Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp (29. 04. 2015) Schwerpunkt 2: Erziehung und Bildung – ein geschichtlicher Abriss • Begrüßung - Organisatorisches • Vortrag: Erziehung und Bildung – Eine Skizze der Geschichte • Filmausschnitt: Treibhäuser der Zukunft – Im Focus 5 Lernende Gesellschaft • Arbeitsphase – Aussprache – Diskussion 1 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Johann Amos Comenius (1592 – 1670): die Entdeckung der Schule als ein eigener pädagogischer Kosmos. Comenius war einer der ersten Theoretiker der Schule, die schulische Erziehung als ein sinnvolles und notwendiges Unterfangen am Beginn der Neuzeit verstanden. 2 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Grundgedanken des Comenius • • • • vierstufiges Gemeinschaftsschulwesen Omnes - omnia – Omnino Mit einer anderen Lernmethode im Unterricht Comenius legt die Komplexität der Sinnenwelt so in einer zeitlichen Reihenfolge auseinander, dass der Intellekt in seiner Entwicklung die Vielfalt der Sinnenwelt immer klarer sehen kann, ohne davon verwirrt zu werden. 3 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Im Titelkupfer der von Comenius verfassten Großen Didaktik (Deutsch zuerst 1657) kommt die Ambition neuzeitlicher Pädagogik zum Ausdruck „GROSSE DIDAKTIK DIE VOLLSTÄNDIGE KUNST, ALLE MENSCHEN ALLES ZU LEHREN oder Sichere und vorzügliche Art und Weise, in allen Gemeinden, Städten und Dörfern eines jeden christlichen Landes Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede Ausnahme RASCH, ANGENEHM UND GRÜNDLICH in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt und auf diese Weise in den Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann; Worin von allem, wozu wir raten die GRUNDLAGE in der Natur der Sache selbst gezeigt, die WAHRHEIT durch Vergleichsbeispiele aus den mechanischen Künsten dargetan, die REIHENFOLGE nach Jahren, Monaten, Tagen und Stunden festgelegt und schließlich der WEG gewiesen wird, auf dem sich alles leicht und mit Sicherheit erreichen läßt. ERSTES UND LETZTES ZIEL UNSERER DIDAKTIK SOLL ES SEIN, die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß, und unnütze Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“ (Comenius 1954, S.9) 4 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss • Pädagogischer Optimismus: durch methodischen Königsweg der richtigen Darstellungsweise der Lerninhalte soll der Lernerfolg von selbst kommen „Wie ein sachverständiger Schreiber auf eine leere Tafel schreiben oder ein Maler darauf malen kann, was er will, so kann der, welcher die Kunst des Lehrens beherrscht, mit Leichtigkeit dem menschlichen Geist alles einprägen. Gelingt das nicht, so ist es nur zu gewiß, daß nicht die Tafel schuld ist, die allenfalls etwas rauh sein mag, sondern allein die Unfähigkeit des Schreibers oder Malers.“ (Comenius 1954, S.39) • • Damit werden die Grenzen jeglicher Pädagogik überschritten, denn es ist durch die Methode keineswegs verbürgt, dass der Lernende die geistigen Schritte des Lehrers nachvollzieht Die „leere Tafel“ hat ein Eigenleben, das jeden Lernprozess auch methodisch zu etwas Unerzwingbaren macht. 5 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Nur in Rücksicht auf das Ganze kann Allen Alles gründlich gelehrt werden. Mit dem Wegfall des Omnino – der göttlich verbürgten ganzen Weltordnung – wird die Didaktik des Comenius grundlos. Ohne den zugrunde liegenden Versöhnungsgedanken kann es zu einer erbarmungslosen pädagogischen Maschine werden, in der alle Räder ineinander greifen müssen, um den reibungslosen Fortgang des Unterrichts zu sichern. Das einzelne Individuum braucht gegen die Intention des Comenius dabei nicht zu Selbstbewusstsein zu kommen. Als Begründer der Didaktik, erster Verfechter des Gleichheitsgedankens in der Schule und Verfasser von Lehrbüchern wie dem Orbis Sensualium Pictus (1658) bleibt er aber im Gedächtnis. 6 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) entwirft mit seinem Buch Emile oder über die Erziehung das Paradigma moderner europäischer Pädagogik. 7 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Das Problem, für das Rousseau mit seinem Emile eine Lösung finden will, ist: wie ist eine Erziehung, die zum Besseren führen soll, überhaupt denkbar? „Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme. Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (Rousseau 1958, S. 11) Erziehung als Instrument der Durchsetzung des Willens der Erwachsenengeneration hat ihre Legitimität verloren. Die neue Erziehung ist in der Tatsache der kindlichen Entwicklung und der ihr eigenen Würde verankert. Kindsein ist eine Daseinsform des Menschen, die gegenüber dem Erwachsensein nicht defizitär ist, sondern ihre Erfüllung und Reife in sich selbst findet. 8 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Rousseaus Gedankenexperiment im Émile: wenn alles unter den Händen des Menschen verdirbt, hat der Mensch auch die Möglichkeit, das Leben zum Besseren zu wenden, wenn er die richtigen pädagogischen Prinzipien beherzigt. Die Natur will nach Rousseau, dass die Kinder Kinder sind, ehe sie sich zu vernünftigen Wesen entwickeln. Konventionelle Erziehung ist nur an der Zukunft interessiert. Daher standardisiert sie die Entwicklung des individuellen Kindes. Sie opfert das Glück der Gegenwart einer ungewissen Zukunftsperspektive. 9 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Oberste Aufgabe der Erzieher ist es, die Kinder zu beobachten und zu studieren, um zu lernen, wie zu erziehen sei. Folgerungen für Rousseau sind: Plastizität der kindlichen Natur, Schutzbe-dürftigkeit des Kindes, Kindheit ist eigene Phase, das Kind ist selbsttätig, Empfindungen und Sinneseindrücke sind vorherrschend, das Kind ist wißbegierig. Phasen der Kindheit und des Jugendalters: 1. die Kindheit, 2. das Knabenalter, 3. die Vorpubertät und 4. das Jünglingsalter. Alle Phasen enthalten die körperliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung des Kindes. Drei Arten der Erziehung: durch die Natur, durch die Dinge, durch die Menschen. Natur- und entwicklungsgemäße Erziehung und negative Erziehung unter Ausschluss aller soziokulturellen Einflüsse in der Pädagogischen Provinz. 10 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Erziehungsprinzipien im Emile • Erziehung bedeutet Respekt und Anerkennung des kindlichen Eigen-lebens. • Erziehung muss alters- und entwicklungsgemäß sein. • Erziehung muss dafür Sorge tragen, dass das Kind eine Balance zwischen seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten herstellt. • Erziehung muss das Kind mit Gegenständen und Dingen konfrontieren, an denen es Erfahrung sammeln kann. • Erziehung muss zeitlich offen angelegt sein, um dem Kind Zeit zur Entwicklung zu geben. • Erziehung soll das Kind psychisch und physisch widerstandsfähig machen 11 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Die Inszenierung negativer Erziehung Emile, Jean-Jacques und der Gärtner Robert 12 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Die „natürliche“ Erziehung Émiles bleibt durch und durch pädagogisch inszeniert und kunstvoll arrangiert, so dass er trotz aller Beteuerungen von Autonomie und Selbstständigkeit eher wie eine Marionette im pädagogischen Kontroll-Theater seines Erziehers Jean-Jacques wirkt. „Er (der Zögling) möge stets glauben, er sei der Herr, aber ihr müßt es trotzdem sein. Keine Unterwerfung ist so vollkommen, als die scheinbar freiwillige, denn man nimmt den Willen selbst gefangen. Ist denn das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und nichts kennt, nicht völlig in euren Händen? Verfügt ihr denn nicht über alles, was es umgibt? Könnt ihr es nicht beeinflussen, wie ihr wollt? Sind nicht seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Ungemach in euren Händen, ohne daß es davon weiß? Ohne Zweifel soll es nur das tun, was es selber will, aber es soll nichts wollen, was ihr nicht von ihm wollt. Es darf nicht einen Schritt tun, den ihr nicht hättet vorausgesehen, es darf nicht den Mund öffnen, ohne daß ihr wißt, was es sagen wird.“ (Rousseau 1958, S. 115) 13 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Bildungsreform zwischen Revolution und Restauration: Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) 14 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Sozialpolitischer Rahmen Tiefe Krise des überkommenen feudalen, ständisch geordneten Gesellschaftssystems. Folgerung: umfassende Verwaltungs- und Rechtsreform im Sinn einer sozialen, ökonomischen und politischen Liberalisierung. Betonung individueller Leistung und Initiative. Den sozialpolitischen Reformen korrespondiert eine Reform des Bildungswesens. Die modernisierte Schule soll den Bürgern die Grundausstattung für die zukünftige Gesellschaft bieten. Die individuelle Leistung sollte in Gesellschaft wie Schule wichtiger als die soziale Herkunft werden. 15 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Der Zweck des Menschen ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Dazu bedarf es Freiheit und Mannig-faltigkeit der Situationen Humboldt will daher eine Leistungsschule, die für alle offen ist, und keine Standesschule Es gibt für ihn nur drei Stadien des Unterrichts: Elementarunterricht, Schulunterricht, Universitätsunterricht. Seine Forderungen: • die größtmögliche Einheitlichkeit des Schulwesens und des Unterrichts • ein gestuftes Schulsystem mit einheitlichen Anforderungen auf jeder Stufe • ein horizontal gegliedertes Schulmodell, in dem der Übergang von der niederen zur höheren Stufe prinzipiell allen Schülern möglich ist • „allgemeine Menschenbildung“ soll kein soziales Privileg sein, sondern allen zu Gute kommen 16 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss • • • • Die Grenze des schulischen Unterrichts ist nicht die Herkunft oder der zukünftige Beruf der Schüler, sondern die Grenze ist dort, wo subjektive Lernprozesse enden. Dazu soll Lernen soll eine neue Bedeutung erhalten Keine Übung mechanischer Lernroutinen, sondern das Kind soll das volle Bewusstsein von dem haben, was es in jedem Augenblick hört, sagt und tut, und warum so und nicht anders gehandelt wird Dazu bedarf es diagnostischer Kompetenz der Lehrkräfte und sozialen Lernens miteinander 17 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Kritik • • • • Die Bildungsreform war nur auf der administrativen Ebene erfolgreich Vor allem die Elementarschulen blieben unterfinanziert Der Widerstand des gutsherrlichen preußischen Junkertums bremste finanziell die Schulreformpläne aus. Es sollte die finanziellen Mittel im Zuge einer Steuerreform aufbringen, ohne davon zu profitieren. Weder wollte es seine eigenen Kinder in die dürftig ausgestatteten Elementarschulen schicken, noch war es an einem höheren Bildungsniveau seiner Bauern und Landarbeiter interessiert. Sobald Humboldt schon 1810 die ersten Anzeichen obrigkeitlicher Be-schränkung seiner Bildungspolitik verspürte, zog er sich konsequenterweise aus dem Amt zurück. 18 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Mit den Reformversuchen um 1800 wurde das schulische Lernen eine öffentliche, allen zugängliche und zugleich verpflichtende Aufgabe Dafür gibt es mehrere Ursachen: auf der politischen Ebene verlangt der moderne Nationalstaat die Loyalität der Bürger auf der ökonomischen Ebene erfordert der beginnende Kapitalismus eine über das bisherige Maß weit hinausgehende Qualifizierung und auf der kulturellen Ebene wird den Menschen eine säkularisierte Lebenshal-tung abverlangt, die einen radikalen und schmerzhaften Bruch mit den eingelebten Traditionen voraussetzt. Schule soll die Menschen durch allgemeine Bildung auf das Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorbereiten 19 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss 20 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich ein höheres Schulwesen etabliert, das durch zwei Aspekte charakterisiert ist: • das Berechtigungssystem • Konzept der Allgemeinbildung Folgen: • Die Loyalität der durch Bildung aufgestiegenen Beamtenschaft wurde erzeugt und gesichert. • Die Qualifikation der ‚führenden’ Schichten wurde in staatlichen Institutionen geleistet und durch den Staat kontrolliert. • Die erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung ermöglichte den Söhnen des Bürgertums, in Konkurrenz zu dem bis dahin privilegierten Adel zu treten und sich dadurch aus den bis dahin engen Standesgrenzen zu befreien. 21 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss • • • • • Die Etablierung des ‚niederen Schulwesens’ ist eng verbunden mit dem Prozess der Durchsetzung der Schulpflicht. Da die breite Volksbildung ökonomisch zunächst weniger wichtig war als die qualifi-zierte Beamtenbildung, entwickelte sich das ‚niedere’ zeitlich erst nach dem ‚höheren’ Schulwesen und zwar in klar getrennten Institutionen nach streng verschiedenen Kriterien Die preußische „Volksschule“ war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Prinzip der gewollten Bildungsbegrenzung bestimmt Mit den drei Stiehl'schen Regulativen von 1854 wurde der Volksschulunterricht auf die elementaren Kulturtechniken und Religion beschränkt, zudem wurde die Volksschullehrerbildung so begrenzt, dass Lehrer kaum mehr als ihre späteren Schüler und Schülerinnen lernen durften. Damit war Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen wie generell im deutschsprachigen Raum ein ‚niederes’ Schulwesen entstanden, das mit seinem Konzept volkstümlicher Bildung einen Gegenentwurf zum Konzept humanistischer Bildung im Gymnasium darstellte. 22 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss • • • Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde diese Diskrepanz hinderlich. Ein ‚Modernitätsrückstand’ des Schulwesens löste Modernisierungs-schübe aus. Es entstehen weitere ‚Vollanstalten’ mit dem Recht der Vergabe der vollen Studienberechtigung wie das neusprachliche Realgymnasium und die mathematisch-naturwissenschaftliche Oberrealschule Die Gymnasien waren reine Jungenschulen, für die Mädchen gab es höhere „Töchterschulen“ ohne Studienberechtigung. Die Funktion dieser Schulen bestand in der Bildung bürgerlicher Hausfrauen. 23 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss • • • Der Prozess der Anpassung der Schulen und Lehrpläne an die gesellschaftliche Entwicklung betraf auch das niedere Schulwesen: Die Politik der rigiden Bildungsbegrenzung der Stiehlschen Regulative wurde 1872 deutlich gelockert Entstehung des dualen Berufsausbildungssystems mit Ausbildungsbetrieb und Schule und der Dauer von drei Jahren. Damit waren diese Jugendlichen vom 14. Lebensjahr an der staatlichen Beeinflussung entzogen. Der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner schlug daher vor, für die jungen Männer eine Pflichtberufsschule einzuführen, um sie durch die gemeinsame Erziehungsleistung von Arbeitsstätte und Schule für die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen. 24 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Die Sklerotisierung der Wilhelminischen Gesellschaft und die Kritik an der Schule als Untertanenfabrik erzeugten viele lebens- und schulreformerische Gegenbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts. Neben vielen anderen Bewegungsformen wird insbesondere die internationale Bewegung der Reformpädagogik prominent. Philosophischer Gewährsmann ist vor allem Friedrich Nietzsche (1844-1900) 25 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Die Reformpädagogik wendet sich gegen den Methodenformalismus, die Verengung auf den kognitiven Bereich, die Vernachlässigung der Ästhetik und gegen den autoritären Unterrichtsstil der „alten“ Schule. Sie will damit die Kluft zwischen Schule und Leben durch eine Pädagogik vom Kind aus verringern. Selbsttätigkeit, Selbstständigkeit, Spontanëität stehen im Mittelpunkt und sollen durch Projektmethode, Werkstätten, künstlerisches Gestalten gefördert werden. 26 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Die reformpädagogische Internationale 27 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Durch die Kombination von Leben und Lernen, Arbeitsschule, Projektmethode, Einbezug ästhetischer Elemente, Selbsttätigkeit und Selbstüberwindung, Schulgemeinschaft, altersübergreifende Lerngruppen, Tische und Stühle statt Bänke, Gruppenunterricht, Kursystem statt Fachsystematik, aber auch Fremd- und Selbstdisziplinierung wurden Konzepte zur Überwindung der Drill- und Disziplinarschule des 19. Jahrhunderts entwickelt, die bis in die Gegenwart fortwirken. 28 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Die Reformpädagogik war aber keine Alternative zur staatlichen Regelschule, da traditioneller, selektiver, disziplinierender und kontrollierender Schulunter-richt sowohl in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit lange noch die Regel blieb. Die auf ein vages Gemeinschaftsleben und romantisierende pädagogische Grundkonzeptionen bezogene Reformpädagogik besitzt neben allen Vorzügen durchaus auch antirationalistische und gegenaufklärerische Momente, die sie nicht zuletzt auch für faschistische Vorstellungen empfänglich machte. 29 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Nach ersten Weltkrieg beginnt mit der Weimarer Reichsverfassung der erneute Versuch, den Klassencharakter des Schulwesens abzuschaffen, um eine demokratische Schule in einer Demokratie zu verwirklichen Der Weimarer Schulkompromiss ist Ausdruck der politischen Machtverhältnisse, die nur einen Minimalkonsens gestatten, der aber als schulisches Pendant zu den demokratischen Grundrechten verstanden werden kann. Die bisher geltende Unterrichtspflicht wird zugunsten der Schulpflicht abgeschafft. Die Vorschulen der Gymnasien werden außer Kraft gesetzt Eine längere gemeinsame Schulzeit war politisch nicht durchzusetzen. Auch die Ausbildungsgänge der Lehrer an den Volksschulen, die jetzt allerdings zu einer Abiturientenkarriere wurden, und an den höheren Schulen bleiben weiterhin unterschiedlich. 30 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Schulstruktur vor 1919 Schulstruktur nach 1919 31 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Mit dem Weimarer Schulkompromiss hatten die Weimarer Parteien ihre gestalterische Kraft in der Schulpolitik erschöpft. Trotz aller sozialegalitären Symbolik des Nationalsozialismus hat er die auf dem Prinzip rigider Auslese beruhende Trennung der Schulformen nicht nur übernommen, sondern zum alternativlosen Modell der Schulung der Volksgemeinschaft gemacht. Das nationalsozialistische Regime nutzte das im deutschen Schulsystem verankerte Ausleseprinzip zur Durchsetzung der eigenen Ideologie, indem ihm eine zusätzliche rassistische Dimension angefügt wurde. Die nationalsozialistische Schul- und Hochschulpolitik wurde ab 1937 im Verlauf der beginnenden Kriegsvorbereitung modifiziert: Die bildungsbegrenzenden Maßnahmen wurden gelockert, die Betonung der Legitimations- gegenüber der Qualifikationsfunktion der Schule wurde abgeschwächt. 32 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Nach 1945 verordneten die alliierten Siegermächte den vier Zonen eine Demokratisierung auch des Bildungswesens. Die Demokratisierung des Schulwesens sah ökonomisch vor, allen Kindern den Zugang zu allen Schulen durch Schulgeld- und Lernmittelfreiheit sowie Unterstützungszahlungen zu ermöglichen. Organisatorisch sollte die Ganztagsschule eingeführt und die vertikale Drei-gliederung des Schulwesens durch eine horizontale Gliederung in Form von Gesamtschulen ersetzt werden. Inhaltlich sollte die Neuordnung des Schulwesens mit einer Revision der Curricula verbunden werden, um staatsbürgerliche Verantwortung und demokratische Lebensauffassung zu ermöglichen. Diese Neuordnungsvorstellungen versandeten im Zuge politischer Blockbildung relativ rasch in ökonomischer und politischer Restauration. 33 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Von 1965 bis 1989 war in der DDR das sozialistische Einheitsschulsystem etabliert, nach 1989 wurde dann das Schulsystem der DDR in seinen wesent-lichen Zügen strukturell und inhaltlich dem der Länder der BRD angepasst. Abweichungen finden sich in einzelnen der neuen Bundesländer im Vergleich zu den alten Bundesländern in der Schulstruktur. 34 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss 35 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Das Grundmodell des gegliederten, allgemeinbildenden Schulwesens blieb im Westen trotz des Ausbaus durch Gesamtschulen, die als vierte Säule dazu kamen, stabil, jedoch ging innerhalb dieses Rahmens in den letzten 50 Jahren eine erstaunliche Dynamik vonstatten. So ist die Hauptschule nicht mehr die Schule des Volkes. Während 1950 noch über 80% eines Altersjahrgangs nach der gemeinsamen Grundschulzeit die Volksschuloberstufe, die spätere Hauptschule, besuchten, sind es heute nur etwas mehr als 20 % im Durchschnitt. Weiterführende Schulen wie Gymnasien (32 %) und Realschulen (26 %) werden dagegen von der Mehrheit der Schüler und Schülerinnen besucht. Auf Schulen mit mehreren Bildungsgängen gehen knapp 10 % und auf Integrierte Gesamtschulen etwas mehr als 10 %. 36 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Erst mit dem „Sputnik-Schock“ 1959 setzt eine weltweite Bildungsdebatte ein, da mit der vermeintlich nachlassenden technologischen Innovationskraft im Westen ein Qualifikationsdefizit ausgemacht wurde. Aus ökonomischen Gründen wurde ebenso ein höheres Qualifikationsniveau gefordert wie aus demokratischen Ansprüchen – ‚Bildung ist Bürgerrecht’ (Ralf Dahrendorf). Aufgeschreckt durch statistische Untersuchungen über den relativen Schulbesuch im Verlauf der fünfziger Jahre sollten die brachliegenden „Begabungsreserven“ für höhere Schulabschlüsse genutzt werden, um die drohende „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) abzuwenden. 37 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Empirische Schulforschung der 60er Jahre machte Diskriminierungen im bestehenden Schulsystem deutlich. Benachteiligt waren Mädchen, Kinder aus ländlichen Gegenden, katholische Kinder und Jugendliche und Arbeiterkinder. Aus diesen Benachteiligungen setzte sich die Kunstfigur des Objekts schulpolitischer Reform zusammen: das katholische Arbeitermädchen vom Land. 38 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Seit den Zeiten der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre ist das katholische Bildungsdefizit ebenso verschwunden wie der Bildungsrückstand von Mädchen. Die regionalen Unterschiede der Bildungsbeteiligung sind weiterhin abhängig vom jeweiligen Schulangebot. Die Bildungschancen von Kindern mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund haben sich insofern verbessert, dass heute ein Arbeiterkind bei gleicher Leistungsfähigkeit zwar immer noch eine vierfach geringere Chance hat, ein Gymnasium zu besuchen als ein Kind aus der Mittel- und Oberschicht, aber im Vergleich zu den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland, in denen allenfalls eines von Hundert Arbeiterkindern die Reifeprüfung ablegte, ist auch hier ein, wenn auch geringerer Fortschritt zu verzeichnen. Die soziale Herkunft bestimmt also zwar nach wie vor die schulischen Chancen und damit den späteren Lebensweg, aber nicht mehr in dem Ausmaß wie vor der Bildungsexpansion Mitte des letzten Jahrhunderts. 39 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Von Chancengleichheit kann daher immer noch nicht gesprochen werden. Eine neue Symbolfigur für die Bildungsreform könnte heute der Stadtjunge mit Migrationshintergrund und prekärem sozialen Status sein. Schülerinnen und Schüler aller sozialer Gruppen besuchen zwar immer länger weiterführende Bildungsgänge, aber das Verhältnis der sozialen Milieus bleibt sehr stabil, die Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft ist weiterhin stark ausgeprägt und erhöhte Bildungschancen brechen sich an verminderten Berufs- und dann auch Einkommenschancen. Die Bildungsreform seit Comenius, Rousseau, Humboldt und den Reformpädagogen wird also weitergehen. 40 Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“ Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss Sehen Sie sich bitte den Ausschnitt aus Reinhard Kahls Film „Treibhäuser der Zukunft – Im Focus 5 Lernende Gesellschaft“ an und machen Sie sich bitte vor dem Hintergrund des eben Gehörten Gedanken darüber, was aus der Geschichte der Pädagogik für die Zukunft des Bildungswesens zu lernen sein kann. 41