Rechtsmedizin Dr. med. Dr. med. dent. Michael Mund, *1968 o o o o o o Verheiratet, 3 Kinder (2000 / 2003 / 2005) Staatsexamen Zahnmedizin 1993 / Staatsexamen Humanmedizin 1997, Universität Basel 1993 – 1997: Studienbegleitende, zahnärztliche Assistenzarztstelle in einer Praxis für Kiefer-Gesichts- und plastische Chirurgie sowie 6 Monate in der Universitätsklinik Basel 1997 – 2001: Chirurgie, Anästhesie/ Intensivmedizin 2001 – 2003: Pathologie 2003 – 2013: Rechtsmedizin (Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich) 2003 – 2007 Assistenzarzt, 2007 – 2009 Facharzt mbA, 2009 Oberarzt a.i., 2010 – Juni 2013 Oberarzt 1. Weshalb Rechtsmediziner werden? Die Attraktivität dieses Berufes liegt meines Erachtens v.a. in der grossen Vielfalt der Tätigkeiten und der grossen, über medizinische Grenzen hinausreichende Interdisziplinarität bei der Arbeit. Neben der Todesursachenabklärung im Rahmen von Legalinspektionen oder Obduktionen bei aussergewöhnlichen Todesfällen (agT) und der Dokumentation und Interpretation von Verletzungsbildern an Lebenden (Geschädigte und Tatverdächtige) fungiert man auch als medizinischer Sachverständiger bei polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen resp. vor Gericht. Dabei arbeitet man als Rechtsmediziner immer eng mit Juristen (Staatsanwaltschaft, Jugendanwaltschaft, Rechtsanwälten, Richtern) aber auch mit der Polizei (Kriminalbeamte, Kriminaltechniker) zusammen. Daneben verbringt man aber auch viel Zeit mit Büroarbeit. Zu sämtlichen Fällen müssen – zu Handen der Staatsanwaltschaft oder der Polizei – Berichte und Gutachten verfasst werden. 2. Was für Fähigkeiten / Neigungen muss man mitbringen? Sehr viel Neugier und ein „gesundes Mass“ an Misstrauen. Anders als in der klinischen Medizin kann man als Rechtsmediziner nämlich nicht a priori davon ausgehen, dass einem von seinen „Patienten“ immer (ich meine hier nat. die Lebenduntersuchungen) die Wahrheit erzählt wird. Bei der Erstellung von Gutachten ist ein gutes Sprachgefühl resp. die Freude am Umgang mit Sprache, bei Gerichtsterminen ein gewisses rhetorisches Repertoire unabdingbar. Was für einen Chirurgen das Skalpell, ist für den Rechtsmediziner das gesprochene oder geschriebene Wort: mit beiden „Instrumenten“ kann bei unsorgfältiger oder fehlerhafter Handhabung viel Schaden angerichtet werden. Dieses Statement stammt nicht von mir sondern von einem sehr erfahrenen Schweizer Rechtsmediziner und trifft genau ins Schwarze. Zudem braucht es eine recht hohe physische (Legalinspektionen finden nicht selten auch in unwegsamem Gelände statt und nicht jede Leiche hat „Modellmasse“) und psychische (es gibt schon Fälle, die einem recht an die Nieren gehen) Belastbarkeit sowie ein gewisser Grad an „handwerklichem“ Geschick (Obduktionen). 3. Soll ein zusätzliches Studium oder eine zusätzliche Ausbildung gemacht werden? Natürlich wäre ein zusätzliches Jus-Studium optimal, braucht es aber nicht. Meines Wissens ist kein Rechtsmediziner in der Schweiz auch studierter Jurist. Ein Interesse für die Rechtsprechung und Freude an Gesetzestexten ist aber eine conditio sine qua non. Gefordert wird auch ein breites allgemeines medizinisches Wissen. In Gutachten muss zu sehr unterschiedlichen medizinischen Fragen Stellung genommen werden, insbesondere auch bei Gutachten betreffend ärztlicher Behandlungsfehler. Daher ist es von Vorteil, eine gewisse Zeit in einem oder besser noch mehreren klinischen Fächern (1 Jahr Klinik ist im Curriculum vorgesehen, mehr schadet aber sicher nicht) gearbeitet zu haben. Mir kam meine relativ breite klinische Vorerfahrung jedenfalls sehr zu Gute (z.B. bei der Beurteilung allfälliger chirurgischer Fehlbehandlungen). Da bildgebende Verfahren in der Rechtsmedizin eine zunehmende Rolle spielen, ist eine radiologische Vorbildung ebenfalls von Vorteil. Wichtig scheint mir auch, dass man sich innerhalb der Rechtsmedizin ein „Steckenpferd“, also ein Interessengebiet zulegt, auf das man sich durch Kurse und Kongressteilnahmen spezialisiert und sich so ein eigenes „Interesse-Gärtchen“ zulegt. Die Möglichkeiten sind sehr vielfältig (z.B. forensische Anthropologie oder forensische Entomologie). Mir persönlich kam mein ZahnmedizinStudium zu Gute: so konnte ich mich auf zahnärztlich-rechtsmedizinische Fragestellungen spezialisieren (sog. Forensische Odonto-Stomatologie). 4. Was ist für den FMH Titel ein Nadelöhr/Hindernis? Die Ausbildungsstellen sind relativ rar. Da in vielen Instituten zudem die Obduktionszahlen eher rückläufig sind, kann sich die Facharztausbildung, für welche eine bestimmte Zahl an Obduktionen etc. gefordert wird, durchaus in die Länge ziehen. 5. Mit welchen Problemstellungen / Aufgaben wird man im Alltag oft konfrontiert? Die Problemstellungen sind sehr vielfältig. Jeder Fall ist anders und muss – unter Beachtung aller bisheriger Erkenntnisse – individuell und kritisch beurteilt werden. Bei der Erstellung von Gutachten kann im Extremfall eine einzige kleine Formulierung einen Fall vor Gericht in eine andere Richtung lenken. Gewisse Fälle sind sehr aufwändig und das Erstellen des Gutachtens kann einige Tage, manchmal sogar Wochen, in Anspruch nehmen. Da braucht es doch z.T ein hohes Mass an Selbstdisziplin, sich wieder an den Fall zu machen, auch wenn er unangenehm ist. Insgesamt kann man sicher sagen, dass man in der Rechtsmedizin fehl am Platz ist, wenn man nicht gerne mit Sprache umgeht und nichts mit Büroarbeit anfangen kann. 6. Mit welchen aussergewöhnlichen Problemstellungen / Aufgaben wird man oft konfrontiert? Speziell ist sicher, dass man – im Gegensatz zu klinisch-medizinischen Fachrichtungen – sehr oft belogen wird und wirklich alles, was einem bei Lebenduntersuchungen bezüglich eines Ereignisablaufes von der untersuchten Person („Patient“) mitgeteilt wird, kritisch hinterfragen und mit dem Befundbild, das sich präsentiert, verglichen werden muss. Nach meiner Zeit in der klinischen Medizin hat mit das zugegebenermassen anfangs recht Mühe bereitet. Zudem gibt es Fälle, die einen psychisch sehr belasten können. Man hat es halt oft schon mit den „Abgründen menschlichen Handelns“ (Tötungsdelikte, Körperverletzungen etc.) und sehr tragischen Situationen zu tun. Anders als die überwiegende Zahl an Fällen in der Klinik, die natürlich auch sehr tragisch sein können, hat man es in der Rechtsmedizin aber insbesondere mit Fällen zu tun, bei denen das Leid eines Menschen oder seiner Angehörigen nicht durch Krankheit resp. Schicksal, sondern vielmehr durch einen Mitmenschen – nicht selten willentlich – herbeigeführt wurde, was sehr belastend sein kann. Schwierig und sehr belastend kann auch der Umgang mit Angehörigen sein, insbesondere, wenn Kinder zu Schaden gekommen sind. 7. Was macht am meisten Spass in Ihrem Beruf? Ganz klar die grosse Abwechslung und die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen, nichtmedizinischen Berufsgruppen (Juristen, Polizei etc.). Zudem die Abwechslung zwischen Büroarbeiten, „handwerklicher“ Tätigkeit (Obduktionen) und dem Ausrücken an Ereignisorte zur körperlichen Untersuchung Lebender oder Legalinspektionen. Es ist zudem unglaublich spannend, an eine Situation heranzulaufen und sich zusammen mit den übrigen, ebenfalls am Ereignisort anwesenden Spezialisten Gedanken zu machen, was wohl im Detail vorgefallen sein muss, damit sich die Situation jetzt genau so präsentiert, wie sie es eben tut, also das rekonstruktive Denken. 8. Was ist fachspezifisch unangenehm? Es ist sicherlich nicht jedermanns Sache, eine fäulnisveränderte Leiche untersuchen zu müssen. Das gehört aber zum Job und verlangt einem, gerade am Anfang, sicher ein grosses Mass an Überwindung ab. Desgleichen auch bei anderen „unangenehmen Leichen“ (Wasserleichen, Bahnleichen, schwere Verkehrsunfälle mit Überrollung etc.). In der Regel überwiegt aber, wenn man mit der konkreten Untersuchung angefangen hat, das Interesse, herauszufinden, was genau passiert ist und die anfänglichen Ekelgefühle treten in den Hintergrund. 9. Welche Arbeitsweisen/Schichten sind in Ihrem Fachgebiet möglich (viel/wenig Nachtschicht/Notfall/Jobsharing, Praxis, Spital)? Rechtsmedizin findet nicht (nur) zu Bürozeiten statt. Viele Fälle ereignen sich nachts und am Wochenende (Körperverletzungen steigen proportional zum Alkoholkonsum), so dass Dienst entsprechend an 7 Tagen die Woche über 24 Stunden abgedeckt sein müssen. Da sich die Zahl ärztlicher Mitarbeiter in den Instituten sehr in Grenzen hält (je nach Grösse), hat man entsprechend doch relativ häufig Nacht- oder Wochenenddienst. Jobsharing eignet sich für dieses Fachgebiet und ist in den meisten Instituten meines Wissens möglich. Freipraktizierende Rechtsmediziner gibt es (praktisch) nicht. Bleibt man dem Fach treu, so bleibt man in einem Angestelltenverhältnis. 10. Lebensstil: Wie läuft eine Woche in Ihrer Fachdisziplin und in Ihrer Karrierestufe typischerweise ab? Wie viele Tage Arbeit, wie viel Zeit am Patienten, im Büro etc.? Die reguläre Arbeitszeit beträgt in der Schweiz, je nach Institut und dessen Anbindung (an eine Universität oder an ein Spital) zwischen 42 und 50 Stunden pro Woche. Das Verhältnis zwischen praktischer Tätigkeit (Legalinspektionen / Obduktionen) und Büroarbeit hält sich in etwa die Waage. Hat man keinen Dienst, so kann man die meiste Arbeit relativ selbständig einteilen und die Arbeitszeiten einhalten. Bei in der Regel aber eher kleiner Zahl an ärztlichen Mitarbeitern in den Instituten, ist man doch recht häufig am Wochenende resp. nachts dienstlich angebunden. Andererseits ist pro Institut jeweils nur 1 Arzt im Dienst, was die Zahl der Dienste wieder etwas relativiert. In vielen Instituten sind die Dienste in Pickett-Stellung zu leisten, die Einsatzfrequenz ist sehr unterschiedlich. Auch die Anzahl körperlicher Untersuchungen an Lebenden, Legalinspektionen und Obduktionen, die jeder einzelne Arzt pro Woche durchführt, ist sehr von der Grösse des Institutes und des Einzugsgebietes abhängig. 11. Wie viel Zeit können Sie mit der eigenen Familie verbringen, wenn man keinen Dienst (Wochenende / Nacht) hat? Hat man kein Dienst, so kann man nach Büroschluss (je nach Institut um 17:00 oder um 18:00 Uhr) in der Regel auch pünktlich nach Hause. Morgens geht es um 08:00 Uhr los. Die Arbeitszeiten sind somit, von den Diensten abgesehen, relativ human. 12. Wie verändert sich der Lebensstil Ihrer Meinung nach auf den verschiedenen Karrierestufen (AA, OA, LA, CA, selbständig)? Zuerst muss hier erwähnt werden, dass die „Karrierepyramide“ in der Rechtsmedizin sehr spitz zuläuft. Die Chance, eine Ausbildungsstelle zu bekommen, ist noch recht gross. Schon auf der Stufe Oberarzt kann es eng werden und Leitende oder Chefarzt-Stellen sind sehr rar (s. auch 14.). Eine selbständige Tätigkeit als Rechtsmediziner ist, zumindest wenn man der klassischen Rechtsmedizin treu bleiben will, praktisch nicht möglich. Mit der Höhe der Karrierestufe steigen die administrativen Aufgaben. Wie sehr man ab Stufe Leitender Arzt oder Chefarzt noch im Kernbusiness tätig ist, hängt wiederum mit der Grösse des Institutes und somit der Anzahl Mitarbeiter zusammen. Während in kleineren Instituten auch der Chefarzt resp. Institutsdirektor noch in die Obduktionshandschuhe steigt, ist der Chef eines grossen Institutes doch viel mehr der Manager und nur noch wenig im rechtsmedizinischen Kernbusiness tätig. Ich war mit meiner Stellung als Oberarzt sehr zufrieden und wollte gar nicht höher klettern. Als Oberarzt hat man hauptsächlich eine Ausbildungs- und Führungsfunktion inne, ist aber selbst weiterhin am Puls der klassischen Rechtsmedizin als Dienstarzt tätig. Die administrativen Aufgaben halten sich in Grenzen. Zudem bin ich persönlich nicht der Forscher-Typ, so dass eine Leitende Funktion oder gar eine Chefarztstelle eh nie zur Diskussion stand (s. 14.). Übrigens: reich im pekuniären Sinne wird man als Rechtsmediziner mangels „Privatpatienten“ und Möglichkeit selbständiger Tätigkeit definitiv nicht (auch nicht als Institutsdirektor) - nur reich an Erfahrung. In der Rechtsmedizin habe ich gelernt, dass es wirklich nichts gibt, was es nicht gibt, und ist es noch so unglaublich und skurril…. 13. Welche Fächer und an welchen Institutionen empfehlen Sie einem 3. Jahresstudent, welcher vielleicht Rechtsmedizin machen möchte, im Wahlstudienjahr zu wählen? 1 – 2 Monate als Unterassistent/-in in einem der rechtsmedizinischen Institute der Schweiz. Wo spielt eigentlich keine entscheidende Rolle. Meines Wissens ist die Betreuung in allen Instituten recht gut und man wird als Unterassistent/-in auch recht schnell in die praktische Arbeit integriert. Meiner Erfahrung nach sind die Stellen sehr begehrt, so dass es sich lohnt, sich bei entsprechendem Interesse bereits relativ früh um so eine Praktikumsstelle zu bemühen. War man als Unterassistent/in an einem Institut (und hat insbesondere einen positiven Eindruck hinterlassen), so steigt oft auch die Chance, dass man dort einmal als Assistent arbeiten kann. 14. Wie schätzen Sie den Arbeitsmarkt für Rechtsmediziner ein? Wie bereits erwähnt sind die Ausbildungsstellen in der Schweiz eher rar. Da es sich aber auch um einen sehr speziellen medizinischen Berufszweig handelt, halten sich die Bewerbungen aber auch in Grenzen und man hat gute Chancen, früher oder später an einer schweizerischen rechtsmedizinischen Institution eine Ausbildungsstelle zu bekommen. Noch enger wird es im Bereich der Kaderstellen. Um eine Oberarztstelle zu bekommen, ist es von grossem Vorteil, wenn man eine „Subspezialisierung“ (s. 3.) anbieten kann. Will man gar Leitender Arzt oder Chefarzt einer rechtsmedizinischen Institution werden, so ist eine Habilitation – insbesondere auch, da die meisten Institute universitär sind – praktisch unabdingbar. Mit einem Facharzttitel für Rechtsmedizin stehen einem aber auch andere Tätigkeiten als die klassische Rechtsmedizin im Gesundheitswesen offen. Ich denke dabei insbesondere auch an gesundheitspolitische Tätigkeiten wie eine Anstellung in einer kantonalen oder städtischen Gesundheitsdirektion (mittlerweile sind einige Kantonsärzte Fachärzte für Rechtsmedizin), bei Gutachterstellen, Versicherungen oder auch der Privatwirtschaft (z.B. der Autoindustrie, Stichwort: Entwicklung von Sicherheitssystemen). Auch besteht die Möglichkeit, sich auf Verkehrsmedizin zu spezialisieren und einen entsprechenden Fachtitel (nicht Facharzttitel) zu erlangen. 15. Literatur/Internetlink Empfehlungen: • www.sgrm.ch • Madea B.: Praxis Rechtsmedizin; Springerverlag.