Entscheidung Europäischer Gerichtshof für

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Entscheidung
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion
Anonymisierte nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen
Quelle: Bundesministerium der Justiz, Berlin
20/11/07 ENTSCHEIDUNG über die ZULÄSSIGKEIT der Individualbeschwerde Nr. 45198/04
K.-H. G.gegen Deutschland
Anonymisierte nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen
EUROPARAT
EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE ZULÄSSIGKEIT DER
Individualbeschwerde Nr. 45198/04
K.-H. G.
gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung
am 20. November 2007 als Kammer mit den Richtern
Herrn P. LORENZEN, Präsident,
Herrn K. JUNGWIERT,
Herrn V. BUTKEVYCH,
Frau
M. TSATSA-NIKOLOVSKA,
Herrn J. BORREGO BORREGO,
Frau
R. JAEGER,
Herrn M. VILLIGER
und Frau C. W ESTERDIEK, Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 13. Dezember 2004 eingereicht wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
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SACHVERHALT
Der 1942 geborene Beschwerdeführer, Herr K.-H. G., ist deutscher Staatsangehöriger
und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn C. Lenz, Rechtsanwalt in Stuttgart, vertreten.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Hintergrund der Rechtssache
Am 6. März 2000 verurteilte das Landgericht Berlin den Beschwerdeführer wegen Untreue
in 71 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt
wurde, und einer Geldstrafe in Höhe von 3.600 D-Mark (DEM). Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer als von der Treuhandanstalt beschäftigter Liquidator insgesamt mehr als 11
Mio. D-Mark veruntreut hatte, die verschiedenen, von ihm liquidierten Firmen oder der Treuhandanstalt selbst gehörten. Insbesondere hatte er für eine von ihm zu liquidierende Aktiengesellschaft Geld erhalten, und entgegen eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung, einen Teil der Summe an die Jewish Claims Conference auszuzahlen, etwa 1,93 Mio.
D-Mark an eine andere Firma überwiesen, um einen von ihm zuvor angerichteten Schaden
zu verdecken. Der Beschwerdeführer habe entschieden, Geld zu veruntreuen, da die Treuhandanstalt ihm die zusätzlichen Kommissionen, auf die er seiner Auffassung nach einen
vertraglichen Anspruch hatte, nicht gezahlt hatte. Bei der Festsetzung des Strafmaßes von
einem Jahr Freiheitsstrafe für den schwersten Fall der Untreue (vgl. „Das einschlägige innerstaatliche Recht“ unten), berücksichtigte das Gericht die außerordentliche Höhe des verursachten Schadens, fast 2 Mio. DM, zum Nachteil des Angeklagten.
Am 19. Dezember 2000 hob der Bundesgerichtshof, der die von der Staatsanwaltschaft
eingelegte und auf die Strafzumessung beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft zuließ,
das Urteil des Landgerichts insoweit auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des
Landgerichts zurück. Er ließ offen, ob das sehr milde Urteil in Anbetracht der Höhe des verursachten Schadens noch als angemessen angesehen werden könne. In jedem Fall habe
das Landgericht u. a. Gründe für eine Strafaussetzung zur Bewährung rechtswidrig bei der
Zumessung der Strafe selbst berücksichtigt.
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2. Das in Rede stehende Verfahren
a. Das Verfahren vor dem Landgericht
Am 16. Juli 2001 verurteilte das Landgericht Berlin den Beschwerdeführer wegen Untreue
in 45 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten – einer Strafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden konnte (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“ unten).
Zuvor hatte es das Verfahren in Bezug auf 26 Fälle von Untreue im Hinblick auf die Strafe,
die der Beschwerdeführer für die übrigen Fälle, für die er schuldig befunden worden war, zu
erwarten habe, eingestellt.
Bei der Festsetzung der Strafe von einem Jahr und sechs Monaten für den schwersten
Fall der Untreue (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“ unten) berücksichtigte das
Landgericht strafmildernd, dass der Beschwerdeführer die Taten gestanden habe und sie
bereue, dass er keine Vorstrafen habe und sich ernsthaft um Schadenswiedergutmachung
bemühe. Außerdem habe das Verfahren lange gedauert und es werde ihm möglicherweise
untersagt, seinen Beruf als Steuerberater weiter auszuüben. Darüber hinaus erscheine es
nach der neueren Rechtsprechung möglich, dass der Beschwerdeführer seine gegenüber
seinem früheren Arbeitgeber geltend gemachten Ansprüche auf Zahlung zusätzlicher Kommissionen durchsetzen könne.
Als straferschwerende Umstände berücksichtigte das Landgericht, dass der Beschwerdeführer einen sehr hohen Schaden verursacht hatte, der sich auf 1,93 Mio. DM belief, und
dass er seine Pflicht als Steuerberater, Konten für ihm nicht gehörende Gelder getrennt von
seinen eigenen Konten zu führen, gröblich verletzt habe. Dadurch, dass er, anstatt seine
Ansprüche gegenüber seinem damaligen Arbeitgeber gerichtlich durchzusetzen, eigenmächtig Gelder entnommen und verschoben habe, um seine Honoraransprüche gegenüber seinem Arbeitgeber auszugleichen, sei er mit Fremdgeldern pflichtwidrig und nachlässig umgegangen und habe in verwerflicher Weise eigenen Gewinn angestrebt. Darüber hinaus berücksichtigte das Gericht strafschärfend, dass der Beschwerdeführer Geld veruntreut hatte,
dass unter anderem der Jewish Claims Conference gehörte, wodurch er, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, einen sehr sensiblen Bereich berührt hatte.
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Das Landgericht stellte fest, dass die Gesamtstrafe im Vergleich mit anderen Fällen, in
denen ein ähnlich hoher Schaden entstanden sei, relativ mild sei, was überwiegend darauf
zurückzuführen sei, dass der Beschwerdeführer seine Ansprüche auf zusätzliche Kommissionen nun sehr wahrscheinlich zivilgerichtlich durchsetzen könne.
b. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
Am 28. September 2001 legte der Beschwerdeführer Revision ein. Er rügte, dass das
Landgericht strafschärfend berücksichtigt hatte, dass seine Straftat Gelder betraf, die der
Jewish Claims Conference gehörten. Es sei nicht rechtmäßig, diesen Faktor bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.
In seiner Stellungnahme vom 5. Februar 2002 brachte der Generalbundesanwalt vor,
dass das Landgericht durch die Bezugnahme darauf, dass der Beschwerdeführer Geld veruntreut habe, das an die Jewish Claims Conference hätte überwiesen werden müssen, die
Art der Begehung der Straftat durch den Beschwerdeführer und den Tathintergrund berücksichtigt habe, was für die Strafzumessung nach § 46 Abs. 1 StGB (siehe "Das einschlägige
innerstaatliche Recht" unten) zulässige Kriterien seien.
Am 5. März 2002 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers ohne weitere Begründung als unbegründet.
c. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
Am 12. April 2002 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Er stellte den Verlauf des Verfahrens vor den Strafgerichten und die
für deren Entscheidungen angeführten Gründe dar und rügte, bei der Festsetzung seiner
Freiheitsstrafe auf zwei Jahre und sechs Monate sei auf die Tatsache Bezug genommen
worden, dass er Gelder veruntreut habe, die der Jewish Claims Conference gehörten. Diese
Freiheitsstrafe müsse er verbüßen, da sie, entgegen der ursprünglichen Strafe, mehr als
zwei Jahre betrage und daher nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. In
rechtswidriger und willkürlicher Weise sei ihm eine vollstreckbare Gefängnisstrafe auferlegt
worden. Insbesondere hätten die Gerichte es versäumt, zu überprüfen, ob er zum Tatzeitpunkt im August 1998 gewusst habe, dass die Jewish Claims Conference von seinen Handlungen betroffen sei. Deren Beteiligung sei tatsächlich erst im November 1998 ersichtlich
gewesen, als die Entscheidung über die Gelder der sich in Liquidation befindlichen Gesell-
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schaft getroffen worden sei. In jedem Fall habe der Anteil, auf den die von der Jewish Claims
Conference vertretenen Erben der ehemaligen Gesellschafter des zu liquidieren Unternehmens Anspruch erhoben hätten, weniger als 10 % der Liquidationsgelder betragen. Durch
die Einbeziehung dieses Kriteriums hätten die Gerichte die Eigentümer aufgrund ihrer Rasse
oder Religion unter Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung unterschiedlich behandelt.
Am 2. Oktober 2002 leitete das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde der Regierung
des Bundeslands Berlin und dem Bundesgerichtshof zur Stellungnahme zu. Aufgrund eines
entsprechenden informellen Antrags des Bundesverfassungsgerichts veranlasste die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, dass die Vollstreckung der gegen den Beschwerdeführer
verhängten Freiheitsstrafe für die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht
ausgesetzt wurde.
In seiner Stellungnahme vom 3. Dezember 2002 erinnerte der Bundesgerichtshof daran,
dass nach seiner Rechtsprechung nur vorhergesehene oder vorhersehbare Folgen einer
Straftat als strafschärfende Umstände angesehen werden könnten.
Am 3. September 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, und erklärte, dass der
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung damit erledigt sei (Az.: 2 BvR 587/02).
Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, es sei nicht notwendig, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Durchsetzung seiner Rechte zur Entscheidung anzunehmen, da die geltend gemachte Verletzung kein besonderes Gewicht habe und dem Beschwerdeführer auch kein besonders schwerer Nachteil durch die Versagung der Entscheidung zur Sache entstehe.
Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer lediglich gerügt habe, dass das
Landgericht bei der Strafzumessung zu Unrecht strafschärfend berücksichtigt habe, dass er
Gelder, die der Jewish Claims Conference zustanden, veruntreut habe. Das Landgericht
hätte jedoch, selbst wenn man davon ausginge, dass die angefochtene Erwägung nicht berücksichtigt worden wäre, keine andere Strafe ausgesprochen. Das Landgericht habe der
Tatsache, dass der Beschwerdeführer der Jewish Claims Conference zustehende Gelder
veruntreut habe, bei der Strafzumessung keine entscheidende Bedeutung beigemessen. Es
habe hauptsächlich die Höhe des vom Beschwerdeführers verursachten Schadens (DM
1.930.000), die Außerachtlassung seiner Berufspflichten als Steuerberater und sein verwerfliches Streben nach persönlichem Gewinn in Betracht gezogen. Allein in Anbetracht des
enormen Schadens im schwersten Veruntreuungsfall könne die angegriffene Erwägung auf
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die Strafzumessung keinen entscheidenden Einfluss gehabt haben. Unter diesen Umständen
entstehe dem Beschwerdeführer durch die Versagung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kein besonders schwerer Nachteil.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
In § 46 StGB sind die Grundsätze der Strafzumessung dargelegt. Die Schuld des Täters
ist Grundlage für die Zumessung der Strafe (§ 46 Abs. 1). Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab, insbesondere
die Beweggründe und die Ziele des Täters, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die vom Täter verschuldeten Folgen der Tat, sein Vorleben, seine persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat (§ 46 Abs. 2).
Hat ein Täter mehrere Straftaten begangen und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder
mehrere Geldstrafen verwirkt, erkennt das Gericht, wenn diese Straftaten gleichzeitig abgeurteilt werden, auf eine Gesamtstrafe (§ 53 Abs. 1 StGB). Die Gesamtstrafe wird durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe oder Geldstrafe gebildet (§ 54 Abs. 1 StGB).
Nach § 56 StGB kann das Gericht die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die zwei Jahre
nicht überschreitet, unter bestimmten Umständen zur Bewährung aussetzen. Das Gericht
kann die Strafe zur Bewährung aussetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich
schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des
Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Darüber hinaus muss eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit ergeben, dass besondere Umstände vorliegen.
VERFAHREN VOR DEM GERICHTSHOF
Am 25. Januar 2005 entschied der Präsident der Kammer, der die Rechtssache zunächst
zugewiesen worden war, der deutschen Regierung nicht nach Artikel 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu empfehlen, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers, die am 3. Februar 2005 beginnen sollte, auszusetzen.
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RÜGEN
1.
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention, dass
seine Freiheitsentziehung weder rechtmäßig war noch in der gesetzlich vorgeschriebenen
Weise vorgenommen wurde. Bei der Bemessung seiner Strafe hätten die innerstaatlichen
Gerichte die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs willkürlich ausgelegt. Sie
hätten angesichts der Tatsache, dass das veruntreute Geld zum Teil mit der Jewish Claims
Conference im Zusammenhang stand, eine höhere Strafe festgesetzt. Dies sei kein zulässiges Kriterium für die Bemessung einer Freiheitsstrafe, insbesondere deswegen, da er dies
zu der Zeit, als er die Tat begangen habe, nicht gewusst habe. Wie der Vergleich zwischen
dem ursprünglichen und dem neueren Urteil des Landgerichts belege, habe die rechtswidrige Bemessung seiner Freiheitsstrafe die Freiheitsentziehung verursacht, da sie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren geführt habe, die nicht mehr zur Bewährung
habe ausgesetzt werden können. Alle anderen Faktoren, insbesondere die Höhe des von
ihm verursachten festgestellten Schadens, seien unverändert geblieben.
2.
Der Beschwerdeführer rügte weiterhin, dass sein Recht auf Gleichbehandlung in Be-
zug auf die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 i. V. m. Artikel 14 der Konvention verletzt worden sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten aufgrund von Rasse oder Religion eine Ungleichbehandlung zwischen dem Vermögen jüdischer und dem nichtjüdischer Opfer vorgenommen. Darüber hinaus sei ein der Untreue in einem vergleichbaren Fall angeklagter Liquidator, der einen noch höheren Schaden verursacht habe, zu einer Strafe verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden sei.
3.
Weiterhin rügt er nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass das Verfahren gegen ihn
nicht fair gewesen sei, da das Verfassungsgericht die Annahme seiner Beschwerde mit einem nicht vorhersehbaren Argument – der Höhe des verursachten Schadens – abgelehnt
habe, ohne ihm Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen. Wäre er angehört worden,
hätte er dargelegt, dass die Höhe des verursachten Schadens vom Landgericht bereits in
dem ursprünglichen Urteil berücksichtigt worden sei und dass er gegen seinen früheren Arbeitgeber tatsächlich beträchtliche Ansprüche auf Zahlung zusätzlicher Kommissionen habe,
was den von diesem erlittenen tatsächlichen Schaden mindere.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
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A. Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention
Der Beschwerdeführer rügte, seine Inhaftierung sei unrechtmäßig gewesen und nicht in
einer gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgt, da seine Freiheitsstrafe nur deswegen auf
mehr als zwei Jahre festgelegt worden sei und daher nicht mehr habe zur Bewährung ausgesetzt werden können, weil das Landgericht bei der Bemessung seiner Strafe ein rechtswidriges Kriterium strafschärfend berücksichtigt habe. Er berief sich auf Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe a der Konvention, der wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;“
Bezüglich der Frage, ob eine Freiheitsentziehung – im Gegensatz zu einer Verurteilung –
„rechtmäßig“ ist, einschließlich der Frage, ob sie in „einer gesetzlich vorgeschriebene Weise“
erfolgt ist, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht zurück und
bringt die Verpflichtung zum Ausdruck, die materiell- und verfahrensrechtlichen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts einzuhalten (siehe u. a. Bouamar ./. Belgien, Urteil vom 29.
Februar 1988, Serie A Band 129, S. 20, Rdnr. 47; Erkalo ./. Niederlande, Urteil vom 2. September 1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-VI, S. 2477, Rdnr. 52; Steel u.a. ./.
Vereinigtes Königreich, Urteil vom 23. September 1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-VII, S. 2735, Rdnr. 54). Jedoch wird dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit nach
Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a („rechtmäßige Entziehung“, angeordnet „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“) nicht allein durch Einhaltung des einschlägigen innerstaatlichen
Rechts Genüge getan. Zweck von Artikel 5 ist es, den Einzelnen vor Willkür zu schützen
(siehe unter anderem Stafford ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr.
46295/99, Rdnr. 63, ECHR 2002-IV).
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das Erfordernis nach Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe a, wonach einer Person nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht rechtmäßig die Freiheit entzogen ist, nicht impliziert, dass der Gerichtshof das zu dieser Verurteilung führende Verfahren einer umfassenden Kontrolle unterziehen und überprüfen muss, ob
alle Anforderungen nach Artikel 6 der Konvention voll erfüllt worden sind (Stoichkov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 9808/02, Rdnr. 51, 24. März 2005). Jedoch kann die Inhaftierung einer Person nach einer Verurteilung, die selbst das Ergebnis einer flagranten Rechtsverweigerung war, d. h. in einem Verfahren ausgesprochen wurde, das offensichtlich unter
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Verletzung der Bestimmungen von Artikel 6 geführt wurde, nicht im Sinne von Artikel 5 Abs.
1 als rechtmäßig angesehen werden (siehe sinngemäß Drozd und Janousek ./. Frankreich
und Spanien, Urteil vom 26. Juni 1992, Serie A Band 240, S. 34-35, Rdnr. 110; und Ilascu u.
a. ./. Moldau u. a. [GK], Individualbeschwerde Nr. 48787/99, Rdnr. 461, ECHR 2004-VII; Stoichkov, a.a.O., Nr. 51).
In dem vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer ab dem
3. Februar 2005 die Freiheit entzogen war, weil die zuständigen deutschen Gerichte ihn wegen Untreue zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt hatten. Seine Freiheitsentziehung fällt daher unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention.
Bezüglich der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers, einschließlich der Frage, ob sie „in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise“ erfolgte, stellt der
Gerichtshof fest, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt – und der Beschwerdeführer hat
diesbezüglich auch keine Ausführungen gemacht – dass die Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils der nationalen Gerichte, durch das eine Freiheitsstrafe auferlegt wurde, als solche nach innerstaatlichem Recht nicht rechtmäßig war. Ebenso hielten die für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen zuständigen Behörden die verfahrensrechtlichen Vorschriften des
innerstaatlichen Rechts ein, als sie das Urteil dadurch vollstreckten, dass sie dem Beschwerdeführer die Freiheit entzogen.
Mit dem Vorbringen, bei der Zumessung seiner (vollstreckbaren) Freiheitsstrafe sei gegen
das deutsche Strafrecht verstoßen worden, bestreitet der Beschwerdeführer tatsächlich nicht
die Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung, sondern die Rechtmäßigkeit seiner Verurteilung, zu der sowohl die Schuldfeststellung also auch die Strafzumessung gehören.
Wie oben dargelegt, bedeutet eine Verurteilung in einem strafrechtlichen Verfahren, in
dem gegen materielle Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts verstoßen wurde, nicht,
dass die aufgrund des entsprechenden Urteils verhängte Freiheitsentziehung unrechtmäßig
wäre, sofern die Verurteilung nicht in einem Verfahren ausgesprochen wurde, das offensichtlich unter Verletzung der Bestimmungen von Artikel 6 geführt wurde und daher einer flagranten Rechtsweigerung gleichkam. Gemäß dem Vorbringen des Beschwerdeführers berücksichtigen die innerstaatlichen Gerichte ein unrechtmäßiges Kriterium als strafschärfenden
Umstand, was zu einer längeren (und daher zu vollstreckenden) Freiheitsstrafe führte. Selbst
unter der Annahme, dass das angefochtene Kriterium entgegen den Bestimmungen des
Strafgesetzbuchs berücksichtigt wurde, betraf dieser Rechtsirrtum der innerstaatlichen Gerichte nur einen von zahlreichen Aspekten, die für die Zumessung der Strafe des Beschwerdeführers relevant waren, und kann nicht als ein Verstoß gegen eine der grundlegenden An-
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forderungen von Artikel 6 angesehen werden, der zu einer flagranten Verletzung der durch
diesen Artikel geschützten Rechte geführt hätte.
Unter diesen Umständen kann die Verurteilung des Beschwerdeführers nicht als Ergebnis
eines offensichtlich unter Verstoß gegen die in Artikel 6 verankerten Garantien geführten
Verfahrens angesehen werden. Die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers war daher
im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 nicht unrechtmäßig.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
B. Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a i. V. m. Artikel 14 der Konvention
Der Beschwerdeführer rügte weiter, die innerstaatlichen Gerichte hätten ihre Entscheidung über die Zumessung seiner Freiheitsstrafe auf eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund von Rasse oder Religion in Bezug auf das Vermögen jüdischer und nichtjüdischer Opfer gestützt. Darüber hinaus sei er insofern diskriminiert worden, als ein der Untreue
in einem vergleichbaren Fall angeklagter Liquidator zu einer niedrigeren Strafe verurteilt
worden sei, die im Gegensatz zu seiner Strafe noch zur Bewährung habe ausgesetzt werden
können.
Er rügte, dass er dadurch von den nationalen Gerichten in seinem Recht auf Gleichbehandlung nach Artikel 5 i. V. m. Artikel 14 der Konvention verletzt worden sei, die, soweit
einschlägig, wie folgt lauten:
Artikel 5
„(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht; ...“
Artikel 14
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion,
der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehö-
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rigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu
gewährleisten.“
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 14 Schutz vor Diskriminierung bezüglich der durch die anderen materiellen Bestimmungen der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten bietet (siehe van der Mussele ./. Belgien, Urteil vom 23. November 1983,
Serie A Band 70, S. 22, Rdnr. 43).
Eine Ungleichbehandlung kommt dann einem Verstoß gegen diesen Artikel gleich, wenn
festgestellt worden ist, dass andere Personen in einer analogen oder verhältnismäßig gleichen Situation bevorzugt behandelt wurden und dass es für diese Unterscheidung keine angemessene oder objektive Rechtfertigung gibt (siehe Fredin ./. Schweden, Urteil vom 18.
Februar 1991, Serie A Band 192, S. 19, Rdnr. 60, Stubbings u. a. ./. Vereinigtes Königreich,
Urteil vom 22. Oktober 1996, Sammlung 1996-IV, S. 1507, Rdnr. 72).
Der Gerichtshof stellt unter Bezugnahme auf seine oben dargelegten Schlussfolgerungen
fest, dass der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache unter Artikel 5 der Konvention fällt
und Artikel 14 daher anwendbar ist.
Bezüglich der Rüge des Beschwerdeführers, die innerstaatlichen Gerichte hätten bei der
Zumessung seiner Strafe auf die Tatsache Bezug genommen, dass er jüdischen Opfern zustehende Gelder veruntreut habe, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass der Beschwerdeführer nicht behauptet hat, dass ihm die Freiheit aufgrund einer unter Artikel 14 fallenden
Unterscheidung in Bezug auf seine eigene Rasse oder Religion entzogen worden sei. Der
Beschwerdeführer brachte ferner vor, ein anderer der Untreue in einem vergleichbaren Fall
angeklagter Liquidator sei zu einer niedrigeren Strafe verurteilt worden, die im Gegensatz zu
seiner Strafe noch zur Bewährung habe ausgesetzt werden können. Diesbezüglich stellt das
Gericht fest, dass die Strafzumessung gemäß § 46 StGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht" oben) von vielen Faktoren abhängt, die sich auf die Person des Täters und
die Umstände der Tat beziehen. In Anbetracht dessen hat der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen, dass er sich in einer verhältnismäßig gleichen Situation befunden hat wie ein weiterer Liquidator, der für seine Tat eine niedrigere Strafe erhalten hatte.
Dieser Teil der Individualbeschwerde ist deshalb nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention ebenfalls als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
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C. Rüge nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention
Schließlich rügte der Beschwerdeführer, das Bundesverfassungsgericht habe es mit einem nicht vorhersehbaren Argument abgelehnt, seine Beschwerde zur Entscheidung anzunehmen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, dazu Stellung zu nehmen. Hierdurch sei sein nach
Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geschütztes Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.
Der Gerichtshof hat die von dem Beschwerdeführer vorgebrachte Rüge geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch
fest, dass diese Rüge keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den
Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten erkennen lässt.
Daraus folgt, dass auch dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der
Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Beschwerde einstimmig für unzulässig.
Claudia WESTERDIEK
Kanzlerin
Peer LORENZEN
Präsident
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