Forum Patientenvertretung in Hamburg

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Forum Patientenvertretung in Hamburg
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Februar 2012
Die elektronische Gesundheitskarte
und das Telematik-System im Hintergrund
An der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) scheiden sich die Geister: Vehementen Befürwortern stehen ebenso vehemente Gegner gegenüber. Beide führen gewichtige Gründe für ihre jeweilige Haltung an. Die Einen sprechen von Verbesserung der medizinischen Versorgung und erheblicher Einsparung von Kosten, die Anderen vom gläsernen Patienten, von Sicherheitslücken, von
Missbrauch sensibler Gesundheitsdaten der Bevölkerung und von erheblichen zusätzlichen Kosten. Wir wollen Zugang zu all diesen Informationen verschaffen und sensibilisieren – und warnen, denn die Risiken eines technischen Experiments mit den sensibelsten Daten, die wir haben,
scheinen uns zu groß und der Nutzen viel zu gering.
Was auf uns zukommt
Schon in den 90er Jahren, als die Krankenversicherungskarte mit Magnetstreifen erfunden wurde,
die wir seitdem alle ständig bei uns tragen, gab es Pläne für viel mehr: für eine elektronische
Chipkarte, also einen Minicomputer, der neben den organisatorischen Daten auch medizinische
Inhalte aufnehmen sollte. Diese Pläne waren damals noch nicht durchsetzbar – nicht zuletzt weil
sich Daten- und Patientenschützer gemeinsam gegen die Entstehung eines „gläsernen Patienten“ zur Wehr setzten.
Jetzt, mehr als zehn Jahre später, ist die Situation anders. Die Chipkarte kommt, sie heißt jetzt
„elektronische Gesundheitskarte“ (abgekürzt eGK). Und mit ihr zusammen entsteht ein sogenanntes „Telematik-System“ auf vielen vernetzten Computern im Hintergrund. Die Karte ist dazu
der Schlüssel – nein, nur ein Schlüssel, denn als Eintrittskarte gelten nur zwei Karten zusammen:
die eGK des Patienten und die Heilberufe-Karte des Arztes. Das soll Missbrauch verhindern.
Wir gehen im folgenden darauf ein,
l was die eGK ist und kann,
l was das System vernetzter Computer im Hintergrund tut
l und vor allem, welche Chancen und welche Risiken das Ganze für Patientinnen und Patienten
mit sich bringen kann.
Wenn die eGK dann flächendeckend in Deutschland eingeführt wird, müssen wir alle selbst entscheiden, ob wir die freiwilligen Anwendungen, für die dann massiv geworben werden dürfte,
annehmen oder nicht. Für diese Entscheidung soll hier Material geliefert werden.
Das Forum Patientenvertretung in Hamburg ist der Zusammenschluss der Patientenorganisationen nach § 140 f SGB V
bzw. Patientenbeteiligungsverordnung nach § 140 g SGB V auf Landesebene.
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Die elektronische Gesundheitskarte und das Telematik-System im Hintergrund
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Die elektronische Gesundheitskarte: Was auf ihr selbst Platz hat
Die eGK ist nicht größer als die jetzige Krankenversichertenkarte. Sie enthält einen Speicherchip,
auf dem zunächst nur die Daten gespeichert werden, die bisher auch auf der alten Karte standen,
und zusätzlich ein Foto ihres „Besitzers“. Das ist der erste Schritt ihrer Einführung.
Der zweite Schritt sollte ursprünglich das elektronische Rezept sein, der Ersatz des Papierrezepts
durch eine elektronische Verordnung auf dem Speicherchip der eGK. Doch davon ist gegenwärtig
nicht mehr die Rede.
Und drittens soll auf der Rückseite der eGK die Europäische Krankenversicherungskarte (European Health Insurance Card = EHIC) Platz finden, allerdings nicht in elektronischer Form, sondern
zunächst noch als gedruckter Text.
Diese vier Elemente der eGK – administrative Daten, Foto, elektronisches Rezept sowie europäische KV-Karte – sind gesetzlich verpflichtend geregelt, das heißt gegen sie können wir uns nicht
wehren.
Freiwillig sind hingegen die weiteren Ausbaustufen:
l Die Speicherung individueller Notfalldaten wie chronische Krankheiten, Blutgruppe, Arzneimittelunverträglichkeiten, Allergien. Was viele schon heute als „Notfallkarte“ aus Papier oder
Plastik im Geldbeutel oder um den Hals tragen, kann auch auf der eGK stehen und im Notfall
schnell ausgelesen werden – sofern der Retter ein Lesegerät dabei hat.
l Mit einer Dokumentation der Arzneimittel-Einnahme können Ärzte und Apotheker feststellen,
ob sich die eingenommenen oder verordneten Medikamente vertragen oder gegenseitig stören. Auch sie ist allerdings gegenwärtig ausgesetzt.
Für mehr Informationen hat die eGK keinen Platz. Sie wird außer den freiwilligen Notfalldaten
keine Krankengeschichten, keine Röntgenbilder, keine Diagnosen, keine Untersuchungsergebnisse enthalten. Zu ihnen soll sie allerdings als Zugang dienen, als Schlüssel.
Das Telematik-System im Hintergrund
Schon heute sind unsere medizinischen Daten – Krankengeschichten, Diagnosen, digitale Röntgenbilder, Laborbefunde und vieles mehr – auf verschiedensten Computern abgelegt: beim
Hausarzt, bei diversen Fachärzten, in Krankenhäusern, bei der Krankenkasse oder sogar bei Instanzen, die wir gar nicht kennen, z.B. Abrechnungsstellen und Kassenärztlichen Vereinigungen.
Künftig werden diese vielen Orte besser vernetzt und unsere eGK ist der zentrale Schlüssel zu
ihnen – zusammen mit dem Heilberufe-Ausweis eines Arztes. Diese heute noch verstreuten Informationen über uns und unsere Krankheiten werden dann in einer „elektronischen Patientenakte“ zusammengefasst. Dann haben wir endlich einen Namen für diese vielen Dokumente – und
mit der eGK sollen wir selbst die Herrschaft über sie bekommen. So wird es uns jedenfalls im
Zusammenhang mit der Einführung der eGK immer wieder erklärt.
Als Vorstufe ist zunächst die „elektronische Fallakte“ geplant. Dabei werden nicht ganze Krankengeschichten, sondern nur einzelne Episoden erfasst, zum Beispiel ein zehntägiger Aufenthalt
im Krankenhaus.
Außerdem sollen auch Arztbriefe und Patientenquittungen über die eGK – auch hier als Schlüssel zu vernetzten Computersystemen – verwaltet und ausgetauscht werden.
Die elektronische Gesundheitskarte kommt also zunächst ganz harmlos daher, sie kann kaum
mehr als unsere bisherige Krankenversichertenkarte. Erst mit den späteren Ausbaustufen, vor
allem der elektronischen Patientenakte, erreicht sie ihre vollen Möglichkeiten. Dann müssten wir
sie eigentlich nicht eGK nennen, sondern TGK – die Telematik-Gesundheitskarte. Denn die Karte
selbst ist ganz harmlos; Kritik richtet sich vor allem gegen das Telematik-System hinter ihr.
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Risiken und Nebenwirkungen
Gegenwärtig sind viele begeisterte und viele warnende Stimmen zu hören. Eine Übersicht:
Die Befürworter der eGK
Auf der euphorischen Seite finden sich neben dem Gesundheitsministerium1 vor allem die Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens und das von ihnen gegründete Konsortium zur Einführung der eGK, die gematik2, und natürlich die an der Entwicklung und Einführung
der Karte beteiligte Industrie. Sie will natürlich nicht nur das investierte Geld wieder einspielen,
sondern ein Mehrfaches davon an der eGK verdienen.
Was die euphorischen Befürworter der eGK und der Telematik versprechen, klingt nach einem
enormen Fortschritt im Gesundheitswesen:
l „Mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und dem Aufbau der Telematikinfrastruktur wird der sichere Austausch medizinischer Daten im Interesse der Patientinnen und
Patienten ermöglicht.“ Sie „ist der Schlüssel in der Hand der Patientinnen und Patienten für den
Zugang zur Telematikinfrastruktur und damit für den Zugriff auf die Behandlung relevanter Daten“, heißt es auf der offiziellen Seite des Bundesgesundheitsministeriums.
l Oder: „Die Gesundheitskarte und die Telematikinfrastruktur schaffen vereinfachte Verwaltungsabläufe, ermöglichen eine hohe Verfügbarkeit medizinischer Informationen und stärken den Datenschutz und die Datensicherheit im Gesundheitswesen.“, schreibt die gematik.3 Wie zu erwarten, findet man dort nur etwas über die Vorteile der eGK.
Die Skeptiker, Kritiker und Gegner
Bei den Skeptikern und Kritikern hört sich das ganz anders an. Erstaunlicherweise sind unter
denen, die die eGK ablehnen, nicht nur Datenschützer und Technikfeinde, sondern sehr viele
renommierte und angesehene Verbände und Organisationen.
l Zum Beispiel die Ärzte: „Der 113. Deutsche Ärztetag fordert von der Bundesregierung, das verfehlte Projekt der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) … endgültig aufzugeben. Damit können
bis zu 14 Milliarden Euro Versichertengelder eingespart werden“, lautete 2010 ein von 82% der
Delegierten getragener Beschluss.4 Der Ärztetag 2011 hat diesen Beschluss nicht revidiert.
l Auch die Zahnärzte haben die eGK schon vor Jahren einstimmig abgelehnt. „Die elektronische
Gesundheitskarte wurde wegen der drohenden Gefährdung des Grundvertrauens der Patienten in
das ärztliche Berufsethos sowie datenschutzrechtlicher Bedenken abgelehnt“, schreibt die Bundeszahnärztekammer über den Zahnärztetag 2009.5
l Vom Chaos Computer Club (CCC) konnte man eine kritische Haltung schon eher erwarten. Er
schreibt auf seiner Homepage: „Der Chaos Computer Club hat erhebliche Bedenken, ob der Teilbereich ‚elektronische Patientenakte‘ die hohen Anforderungen an den Datenschutz erfüllt, die von
Patienten und Ärzten erwartet werden. Darüberhinaus scheint der Aufbau der komplexen Infrastruktur wirtschaftlich nicht sinnvoll.“6
1
2
3
4
5
6
www.bmg.bund.de/krankenversicherung/elektronische-gesundheitskarte.html
www.gematik.de
Startseite www.gematik.de
www.bundesaerztekammer.de/arzt2010 , Antrag V-118
Pressemitteilung der Bundeszahnärztekammer vom 11.11.2009
www.ccc.de
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l Schon früher hatte der CCC ein Gutachten der renommierten Beratungs-Agentur Booz-AllenHamilton zugänglich gemacht, das im Auftrag der gematik schon im Juni 2006 erstellt, von
dieser jedoch bisher nicht veröffentlicht wurde.7 Es beschäftigt sich mit dem Verhältnis von
Kosten und Nutzen der eGK und konstatiert: „Der Hauptnutzen resultiert aus den freiwilligen
Anwendungen. … Aufgrund des großen Nutzenpotentials sollten die freiwilligen Anwendungen
möglichst frühzeitig eingeführt werden.“ Das bedeutet im Klartext: Wenn die freiwilligen Anwendungen keine Akzeptanz in der Bevölkerung und bei den Heilberufen finden, kommt die
eGK nicht aus den roten Zahlen. Damit erstens die erhofften Einsparungen im Gesundheitswesen zustande kommen und zweitens die Industrie, die das gigantische Telematik-System
auf die Beine stellt, auch noch daran verdienen kann, werden uns die freiwilligen Anwendungen in den nächsten Jahren auf alle möglichen Arten schmackhaft gemacht und die Risiken
und Gefahren verharmlost werden. Und die versprochene Sicherheit könnte dann doch aus
finanziellen Gründen über Bord geworfen werden: „Die Vorschläge zur Kostenreduzierung der
auflaufenden Summen, die die Studie von Booz Allen Hamilton macht, enthalten einigen Sprengstoff. So wird empfohlen, die Zahnärzte bei der Einführung des Gesundheitskartensystems schlicht
außen vor zu lassen. Zahnärzte würden sehr selten Rezepte verschreiben und hätten keinen Nutzen von der elektronischen Patientenakte, so die Analyse. Auch für den eKiosk, an dem der Patient
ohne Aufsicht auf seine Daten zugreifen kann, werden alternative Finanzierungen gesucht. Basierend auf den Erfahrungen in Slowenien müssten in Deutschland 12000–20000 eKioske eingerichtet werden, die im Stückpreis bei 3700 Euro liegen sollen. Dementsprechend empfiehlt die Studie
Vermarktungskonzepte zur Refinanzierung des eKiosk durch Werbung und Nutzung als Surfstation. Auf der Gesundheitskarte selbst halten die Autoren das sogenannte Patientenfach für nutzlos und überflüssig. In dieses vom Notfalldatensatz und eRezept getrennte Fach sollen chronisch
Kranke ihre Beobachtungen schreiben, etwa ein Schwindeltagebuch führen oder die Blutzuckerwerte speichern. Welche Einsparungen der Verzicht auf dieses Fach mit sich bringt oder ob das
Fach für Werbezwecke vermietet werden kann, lässt die Studie offen.“8
l Ablehnend äußern sich auch etliche andere gesellschaftliche Gruppen. Das Komitee für
Grundrechte und Demokratie e.V. kritisiert die eGK als „Einfallstor für die Überwachung des
Lebensstils der gesetzlich Krankenversicherten, für kommerzielle Verwertungen von Gesundheitsdaten und für eine noch engere Überwachung der Ärzte bei der Wahrnehmung ihrer Fachlichkeit“ und wirft dem Bundesministerium für Gesundheit vor, zu verharmlosen und zu beschönigen.9 Und ein breites Bündnis Stoppt die E-Card mobilisiert seit Jahren gegen die Einführung der eGK.10
l Besonders bemerkenswert ist die kritische Stellung der renommierten und gegenüber Anwendungen der Informationstechnologie eigentlich sehr aufgeschlossenen Gesellschaft für
Informatik (GI), zu deren Gründern der Erfinder des Computers, Konrad Zuse, gehörte und die
prominente IT-Wissenschaftler in ihren Reihen hat bzw. hatte wie den jüngst verstorbenen Josef Weizenbaum oder Klaus Brunnstein, der 1984 das wegweisende Volkszählungsurteil zum
Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ mit erstritten hat. „Die GI lehnt eine
Speicherung von Gesundheitsdaten im Internet nachdrücklich ab“.11 Und weiter: „Angesichts der
Vielzahl Zugriffsberechtigter von etwa 80 Millionen dürfte eine hinreichend sichere Zugriffskontrolle überhaupt nicht machbar sein. Dies wird spätestens dann in einem Missbrauchsfall offenkundig werden, wenn jedermann mit vorgefertigten, im Internet erhältlichen Tools die Daten sei-
7
8
www.ccc.de/crd/whistleblowerdocs/20060731-Gesundheitstelematik.pdf
Aus einer kritischen Betrachtung des Gutachtens der Agentur Booz-Allen-Hamilton, heise-online 25.11.2006:
www.heise.de/newsticker/Elektronische-Gesundheitskarte-Befreites-Dokument-wirft-Fragen-auf--/meldung/81575
9 www.grundrechtekomitee.de/node/423
10 www.stoppt-die-e-card.de
11 www.gi-ev.de/fileadmin/redaktion/Download/gi_thesen_gesundheitskarte050310_w.pdf
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nes Nachbarn, seiner Bekannten, seines Abgeordneten oder anderer Politiker wie Landes- und
Bundesminister etc. lesen kann.“
l Diese Bedenken werden durch Berichte aus Amerika gestützt: „Foreign hackers, primarily
from Russia and China, are increasingly seeking to steal Americans’ health care records, according
to a Department of Homeland Security analyst“, schreibt etwa die Zeitschrift Federal Computer
Week.12 Und weiter: „Any health problems among the nation’s leaders would be of interest to potential enemies, he said.“ Dies könnte vermuten lassen, dass die nation’s leaders auf die freiwilligen Anwendungen der eGK verzichten werden, dass also nur dem Fußvolk die Gefahren
der Telematik angedient werden, während die wichtigen Persönlichkeiten ein höheres
Schutzniveau beanspruchen – das ist ja auch in anderen Bereichen schon so.
l Datenschützer und Organisationen von Menschen mit Behinderung weisen darauf hin, dass
die Barrierefreiheit bei der Entwicklung der eGK bisher vernachlässigt wurde. Die mit der eGK
verbundene Technik überfordert viele Menschen, etwa Ältere oder Menschen mit Lernbehinderungen. Für einen sehr großen Teil der Patienten ist die Eingabe einer sechsstelligen PIN
innerhalb von zehn Sekunden, wie sie als Zugangskontrolle zu den eigenen Daten notwendig
ist, nicht realistisch, wie erste Erfahrungen in den Testregionen zeigen: „Gerade ältere Patienten hatten häufig ihre PIN vergessen oder konnten in der vorgegebenen Zeit die PIN-Eingabe
nicht durchführen. Das betrifft vor allem Menschen mit Behinderungen oder Demenz. Ergebnis:
Bis zu 75 Prozent der Versuche, den Notfalldatensatz auf der eGK zu speichern, schlugen fehl.
Aber auch viele Ärzte waren überfordert, wie der Projektleiter Jan Meincke bei der Medizinmessse
ConhIT in Berlin berichtete. Von 25 Ärzten, die an den Tests teilnehmen, sperrten 30 Prozent irrtümlich ihren Heilberufsausweis, weil sie ihre PIN vergessen hatten; zehn Prozent der Ausweise
wurden dabei irreversibel gesperrt.“13 Die bisher vorgeschlagenen Lösungen („Komfort-PIN“
oder das schlichte Notieren der PIN auf der Karte) laufen darauf hinaus, dass die betreffenden Menschen von der vielgepriesenen Datensicherheit ausgeschlossen sind. Und für eine
barrierefreie Nutzung der über die eGK erreichbaren Gesundheitsdaten durch blinde und
sehbehinderte Menschen auf privaten und öffentlichen Computern fehlt es bisher an Konzepten und technischen Voraussetzungen.
Zukünftige Entwicklungen
Mit den freiwilligen Funktionen der eGK werden riesige Datensammlungen über einen Großteil
der Bevölkerung entstehen, die prinziell zentral zugänglich und auswertbar sind. Erfahrungsgemäß sind dann staatliche Stellen nicht weit, die die Unverzichtbarkeit einer Nutzung für Zwecke
der Terrorbekämpfung oder der Verhütung und Aufklärung schwerer Verbrechen sehen. Der Streit
um die Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetverbindungen ist nur ein Beleg für diese Tendenz. Auch die mit der Autobahnmaut erhobenen Daten haben schon öffentliche Begehrlichkeiten geweckt, als sie vom damaligen Innenminister zu Fahndungszwecken missbraucht
werden sollten.14 Gesundheitsdaten über einzelne Bürger sind auch für die Marketingabteilungen
der Industrie von hohem Interesse. Das gilt auch für den grauen Markt mehr oder weniger legaler
Angebote im Internet. Adressensammlungen mit medizinischen Daten der Betroffenen sind viel
Geld wert. Neben organisierten kriminellen Hackern können auch Insider des eGK-Systems in
Versuchung kommen, Daten zu stehlen und zu verkaufen. Absolute Datensicherheit gibt es nicht
einmal bei Bankdaten in Liechtenstein.
12 www.fcw.com/online/news/151334-1.html?type=pf, am 17.1.2008: „Hacker aus Ländern wie Russland und China
versuchen zunehmend, die Gesundheitsdaten der Amerikaner in ihre Hände zu bekommen, wie ein amerikanischer Sicherheitsspezialist berichtet.“ – „Für potentielle Feinde Amerikas wären insbesondere gesundheitliche Probleme der führenden Persönlichkeiten des Landes von Interesse, sagte er.“
13 Deutsches Ärzteblatt, 14.4.2008, siehe auch www.aerzteblatt.de/v4/plus/down.asp?typ=PDF&id=2298
14 www.heise.de/newsticker/meldung/LKW-Maut-Schaeuble-will-Zweckbindung-der-Mautdaten-aufheben-148731.html
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Mit der Gesundheitsreform von 2004 hat die Politik das Prinzip des „Wohlverhaltens“ in die medizinische Versorgung eingeführt, das bisher schon beim Zahnersatz galt. Wer vorgesehene Vorsorgeuntersuchungen versäumt, bezahlt später bei Eintritt der Krankheit mehr. Auch finanzielle
Bestrafung für das Abweichen vom „therapiegerechten Verhalten“ ist bereits vorgesehen. Der
Zugang zu medizinischen und Behandlungsdaten über die eGK kann für den einzelnen Patienten
so „freiwillig“ bleiben wie heute der Eintrag in das Bonusheft zur Zahnvorsorge – ohne elektronische Speicherung wird kaum jemand die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen und ggfs. das
therapiegerechte Verhalten über Jahrzehnte nachweisen können. Wer sich verweigert, zahlt später wahrscheinlich mehr.
Eine weitere Gefahr sind auch kommerzielle Datensammler, die ebenfalls Patientendaten „sicher“ zu verwahren versprechen: zum Beispiel das inzwischen wegen mangelnder Akzeptanz
eingestellte Google-Health oder Healthvault von Microsoft, beide in Deutschland nicht am Markt.
Sie sind möglicherweise noch gefährlicher als die eGK, die ja immerhin unter dem Druck enormer
öffentlicher Beobachtung steht.
Fazit
Patienten werden sich nicht nur nach politischen Gesichtspunkten für oder gegen die Gesundheitskarte entscheiden, sondern vor allem nach persönlichen. Für viele werden die Vorteile überwiegen, etwa für ältere, chronisch kranke Menschen, denen eine Verbesserung der Kommunikation zu und zwischen ihren Ärzten in absehbarer Zeit wichtiger ist als die Prävention von Gefahren, die sie vielleicht selbst gar nicht mehr miterleben. Wenn sie allerdings an ihre Kinder und
Enkel denken, können auch sie skeptisch werden, denn die stehen möglicherweise dann schutzlos den Gefahren gegenüber und bewerten die heutigen „Vorteile“ dann ganz anders.
Wir haben die Pro- und Kontra-Stimmen, die wir finden konnten, nebeneinander gestellt, damit
sich Jede und Jeder eine eigene Meinung bilden kann. Allerdings wollen wir auch nicht verschweigen, dass wir die Gefahren und Risiken der eGK ernster nehmen als die ausschließlichen
Befürworter der Gesundheitstelematik. Und dass wir nicht wissen, was auf uns zukommen wird:
eine segensreiche Technologie oder ein Projekt, an dem sich die Industrie auf Kosten der Sicherheit von Patientinnen und Patienten eine goldene Nase verdient. Jedenfalls sollten Versicherte
und Patienten die freiwilligen Funktionen der eGK nicht bedenkenlos akzeptieren.
Eine klare Empfehlung können wir allerdings schon heute geben: Wer Wert darauf legt, medizinische Notfalldaten jederzeit griffbereit zu haben – sollte nicht auf die eGK setzen, sondern einen
Notfallausweis auf Papier bei sich führen. Den kann auch ein Arzt lesen, der zufällig privat im Zug
oder Flugzeug anwesend ist. Mit englischer oder französischer Übersetzung ist er auch in vielen
Urlaubsländern lesbar, wo Lesegeräte für die deutsche eGK kaum erreichbar sind. Und jeder Laie
kann wichtige Informationen aus dem Papier-Ausweis schon telefonisch übermitteln, bevor die
Notärztin überhaupt ins Auto gestiegen ist.
Und eine klare Forderung an alle, die am Projekt eGK beteiligt sind, möchten wir auch formulieren: Die Verpflichtung zur Gewährleistung von Barrierefreiheit im Sinne von § 17 Abs. 1 Sozialgesetzbuch I muß auf die eGK angewendet und bei der weiteren Bearbeitung des Projektes uneingeschränkt erfüllt werden.
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