Körperintelligenz oder 'das menschliche Instrument' Wir leben in einem Zeitalter der digitalen Revolution. Dieser technische Fortschritt erlaubt es uns, Daten über unser Verhalten zu sammeln und auszuwerten. Die Gadgets nennen sich Wearables weil man sich praktisch ums Handgelenk tragen kann, während sie einen überwachen und Schritte, Puls oder andere Parameter erheben. Andere Apps erfordern eine manuelle Dateneingabe, z.B. für Essverhalten oder ähnliche Dinge. Dieser Vorgang der Datenerfassung und -auswertung stellt eine Quantifizierung unseres Verhaltens dar. Was auf den ersten Eindruck Sinn macht, kann sich meiner Meinung nach auf längere Zeit fatal auswirken. Zuallererst verstehe ich nicht, weshalb man Funktionen outsourcen soll, wenn jeder Mensch diese auch selber ausführen kann. Denn wir besitzen körpereigene 'Instrumente', die uns Aufschluss geben, ob wir müde sind, Hunger haben, über den Hunger gegessen haben oder mehr schlafen sollten. Für unsere Entscheidungsfindung im Alltag benötigen wir keine quantifizierbaren Daten, wir machen es 'nach Gefühl'. Wir spüren es irgendwie, wenn wir uns die Zeit nehmen und bewusst darauf achten. Natürlich ist diese Fähigkeit nicht bei jedem Menschen in gleichem Masse ausgeprägt. Personen mit verminderter Selbstwahrnehmung haben daher oft auch signifikante Probleme mit ihrer Selbstregulation, so zum Beispiel mit dem Regulieren ihrer Gefühlszustände. Typisch sind zum Beispiele Menschen mit einem Alkoholproblem, die sich angewöhnt haben, bei (oder bereits vor zu erwartenden) unangenehmen Gefühlszuständen zu trinken. Oft besitzen diese Personen keinen sehr feinen Radar für innere Zustände und Bedürfnisse. Denn Selbstwahrnehmung will geübt sein. Im Normalfall geschieht dies in der frühen Kindheit, indem Gefühle, Bedürfnisse oder Befindlichkeiten vom Erwachsenen gespiegelt werden und so mit der Zeit vom Kind alleine erkannt und verbalisiert werden können. Falls die Eltern, bzw. primäre Bezugspersonen nicht in genügendem Masse zur Verfügung stehen oder die Zustände nicht klar differenziert werden können, werden die 'Instrumente' des Kindes auch weniger präzise kalibriert sein. Doch glücklicherweise ist die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung trainierbar, beispielsweise mit Hilfe von Achtsamkeits-Meditation oder Psychotherapie. Und interessanterweise sind es genau diese Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung, die oft ausschlaggebend sind für die Verbesserung der psychischen Gesundheit eines Menschen. Daher plädiere ich von ganzem Herzen für die Entwicklung der körpereigenen Überwachungsinstrumente anstelle von Apps und Wearables. Wir brauchen keine zusätzliche Abhängigkeit, und - obwohl das Anschauen und Vergleichen von Daten durchaus einen Reiz haben kann - quantifizierbare Daten bergen meiner Meinung nach mehr Risiko als Gewinn: So können persönliche Daten von Versicherungen, Arbeitnehmern oder Gesetzeshütern und zum persönlichen Nachteil verwendet werden. Ferner bringt der Vergleich mit dem statistischen Durchschnitt meist wenig. Viel aussagekräftiger wäre ein intraindividueller Vergleich, womit auch die individuelle Entwicklung gewürdigt werden kann. Die Auswertung von messbaren Daten wird zu kurz greifen, wenn es um das Erklären von persönlichen Unterschieden geht. Denn glücklicherweise sind das menschliche Erleben und Verhalten sehr komplex, und die Einflussvariablen auf unsere Lernprozesse bisher nicht durch künstliche Intelligenz reproduzierbar. Wahrscheinlich wird es in ferner Zukunft möglich sein, menschliche Funktionen mit AI (Artificial Intelligence oder künstlicher Intelligenz) zu erweitern und zu verbessern. Ob dieser Fortschritt dem Menschen zu Gute kommen oder schaden wird, hängt vom Einfluss der Geldgeber und Mächte ab. Wer seine Körperintelligenz zu nutzen weiss, der wird ein autonomeres selbstbestimmteres Leben führen können. © Dr. phil. Philippe Stöckli, 8/2016