Recht erfolgte (vgl. EvBI 1993/33, 2 Ob 539/93).
Die vom Erstgericht gesetzte Maßnahme stellt ohne Zweifel eine Beschränkung des Grundrechts der Eltern auf
Achtung ihres Familienlebens i.S.d. Art. 8 EMRK dar, zumal ihnen in einer dringlich und wichtig erscheinenden
Angelegenheit die elterliche Obsorge entzogen wurde. Obwohl es nicht zur Ausübung des dem Sachwalter
übertragenen Rechts gekommen ist, war den Eltern das Obsorgerecht jedenfalls zum Teil entzogen, solange die
Operation noch im Raum stand. Den Eltern kann daher das rechtliche Interesse an der Feststellung, ob diese
Maßnahme eine Verletzung des Art. 8 (2) EMRK darstellt, nicht abgesprochen werden. Der
Zurückweisungsbeschluß ist daher aufzuheben und dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung unter
Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.
Der Beschluß im Originalwortlaut (pdf-Format).
file:///D|/web/Institut%20für%20Menschrechte/Alte%20Seite/docs/94_2/94_2_27.htm[03.03.2010 21:02:03]
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