Schwerpunkt 2: Erziehung und Bildung – ein geschichtlicher Abriss

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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“
Dr. Hans-Peter Gerstner / Markus Popp (29. 04. 2015)
Schwerpunkt 2:
Erziehung und Bildung – ein geschichtlicher Abriss
• Begrüßung - Organisatorisches
• Vortrag: Erziehung und Bildung – Eine Skizze der
Geschichte
• Filmausschnitt: Treibhäuser der Zukunft – Im Focus
5 Lernende Gesellschaft
• Arbeitsphase – Aussprache – Diskussion
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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Johann Amos Comenius (1592 – 1670): die Entdeckung der Schule als ein eigener
pädagogischer Kosmos. Comenius war einer der ersten Theoretiker der Schule, die
schulische Erziehung als ein sinnvolles und notwendiges Unterfangen am Beginn der
Neuzeit verstanden.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Grundgedanken des Comenius
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vierstufiges Gemeinschaftsschulwesen
Omnes - omnia – Omnino
Mit einer anderen Lernmethode im Unterricht
Comenius legt die Komplexität der Sinnenwelt so in einer zeitlichen Reihenfolge
auseinander, dass der Intellekt in seiner Entwicklung die Vielfalt der Sinnenwelt
immer klarer sehen kann, ohne davon verwirrt zu werden.
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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Im Titelkupfer der von Comenius verfassten Großen Didaktik (Deutsch zuerst 1657) kommt die
Ambition neuzeitlicher Pädagogik zum Ausdruck
„GROSSE DIDAKTIK
DIE VOLLSTÄNDIGE KUNST, ALLE MENSCHEN ALLES ZU LEHREN
oder
Sichere und vorzügliche Art und Weise, in allen Gemeinden, Städten und Dörfern eines jeden christlichen
Landes Schulen zu errichten, in denen die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts ohne jede Ausnahme
RASCH, ANGENEHM UND GRÜNDLICH
in den Wissenschaften gebildet, zu guten Sitten geführt, mit Frömmigkeit erfüllt und auf diese Weise in den
Jugendjahren zu allem, was für dieses und das künftige Leben nötig ist, angeleitet werden kann;
Worin von allem, wozu wir raten
die GRUNDLAGE in der Natur der Sache selbst gezeigt,
die WAHRHEIT durch Vergleichsbeispiele aus den mechanischen Künsten dargetan,
die REIHENFOLGE nach Jahren, Monaten, Tagen und Stunden festgelegt und schließlich
der WEG gewiesen wird, auf dem sich alles leicht und mit Sicherheit erreichen läßt.
ERSTES UND LETZTES ZIEL UNSERER DIDAKTIK SOLL ES SEIN,
die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die
Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß, und unnütze Mühe herrsche, dafür
mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt; in der Christenheit weniger Finsternis, Verwirrung und
Streit, dafür mehr Licht, Ordnung, Friede und Ruhe.“ (Comenius 1954, S.9)
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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
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Pädagogischer Optimismus: durch methodischen Königsweg der richtigen
Darstellungsweise der Lerninhalte soll der Lernerfolg von selbst kommen
„Wie ein sachverständiger Schreiber auf eine leere Tafel schreiben oder ein Maler
darauf malen kann, was er will, so kann der, welcher die Kunst des Lehrens
beherrscht, mit Leichtigkeit dem menschlichen Geist alles einprägen. Gelingt das
nicht, so ist es nur zu gewiß, daß nicht die Tafel schuld ist, die allenfalls etwas rauh
sein mag, sondern allein die Unfähigkeit des Schreibers oder Malers.“ (Comenius
1954, S.39)
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Damit werden die Grenzen jeglicher Pädagogik überschritten, denn es ist durch
die Methode keineswegs verbürgt, dass der Lernende die geistigen Schritte des
Lehrers nachvollzieht
Die „leere Tafel“ hat ein Eigenleben, das jeden Lernprozess auch methodisch zu
etwas Unerzwingbaren macht.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Nur in Rücksicht auf das Ganze kann Allen Alles gründlich gelehrt werden. Mit dem Wegfall des
Omnino – der göttlich verbürgten ganzen Weltordnung – wird die Didaktik des Comenius
grundlos.
Ohne den zugrunde liegenden Versöhnungsgedanken kann es zu einer erbarmungslosen
pädagogischen Maschine werden, in der alle Räder ineinander greifen müssen, um den
reibungslosen Fortgang des Unterrichts zu sichern.
Das einzelne Individuum braucht gegen die Intention des Comenius dabei nicht zu
Selbstbewusstsein zu kommen.
Als Begründer der Didaktik, erster Verfechter des Gleichheitsgedankens in der Schule und
Verfasser von Lehrbüchern wie dem Orbis Sensualium Pictus (1658) bleibt er aber im
Gedächtnis.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) entwirft mit seinem Buch Emile oder über die
Erziehung das Paradigma moderner europäischer Pädagogik.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Das Problem, für das Rousseau mit seinem Emile eine Lösung finden will, ist: wie ist
eine Erziehung, die zum Besseren führen soll, überhaupt denkbar?
„Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains
de l’homme. Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht;
alles entartet unter den Händen des Menschen.“
(Rousseau 1958, S. 11)
Erziehung als Instrument der Durchsetzung des Willens der Erwachsenengeneration
hat ihre Legitimität verloren. Die neue Erziehung ist in der Tatsache der kindlichen
Entwicklung und der ihr eigenen Würde verankert.
Kindsein ist eine Daseinsform des Menschen, die gegenüber dem Erwachsensein nicht
defizitär ist, sondern ihre Erfüllung und Reife in sich selbst findet.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Rousseaus Gedankenexperiment im Émile: wenn alles unter den Händen des
Menschen verdirbt, hat der Mensch auch die Möglichkeit, das Leben zum Besseren zu
wenden, wenn er die richtigen pädagogischen Prinzipien beherzigt.
Die Natur will nach Rousseau, dass die Kinder Kinder sind, ehe sie sich zu vernünftigen
Wesen entwickeln.
Konventionelle Erziehung ist nur an der Zukunft interessiert. Daher standardisiert sie
die Entwicklung des individuellen Kindes. Sie opfert das Glück der Gegenwart einer
ungewissen Zukunftsperspektive.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Oberste Aufgabe der Erzieher ist es, die Kinder zu beobachten und zu studieren, um zu
lernen, wie zu erziehen sei.
Folgerungen für Rousseau sind: Plastizität der kindlichen Natur, Schutzbe-dürftigkeit des
Kindes, Kindheit ist eigene Phase, das Kind ist selbsttätig, Empfindungen und
Sinneseindrücke sind vorherrschend, das Kind ist wißbegierig.
Phasen der Kindheit und des Jugendalters: 1. die Kindheit, 2. das Knabenalter, 3. die
Vorpubertät und 4. das Jünglingsalter. Alle Phasen enthalten die körperliche, emotionale,
soziale und kognitive Entwicklung des Kindes.
Drei Arten der Erziehung: durch die Natur, durch die Dinge, durch die Menschen.
Natur- und entwicklungsgemäße Erziehung und negative Erziehung unter Ausschluss aller
soziokulturellen Einflüsse in der Pädagogischen Provinz.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Erziehungsprinzipien im Emile
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Erziehung bedeutet Respekt und Anerkennung des kindlichen Eigen-lebens.
•
Erziehung muss alters- und entwicklungsgemäß sein.
•
Erziehung muss dafür Sorge tragen, dass das Kind eine Balance zwischen seinen
Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten herstellt.
•
Erziehung muss das Kind mit Gegenständen und Dingen konfrontieren, an denen
es Erfahrung sammeln kann.
•
Erziehung muss zeitlich offen angelegt sein, um dem Kind Zeit zur Entwicklung zu
geben.
•
Erziehung soll das Kind psychisch und physisch widerstandsfähig machen
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Inszenierung negativer Erziehung
Emile, Jean-Jacques und der Gärtner Robert
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die „natürliche“ Erziehung Émiles bleibt durch und durch pädagogisch inszeniert und
kunstvoll arrangiert, so dass er trotz aller Beteuerungen von Autonomie und
Selbstständigkeit eher wie eine Marionette im pädagogischen Kontroll-Theater seines
Erziehers Jean-Jacques wirkt.
„Er (der Zögling) möge stets glauben, er sei der Herr, aber ihr müßt es trotzdem sein.
Keine Unterwerfung ist so vollkommen, als die scheinbar freiwillige, denn man nimmt
den Willen selbst gefangen. Ist denn das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und
nichts kennt, nicht völlig in euren Händen? Verfügt ihr denn nicht über alles, was es
umgibt? Könnt ihr es nicht beeinflussen, wie ihr wollt? Sind nicht seine Arbeiten, seine
Spiele, sein Vergnügen und sein Ungemach in euren Händen, ohne daß es davon
weiß? Ohne Zweifel soll es nur das tun, was es selber will, aber es soll nichts wollen,
was ihr nicht von ihm wollt. Es darf nicht einen Schritt tun, den ihr nicht hättet
vorausgesehen, es darf nicht den Mund öffnen, ohne daß ihr wißt, was es sagen wird.“
(Rousseau 1958, S. 115)
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Bildungsreform zwischen Revolution und Restauration:
Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835)
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Sozialpolitischer Rahmen
Tiefe Krise des überkommenen feudalen, ständisch geordneten Gesellschaftssystems.
Folgerung: umfassende Verwaltungs- und Rechtsreform im Sinn einer sozialen,
ökonomischen und politischen Liberalisierung.
Betonung individueller Leistung und Initiative.
Den sozialpolitischen Reformen korrespondiert eine Reform des Bildungswesens.
Die modernisierte Schule soll den Bürgern die Grundausstattung für die zukünftige
Gesellschaft bieten.
Die individuelle Leistung sollte in Gesellschaft wie Schule wichtiger als die soziale
Herkunft werden.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Der Zweck des Menschen ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner
Kräfte zu einem Ganzen. Dazu bedarf es Freiheit und Mannig-faltigkeit der
Situationen
Humboldt will daher eine Leistungsschule, die für alle offen ist, und keine
Standesschule
Es gibt für ihn nur drei Stadien des Unterrichts: Elementarunterricht, Schulunterricht,
Universitätsunterricht.
Seine Forderungen:
• die größtmögliche Einheitlichkeit des Schulwesens und des Unterrichts
• ein gestuftes Schulsystem mit einheitlichen Anforderungen auf jeder Stufe
• ein horizontal gegliedertes Schulmodell, in dem der Übergang von der niederen
zur höheren Stufe prinzipiell allen Schülern möglich ist
• „allgemeine Menschenbildung“ soll kein soziales Privileg sein, sondern allen zu
Gute kommen
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
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Die Grenze des schulischen Unterrichts ist nicht die Herkunft oder der zukünftige
Beruf der Schüler, sondern die Grenze ist dort, wo subjektive Lernprozesse enden.
Dazu soll Lernen soll eine neue Bedeutung erhalten
Keine Übung mechanischer Lernroutinen, sondern das Kind soll das volle
Bewusstsein von dem haben, was es in jedem Augenblick hört, sagt und tut, und
warum so und nicht anders gehandelt wird
Dazu bedarf es diagnostischer Kompetenz der Lehrkräfte und sozialen Lernens
miteinander
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Kritik
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Die Bildungsreform war nur auf der administrativen Ebene erfolgreich
Vor allem die Elementarschulen blieben unterfinanziert
Der Widerstand des gutsherrlichen preußischen Junkertums bremste finanziell die
Schulreformpläne aus. Es sollte die finanziellen Mittel im Zuge einer Steuerreform
aufbringen, ohne davon zu profitieren. Weder wollte es seine eigenen Kinder in
die dürftig ausgestatteten Elementarschulen schicken, noch war es an einem
höheren Bildungsniveau seiner Bauern und Landarbeiter interessiert.
Sobald Humboldt schon 1810 die ersten Anzeichen obrigkeitlicher Be-schränkung
seiner Bildungspolitik verspürte, zog er sich konsequenterweise aus dem Amt
zurück.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Mit den Reformversuchen um 1800 wurde das schulische Lernen eine öffentliche,
allen zugängliche und zugleich verpflichtende Aufgabe
Dafür gibt es mehrere Ursachen:
auf der politischen Ebene verlangt der moderne Nationalstaat die Loyalität der Bürger
auf der ökonomischen Ebene erfordert der beginnende Kapitalismus eine über das
bisherige Maß weit hinausgehende Qualifizierung und
auf der kulturellen Ebene wird den Menschen eine säkularisierte Lebenshal-tung
abverlangt, die einen radikalen und schmerzhaften Bruch mit den eingelebten
Traditionen voraussetzt.
Schule soll die Menschen durch allgemeine Bildung auf das Leben in Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit vorbereiten
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich ein höheres Schulwesen etabliert, das durch zwei
Aspekte charakterisiert ist:
• das Berechtigungssystem
• Konzept der Allgemeinbildung
Folgen:
• Die Loyalität der durch Bildung aufgestiegenen Beamtenschaft wurde erzeugt und
gesichert.
• Die Qualifikation der ‚führenden’ Schichten wurde in staatlichen Institutionen
geleistet und durch den Staat kontrolliert.
• Die erfolgreiche Teilhabe an höherer Bildung ermöglichte den Söhnen des
Bürgertums, in Konkurrenz zu dem bis dahin privilegierten Adel zu treten und sich
dadurch aus den bis dahin engen Standesgrenzen zu befreien.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
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Die Etablierung des ‚niederen Schulwesens’ ist eng verbunden mit dem Prozess der
Durchsetzung der Schulpflicht.
Da die breite Volksbildung ökonomisch zunächst weniger wichtig war als die qualifi-zierte
Beamtenbildung, entwickelte sich das ‚niedere’ zeitlich erst nach dem ‚höheren’ Schulwesen
und zwar in klar getrennten Institutionen nach streng verschiedenen Kriterien
Die preußische „Volksschule“ war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Prinzip der
gewollten Bildungsbegrenzung bestimmt
Mit den drei Stiehl'schen Regulativen von 1854 wurde der Volksschulunterricht auf die
elementaren Kulturtechniken und Religion beschränkt, zudem wurde die Volksschullehrerbildung so begrenzt, dass Lehrer kaum mehr als ihre späteren Schüler und
Schülerinnen lernen durften.
Damit war Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen wie generell im deutschsprachigen Raum
ein ‚niederes’ Schulwesen entstanden, das mit seinem Konzept volkstümlicher Bildung einen
Gegenentwurf zum Konzept humanistischer Bildung im Gymnasium darstellte.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
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Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde diese Diskrepanz hinderlich. Ein
‚Modernitätsrückstand’ des Schulwesens löste Modernisierungs-schübe aus.
Es entstehen weitere ‚Vollanstalten’ mit dem Recht der Vergabe der vollen
Studienberechtigung wie das neusprachliche Realgymnasium und die
mathematisch-naturwissenschaftliche Oberrealschule
Die Gymnasien waren reine Jungenschulen, für die Mädchen gab es höhere
„Töchterschulen“ ohne Studienberechtigung. Die Funktion dieser Schulen bestand
in der Bildung bürgerlicher Hausfrauen.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
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Der Prozess der Anpassung der Schulen und Lehrpläne an die gesellschaftliche
Entwicklung betraf auch das niedere Schulwesen: Die Politik der rigiden
Bildungsbegrenzung der Stiehlschen Regulative wurde 1872 deutlich gelockert
Entstehung des dualen Berufsausbildungssystems mit Ausbildungsbetrieb und
Schule und der Dauer von drei Jahren.
Damit waren diese Jugendlichen vom 14. Lebensjahr an der staatlichen
Beeinflussung entzogen. Der Reformpädagoge Georg Kerschensteiner schlug
daher vor, für die jungen Männer eine Pflichtberufsschule einzuführen, um sie
durch die gemeinsame Erziehungsleistung von Arbeitsstätte und Schule für die
staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Sklerotisierung der Wilhelminischen Gesellschaft und die Kritik an der Schule als
Untertanenfabrik erzeugten viele lebens- und schulreformerische Gegenbewegungen
Ende des 19. Jahrhunderts. Neben vielen anderen Bewegungsformen wird
insbesondere die internationale Bewegung der Reformpädagogik prominent.
Philosophischer Gewährsmann ist vor allem
Friedrich Nietzsche (1844-1900)
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Reformpädagogik wendet sich gegen
den Methodenformalismus,
die Verengung auf den kognitiven Bereich,
die Vernachlässigung der Ästhetik und
gegen den autoritären Unterrichtsstil der „alten“ Schule.
Sie will damit die Kluft zwischen Schule und Leben durch eine Pädagogik vom Kind aus
verringern.
Selbsttätigkeit, Selbstständigkeit, Spontanëität stehen im Mittelpunkt und sollen durch
Projektmethode, Werkstätten, künstlerisches Gestalten gefördert werden.
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Die reformpädagogische Internationale
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Durch die Kombination von Leben und Lernen, Arbeitsschule, Projektmethode,
Einbezug ästhetischer Elemente, Selbsttätigkeit und Selbstüberwindung,
Schulgemeinschaft, altersübergreifende Lerngruppen, Tische und Stühle statt Bänke,
Gruppenunterricht, Kursystem statt Fachsystematik, aber auch Fremd- und
Selbstdisziplinierung wurden Konzepte zur Überwindung der Drill- und
Disziplinarschule des 19. Jahrhunderts entwickelt, die bis in die Gegenwart fortwirken.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Die Reformpädagogik war aber keine Alternative zur staatlichen Regelschule, da
traditioneller, selektiver, disziplinierender und kontrollierender Schulunter-richt
sowohl in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit
lange noch die Regel blieb.
Die auf ein vages Gemeinschaftsleben und romantisierende pädagogische
Grundkonzeptionen bezogene Reformpädagogik besitzt neben allen Vorzügen
durchaus auch antirationalistische und gegenaufklärerische Momente, die sie nicht
zuletzt auch für faschistische Vorstellungen empfänglich machte.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Nach ersten Weltkrieg beginnt mit der Weimarer Reichsverfassung der erneute
Versuch, den Klassencharakter des Schulwesens abzuschaffen, um eine demokratische
Schule in einer Demokratie zu verwirklichen
Der Weimarer Schulkompromiss ist Ausdruck der politischen Machtverhältnisse, die
nur einen Minimalkonsens gestatten, der aber als schulisches Pendant zu den
demokratischen Grundrechten verstanden werden kann.
Die bisher geltende Unterrichtspflicht wird zugunsten der Schulpflicht abgeschafft.
Die Vorschulen der Gymnasien werden außer Kraft gesetzt
Eine längere gemeinsame Schulzeit war politisch nicht durchzusetzen. Auch die
Ausbildungsgänge der Lehrer an den Volksschulen, die jetzt allerdings zu einer
Abiturientenkarriere wurden, und an den höheren Schulen bleiben weiterhin
unterschiedlich.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Schulstruktur vor 1919
Schulstruktur nach 1919
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Mit dem Weimarer Schulkompromiss hatten die Weimarer Parteien ihre gestalterische Kraft in
der Schulpolitik erschöpft.
Trotz aller sozialegalitären Symbolik des Nationalsozialismus hat er die auf dem Prinzip rigider
Auslese beruhende Trennung der Schulformen nicht nur übernommen, sondern zum
alternativlosen Modell der Schulung der Volksgemeinschaft gemacht.
Das nationalsozialistische Regime nutzte das im deutschen Schulsystem verankerte
Ausleseprinzip zur Durchsetzung der eigenen Ideologie, indem ihm eine zusätzliche rassistische
Dimension angefügt wurde.
Die nationalsozialistische Schul- und Hochschulpolitik wurde ab 1937 im Verlauf der beginnenden
Kriegsvorbereitung modifiziert: Die bildungsbegrenzenden Maßnahmen wurden gelockert, die
Betonung der Legitimations- gegenüber der Qualifikationsfunktion der Schule wurde
abgeschwächt.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Nach 1945 verordneten die alliierten Siegermächte den vier Zonen eine
Demokratisierung auch des Bildungswesens.
Die Demokratisierung des Schulwesens sah ökonomisch vor, allen Kindern den
Zugang zu allen Schulen durch Schulgeld- und Lernmittelfreiheit sowie
Unterstützungszahlungen zu ermöglichen.
Organisatorisch sollte die Ganztagsschule eingeführt und die vertikale Drei-gliederung
des Schulwesens durch eine horizontale Gliederung in Form von Gesamtschulen
ersetzt werden.
Inhaltlich sollte die Neuordnung des Schulwesens mit einer Revision der Curricula
verbunden werden, um staatsbürgerliche Verantwortung und demokratische
Lebensauffassung zu ermöglichen.
Diese Neuordnungsvorstellungen versandeten im Zuge politischer Blockbildung relativ
rasch in ökonomischer und politischer Restauration.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Von 1965 bis 1989 war in der DDR das sozialistische Einheitsschulsystem etabliert, nach
1989 wurde dann das Schulsystem der DDR in seinen wesent-lichen Zügen strukturell und
inhaltlich dem der Länder der BRD angepasst. Abweichungen finden sich in einzelnen der
neuen Bundesländer im Vergleich zu den alten Bundesländern in der Schulstruktur.
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Das Grundmodell des gegliederten, allgemeinbildenden Schulwesens blieb im Westen
trotz des Ausbaus durch Gesamtschulen, die als vierte Säule dazu kamen, stabil,
jedoch ging innerhalb dieses Rahmens in den letzten 50 Jahren eine erstaunliche
Dynamik vonstatten.
So ist die Hauptschule nicht mehr die Schule des Volkes. Während 1950 noch über
80% eines Altersjahrgangs nach der gemeinsamen Grundschulzeit die
Volksschuloberstufe, die spätere Hauptschule, besuchten, sind es heute nur etwas
mehr als 20 % im Durchschnitt.
Weiterführende Schulen wie Gymnasien (32 %) und Realschulen (26 %) werden
dagegen von der Mehrheit der Schüler und Schülerinnen besucht. Auf Schulen mit
mehreren Bildungsgängen gehen knapp 10 % und auf Integrierte Gesamtschulen
etwas mehr als 10 %.
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Erst mit dem „Sputnik-Schock“ 1959 setzt eine weltweite Bildungsdebatte ein, da mit der
vermeintlich nachlassenden technologischen Innovationskraft im Westen ein
Qualifikationsdefizit ausgemacht wurde.
Aus ökonomischen Gründen wurde ebenso ein höheres Qualifikationsniveau gefordert wie aus
demokratischen Ansprüchen – ‚Bildung ist Bürgerrecht’ (Ralf Dahrendorf).
Aufgeschreckt durch statistische Untersuchungen über den relativen Schulbesuch im Verlauf der
fünfziger Jahre sollten die brachliegenden „Begabungsreserven“ für höhere Schulabschlüsse
genutzt werden, um die drohende „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) abzuwenden.
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Empirische Schulforschung der 60er Jahre machte Diskriminierungen im bestehenden
Schulsystem deutlich. Benachteiligt waren Mädchen, Kinder aus ländlichen Gegenden,
katholische Kinder und Jugendliche und Arbeiterkinder. Aus diesen Benachteiligungen
setzte sich die Kunstfigur des Objekts schulpolitischer Reform zusammen:
das katholische Arbeitermädchen vom Land.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Seit den Zeiten der Bildungsexpansion der 60er und 70er Jahre ist das katholische
Bildungsdefizit ebenso verschwunden wie der Bildungsrückstand von Mädchen.
Die regionalen Unterschiede der Bildungsbeteiligung sind weiterhin abhängig vom
jeweiligen Schulangebot.
Die Bildungschancen von Kindern mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund haben
sich insofern verbessert, dass heute ein Arbeiterkind bei gleicher Leistungsfähigkeit
zwar immer noch eine vierfach geringere Chance hat, ein Gymnasium zu besuchen als
ein Kind aus der Mittel- und Oberschicht, aber im Vergleich zu den Gründerjahren der
Bundesrepublik Deutschland, in denen allenfalls eines von Hundert Arbeiterkindern
die Reifeprüfung ablegte, ist auch hier ein, wenn auch geringerer Fortschritt zu
verzeichnen.
Die soziale Herkunft bestimmt also zwar nach wie vor die schulischen Chancen und
damit den späteren Lebensweg, aber nicht mehr in dem Ausmaß wie vor der
Bildungsexpansion Mitte des letzten Jahrhunderts.
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Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Von Chancengleichheit kann daher immer noch nicht gesprochen werden. Eine neue
Symbolfigur für die Bildungsreform könnte heute der Stadtjunge mit
Migrationshintergrund und prekärem sozialen Status sein.
Schülerinnen und Schüler aller sozialer Gruppen besuchen zwar immer länger
weiterführende Bildungsgänge, aber das Verhältnis der sozialen Milieus bleibt sehr
stabil, die Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft ist weiterhin stark ausgeprägt
und erhöhte Bildungschancen brechen sich an verminderten Berufs- und dann auch
Einkommenschancen. Die Bildungsreform seit Comenius, Rousseau, Humboldt und
den Reformpädagogen wird also weitergehen.
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Vorlesung „Einführung in die Bildungswissenschaft“
Erziehung und Bildung – ein historischer Abriss
Sehen Sie sich bitte den Ausschnitt aus Reinhard Kahls Film
„Treibhäuser der Zukunft – Im Focus 5 Lernende Gesellschaft“ an
und machen Sie sich bitte vor dem Hintergrund des eben
Gehörten Gedanken darüber, was aus der Geschichte der
Pädagogik für die Zukunft des Bildungswesens zu lernen sein
kann.
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Zugehörige Unterlagen
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