Argumente gegen Integrierte Gesamtschulen und mögliche

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Argumente gegen Integrierte Gesamtschulen
und mögliche Erwiderungen
Eine Auseinandersetzung mit den im Stader Tageblatt am 21.3.09 dargestellten sechs Argumenten gegen eine IGS
„Bei
den
Pisa-Vergleichsstudien
im
innerdeutschen Ländervergleich haben die
Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg
und Sachsen gewonnen. In diesen Ländern
gibt es keine Integrierten Gesamtschulen.“
Dass im innerdeutschen Vergleich die Südländer
besser abschneiden, liegt sicher nicht an der
Gesamtschulquote. Wenn die so entscheidend
wäre, müsste Niedersachsen mit seinen bislang
recht wenigen Gesamtschulen ganz vorne
stehen (lediglich 5% der niedersächsischen 15Jährigen gehen auf eine IGS).
Für die Länderdifferenzen gibt es andere
Faktoren, die viel wichtiger sind. Z.B.:
 Die Migrantenquote (in Sachsen: 3,7%
gegenüber 30% in NRW),
 Wirtschaftliche
Rahmenbedingungen
(Die Sozialhilfequote in Bayern liegt bei
2%, in Bremen bei 10%.)
 Mentalitätsunterschiede
(Auch
Soziologen bescheinigen den Schwaben
eine besondere Arbeitsmoral!)
 Die Bedeutung der Hauptschule (In
Sachsen gibt es keine, in Bayern und
Baden-Württemberg ist die Hauptschule
noch keine „Restschule“).
Im übrigen: Im internationalen Vergleich haben
Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen
keineswegs gewonnen. Hier liegen Länder vorn,
in denen es nur Integrierte Gesamtschulen gibt:
Finnland, Kanada, Neuseeland u.a.
„Die Gesamtschule schafft unter dem Strich
nicht mehr Bildungsgerechtigkeit als die
Schulen des gegliederten Schulsystems entgegen ihrem Anspruch und entgegen den
Hoffnungen vieler Schulreformer. Die soziale
Herkunft entscheidet auch an der IGS über
den Bildungserfolg.“
Diese Aussage ist ein entstelltes Zitat aus einem
ZEIT-Artikel vom 3.1.2008, in dem der
Bildungsforscher Helmut Fend seine Studie zur
beruflichen Karriere von Menschen vorstellt, die
in den 70er und 80er Jahren eine
Gesamtschule in Hessen besucht haben. Fend
selbst ist Gesamtschulbefürworter und hält die
Ergebnisse
der
Studie
keineswegs
für
aussagekräftig im Hinblick auf die Arbeit heutiger
Gesamtschulen (vgl. sein Interview in der
Frankfurter Rundschau vom 17.3.09).
Richtig ist sicher: Auch an der IGS beeinflusst
die soziale Herkunft der Schüler den
Bildungserfolg. Dies gilt insbesondere für eine
Reihe
von
Gesamtschulen,
die
keine
Ganztagsschulen sind.
Richtig ist aber auch: Alle Integrierten
Gesamtschulen verzichten auf das Sortieren der
Kinder im Alter von 10 Jahren und halten damit
Bildungsgänge offen. An Gesamtschulen
schaffen
deutlich
mehr
Schüler
einen
Schulabschluss als im gegliederten Schulwesen.
Vor allem aber erhalten mehr Schüler Zugang
zum Abitur.
Damit sorgt die Gesamtschule unter dem Strich
für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Jürgen Baumert, Leiter des Max-Planck-Instituts
für Bildungsforschung in einem ZEIT-Interview
2008:
Zeit: Wir haben doch bei Pisa gelernt, dass ein
Akademikerkind bei gleicher Leistung dreimal
mehr Chancen hat, auf ein Gymnasium zu
kommen, als ein Arbeiterkind.
Baumert: Keine Frage, es gibt eine vom
Schulsystem produzierte Ungerechtigkeit, und in
Deutschland ist sie besonders hoch. Aber auch in
anderen Ländern wird man seine Familie nicht
los. Selbst im egalitären Schweden trennen sich
nach der neunjährigen Grundschule die
Bildungswege der Sozialschichten. Die
eigentliche Frage ist, ob die sozialen
Unterschiede kleiner werden, wenn die Trennung
später erfolgt.
Zeit: Und tun sie dies?
Baumert: Viele Befunde sprechen dafür. Je
früher differenziert wird, desto unklarer sind die
Prognosen, desto größer ist der Einfluss der
Eltern bei der Übergangsentscheidung und desto
länger wirken die unterschiedlichen Milieus, die
sich in den Schulformen herausbilden.
Quelle: © DIE ZEIT
Der wichtigste Grund für die Ungerechtigkeit im
deutschen Bildungssystem ist die Selektion nach
der Grundschule. Deutschland ist Weltmeister im
Aussortieren. In keinem anderen PISA-Land gibt
es so viele Bildungsverlierer wie hierzulande. In
keinem anderen PISA-Land gehen die
Schülerleistungen so weit auseinander.
Vernor Muñoz, UNO-Sonderberichterstatter für
das Recht auf Bildung, legte deshalb den
deutschen Bildungspolitikern eindringlich nahe,
„das mehrgliedrige Schulsystem, das selektiv ist
und zu einer Form der De-facto-Diskriminierung
führen könnte, noch einmal zu überdenken.“
Quelle
„Das
dreigliedrige
Schulsystem
ist
inzwischen so durchlässig, dass Schüler
auch mit dem Umweg über Haupt- und
Realschulabschluss das Abitur erwerben
können. Dafür braucht es keine Integrierte
Gesamtschule.“
„Unser Bildungssystem ist zwar durchlässig,
aber überwiegend nach unten. Auf einhundert
Schüler und Schülerinnen, die absteigen,
kommen höchstens elf, die aufsteigen. Die
schulische Ghettoisierung von Minderheiten
stabilisiert die gesellschaftlichen Ghettos.“
(Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der Evangelischen
Kirche in Deutschland)
Natürlich kann man in Deutschland höhere
Abschlüsse wie das Abitur auch über einen
„Umweg“ erwerben. Nur ist das ungleich
schwerer! Nur sehr wenige Schüler schaffen den
Sprung von der Realschule an die Oberstufe
eines allgemeinbildenden Gymnasiums. Und
auch an den Fachgymnasien scheitern viele
ehemalige Realschüler. Die Durchlässigkeit
„nach oben“ bleibt leider weitgehend Theorie.
Deshalb ist die Schulwahl nach der 4. Klasse
eine wesentliche Vorentscheidung für die
Bildungs- und Berufslaufbahn.
Die meisten Eltern wissen das und schicken ihre
Kinder
(vielfach
entgegen
der
Schullaufbahnempfehlung) erst einmal auf eine
höhere Schule - auch auf die Gefahr hin, dass
sie hier scheitern.
„Erst in der achten Klasse Noten zu verteilen,
ist zu spät. Die Kinder in der IGS wissen zu
lange nicht, wo sie leistungsmäßig stehen.
Berichtsphilosophie
der
Integrierten
Gesamtschulen überfordert Eltern und
Kinder. So wird ihnen nur vorgegaukelt, die
Kinder könnten etwas.“
Die Erfahrungen aus Gesamtschulen, die seit
Jahren Lernentwicklungsberichte statt Noten
vergeben, sprechen gegen diese Einschätzung:
Kinder und Eltern erhalten eine viel genauere
Rückmeldung als ein Notenzeugnis sie bieten
kann. Und die Kinder wissen sehr wohl, wo sie
stehen: Sie erhalten konkrete Beurteilungen zu
Stärken und Schwächen im Sozial- und
Arbeitsverhalten und in den einzelnen Fächern.
Dabei werden auch individuellen Entwicklungen
benannt. Das motiviert die Kinder.
Noten dagegen sind vielfach demotivierend und
leider auch oft ungerecht. Die Annahme, Noten
seien objektiver als Berichte, lässt sich
wissenschaftlich nicht belegen.
„Die höher begabten Schüler an einer
Integrierten Gesamtschule sind unterfordert
und verlieren irgendwann die Lust an der
Mitarbeit. Ähnliche Probleme gab es an der
abgeschafften Orientierungsstufe.“
Unterforderung und Langeweile sind leider auch
an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien
verbreitet. Und auch an der Orientierungsstufe
gab es dieses Problem.
Ein
wirksames
Gegenmittel
(für
alle
Schulformen!) ist die Binnendifferenzierung im
Unterricht: Die Schüler erhalten nicht alle die
gleiche Aufgabe, sondern es wird differenziert:
Die Schüler wählen aus verschiedenen
Lernangeboten aus. Lehrkräfte sind damit
Lernberater für individuelles Lernen und die
Schüler bestimmen ihren Lernprozess bewusst
mit. Hierbei kommen insbesondere die Starken
auf ihre Kosten.
Binnendifferenzierter Unterricht ist inzwischen in
den meisten Gesamtschulen allgemein üblich.
(Und andere Schulformen ziehen nach: Auch in
Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien wird
diese Form des Unterrichts in zunehmendem
Maße erprobt.)
„Schüler an Integrierten Gesamtschulen
lernen weniger: Der Rückstand 15-jähriger
IGS-Schüler
gegenüber
gleichaltrigen
Realschülern beträgt laut Pisastudie mehr als
ein Schuljahr. Der Abstand zu Gymnasiasten
beträgt sogar über zwei Schuljahre.“
Solche pauschalen Behauptungen sind absolut
unseriös.
Ob die PISA-Daten überhaupt für einen
Vergleich der Schulformen taugen, ist unter den
Fachwissenschaftler äußerst umstritten. Die
Datenbasis ist sehr schmal. (An der
internationalen PISA-Studie 2006 hat nur eine
einzige niedersächsische IGS teilgenommen!)
Auch ist zu berücksichtigen, dass Größe, Aufbau
und die allgemeine Situation der Gesamtschulen
in
den
einzelnen
Bundesländern
völlig
unterschiedlich sind. Die PISA-Studie selbst
warnt vor Pauschalurteilen: „Die Ergebnisse sind
nicht auf jedwede Schule in Deutschland zu
übertragen“, heißt es im Bericht des PISAKonsortiums Deutschland (PISA `06. Die Ergebnisse
der dritten internationalen Vergleichsstudie, Waxmann 2007,
S. 270).
In jedem Fall müssten bei einem Vergleich die
Rahmenbedingungen und der soziale Kontext
der Schulen berücksichtigt werden: Viele
Gesamtschulen
(insbesondere
in
NRW,
Hamburg und Berlin) liegen in sogenannte
sozialen Brennpunkten. Das beeinflusst die
PISA-Gesamtbilanz
der
Gesamtschulen
erheblich.
Jedenfalls gibt es nicht die deutsche
Gesamtschule und erst recht nicht
den deutschen Gesamtschüler.
Das Leistungsspektrum an den
Gesamtschulen ist groß.
Und wenn man schon den
Schulformvergleich
mit
PISADaten anstellen will, so sollte man
auch dies zur Kenntnis nehmen:
„In Bremen, Hamburg, Hessen und
Schleswig-Holstein erreicht die
Spitzengruppe an Gesamtschulen
deutlich höhere Punktzahlen als
die der Realschulen und reicht mit
ca. 50 Prozent ihrer Schülerschaft
in das gymnasiale Spektrum. In
NRW und Brandenburg liegt sie
nur geringfügig darunter, in Berlin
gleichauf. Dass die Mittelwerte der
integrierten
Gesamtschulen
niedriger sind als die der
Realschulen hat einen einfachen Grund: Ihrem
Auftrag
gemäß
unterrichten
integrieren
Gesamtschulen auch Schülerinnen und Schüler
des unteren Kompetenzbereichs. Realschulen
hingegen
nicht.“
(Marianne
Demmer,
Stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft)
PISA-Durchschnittswerte
der
Schulformen
sagen jedenfalls herzlich wenig über die
schulische Wirklichkeit aus. Wie sehr die
Leistungen
an
den
unterschiedlichen
Schulformen einander überlappen, zeigt die
nachfolgende Grafik zu den Leseleistungen:
Quelle: „Zweite Chance für die KMK“. Gute Bildungsstandards
benötigen ein Konzept, Zeit, wissenschaftlichen Sachverstand und
Akzeptanz. GEW
http://www.gew.de/Binaries/Binary31261/1stellungnahme%2
0bildungsstandards.pdf
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