Lebenslauf Lucius Juon-Lichtenhahn – 21. November 1913 – 29. Oktober 2015 Lebenslauf Lucius Juon-Lichtenhahn Es ist eine schöne, aber schwierige Aufgabe, einem so reichen Leben mit einer kurzen Schilderung gerecht zu werden. Wir versuchen hier nicht ein vollständiges Bild zu geben, dafür möchten wir seiner Persönlichkeit und der Art seines Wirkens mehr Raum lassen. Geboren 1913 in Balgach SG als zweites, von fünf Kindern, durfte Luci Juon schon früh eine intensive musikalische Bildung geniessen. Zuerst bei seinem eigenen Vater, dem Dorfschullehrer. Neben dem Violinunterricht bei einem Berufskollegen seines Vaters, nahm er auch Orgelstunden bei Hans Biedermann in Amriswil. Sein verehrter Lehrer schenkte ihm diese Ausbildung, was ihm der Bub mit grossem Fleiss lohnte. Den Weg, über 80 km hin und zurück, fuhr er bei gutem Wetter mit dem Velo. Da zeigen sich bereits neben dem Interesse für die Sache ein starker Wille und auch eine grosse Ausdauer. So spielte er bereits mit 11 Jahren die Orgel im Gottesdienst. Daneben war er aber auch ein Lausbub. Er rauchte zum Beispiel bei Gelegenheit des Pfarrers Stumpen fertig, wie er einmal seinem Enkel Hannes erzählt hat. Um die Familie durchzubringen, mussten alle „im Ländli“, so hiess das grosse Stück Garten, zupacken und mithelfen. Lucis Spezialität war die „Türke“, wie die lokale weisse Maissorte genannt wurde. Daraus bereitete Luci zum Frühstück seiner Familie, am Morgen bevor er zur Schule ging, den „Ribel“, so heisst das traditionelle Gericht. Jahrzehnte später noch pflanzte er diese Maissorte in seinem Garten an der Brändligasse an und die meisten seiner Enkelkinder kamen so auch noch in den Genuss seiner Kochkunst. Eine Tuberkuloseerkrankung verunmöglichte ihm, die vorgesehene Lehre als Schreiner und Orgelbauer aufzunehmen. Nach einem einjährigen Kuraufenthalt in Davos, besuchte er das Lehrerseminar in Schiers, wo er Freunde für sein ganzes Leben fand. Doch auch den Lehrerberuf musste er aus gesundheitlichen Gründen wieder aufgeben. Mit 24 Jahren wurde er als Organist nach Arosa gewählt, wo er sich gesundheitlich erholte und beglückende Jahre verlebte. Einerseits war es die Kirchenmusik an der Seite von Pfarrer Robert Kurtz, anderseits die Begegnungen mit dem Kurdirektor und Barden Hans Roelli, aber rückblickend am wichtigsten wurde für ihn die Liebe zu Hanni Lichtenhahn, die er dann einige Jahre später heiratete. Weiterbildungen zum Orgellehrer und private Studien am Konservatorium Zürich in Kontrapunkt, Klavier, Gitarre, Chor- und Orchesterleitung fallen ebenfalls in die Aroser Zeit. Unterdessen hatte er sich bereits erfolgreich für die Doppelstelle als Organist und Kirchenchorleiter in Chur beworben. Bei der Arbeit an einem Oratorium fehlte ihm ein Knabenchor. Deshalb begann er mit Schülern musikalisch zu arbeiten. Daraus entwickelte sich vielleicht sein wichtigstes Lebenswerk, die Singschule Chur und als Krone davon der Kammerchor. An Festtagen gab es Orgelkonzerte oder er musizierte mit Musikerkollegen in Abendkonzerten, zuerst lose organisiert, schliesslich aber als Posaunenchor oder im Kollegium Musicum verbunden. Das Repertoire der Aufführungen reichte vom Barock mit Schwerpunkt „Bach“ über die Klassik bis in die Moderne mit zeitgenössischen Komponisten. Er komponierte auch selber, zum Teil modern. Bekannt sind vor allem die meist vierstimmigen Sätze, die er ausgewählten Liedern von Hans Roelli unterlegte. 1 Lebenslauf Lucius Juon-Lichtenhahn – 21. November 1913 – 29. Oktober 2015 Mit der Heirat seiner geliebten Hanni fanden zwei Künstlernaturen zusammen. Hanni unterstützte Ihren Mann nach Kräften, wirkte mit als Sängerin; dazu malte und zeichnete sie, wo es gebraucht wurde, ob bei Plakatgestaltungen, Fensterverzierung in der Stadthalle zu einem offenen Singen oder beim Gestalten des Singschullehrganges…. und vieles mehr. Luci hatte das Glück, eine Frau an seiner Seite zu haben, die ihm während seiner ganzen künstlerischen Schaffenszeit dienend uneingeschränkt zur Seite stand. Sie hat ihre Bedürfnisse stets in den Hintergrund gestellt. Ohne sie hätte sich das Schaffensvermögen von Luci nicht in der erlebten Breite, Vielfalt und Tiefe entfalten können. Dafür gehört ihr auch in ihrem hohen Alter als Zurückgebliebene grosser Dank. Luci hat mit zunehmendem Alter immer vernehmlicher ausgedrückt, was Hanni für ihn geleistet hat. Er hat sie geliebt. Und sie war ihm stets verbunden, zugetan, eine wahre Lebenswegbegleiterin. 1949 wurde Donata geboren, ihr folgten Angelina und Luzi Matthis und schliesslich als letzte Regina. Deren Geburt war für die beiden Eltern ein besonderes Ereignis, durfte unser Vater seiner jüngsten Tochter doch eigenhändig auf die Welt helfen, weil die Hebamme nicht rechtzeitig eingetroffen war. Das erzählte er uns gerne, nicht ohne Stolz. Für seine erste Tochter schreinerte er, zusammen mit seinem Vater, ein Holzbett, ohne einen Nagel zu verwenden. Darin schliefen nicht nur alle seine Kinder, sondern später auch seine Enkelkinder. Sein Vater war ihm Vorbild. Vor allem musikalisch, in gärtnerischer und handwerklicher Hinsicht und auch was die Bienenhaltung anbelangt. Die Rolle als Imker musste unser Vater allerdings schweren Herzens aufgeben, weil das Schwärmen der Bienen immer wieder mit den Abschlusskonzerten zusammen fiel. Unser Vater achtete die Tiere. Konsequenterweise wurde er Vegetarier. Seine Achtung machte auch bei den Insekten nicht Halt. Wespen oder Fliegen im Wohnzimmer wurden immer wieder lebendig ins Freie befördert. Als kleines Kind hat Angelina ihren Vater beobachtet, wie er verklebte Bienen gewaschen hat, weil sich die Tierchen beim Honigernten im Honig verirrt hatten. Sie war beeindruckt. Die Familie hatte oft nicht so viel von ihrem Vater, weil er sich beruflich sehr engagierte und weil für ihn als Organist auch der Sonntag ein Arbeitstag war. Hanni war eine grossartige Mutter und vermochte vieles zu kompensieren und hielt so ihrem Luci den Rücken frei. Trotz der Arbeit: Wenn sich der Vater Zeit nehmen konnte für seine Kinder, so war er ganz für sie da, erzählte ihnen Geschichten von Rübezahl oder auf dem Waldspaziergang zeigte er, wo die Zwerge wohnen. Einmal, auf einer Wanderung, als die kleine Angelina zu ihrem Vater sagte: „I mag nümma“, da antwortete er: „Kumm gibmer d’Hand. I mag au nümma“… Diese kleine Episode zeigt einen Grundzug seiner Persönlichkeit. Er besass grosses Einfühlungsvermögen in die Kinder, vermochte sie aber auch, mit verständnisvoller Führung über sich hinauswachsen zu lassen, sicher einer der Gründe für den Erfolg der Singschule. In vielen Bereichen des Lebens hatte er sehr klare Vorstellungen, wie etwas gemacht werden sollte. Sein reicher Erfahrungsschatz, seine Kreativität und seine freies Denken verhalfen ihm dazu. Wer viel denkt und erkennt, hat auch ein Bedürfnis zu sprechen. Das tat er bei vielen sich bietenden Gelegenheiten, und es war nicht einfach ihm die Stirn zu bieten. 2 Lebenslauf Lucius Juon-Lichtenhahn – 21. November 1913 – 29. Oktober 2015 Als Musiker war er ein begnadeter Klavier- und Orgelspieler, wobei er auf beiden Instrumenten auch hervorragend improvisierte. Seine Chöre führte er zu Höchstleistungen. Ganzheitlich und in farbigen Bildern sprach er, wenn er eine Passage auf diese oder jene Weise gesungen oder gespielt haben wollte. Zusammenhänge mit dem Leben verstand er zu geben und wirkte so im Gegenüber Sinn- und Erkenntnis stiftend. Die Menschen hat er so berührt und viele sind ihm noch heute dankbar dafür. Oratorien und Kirchenkonzerte waren die Höhepunkte in seinem Künstlerleben. Für seine Familie waren diese Ereignisse aber selten stressfrei. Weil er seine künstlerischen Vorstellungen laufend entwickelte und wandelte, veränderte sich oft auch seine Vorstellung eines Werkes auch noch in letzter Minute. So wurden manchmal in der letzten Nacht nochmals die Noten der Musiker in gemeinsamer Arbeit aller Familienangehörigen detailliert mit neuen Dynamik- und Artikulationszeichen versehen. Das nicht immer nur zur Freude aller Musiker, konnte dies doch auch als mangelndes Vertrauen in die eigene Musikalität verstanden werden. Unser Vater hatte auch sonst im Leben ganz klare, zum Teil unkonventionelle Vorstellungen: Freigeld in der Wirtschaft, im Pädagogischen der Antroposophie nahe. Immer aber bewahrte er sich seine eigene Interpretation und damit die eigene Freiheit. Worüber er auch sprach, nie wirkte es aufgesetzt, immer authentisch konnte er mit seinen ureigenen Überzeugungen seine Zuhörer faszinieren. Dazu gesellte sich sein Wille zur Tat. Eine dieser Taten war die Verweigerung des Militärdienstes nach dem Krieg. Er wurde mit Gefängnis bestraft und musste nach der Entlassung feststellen, dass er von gewissen Menschen gemieden wurde. Ungeahnte Konsequenzen trafen ihn. Das war schlimmer als seine Zeit im Gefängnis. Erst 1983, als die Kantonsregierung sein unermüdliches Schaffen mit dem Kulturpreis belohnte, fühlte er sich endlich rehabilitiert. Ein weiterer Aspekt in seinem Leben war sein soziales Engagement. Er verstand auch die Gründung der Singschule als ein solches - und zwar, weil er überzeugt war, dass die musikalische Bildung allen Menschen offen stehen müsse. Ein Instrumentalunterricht für ihre Kinder konnte sich nicht jede Familie leisten, die Singschule hingegen schon. Dafür sorgte das minimal gehaltene Kursgeld. „Und die Stimme ist auch das einzige Musikinstrument, das nichts kostet und das alle haben.“ So ähnlich hat er sich einmal geäussert. Die Pensionierung war, wie nicht anders zu erwarten, ein lange dauernder Prozess: Nach und nach gab er die Chöre ab. In der Singschule wurde er noch, als gerngesehener Korrepetitor gebraucht. An der Brändligasse trafen sich regelmässig ehemalige Sängerinnen und Sänger aus verschiedenen Chören um gemeinsam zu singen. Einzelne bevorzugten alleine zu kommen. Als Organist spielte er Vertretungen in umliegenden Gemeinden und zum Schluss versah er den Orgeldienst in Kantons- und Kreuzspital. Erst sein erster Oberschenkelhalsbruch mit 98 Jahren setzte auch diesem ein Ende. Unser Vater erholte sich und kam wieder auf die Beine, was eine gewünschte Rückkehr ins eigene Haus ermöglichte. Glücklicherweise haben wir Ingrid gefunden, eine Frau aus Tschechien, die unsere Eltern tatkräftig unterstützt hat, bis im Dezember 2014 ein Umzug ins Alterszentrum Cadonau angezeigt war. Nach anfänglichen Vorbehalten fühlte er sich auch wohl am neuen Ort. Vor sechs Wochen hat unser Vater den anderen Oberschenkelhals gebrochen. Nach vier Wochen Spitalaufenthalt mit zwei Operationen kehrte er 3 Lebenslauf Lucius Juon-Lichtenhahn – 21. November 1913 – 29. Oktober 2015 nochmals zurück ins Cadonau zu Hanni. Mit zunehmender Schwäche entwickelte er eine wunderbare Weichheit, die in grosse Dankbarkeit und Liebesbezeugungen mündete, bevor er friedlich loslassen konnte. Glücklich und Dankbar schauen wir zurück auf dieses Leben an dem wir teilhaben durften. 4