Mitgefühl – Risiken und Nebenwirkungen aus westlicher und buddhistischer Perspektive Vortrag von Ulrich Küstner Tagungsbeitrag zur 5. Tagung des Arbeitskreises Buddhismus und Psychotherapie der Buddhistischen Akademie Berlin Brandenburg Thema: Zwischen Mitgefühl und Burnout 26. – 27. Aug. 2006 in Berlin-Wannsee Urheberrecht: Sofern nicht anders angegeben, steht dieses Werk unter einer Creative Commons-Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany-Lizenz (CC BY-NC-ND 3.0 DE) Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung Mitgefühl - Risiken und Nebenwirkungen aus westlicher und buddhistischer Perspektive Ulrich Küstner Vorbemerkung In der Psychotherapie gibt es schon länger ein Umdenken, weg von einer Betonung der Symptome, der Pathologie, der Defizite, hin zu einem ressourcenorientierten Denken und einer neuen Bewertung des Nutzens positiver Emotionen und Haltungen. Aus buddhistischer Sicht ist dies eine gute Entwicklung. Sie entspricht dem, was schon seit 2500 Jahren buddhistische Lehre ist. Eine bekannte, kurze Zusammenfassung der Lehre des Buddha ist folgender Ausspruch: "Tue das Gute, Meide das Negative, Schau immer in den eigenen Geist, das ist die Lehre des Buddha." Die praktische Erfahrung zeigt, dass nicht wenige Menschen dies folgendermaßen verstehen: "Sei immer nur lieb und mitfühlend, unterdrücke jeden Ärger und jede Wut, und pflege exzessive Selbstbeobachtung." Weder der Buddha noch die nach ihm kommenden buddhistischen Lehrer waren naiv oder eindimensional. Ihre primäre Intention war weder moralisch noch ordnungspolitisch, sondern emanzipatorisch und damit letztlich revolutionär. Falsch verstandenes "Gutes" kann uns und unseren Klienten mehr schaden als nützen. Die These dieses Beitrags ist: Universelles Mitgefühl ist wunderbar, AlltagsMitgefühl kann krankmachen. Verbale, intellektuelle Begriffsdefinitionen reichen genauso wenig wie stures Üben, um das Problem zu lösen. Denn es geht um Erfahrungen und Haltungen, die den ganzen Menschen umfassen. Nur das Zusammenspiel von Üben, Beobachten, Lernen und Denken hilft uns, persönliche Sackgassen zu vermeiden. Und wenn wir gleichzeitig westliche Psychologie, Physiologie und buddhistische Lehren berücksichtigen, können wir vielleicht leichter verstehen, was geschieht. TEIL 1 Risiken und Nebenwirkungen aus westlicher Sicht Mitgefühl ist ein zentrales Konzept des Mahayana-Buddhismus. In allen Hochreligionen wird Mitgefühl als Tugend hochgehalten und eingefordert. Im Buddhismus wird es darüber hinaus auch als Weg zum Ziel gesehen. Mitgefühl und Weisheit sind zwei Aspekte von Bodhicitta, der Geisteshaltung, von der der tibetische Meister Patrul Rinpoche (19. Jh.) sagte, sie wäre der "einzige Weg zur Erleuchtung, den alle Buddhas gingen". Unter verschiedenen Namen und Bezeichnungen nimmt Mitgefühl auch in der Psychotherapie eine zentrale Rolle ein. Carl Rogers beschreibt in den drei zentralen Therapeuteneigenschaften die Empathie. Campbell Purton und David Brazier denken dies weiter und sehen Empathie als karuna, bedingungsfreie Akzeptanz als maitri und Echtheit als prajna, und somit als die direkten Gegenstücke der Geistesgifte Hass, Gier, und Verblendung. Fast alle Psychotherapeuten sind sich einig darüber, daß ohne ein gewisses Maß an Empathie eine Therapie nicht möglich ist. Mitgefühl ist jedoch nicht nur etwas, das Therapeuten freiwillig und aus eigenem inneren Antrieb erbringen oder zumindest anstreben, sondern etwas, was Patienten, Klienten und Institutionen erwarten und einfordern. Von Psychotherapeuten und Ärzten wird selbstverständlich erwartet, daß sie weiter mitfühlend und aufopfernd behandeln, auch wenn sie nur schlecht oder für einen Teil ihrer Arbeit bezahlt werden. Wir werden wohl nicht mehr lange darauf warten müssen, daß Empathie und Mitgefühl im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen eingefordert werden. Mitgefühl wird auch als ethischer Imperativ und moralische Keule gebraucht, als selbstverständlich eingesetztes Mittel, um aus Angestellten und Mitarbeitern Arbeitsleistung herauszuholen. Diese komplexe Mischung gilt es zu entflechten, wenn wir uns und anderen nutzen, und nicht schaden, wollen. Buddhistisch orientierte PsychotherapeutInnen stehen zusätzlich unter Druck, unter Mitgefühls-Druck: Wahrscheinlich bringen sie eine natürliche Neigung dazu mit, die schon bei der Berufswahl eine Rolle spielte. Dann sagen Buddha und buddhistische Lehrer, daß sie Mitgefühl entwickeln müssen, erstens als ethische Forderung und zweitens als Weg, ohne den sie ihr Ziel nicht erreichen. Dann wird Mitgefühl als Teil ihrer Berufsbeschreibung von der Gesellschaft erwartet und von Patienten und Institutionen eingefordert. Und zuletzt gibt es noch einen subtilen sozialen Druck unter Buddhisten, der Achtsamkeit, Mitgefühl und was nicht sonst noch alles erwartet. Es genügt, sich verschiedene Sanghas und buddhistische Gruppen und deren Umgang miteinander anzuschauen, um zu wissen daß in jedem dieser buddhistischen Kontexte nur ein gewisses Ausmaß an Ärger, Frustration, Äußerungen von Zweifeln oder depressiver Stimmungslage zugelassen ist. Der Gruppenerwartung zuwiderlaufendes eigenes Erleben ist oft nur in engen Grenzen verbalisierbar oder gar lebbar. Es ist nicht verwunderlich, daß Therapeuten mit verschiedenen Bewältigungs- und Abwehrmechanismen reagieren, oder diesem Druck nicht standhalten und ausbrennen. Der angebliche Zynismus der Ärzte ist legendär, über die Hilflosen Helfer schrieb Schmidbauer bereits 1977. Im angelsächsischen Sprachraum wurde der Begriff "compassion fatigue" von Figley 1995 geprägt. Es ist einleuchtend, daß solche Entwicklungen niemandem nützen und auch nicht das sein können, was buddhistische Lehrer mit ihrer Betonung von Mitgefühl erreichen wollen. Aber nutzt es uns, dann einfach noch intensiver zu meditieren, mehr buddhistische Texte studieren und "Mitgefühl zu üben", damit es dann wieder besser wird? Oder besteht eher die Gefahr, Fehlentwicklungen zu zementieren und über lange Zeit in schmerzlichen und unfruchtbaren Geisteshaltungen und Verhaltensschleifen zu verweilen? Die biologische Basis von Mitgefühl Mitgefühl ist eine Eigenschaft, die Menschen und vielen anderen Wesen grundlegend und biologisch eingebaut ist. Aber wie konnten Mitgefühl und Altruismus entstehen, in einer Welt, die doch angeblich auf unerbittlicher "Darwinistischer Auslese" beruht, auf dem Gesetz des Stärkeren? In der Evolution können sich nur Eigenschaften entwickeln, die einen Überlebensvorteil vermitteln. Wie konnten sich ethisch "gute" Verhaltensweisen entwickeln, wie Mitgefühl, wie Altruismus? Anders gefragt: Warum gewinnen nicht immer die skrupellosen Bösen? Oder: Warum legen wir im Straßencafé beim Gehen unser Geld hin, sogar Trinkgeld, auch in einer fremden Stadt wo uns niemand kennt? Neuere Forschungen zeigen, dass Überleben der Art und Überleben des Individuums nur scheinbar ein Zielkonflikt sind. Kein Individuum überlebt ohne seine Art. Innerhalb eines Systems nutzt Altruismus durchaus den Guten, besonders wenn sie zusammenleben (statt unter den "Bösen" verstreut zu sein). Die Biologen Maturana und Varela beschreiben in ihrem Buch "Der Baum der Erkenntnis", wie Bewußtsein aus biologischer Sicht entsteht, wie strukturelle Vorgaben und Kopplung in der phylogenetischen Drift, die wir "Evolution" nennen, zu Bewusstsein werden. Unser selbstreflektorisches Bewußstein basiert auf Sprache, und Sprache beruht auf Koevolution, auf der gemeinsamen Entwicklung von Nervensystemen in einem Netz von anderen, sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese. Wir könnten kein Ich sein, es sei denn in Koevolution. Wissen und Selbstbewußtsein gibt es nur durch andere und die Koevolution mit ihnen. In Wissen, Denken, Sprechen, ist Mitgefühl eingebaut, weil es ohne die Verbundenheit mit zahllosen anderen Wesen in Vergangenheit und Gegenwart nicht da sein könnte. Und tief in uns wissen wir das, und dieses Wissen vom Wissen ist zwingend. Es gibt keine Nervensysteme, die selbstreflexiv denken und sprechen können ohne eingebautes Mitgefühl. Überspitzt gesagt: Wir helfen anderen, weil es Nervensysteme gibt. Neurophysiologie im Therapiezimmer (Zitate aus Babette Rothschild: "Help for the Helper" 2006) Wir werden geboren mit der Fähigkeit, das zu erleben was andere erleben, und an der Erfahrung anderer teilzunehmen, durch die Art und Weise wie wir von deren Nervensystem ergriffen werden. Eine der wirklichen Fragen ist nicht: wie in aller Welt geschieht dieses? Denn wir fangen an, die Mechanismen immer besser zu verstehen. Die wirkliche Frage ist: wie sorgen wir dafür, daß es aufhört, so daß wir nicht die ganze Zeit die Gefangenen von jemandem anderes Nervensystem sind. Es muß eine Menge Bremsen in diesem System geben, und in aller Wahrscheinlichkeit wird dieses ein sehr interessanter Forschungsbereich, mit dem sich bislang noch kaum jemand beschäftigt hat. (Daniel N. Stern 2002) Kurz zusammengefasst: Alle Emotionen sind ansteckend. Dies ist eine Funktion von Empathie, wobei Empathie ein Begriff ist, über den es nur eine einzige Einigkeit gibt: daß keiner sich darüber einig ist, was Empathie ist. Was Therapeuten in der Praxis Probleme bereitet, ist nicht Empathie an sich, sondern unbewusste Empathie, das heißt Empathie-Prozesse, die außerhalb des Bewusstseins der Therapeuten ablaufen und somit auch außerhalb ihrer Kontrolle. Wir könnten es auch emotionale Ansteckung nennen. Schon Georg Groddeck sprach von psychischer Ansteckung. Mechanismen emotionaler Ansteckung Wir alle kennen das reflektorische Lächeln als Antwort auf das Lächeln von jemand anderem, oder die Ansteckungsfähigkeit von Gähnen. Wenn Gesichtsausdrücke, die bestimmte Emotionen ausdrücken, nachgeahmt werden, kann es vorkommen, daß beide das gleiche Gefühl erleben. Dies basiert auf der afferenten Rückkopplung innerer Körperwahrnehmungen und ist verwandt mit Damasios Theorie der Somatischen Marker. Neurobiologische Grundlage scheinen die sogenannten Spiegelneurone zu sein. Italienische Forscher um Gallese und Rizzolatti (1996) stellten fest, dass die Neuronen, die feuern, wenn ein Affe eine Traube selbst ergreift, in gleicher Weise aktiv sind, wenn er nur beobachtet, wie der Forscher eine ähnliche Greifbewegung macht. Das Broca-Areal, das Sprachzentrum des Menschen, ist gleichermaßen verantwortlich für die Produktion von Sprache wie für die Produktion von Gesten (vgl. mudra). Es wird inzwischen davon ausgegangen, daß die Sprachentwicklung bei Menschen sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese zunächst auf Gesten basiert (Arbib, Rizzolatti, zur Sprachentwicklung bei Primaten). Aber nicht nur Gesten, sondern auch Körperhaltungen und vor allen Dingen Atemmuster übertragen sich auf andere, die sie wahrnehmen, von Körper zu Körper. Wir fangen uns Gesten und Körperhaltungen ein so wie wir uns einen Schnupfen einfangen. In gewissem Sinne ist emotionale Ansteckung eine unvermeidliche Konsequenz menschlicher Interaktion (Hatfield 1992). Dazu gibt es inzwischen unzählige Untersuchungen. Menschen, die Filme und Videos anschauen, kopieren unbewusst die Gesichtsausdrücke der Schauspieler. Auch die Alltagsbeobachtung, dass langjährige Paare sich einander auch körperlich immer mehr ähneln, ist inzwischen durch Untersuchungen untermauert. Offensichtlich ahmen wir Gesichtsausdruck und Körperhaltung des anderen gewohnheitsmäßig und unbewußt so lange nach, bis es tatsächlich zu von außen beobachtbaren körperlichen Veränderungen kommt. Z. B. wurde beobachtet, dass die ursprünglich nicht eingeschränkten Partner von Behinderten oft die reduzierten Bewegungsmuster ihrer behinderten Partner übernehmen. Die positive Seite davon ist: wenn wir die Gesten, Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen von anderen übernehmen, können wir sie besser verstehen. Wenn dies experimentell in Laboruntersuchungen durchgeführt wurde, erahnten die Probanden oft Informationen von denen, die sie nachahmten, in einer Art und Weise, die fast wie Gedankenlesen erscheint. Auch das Nachahmen von Gangmustern vermittelt außerordentlich viele Informationen ("in jemandes Schuhen gehen"). Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten kopieren unbewußt Gesichtsausdrücke, Atemmuster und Haltungen ihrer Klienten, sowohl im Versuch, sie besser zu verstehen, als auch um durch dieses Spiegeln ihr Verstehen auszudrücken. Oft sind sie sich nicht bewußt, welchen Preis sie dafür zahlen müssen. Selbstverständlich sind diese Vorgänge den Psychotherapeuten nicht unbekannt. Andere Begrifflichkeiten dafür sind z.B. Gegenübertragung und projektive Identifikation. Ich möchte hier nicht in eine Diskussion tiefenpsychologischer Begriffe einsteigen, sondern nur soviel sagen, daß es bei den hier beschriebenen Vorgängen nicht darum geht, dem Klienten ein bewußtes oder unbewußtes Tun zuzuschreiben, das dann mich als Therapeuten erfasst. Es ist nicht so gemeint, daß der Klient mich zum Mitspielen in seinem Drama bringt, sondern es ist mein eigenes Spiegeln von Haltungen, Gesten, Bewegungs- und Atemmustern, das bestimmte Gefühle und Gedanken in mir erzeugt. Diese Ansteckung kann kontrolliert werden. Durch die Emotion eines anderen Menschen beeinflußt zu werden, ist nicht dasselbe, wie anzunehmen, daß diese Emotion in mir hervorgerufen oder in mich hereingebracht wird. Letzteres sind zwar bei Therapeuten verbreitete Hypothesen, die uns aber zu Opfern machen und den Klienten die Schuld und die Verantwortlichkeit zuschieben. Damit wird die Auflösung viel schwieriger. Wenn wir aber verstehen, daß es Phänomene von Resonanz und Mitschwingen sind, brauchen wir keine Schuldzuweisung, um sie kontrollieren und verhindern zu können. Wir können sie zwar nutzen, um die andere Person besser zu verstehen, und dann aber auch etwas unternehmen, um das Übergreifen auf unsere Gefühle und Körper zu unterbinden. Die Folgen der Ansteckung Was passiert, wenn wir das Leiden der Patienten in unserem Nervensystem miterleben, ist nicht Mitgefühl, sondern unbewußte, unbeherrschte Ansteckung. Die langfristigen Auswirkungen sind den Therapeuten wohlvertraut: Burn-Out, sekundäre Traumatisierung usw. Compassion fatigue (Figley 1995) ist ein übergreifender Begriff, der für alle angewendet werden kann, die infolge des Tätigseins in einer helfenden Beziehung leiden. Burn-Out ist, wenn bereits die eigene Gesundheit oder die Betrachtungsweise des Lebens allgemein zum Negativen verändert ist. Babette Rothschild schreibt: Um so besser wir für uns selber Sorge tragen und unsere eigenen professionellen Grenzen wahren, desto besser werden wir in der Lage sein, wirklich emphatisch, mitfühlend und nützlich für unsere Klienten zu sein. Therapeutische Selbstsorge erfordert, dass zumindest drei psychologische Systeme gut funktionieren. Das erste sind die Mechanismen zur Herstellung interpersonaler Empathie. Das zweite ist Ausgewogenheit im autonomen Nervensystem und seinem Erregungszustand. Das dritte ist Aufrechterhalten von klarem Denken, letztlich ein ausgewogenes Funktionieren aller Strukturen. Praktische Hilfen Interpersonale Empathie-Mechanismen kontrollieren Wir können uns üben in der Bewusstheit unseres Gesichtsausdrucks und unserer Körperhaltung, und des Ausmasses, in welchem wir diese übernehmen oder nicht übernehmen. Wir können Gesichtsausdrücke unserer Klienten spiegeln oder auch nicht. Das gleiche gilt für Körperhaltungen oder Atemmuster. Allerdings geht das nicht ohne vorherige Übung. Leichter ist vielleicht das sogenannte unmirroring – „Ent“spiegeln - also bewusst zum Klienten gegenläufige Gesichtsausdrücke oder Körperhaltungen einzunehmen. Ruhig bleiben Das vegetative, autonome Nervensystem ist in gewissem Sinn ein Stiefkind der modernen Neurophysiologie geworden. Das Wissen darüber ist schon so alt, dass wir es fast schon wieder vergessen. Bonnita Wirth (2004) berichtet von ihrer eigenen Lebenserfahrung, als sie nach 32 Jahren aktiver Psychotherapie aus Karrieregründen in die Verwaltung ging. Sie hatte vorher über Jahrzehnte kurz und unruhig geschlafen, ohne daß sie je das Gefühl hatte, ihren Beruf nicht gern zu machen, ihre Klienten nach Hause mitzunehmen, von deren Leiden beeinträchtigt zu sein, oder gar in irgend einer Weise unter Burnout zu leiden. Ein Jahr nach dem Wechsel in die Verwaltung schlief sie besser, als sie in drei Jahrzehnten zuvor geschlafen hatte und konnte problemlos lange und ruhig durchschlafen. Und das war eine Therapeutin, der es noch gut ging in ihrem Beruf! Wir sind anfällig für Mitgefühls-Erschöpfung, wenn wir den Zustand unseres eigenen Körpers und Geistes nicht sehr gut spüren. Speziell müssen wir lernen, autonome Erregung zu erkennen. Das nächste, das wir erkennen müssen, ist dass Entspannung ein vielschichtiger Begriff ist. Ruhig und entspannt ist nicht unbedingt dasselbe! Es gibt Menschen, bei denen Entspannung Angst verstärkt. Entspannung ist nicht unbedingt und nicht bei allen Menschen mit niedrigem Muskeltonus gleichzusetzen. Für viele ist eine richtige Spannung in bestimmten Muskelbereichen eine gute Art und Weise bei sich zu bleiben, den eigenen Körper zu spüren, die Übernahme fremder Gefühle zu unterbinden und ein Gefühl für die eigene Stärke zu bekommen. Es gibt eine Vielzahl umgangssprachlicher Ausdrücke, die dieses beschreiben: kein Rückgrat haben, schwach in den Knien werden, Probleme damit zu haben, auf den eigenen Beinen zu stehen, Schwierigkeiten zu haben beieinander zu bleiben, sich zusammennehmen. Es gibt zahlreiche Übungen zur Steigerung des Muskeltonus in bestimmten Bereichen, die gleichzeitig eine positive seelische Auswirkungen haben durch sensorische Verankerung. Beispiele: Wahrnehmung des Raums, unsere Brust stärken, unsere Haut spürbar und fest zu machen, mit den Augen wegschieben, Bewusstheit unserer Körpergrenzen. Weitere nützliche Mechanismen sind die Kontrolle empathischer Imagination, also der ungewollten Bilder, die durch die Erzählungen unserer Klienten in uns wachgerufen werden, und die Kontrolle unserer automatischen Gedanken (wir raten es unseren Klienten, für uns selber wäre es auch gut!). Klar denken Gemeint ist die Stärkung des rationalen Denkens gegenüber den automatischen Reaktionen. Das neurophysiologische Problem ist, daß die Amygdala auch noch einige Zeit weiterfeuert, nachdem die Gefahr vorbei ist. Kontrolliert wird sie durch den Hippocampus, der die Informationen an die Hirnrinde weitergibt und so eine rationale Bewertung erlaubt. Der Hippocampus ist jedoch selber sehr anfällig gegenüber den Stresshormonen, die die Amygdala weiter ausschüttet. Vereinfacht ausgedrückt, müssen wir dafür sorgen, dass unser Hippocampus, die Informationszentrale, ausreichend funktionieren kann. Wir müssen ihn vor Stresshormonen schützen. Das gleiche gilt für das Broca-Areal, unser Sprachzentrum, das uns hilft, Erfahrungen in Worte zu fassen. Auch dies wird durch Stresshormone beeinträchtigt. Aus Damasios Theorie der Somatischen Marker folgt, dass wir nur dann gute, rationale Entscheidungen fällen können, wenn wir die Konsequenzen dieser Entscheidung in unserem Körper spüren können. Das gelingt jedoch nicht, wenn wir von Stresshormonen überschwemmt sind. Was können wir praktisch tun: Uns selber und unsere emotionalen Reaktionen möglichst gut kennen lernen. Den Beobachter stärken, lernen, unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Ebenen aufzuteilen, nach außen und nach innen, Raum schaffen. Automatische Verbalisationen kontrollieren, die in uns Identifikation, Selbstkritik, traumatische Geschichten wiederholen und aufrechterhalten. Die Supervisorin und Forscherin Babette Rothschild erlebte in langjähriger Erfahrung in Supervision und Ausbildung von Therapeuten, dass der Vorschlag, die Resonanz mit den Klienten zu reduzieren, von vielen Therapeuten geradezu als Bedrohung empfunden wird. Wichtig ist es, sich diese Phänomene als ein Kontinuum vorzustellen, auf dem man in voller Absicht hin und her gehen kann. Automatische Empathie ist wie einen Berg hinunterrennen oder -rollen. Kontrollierte Empathie dagegen kostet viel Mühe, so wie den Berg hinauf zu steigen. (Hodges und Wegner 1997) Zusammenfassung Als Therapeuten müssen wir nicht unbedingt quantitativ mehr Mitgefühl erzeugen, zumindest als Potential haben wir es sowieso, in "unreiner" Form vielleicht sogar im Übermaß. Es ist eine ganz spezifische Haltung, die wir anstreben: die Verwandlung von unbewußten körperlichen und emotionalen Reaktionen in ein bewußtes Erleben unseres Mitschwingens mit anderen, und dann die Entwicklung von unbegrenztem Wohl-Wollen, das nicht mehr gefärbt ist vom eigenen (Mit-)Leiden. Wir müssen die Warnzeichen erkennen: Wenn ich das Leiden des Patienten beseitigen will, weil es so schwer auszuhalten ist, dann habe ich noch nicht genug verstanden. Dann muss ich mich besser abgrenzen! Unsere Klienten profitieren langfristig mehr von tiefem, herzlichem Wohl-Wollen als von einem hilflosen Gefangensein im Mitschwingen unseres Nervensystems. Abgrenzung ist nicht falsch, sondern ein Ausgangspunkt. Wir sollten uns als Werkzeug sehen - und das müssen wir in gutem Zustand halten. Die buddhistische Entwicklung geht noch viele weitere Schritte darüber hinaus. Mitgefühl, Weisheit und Unterschiedslosigkeit sind Facetten einer komplexen Haltung, die mit rein psychologischen Begriffen nicht mehr zu beschreiben ist. Dort haben wir tatsächlich das Ziel, unseren egozentrischen Narzissmus loszuwerden. Letztlich geht es um Überwindung des selbstzentrierten Denkens - je mehr das Ich als leer erkannt ist, desto weniger leide ich unter dem Leiden des Klienten, und desto effektiver kann ich das Angemessene tun. TEIL 2 Risiken und Nebenwirkungen aus buddhistischer Sicht Aus buddhistischer Sicht hat Mitgefühl an sich keine Risiken oder Nebenwirkungen, sondern wird als außerordentlich heilsam gesehen, für beide Seiten. Allerdings ist mit Mitgefühl auch eine ganz spezifische Geisteshaltung gemeint. Wenn das, was man übt und empfindet, nicht das ist, was die buddhistischen Lehrer beschreiben, dann kann das durchaus zu weniger positiven Erfahrungen führen. Ein komplexes Gemisch aus Mitleid, Bedauern, Schuldgefühl, Hilflosigkeit und unterdrücktem Ärger ist eben kein Mitleid, sondern im Sinne der buddhistischen Psychologie "störende Gefühle", nicht die Lösung, sondern das Problem! Mitgefühl im buddhistischen Sinne steht immer in Verbindung mit Weisheit, einer nichtdualistischen, nichtbegrifflichen Erfahrung der Wirklichkeit. Ohne diese ist das, was wir erleben, noch nicht "allumfassendes, großes Mitgefühl" im buddhistischen Sinne. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die komplexe, tiefe, ausgewogene, in langjährigem Training verfeinerte Geisteshaltung des buddhistischen Mitgefühls mit dem gleichen Ausdruck benannt wird wie eine gewöhnliche Emotion des Alltagslebens. Der Psychotherapeut und Philosoph Jacob Needleman beschreibt diesen Mechanismus für das Christentum, seine Analyse einer "oberflächlichen Religiosität"scheint jedoch ohne weiteres übertragbar: "Eine machtvolle, der Sphäre des Heiligen zugehörige Idee wird mit einer gewöhnlichen Emotion in Verbindung gebracht, wobei diese Assoziation heuchlerisch den Anschein erweckt, in Wahrheit die "höhere" zu sein" (Needleman 1997). Man könnte sich nun fragen: Sind das nicht linguistische Spitzfindigkeiten ohne praktische Bedeutung? Leider nein. Was wir verstehen, bestimmt was wir üben und wie wir mit unseren Geist umgehen. Auf einen Nenner bringt es die provokante Frage: Warum brennen westliche Psychotherapeuten aus, und tibetische Meditationslehrer nicht? Der folgende Text bietet einige Hinweise. Er folgt einer guten alten Tradition im Buddhismus: wenn etwas mit Worten schwer zu beschreiben ist, beschreibt man am besten, was es nicht ist - damit kann vielleicht eine Ahnung entstehen, was es wirklich ist. Deshalb also der Titel "Risiken und Nebenwirkungen" - möge die heilsame Hauptwirkung des Medikaments "Mitgefühl" trotz des Beipackzettels eintreten! Alltags-Mitgefühl und Bodhisattva-Mitgefühl Was ist also der Unterschied zwischen umgangssprachlichem Mitgefühl, und dem allumfassenden Mitgefühl als Bodhisattva-Haltung, von dem der MahayanaBuddhismus spricht? Manchmal meint man, das Problem definitorisch lösen zu können, indem ersteres als Mitleid bezeichnet und letzteres als Mitgefühl. Das ist aus meiner Sicht eine Schein-Lösung. Sie würde nur funktionieren, wenn alle diese Sprachkonvention kennen und einhalten. Das wird kaum geschehen. Wir müssen also verstehen, was wirklich gemeint ist, gleich wer im Alltag welche Etiketten verwendet. Mit"gefühl" ist kein Gefühl, so wenig wie Com"passion" eine Passion ist. Emotionen wie Traurigkeit oder Betroffenheit können uns zwar zur Entwicklung von Mitgefühl motivieren, aber sie sind nicht eigentlich Teil der entwickelten, komplexen Geisteshaltung Mitgefühl im buddhistischen Sinne. Mitgefühl ist ein komplexes vielschichtiges Phänomen, welches kognitive, emotionale, verhaltensmäßige und nichtdualistische Anteile umfasst. Die emotionalen sind sozusagen der Anfängerpart. Gleichzeitig ist diese Geisteshaltung auch eine Ethik, die soziale und politische Dimensionen hat. Mitgefühl basiert auf der natürlichen Warmherzigkeit und Hilfsbereitschaft, deren Kern wir alle haben, initial in ganz unterschiedlichem Ausmass. Dazu kommen Komponenten von Übung oder Training, sowie von Einsicht oder Verstehen. Warum so kompliziert? Ist es denn so falsch, einfach helfen wollen, weil einem jemand leid tut? Ganz und gar nicht. Der Wunsch ist ein guter Anfang. Aber diese Anfangshaltung ist wenig stabil, und kann leicht wieder umschlagen oder uns auffressen. Der tibetische Lehrer Patrul Rinpoche beschreibt das in einer für ihn typischen beißenden Klarheit. Auf die Frage, ob wir denn nicht statt zu meditieren lieber anderen helfen und sie lehren sollten, sagt er zusammengefasst etwa folgendes: "Der Anfänger sollte es bleiben lassen, denn er hat nichts zu geben. Der Fortgeschrittene verbraucht seinen Vorrat an Weisheit und wird leer von dem was er anderen gibt. Erst der Bodhisattva kann unbegrenzt geben, ohne selber dabei leer zu werden (oder auszubrennen)". Mitgefühl ist kein wohliges warmes Gefühl im Herzen, das mir sagt, wie richtig ich das alles mache. Mitgefühl hat Sprengkraft, es ist wie ein Koan. Mitgefühl hilft uns, das zu überschreiten, wie wir jetzt denken und fühlen, die "comfort zone" zu verlassen, unsere Vermeidungshaltungen zu durchbrechen. Denn das, wie wir jetzt denken und fühlen, das ist ja nicht perfekt, oder? Irgendwie kommen wir doch immer wieder in Schwierigkeiten, Konflikte, oder gar in Erschöpfung und Burn-Out. Burnout-fördernde Gedankenmuster und Kognitionen aus buddhistischer Sicht Überschätzung des Stellenwertes praktischer Hilfe auf der relativen Ebene Überschätzung des Stellenwertes und der Wichtigkeit der eigenen Person und der eigenen Fähigkeiten Aufmerksamkeit auf die eigene Befindlichkeit und eigene Mitgefühlsentwicklung Ungeduld und Unbescheidenheit bezüglich der eigenen Entwicklung Zu enger Fokus, mangelnde Einbeziehung des größeren Kontexts Verwirrung bezüglich der Unterschiede von Moral, Ethik, und Mitgefühl. Verwechslungen von Bodhisattva-Ideal mit Pfadfinder-Ideal und christlichmoralischem Pflichtbewusstsein, von Verantwortungsbewußtsein und Mitgefühl. Projektion des eigenen Leidens auf den anderen, Verwechslung eigenen Leidens mit Mitgefühl Missverständnis von Mitgefühl als Emotion Vermischung unterschiedlicher Welt- und Menschenbilder Mangelndes Verständnis des Leerheits-Aspekts (bzw. Weisheit (prajna) Anspannung und Aufregung, autonome Erregung Erwartungshaltung bezüglich der Wirksamkeit der Hilfe - "das muss doch was fruchten" Auf einige typische Gedanken möchte ich näher eingehen. Ich habe sie alle selber schon gehabt und fürchte, dass es auch anderen auch nicht besser ging. "Ich müsste jetzt in dieser Situation Mitgefühl mit diesem armen/kranken/alten Menschen haben ". Oder wir sagen: "Da habe ich Mitgefühl gespürt, oder da habe ich versucht, mich mitfühlend zu verhalten, und es gelang mir nicht". Wir haben das Gefühl, Mitgefühl sollte da sein in Reaktion auf bestimmte Außensituationen, und dann habe ich es oder nicht, und ich muß mich anstrengen, das jetzt in der Situation zu spüren, weil es doch so wichtig ist, das blöde Mitgefühl. Wir wollen es "herbeifühlen". Das ist natürlich ein innerer Krampf und keine buddhistische Übung. Unter westlichen Buddhisten wird viel darüber gesprochen, wie wir uns im Alltag oder einer bestimmten Situation verhalten sollten. Aus der Sicht der buddhistischen Psychologie sind das die falschen Fragen. Dass ich jetzt, und nächste Woche auch noch, unvollkommen und unerleuchtet handeln und fühlen werde, ist doch selbstverständlich. Die richtige Frage wäre, was muss ich heute, morgen, nächste Woche usw. für die nächsten 20 Jahre jeden Tag tun, damit ich überhaupt anfangen kann, über einzelne Handlungen und ihre Nützlichkeit aus Sicht des Buddhismus zu reden. Das heisst nicht, dass wir nicht jetzt schon versuchen sollten, mitfühlend zu handeln. Aber das ist noch nicht das Mitgefühl, es lohnt noch nicht, ein Wort darüber zu verlieren - das ist erst die Übungspraxis auf dem Weg. Oft wollen wir doch nur über Liebe und Mitgefühl reden, weil wir so stolz auf uns sind. Aber es steckt oft noch ein zweites Mißverständnis in diesem "mitfühlend im Alltag" sein zu wollen - nämlich Machen von Unterschieden. Das "echte", buddhistische Mitgefühl ist per definitionem unterschiedslos. Daß ein Mensch arm ist oder alt oder krank oder reich oder glücklich oder mächtig ist, ob ich ihn sehe oder er am anderen Ende der Welt ist, ist kein Deut mehr oder weniger Grund für Mitgefühl mit ihm. "Ich darf nicht gleichgültig sein". Mitgefühl wird als das Gegenteil von Gleichgültigkeit gesehen, bzw. Gleichmut mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt. In unserer derzeitigen Betroffenheitskultur wäre dies äußerst politisch unkorrekt. Es ist aber ein Mißverständnis des "buddhistischen" Mitgefühls: Trauer, Betroffenheit, Entsetzen sind mögliche Vorstufen von Mitgefühl, sie gehören aber nicht zwingend oder essentiell dazu. Es geht nicht darum, traurig zu sein darüber, wie schlecht es dem anderen geht. "Ich müßte mehr fühlen". Was ich jetzt spüre, ist nicht genug. Es ist zwar buddhistische Lehre, dass Mitgefühl immer weiter wachsen soll, je mehr desto besser. Es geht dabei aber um die Entwicklung komplexer, vielschichtiger Erfahrensund Verhaltensweisen, deren Komponenten ausgewogen sein müssen. "Mehr Emotion" kann allenfalls ein psychotherapeutisches Ziel sein, nicht das Ziel buddhistischer Praxis. "Wenn es sich nicht gut anfühlt, mache ich was falsch". Die zentrale Lebenslüge des modernen Medienbürgers ist: Es muss Wirkung ohne Nebenwirkung geben, Vorteil ohne Bezahlung, oder doch zumindest ein kostenloses Probeangebot... Oder in der buddhistischen Version davon: Meditationspraxis und die darin zu entwickelnden positiven Emotionen machen unser Leben schöner, reicher, glücklicher - drastischer gesagt: sind Puderzucker, mit dem wir unser ansonsten unverändertes Leben versüßen wollen. In der buddhistischen Lehre ist aber Mitgefühl das direkte Gegengift gegen das Ich-Gefühl. Und das wehrt sich üblicherweise, und äußerst kreativ. Unangenehme Gefühle oder innere Abwehr sind nicht immer ein Anzeichen für falsche Praxis. "Ich muss Mitgefühl mit mir selbst haben". "Ach je, nun soll ich auch noch mitfühlend sein, und dabei merke ich doch genau daß ich es meistens nicht bin. Immerhin, ich merke es wenigstens. Aber das ist aber doch ganz schlecht für meinen spirituellen Fortschritt, na das nächste Mal will ich aber mitfühlender sein, wenn das oder das passiert. Aber heute, da gebe ich mir mal frei, es ist so heiß, man kann sich ja nicht immer anstrengen. Wir sollen uns doch entspannen. Und außerdem habe ich den ganzen moralischen Druck ein bißchen satt. Und schliesslich soll man doch Mitgefühl mit sich selber haben, also das übe ich jetzt doch erstmal, es heißt man soll mit sich selber anfangen." Hand aufs Herz, haben wir nicht alle schon mal so oder ähnlich gedacht? Aber so platt kann es ja nicht sein. In den buddhistischen Anleitungen wird oft geraten, die Übung des Mitgefühls bei sich selbst zu beginnen. Im alten Tibet war die Begründung dafür, dass uns das am leichtesten fällt. Heute ist dies oft deshalb nötig, weil sich viele Westler mit einem Gefühl von Selbsthass gegenübertreten. Das ist aber leicht falsch zu verstehen und kann zur Ausflucht für Egozentrik oder Vermeidung werden. Der Psychotherapeut (und Buddhist) Lorne Ladner schreibt dazu: "Man kann dieses Thema leicht missverstehen. Aus all den Jahren, in denen ich westliche Psychotherapeuten, Meditationslehrer und aufrichtig spirituellen Übende kennen gelernt habe, fällt mir kaum jemand ein, der nicht lange Periode vor Verwirrung oder Selbsterforschung durchgemacht hätte, als es um die Entwicklung von echten Mitgefühl für die selbst die für ihn selbst ging." Psychotherapeuten wissen besonders aus der Angsttherapie, wie schmal der Grat zwischen korrekter Selbsteinschätzung und Schonen und Vermeiden ist. Mitgefühl mit sich selbst sollte sich durchaus auch mal so äußern wie bei Alexander v. Humboldt, der als Romangestalt in dem wunderbaren Roman "Die Vermessung der Welt" sagt: "Man darf sich nichts durchgehen lassen - Frau Wirtin, noch ein Glas von der grünlichen Molke, die ich so verabscheue." Mitgefühl ist im buddhistischen Geistestraining auch ein Gegengift gegen selbstbezogenes Denken. Die Sorge um andere, das Mitleiden mit anderen löst unseren Fokus vom Kreisen um das eigene Wohl, die eigene Zukunft, die richtige naturheilkundliche Therapie, die eigene meditative Entwicklung, die eigene Suche nach einem Guru, meinen Weg zur Erleuchtung... Und die Aufgabe dieses selbstbezogenen Denkens ist die Grundvoraussetzung zur geistigen Befreiung. "Mitgefühl und Meditation bringen mich zur Erleuchtung". Falsch. Wieder sind wir der Verwechslung von Umgangssprache und technischer Sprache aufgesessen. Bodhicitta ist der Königsweg zur Erleuchtung, Mitgefühl ist nur die Hälfte davon. Aus buddhistischer Sicht ist Mitgefühl (karuna) eine positive Geisteshaltung, genauso wie Liebe, liebende Güte (maitri) , aber führt für sich noch nicht zur Befreiung - sondern zum positiven Ende von Samsara, in den Götterbereich, dem Resultat guten Karmas. Das gleiche gilt für Meditation. Auch wenn das merkwürdig klingt - aber nach dem Mahayana-Buddhismus führt Meditation (dhyana) oder Vertiefung (samadhi) nicht automatisch zur Befreiung, sondern in den Götterbereich. Erst in der Verbindung mit Weisheit (prajna), dem Verständnis für die Leerheit des Ich und der Welt, mit der Erkenntnis der Natur des eigenen Geistes werden diese Methoden zu einem Paramita, zu einem Weg, der zum anderen Ufer bringt. Mitgefühl ohne Leerheit, oder allgemeinverständlicher, ohne Raum und Entspannung, ist eine Emotion, kein Weg. "Richtiges Mitgefühl"? Vorschläge zur Annäherung an ein komplexes Phänomen Bis hierher habe ich es mir einfach gemacht. Fehler und Sackgassen beschreiben, dysfunktionale Kognitionen aufdecken, ist immer leichter als den richtigen Weg zu beschreiben. Dazuhin sind die Menschen unterschiedlich, und ihre inneren Wege vielfältig und manchmal undurchschaubar. Was mir von außen als Irrweg vorkommt, mag für diesen Menschen genau der Umweg sein, den er braucht, oder der einzige Zugang, von dem aus es für ihn weitergeht. Deswegen nur einige Gedanken und Vorschläge, wie es besser gehen könnte. Welche Arten des Umgangs mit Mitgefühl sind also potentiell heilsamer? Mitgefühl als Prozess verstehen Mitgefühl ist etwas, auf das wir uns zubewegen, ein Entwicklungsprogramm, nicht ein Gefühl, zu dem wir uns jetzt in diesem Moment zwingen müssen. Das zeigen in sehr schöner Weise die Wunschgebete im Buddhismus: "Möge ich…" heißt es dort, nicht "Ich muss" oder "Ich will". Ich muss nicht jetzt gerade Mitgefühl spüren. Ich muss nur wissen, daß das mein Ziel ist, und im Gedächtnis behalten (sati), welche Möglichkeiten es zur Bewegung auf dieses Ziel hin gibt. Ich kann jetzt konkret helfen, so gut ich eben kann, aber innerlich habe ich die Idee eines langen Prozesses von Entdecken, Verstehen, Entwickeln, und Üben. Es nützt nichts, ständig prüfen zu wollen, ob es schon da ist, das Mitgefühl (in der Psychosomatik nennen wir das "checking behaviour"). Tief drinnen glauben wir immer noch, dass wir uns ändern könnten, dass das Einnehmen einer anderen Geisteshaltung ein momentanes Geschehen ist, das jetzt, in einem Moment geschieht. Der Buddhismus, die Lerntheorie und alle praktische Alltagserfahrung sagen: das wird so nicht gehen. Dennoch fühlen und handeln wir so, wie wenn wir uns jetzt ändern müssten oder könnten. Wir ignorieren, dass dies ein langsamer, kumulativer Prozess ist. Ich kann nicht mitfühlend sein. Ich kann es vielleicht in 20 Jahren, wenn ich täglich übe. Helfen können setzt voraus, dass ich selber weit genug bin, um dies zu können, sowohl von meiner therapeutischen oder menschlich-sozialen Kompetenz her, als auch meiner inneren Geistesentwicklung. Wenn ich nicht weit genug bin, sind aufrichtige gute Wünsche für den Leidenden vielleicht besser als eine zerquälte halbherzige Hilfe, die ich mir abringe, obwohl ich mich überfordert fühle. Samsara ist endlos, auch morgen wird es noch Gelegenheit geben, jemandem zu helfen. Eine Unterscheidung muss man hier natürlich machen. Einfache materielle Hilfe, z.B. Nahrung für Hungergebiete, hilft wirklich zum Überleben, gleich, ob ich mitfühlend bin oder nicht - wenn ich nur das Geld überweise. Und bei einer unkomplizierten Angsterkrankung kann manchmal auch ein ziemlich neurotischer und wenig mitfühlender Therapeut helfen, der manualorientiert vorgeht. Es kommt auch darauf an, was wir mit Hilfe meinen. Leiden und seine Ursachen tiefer analysieren In unserer materialistischen Welt fällt uns besonders das materielle und körperliche Leiden ins Auge, und unsere Hilfe zielt primär darauf ab. Nichts spricht dagegen, aber es ist vielleicht nicht die Art von Hilfe, für die es gerade den Buddhismus braucht. Warum hat der Buddha Mitgefühl mit dem Leiden der Wesen? Das größte, tiefste, grundlegendste Leiden der Wesen ist ihr Nicht-Erleuchtetsein, ihre Illusion der Getrenntheit und Dualität, ihre fehlende Erkenntnis der wirklichen Natur ihres Geistes und der Welt. Natürlich wollen wir bei unmittelbarem Leiden helfen, aber das ist immer kurzfristige, vorübergehende Hilfe. Das letzte Ziel ist die Beseitigung der Wurzeln von Samsara, nicht bloß der Auswirkungen. Das Sein bestimmt das Bewußtsein, sagt der dialektische Materialismus. Das Bewußtsein bestimmt das Sein, sagt die nichtdualistische, buddhistische Sicht der Dinge. Verständnis von Emotion klären Wir im Westen haben bestimmte vorgefasste Haltungen zu Emotionen, die so selbstverständlich scheinen, dass wir sie kaum hinterfragen. Dazu gehören Gedanken wie: "Emotionen sind gut, man muss möglichst viele erleben. Sonst ist man ein kalter, harter Mensch". Unemotional ist ein Schimpfwort. Zweitens sehen wir Emotionen als Naturgewalten, die über uns kommen und die wir deshalb oft genug als Entschuldigung für unsere Handlungen benutzen. "Für meine Gefühle kann ich nichts" drückt dieses am prägnantesten aus. Und drittens glauben wir daran, dass wir so etwas wie eine natürliche, vorgegebene Wesensnatur haben, die sich frei entwickeln und ausdrücken sollte, auch auf emotionalem Gebiet. "Werde der du bist", "Sei einfach du, ganz natürlich" - das sind Botschaften, die wir gerne hören und wir ignorieren, dass sie eine ganz andere Ebene des Geistes meinen, als die der Emotionen und des Verhaltens, auf die wir sie mit Vorliebe anwenden. Wir vergessen, dass all diese Ansichten ein Produkt historischer Entwicklungen sind, keine Naturgesetze. Das alte Griechenland, 2000 Jahre Christentum, die Aufklärung, die Romantik, Marxismus, Studentenrevolution, Feminismus, S. Freud, C.G. Jung und W. Reich prägen uns in einem Ausmass, das wir nur erkennen können, wenn wir Menschen treffen, die keine einzige dieser Konditionierungen mitgemacht haben, wie z.B. traditionell aufgewachsene Tibeter. Im Gegensatz zu uns geht der Buddhismus ganz selbstverständlich davon aus, dass wir unsere Gefühle beeinflussen können - nicht sofort, aber über die Zeit. Dieses Konzept der Selbststeuerung von Emotionen ist für die westliche Psychologie geradezu revolutionär und wir beginnen erst zu verstehen, was dieses für unser Leben bedeuten kann. Wir können planen, wie wir in Zukunft erleben und wahrnehmen wollen, und dieses dann langsam aber sicher wahr machen. Dies ist auch eine Verantwortung - denn der Mechanismus wirkt, auch wenn wir nichts planen und unsere Haltungen und Handlungen nicht selbst formen. Dann werden wir eben weiter geformt und beherrscht. Im Buddhismus sind Gefühle nie natürlich oder naturgesetzlich, sondern wie alles andere Produkte von Ursachen. Und alles, was aus Ursachen kommt ist vergänglich, veränderlich, beeinflussbar. Die Kraft der Gewohnheit verstehen Dieser Punkt ist die Fortsetzung des vorhergegangenen. "All life depends on habit", drückt es mein tibetischer Lehrer Akong Rinpoche aus. Was jetzt gerade in uns geschieht, ist nur der kleinste Teil der Geschichte. Das ist alles nur Augenblick, flirrend wie heiße Luft und schon wieder weg. Der größere Teil ist die Macht der Wiederholung, der Kumulation und Iteration. Wir machen so viel Gedöns um unsere Entscheidungen. Aber was uns und unser Leben in der Zukunft formen wird, ist der kumulative Effekt all der unzähligen Bewußtseinsmomente. Das Auftauchen bestimmter Emotionen oder eines Geisteszustandes in diesem Augenblick ist Karma, d.h. eine Auswirkung alter Ursachen, wie die Trägheitskraft eines Schwungrades. Die Änderung erfolgt noch nicht dadurch, dass wir uns einmalig in diesem einen Augenblick anders verhalten. Das Inszenieren großer motivationaler Konflikte um diese oder jene Einzelentscheidung ist Energievergeudung. Was zählt, ist die Wiederholung. Nur das, was ich immer wieder anders mache, verändert wirklich. Und dann ändert es aber auch! Es geht gar nicht anders. Das heißt natürlich nicht, daß wir nicht versuchen sollten, uns in jeder Situation unseren selbstgesteckten Zielen entsprechend zu verhalten. Und natürlich müssen wir irgendwann anfangen. Aber gemeint ist: Richte dich an den langfristigen Zielen aus. Frage dich nicht länger als 5 Sekunden: Soll ich diesem Bettler 50 Cent oder einen Euro geben oder gar nichts, sondern tu einfach eins von den dreien und mach dir klar, wo es hingehen soll. Was du für dich selbst, aber auch für deine Nützlichkeit für alle Wesen als zukünftiger Buddha erreichen willst, welche Schritte dazu hinführen, und dann übe diese Schritte, wann immer es dir einfällt. Du kannst da anfangen wo es leicht geht, und den Geist langsam immer mehr damit füllen. Steter Tropfen höhlt den Stein. Gelegentliche Tropfen machen ihn bloß nass. Buddhistische Meditation üben - unter guter Anleitung Das mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen. Niemand wird diesen Artikel bis hierher lesen, der nicht an buddhistischer Meditation interessiert ist. Gemeint ist, das nachhaltig zu üben, was das Charakteristikum buddhistischer Lehre ist: die Einsicht in die Natur des Geistes, die Leerheit von Ich und Welt. Dies geht nicht nebenbei, und es braucht gute und korrekte Anleitung. Es muss nicht schwer sein, aber man kann es falsch machen. Wir beginnen mit Entspannung, mit einem Gefühl für Raum und Weite, wir üben Shamatha, Vipassana, oder Zen. Wir üben Mitgefühl in Leerheit, Nichtdualität und Unterschiedslosigkeit. Aus buddhistischer Sicht handeln wir im bodenlosen Raum, ohne vorgefertigte Sicherheiten. Das klingt zunächst erschreckend, es befreit aber und schützt vor Burn-Out. Erst wenn wir beginnen, dies zu erleben, sind wir bereit für die Hohe Schule: uns mit den anderen austauschen, das Leiden der anderen auf uns nehmen - das Auf-den-Kopf-stellen unserer üblichen selbstbezogenen Erfahrungswelt. Dann werden wir frei von Angst und können geben ohne auszubrennen. Schlußbemerkung Um uns zu motivieren, brauchen wir die Erfahrung von Sinn und Bedeutung. Sinn und Bedeutung sind aber auch kulturgebunden. Die christliche Mystik oder auch die Existentialisten sind reiche Quellen von Inspiration. Ich bin Buddhist und liebe den Buddhismus wegen seiner Klarheit und Präzision, wegen seiner Vertrauenswürdigkeit und seiner lebendigen und ungebrochenen Übermittlungstradition. Aber ich bin auch Europäer und brauche Nahrung aus unserer Kultur. Vieles, was oben in buddhistischem Kontext formuliert wurde, findet sich auch in den berühmten Schlusszeilen von Camus' Mythos von Sisyphos (Kürzungen von U.K.): "In diesem hehren Augenblick, da der Mensch, wie Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, sich wieder seinem Leben zuwendet, betrachtet er jene Folge zusammenhangloser Handlungen, die zu seinem Schicksal wird, das, von ihm selber geschaffen (...). Überzeugt, daß alles Menschliche nur menschlichen Ursprungs ist, bleibt er (...) immer unterwegs. Wieder rollt der Stein. Ich verlasse Sisyphos am Fuß des Berges. Seine Last findet man immer wieder. Doch Sisyphos lehrt die höhere Treue, die die Götter leugnet und die Steine bewegt. Auch er glaubt, daß alles gut ist. Dieses Universum, von nun an ohne Herren, erscheint ihm weder unfruchtbar noch nichtig. Jedes Gran dieses Gesteins, jeder Mineralsplitter dieses Berges voller Nacht ist eine Welt für sich. Der Kampf um die Gipfel allein kann ein Menschenherz ausfüllen. Man muß sich Sisyphos glücklich denken." - Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos Ausgewählte Literatur Babette Rothschild (2006) Help for the Helper. W.W.Norton Lorne Ladner (2005) Die verlorene Kunst des Mitgefühls - Psychologie und Buddhismus im Dialog. Diamant Verlag David Brazier (1995) Zen Therapy. Constable, London Richard J. Davidson, Anne Harrington (2002) Visions of Compassion. Western Scientists and Tibetan Buddhists Examine Human Nature. Oxford University Press Klaus Grawe (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe Patrul Rinpoche (1998) Words of my Perfect Teacher. Altamira Press