S. 73-75 Autor: Manuel Knoll Rezension Theodor W. Adorno

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In: Widerspruch Nr. 33 Wagnis Utopie (1999), S. 73-75
Autor: Manuel Knoll
Rezension
Theodor W. Adorno
Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), Nachgel. Schr.: Abt.4, Vorlesungen, Bd.14, Frankfurt/Main 1998 (Suhrkamp), 320 S., 68.- DM.
Rolf Tiedemann (Hrsg. im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs)
Frankfurter Adorno Blätter V, Göttingen 1998 (edition text + kritik), 216
S., 39.- DM.
Adornos Verständnis der Antike - bisher am besten durch den OdysseusExkurs der Dialektik der Aufklärung bekannt - wird jetzt durch zwei neu
erschienene Bücher erheblich zugänglicher gemacht. Der fünfte Band der
Frankfurter Adorno Blätter enthält nicht nur zu diesem Thema eine Reihe
unterschiedlicher Materialien. Besonders hervorzuheben sind ein Aufsatz
von Rolf Tiedemann, der Adornos Begriff des Mythischen in dessen verschiedenen Schriften untersucht, Adornos frühe Fassung des OdysseusExkurses, der durch die (hervorgehobenen) Abweichungen gegenüber der
Endversion Rückschlüsse auf die Zusammenarbeit mit Horkheimer erlaubt,
ein Rundfunkgespräch mit dem ungarischen Mythenforscher Karl Kerényi
und Adornos Briefe an Gershom Scholem aus den Jahren 1939-1955, in
denen primär von Walter Benjamin und seinem Werk die Rede ist.
Soweit bekannt, hielt Adorno insgesamt nur drei Vorlesungen, die vorwiegend antike Philosophie behandeln. Von der ersten Vorlesung (WS
1953/54) sind nur noch Stichworte und vier Nachschriften erhalten, die
auch in den Frankfurter Adorno Blättern abgedruckt sind. Auch von der bisher
Knoll: Adorno
unveröffentlichten Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie (v.a. die von
Sokrates, Platon und Aristoteles) vom WS 1956/57 ist der Wortlaut nicht
überliefert. Nahezu vollständig erhalten geblieben ist jedoch die Vorlesung
von 1965. Diese bildet als eigenständige Publikation die zweite neue Quelle
für Adornos Verständnis der Antike. Damals wie heute unpopuläres Thema
ist die Metaphysik. Begriff und Probleme, die für Adorno erst mit der Ontologie
des Aristoteles ihren Anfang nimmt, der auch zwei Drittel der Vorlesung
gewidmet sind. Das verbleibende Drittel besteht aus dem freien Vortrag der
ersten vier Meditationen zur Metaphysik aus der 1966 veröffentlichten Negativen Dialektik.
Platon vergegenständliche zum einen die von der empirischen Welt abstrahierten Allgemeinbegriffe zu abgetrennten Ideen. Zum anderen säkularisiere
er die Götter der überkommenen Theologie zu Begriffen - z.B. zur Idee des
Guten und zur Idee der Gerechtigkeit. Adorno rechnet Platon aber der
Metaphysik explizit noch nicht zu. Dies begründet er damit, daß bei Platon
„ganz entschieden“ die Reflexion darauf fehle, „wie nun diese beiden Sphären - also die Sphäre der unmittelbaren Erfahrung und die Sphäre der Idee,
des Begriffs, des Einen [...] - sich zueinander verhalten“ (32). Zwar erscheint
dieses Urteil in Hinblick auf die von Adorno selbst kurz davor erwähnte
Methexis-Lehre Platons (die das Verhältnis der Ideenwelt zu der empirischen Welt als Urbild-Abbildverhältnis der Teilhabe zu begreifen versucht)
etwas übertrieben. Es hebt aber doch einen der problematischsten Aspekte
von Platons Philosophie hervor.
Aristoteles’ Gedanken über das Problem der Vermittlung von Erscheinungs- und Ideenwelt inaugurieren für Adorno die Metaphysik. Aristoteles’
Lösung bestehe darin, daß er die Ideen aus der Transzendenz in die Immanenz hineinhole, sie als Formen im Stoff enthalten begreife. Aristoteles
denke die Form als dem Stoff immanente und sich in ihm verwirklichende
Kraft. Damit löse er auch Platons Problem, wie die Ideen die Ursache der
Erscheinungswelt sein können. Aristoteles destruiere somit nicht bloß Platons Philosophie, sondern verteidige und rette sie zugleich mit ihrer Auflösung. In dem Verhältnis von Aristoteles zu seinem Lehrer zeigt sich für
Adorno bereits das „Wesen der Metaphysik“, das in ihrer „Doppelintention
auf Kritik und Rettung“ bestehe (35).
Adorno begreift die Ontologie des Aristoteles somit als konsequente Fortentwicklung und Weiterführung von Platons Ideenlehre. Mit dieser hegelschen Sichtweise von Philosophiegeschichte stimmt überein, daß Adornos
hauptsächliche Textgrundlage nicht der aristotelische Primärtext ist, sondern
Neuerscheinungen
- worauf er selbst hinweist - die Darstellung des Hegelschülers Eduard Zeller (41). Zwar liegt es nahe, die Formen wie Hegel/Zeller/Adorno als die in
die Immanenz verlagerten Ideen Platons zu begreifen (auch deshalb, weil
Aristoteles für Form neben morphê auch immer wieder eidos gebraucht).
Die Folge davon ist aber, daß die Formen nun auf das rein Allgemeine und
Einheitliche im Gegensatz zum Besonderen und Mannigfaltigen festgelegt
sind. Die neuere Forschung (Frede/Patzig) kann jedoch Gründe dafür vorbringen, daß diese Interpretation Aristoteles nicht gerecht wird, da er die
Formen immer bereits als individuelle denke.
Da Adorno diese Forschungsergebnisse nicht kennen konnte, kann ihm
diesbezüglich natürlich kein Vorwurf gemacht werden. Auch kann nicht
bestritten werden, daß seine Überlegungen zu Aristoteles, die, wie der Herausgeber zutreffend feststellt, „durch Problemstellungen des eigenen Denkens geleitet werden“ (298), interessante Einsichten bieten, die vor allem im
Zusammenhang mit dem Thema der Negativen Dialektik äußerst relevant
sind. Trotzdem bleiben Zweifel, die durch die starke Anlehnung an Zellers
Darstellung bereits ihre erste Nahrung erhalten haben, ob Adorno mit Aristoteles’ Werk sonderlich gut vertraut war. Wenn Adorno etwa an einer Stelle
der technê (Kunstfertigkeit) und der phronesis (Klugheit) ihren Status als
dianoetische Tugenden (d.h. Tugenden des Denkens) abspricht - er erwähnt
die „dianoetischen Tugenden, also die Tugenden, die in der reinen Kontemplation und Selbstreflexion ohne Rücksicht auf ein Tun bestehen“ (145)
- scheinen sich diese Zweifel zu bestätigen. Denn im 6. Buch der Nikomachischen Ethik werden die techne, ein „auf das Hervorbringen [z.B. das
Bauen, M.K.] abzielendes reflektiertes Verhalten“ (1140a 5) und die phronesis, die Mittel und Wege zur ethischen und politischen Praxis und damit zum
guten und glücklichen Leben richtig abwägt, eindeutig als dianoetische Tugenden begriffen (vgl. den Anfang des 3. Kapitels des 6. Buches).
Manuel Knoll
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