Systemische Therapie. Die „Konstruktion“ der Wirklichkeit. Das

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Ch. Katharina Krassnig, Regina Mikula:
Systemische Therapie. Die „Konstruktion“ der Wirklichkeit.
Das therapeutische Durchbrechen symptomatischer Rückkoppelungen.
VORSPANN
Eine Hindufabel von den fünf Weisen, frei nacherzählt
Vor langer, langer Zeit waren die Menschen in Indien noch davon überzeugt, daß die Götter jenen
Menschen, denen sie das Augenlicht genommen hatten, im Tausch dafür höchste Weisheit verliehen.
Da geschah es einst in einer weltabgeschiedenen Region, daß zum ersten Male ein Elefant nahe einem
Dorfe auftauchte. Das Gerücht von der Anwesenheit des Wundertieres breitete sich aus, aber niemand
war seiner bisher ansichtig geworden. Die Dorfbewohner, die eilends Rat hielten, was nun zu tun sei,
baten die fünf blinden Weisen des Dorfes um Hilfe. Die Weisen ließen sich von ihren Führern dorthin
bringen, wo man den Aufenthalt des Tieres vermutete, und bald schon wurden sie seiner gewahr.
Während sie sich ihm mit Bedacht näherten, verweilten die Dorfbewohner in sicherer Entfernung
hinter einem kleinen Wäldchen und warteten zu welcher Erkenntnis die fünf gelangen würden. „Hört“,
verkündete der erste, der den Rüssel gepackt hatte „ein Elefant ist wie eine dicke Schlange.“- Ein
Elefant ist wie eine Bürste, müßt ihr wissen!“ sagte der zweite, der bis zum Nacken des Tieres
hochgeklettert war. „Glaubt mir“, rief der dritte, der unterhalb des Tieres auf der Erde kauerte und
einen der mächtigen Füße mit seinen Fingern abtastete, „ der Elefant ist einfach ein dicker
Baumstamm!“ Der vierte, der den Schwanz des Tieres zu fassen bekommen hatte, schüttelte den Kopf
und verkündete mit lauter Stimme: „Ein Elefant ist wie ein Seil, darüber besteht kein Zweifel.“
Schließlich erhob der fünfte seine Stimme; er war am langsamsten herangekommen und suchte hinter
dem Elefanten den Boden ab: “Vernehmt die Wahrheit, der Elefant ist warm und weich wie Brei und
er verbreitet einen üblen Geruch.“
Abbildung 1
So ähnlich stellt sich oft das Phänomen „Ganzheitlichkeit“ auch in der Psychotherapie dar. Es
erscheint manchmal verwirrend und widersprüchlich, von welchen Wirklichkeitsdimensionen und
Sicht-Weisen aus die verschiedenen Schulen diese Phänome beschreiben und behandeln.
1
Folgender Text beschäftigt sich in Kapitel 2 mit der Grundlage des systemischen Denkens. Kapitel 3
stellt die wissenschaftstheoretischen Prämissen im Hinblick auf die Systemische Therapie dar und
Kapitel 4 zeigt anhand der Entwicklung und der Methoden der Familien- oder Systemischer
Therapieformen die praktische Umsetzung in das therapeutische Handeln. Im Text sind
charakteristische Merkmale der systemischen Psychotherapie durchgehend durch Einrahmung
hervorgehoben.
2
2. Das Systemische Denken, seine Wurzeln und sein Wert für komplexe
Problemlösungen
Begriffe wie „Systemisches Denken“ (vgl. Dörner 1992), „Vernetztes Denken“ (vgl. Vester 1988) sind
aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen nicht mehr wegzudenken. Systemisches Denken
bedeutet: 1) Ein Denken in vernetzten, systemischen Strukturen (Vernetzungskomponente), 2)
Denken in (expliziten) Modellen (Modell-Komponente),
3) Denken in Zeitabläufen, in Zeitgestalten (dynamische Komponente) und 4) die praktische
Steuerung von Systemen (pragmatische Komponente).
Modernes systemisches Denkens wird durch verschiedene Wissenschafts- und Erkenntnisfelder
inspiriert.
Abbildung 2
Das systemische Denken zielt auf eine Überwindung des einfachen linearen UrsacheWirkungsdenkens ab, dessen Auswirkungen zum Beispiel in der Medizin heute eindeutig als ein
Verlust der „Person“, des „Subjekts“, als eine unzulässige Trivialisierung von Menschen, als wären sie
Maschinen, erkannt werden. Systemisches Denken in der Medizin, der Psychosomatik, der
Systemischen Therapie etc. ist keine neue Heilslehre. Es ist vielmehr die Möglichkeit, theoretische
Ansätze daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie zum besseren Verständnis der „Ganzheit“ des
Menschen und von Gesundheit und Krankheit beitragen. Im systemischen Denken lassen sich Körper
und Geist nicht mehr trennen; nicht nur der physiologische Zustand eines Menschen, sondern auch der
psychologische und soziale sowie andere Umweltfaktoren sind zu beachten, wenn es um ein
ganzheitliches Verständnis des Phänomens Gesundheit oder Krankheit geht.
3. Wissenschaftstheoretische Prämissen der systemischen Therapie
In der hier vertretenen Krankheits- und Gesundheitslehre steht ein Menschenbild im Mittelpunkt, das
als bio-psycho-soziale Einheit beschrieben wird. Diese Einheit folgt den Gesetzmäßigkeiten für
hochkomplexe lebende Systeme, die von den chilenischen Biologen Humberto Maturana und
Francisco Varela (1987) gezeigt wurden. Sie beschreiben die Prinzipien der Selbstorganisation für
lebende Systeme als „Autopoiesis“, in der sich eine lebende Einheit erstens von der Umwelt abgrenzt
und zweitens das eigene Lebensnetzwerk aufrechterhält. Der anfängliche Stoffwechsel einer Zelle zum
Beispiel kreiert die Zellwand, welche dafür sorgt, daß weitere Stoffwechselprozesse relativ
abgeschlossen von der Umwelt stattfinden können. Lebende Systeme sind autonom und
strukturdeterminiert, das heißt, ihr Verhalten wird nicht im Sinne einer geradli(e)nigen UrsacheWirkungs-Beziehung durch äußere Ereignisse determiniert, sondern durch ihre aktuelle interne
Struktur und Dynamik gesteuert. Veränderungen der Umwelt sind daher eher als unspezifische
Störungen zu betrachten, welche vom jeweils gestörten System kompensiert werden müssen. Wie ein
solches System auf eine Störung reagiert, sagt mehr über das System, seine Strukturen und Dynamik
3
aus, als über die Natur der Störung. Die interne Dynamik eines lebenden Systems bringt durch die
operationale oder organisatorische Schließung scheinbar statische Strukturen hervor (vgl.
Maturana/Varela 1987).
Die Entwicklung psychischer und sozialer Strukturen läßt sich ebenso als Resultat operationaler
Schließung erklären. Der Kybernetiker Heinz von Förster (1977) nennt das Resultat solcher
selbstbezüglicher Operationen „Eigenwert“, wenn es sich um eine numerische Struktur handelt, oder
„Eigenstruktur“, wenn es sich um eine stabile Struktur handelt oder „Eigenverhalten“ wenn es sich
um ein stabiles Verhalten handelt. Auf biologischer Ebene kann die körperliche Gestalt als solch ein
Eigenwert (eine Eigenstruktur) der biochemischen Prozesse gesehen werden. Auf psychischer Ebene
führt die gemäß den individuellen Strukturen ablaufende Psychodynamik zur Aufrechterhaltung der
psychischen Identität, auf der sozialen Ebene sorgt die Kommunikation nach den gegebenen Regeln
der Kommunikation dafür, daß die Regeln der Kommunikation durch ihren alltäglichen Vollzug ihre
Bestätigung erhalten. Alle diese Systemebenen, berücksichtigt man das umfassende Menschenbild,
sind in sich operational geschlossen und durch nichtlineare Strukturkoppelungen untereinander
verbunden. Die Konstruktion der scheinbar stabilen psychophysischen oder psychosozialen
Koppelungen zwischen diesen Ebenen ist das Ergebnis von Lebens- und Lernprozessen einer Person
uns ständiger Abstimmung dieser Prozesse, auf welcher Ebene auch immer.
Auf der körperlichen Ebene sind die Regelkreise einfach bis hochkompliziert vernetzt und reichen von
elektrophysiologischen Zeichen an der Zellmembran bis zu gesamtorganismischen Regelungen wie
Atmung, Kreislauf und Antworten auf Umwelteinflüsse wie z.B. die Streßreaktion. Alle diese
Systemfunktionen dienen der Aufrechterhaltung des Lebens. Der Systemaufbau und die
Systemfunktionen der körperlichen Sphäre sind die Basis und der Ansatzpunkt der
schulmedizinischen, naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen für Diagnose und Therapie.
Die psychische Ebene wird im systemisch- konstruktivistischen Ansatz als sich selbst organisierendes
System mit einer speziellen Art der Zeichensetzung und Strukturkoppelung zu den anderen Ebenen
gesehen. Das psychische System ist ein äquilibrierendes System von Affekt und Intellekt, wie z.B. Luc
Ciompi (1988) im Entwurf seiner Affektlogik (...) ausführt. Die Besonderheit des psychischen Systems
ist dabei die Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und Selbstkreation in Form von Selbstkonzepten.
Seine Funktion ist es, die „Ich-Identität“ eines Menschen erfolgreich aufzubauen und zu koordinieren.
Mittels Selbstkonzepten werden Erfahrungen organisiert, die an die Wahrnehmungen des eigenen
Körpers, der eigenen Befindlichkeiten, Gedanken und Gefühle gebunden sind. Selbstkonzepte
entstehen vorrangig in Interaktion mit anderen; sie ergeben sich aus den Modalitäten der individuellen
und sozialen Kognitionen, sie heben sich wie Figuren aus dem Grund aller bewußtseinsfähigen
Kognitionen heraus und werden wiederum Bezugspunkt und Organisationskern für weitere
Erfahrungen. Damit unterliegen sie Konsistenzbedingungen: Durch Wiederholung werden Muster
selektiert, die psychisches Verhalten und Selbstkonzeptualisierung steuern. Da das psychische System
operational geschlossen seine Selbstkonzepte entwirft, ist es schwer, direkt auf dieses einzuwirken.
Vor allem über die Umwelten des psychischen Systems, den Organismus und das soziale System sind
indirekte Interventionsmöglichkeiten in das psychische System gegeben. Die therapeutischen
Zugangswege zur Psyche laufen daher für gewöhnlich über die Interventionen in eine der beiden
Umwelten der Psyche, d.h. über die „perturbierende“ (störende oder anregende) Veränderung der
Randbedingungen psychischen Funktionierens. So zum Beispiel intervenieren Psychopharmaka in das
körperliche System und die systemische Psychotherapie in das kommunikative oder soziale
Bezugssystem (Familie/Paar/Team), um psychische Leidenszustände zu behandeln.
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Abbildung 3
Zur Darstellung in Abbildung 3: Die Beobachtung und eigene Interpretation von Träumen, wie sie
Teil der Psychoanalyse ist, die Innenschau der Meditation, ja jede Selbstreflexion stellt eine direkte
(Eigen-)Intervention in psychodynamische, affektiv-kognitive Muster dar. Selbstverständlich ist aber
auch hier nach früheren, zugrundeliegenden Einflüssen aus den anderen Bereichen zu fragen.
Im Hinblick auf das soziale und kommunikative System des Menschen lieferte der Konstruktivismus
neue Ideen, die das systemisch konstruktivistische Therapiemodell prägten:
•
•
•
Kommunikation funktioniert nicht als Austausch von Informationen, sondern als parallele
Konstruktion im kognitiven Bereich.
Menschen bilden aufgrund der internen Arbeitsweise ihres Gehirns nie die „Wirklichkeit“ wie sie
ist ab, sondern sie erzeugen Wirklichkeiten, auf die sie ihr Erkennen und Handeln in sozialen
Systemen ausrichten.
Vor allem durch Kommunikation wird ein Phänomen ein Symptom. Was in einem Konsens für
behandlungsbedürftig gehalten wird, ist soziale Konvention.
Systemische Psychotherapie wird eingesetzt zur Beeinflussung von Leidenszuständen und
Verhaltensstörungen, die in einem Konsens (KlientIn, Familie, ÄrztIn, Gesundheitssystem,
Arbeitssystem etc.) für behandlungsbedürftig gehalten werden.
Das wissenschaftliche medizinisch-therapeutische Systemmodell entdeckt das „Subjekt“, die Person,
welche Krankheit und Gesundheit erlebt, als eigene Größe wieder und bezieht dabei explizit die
sozialen Kontexte ein. Wo immer eine ÄrztIn, eine TherapeutIn oder eine PatientIn es mit
vermeintlichen Symptomen zu tun bekommt, hat sie/er ganz konkret und nicht nur allgemein und
theoretisch die Wechselbeziehungen von Organismus, Psyche und sozialem System zu untersuchen.
Während der Begriff „Krankheit“ für die Bezeichnung einer Funktionsstörung für die körperliche
Ebene beibehalten werden soll, schlägt Simon (1995, S. 73) für die psychische und soziale Ebene den
Begriff der „Dysfunktion“ vor.
Die Anerkennung dieser Modellbildung mit ihren verschiedenen hochkomplexen Systemebenen ist
eine Voraussetzung, um ganzheitlich und systemisch orientiert behandeln zu können. Die zweite
Voraussetzung ist, Gesundheit und Krankheit anders verstehen zu lernen, nämlich als aktiven, sich
selbst organisierenden Prozeß. Dafür verwendet Fritjof Capra den Begriff des „dynamischen
Gleichgewichts“ (Capra 1996, S. 58). Dieses balanciert ständig das Gleichgewicht zwischen
selbstbehauptenden und integrativen Tendenzen auf verschiedenen Systemebenen aus. Die Dynamik
der sich selbst organisierenden Systemebenen zeigt, daß sowohl Stabilität als auch Flexibilität erst
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über Fluktuationen im System zustande kommen. Der Verlust der Fluktuationsfähigkeit führt zu bzw.
bedeutet Dysfunktion, Krankheit und Tod.
Gesundheit ist als der Zustand des dynamischen Gleichgewichts zwischen oszillierenden, chaotischen
und stabilen Systemprozessen eines Organismus, aber auch seiner Organe und Zellen, zu verstehen.
Die stabilen Prozesse verleihen dem Organismus Konstanz, die oszillierenden Reaktionen dienen als
„stoßsichere innere Uhr“ und die chaotischen Reaktionen ermöglichen Flexibilität und so die spontane
Anpassung an neue Umweltbedingungen durch Versuch, Irrtum und Erfolg. Diese Möglichkeiten der
Anpassungsmechanismen vergrößern das Repertoire an überlebensfördernden Verhaltensweisen.
Gelingt die Anpassung in der sich ständig verändernden Lebenswelt nicht oder nur unzureichend,
kommt es zur Symptombildung, bei welcher es sich oft um Störungen in den Austauschprozessen
handelt (siehe dazu auch xy Kratky).
Systemische Psychotherapie basiert auf einer durch Systemtheorien, Konstruktivismus und Kybernetik
wissenschaftlich fundierten „Krankheitslehre“ oder „Gesundheitslehre“ für hochkomplex organisierte
Lebewesen.
Am Beispiel des Phänomens Streß möchte ich nun ganz konkret die besondere strukturelle und
funktionale Verzahnung der bio-psycho-sozialen Systemebenen darstellen: Erst durch interdisziplinäre
Forschungen der Systemtheorie, Evolutionsforschung und Neurobiologie konnte das Phänomen Streß
differenzierter erfaßt werden: Abbildung 4
Als entscheidend für die langfristige
Auswirkung einer Streßreaktion auf die im
Gehirn angelegten neuronalen Strukturen
ist die individuelle Bewertung einer
Belastung / Verstörung als kontrollierbar
oder unkontrollierbar anzusehen. Eine
kontrollierbare neuartige Belastung /
Anforderung wird als Herausforderung
empfunden und führt zu einer kurzfristigen
schwachen Aktivierung streßsensitiver
Systeme, welche zur Beseitigung der
Störung gebahnt, stabilisiert und effizient
werden. Durch eine als unkonntrollierbar
bewertete Belastung tritt eine innere
Destabilisierung ein.
Erst, wenn sich eine Person mit all ihren
bisher erworbenen Strategien außerstande
sieht, eine psychische Belastung zu
meistern, stellt sich ein Gefühl völliger
Ohnmacht und Hilflosigkeit ein, das mit
einer tiefen, neuronalen, anhaltenden und
unkontrollierbaren
Streßreaktion
einhergeht, die bereits etablierte Strukturen
destabilisiert.
Bisherige
Bewältigungsstrategien werden dadurch allmählich aufgelöst. Die wichtigsten Auslöser der
neuroendokrinen chronischen Streßreaktion beim Menschen sind psychosozialer Natur: Konflikte,
Kompetenzverlust, Verlust psychosozialer Unterstützung. Sowohl kontrollierbare als auch
unkontrollierbare psychische Belastungen sind entscheidend beteiligt an der Ausformung der unser
Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden neuronalen Verschaltungen. „Ohne kontrollierbaren
Streß könnten wir keine Erfahrung im Gedächtnis verankern und ohne unkontrollierbaren Streß hätten
wir keine Chance, die alteingefahrenen Bahnen unseres Denkens zu verlassen und neue Lösungen zu
suchen, um Angst und Streß zu bewältigen. Nur wenn wir die nicht finden oder nicht bereit oder
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unfähig sind danach zu suchen, wird Streß zum Alptraum und macht uns so früher oder später krankauf welcher Ebene auch immer“ (Hüther 1999, S. 11).
(Der Ansatz Hüthers wurde aus physiologischer Sicht in dieser Reihe auch im Band zu den
Grundlagen der Regulationsheilkunde von W. Feigl et al. aufgenommen, siehe dort Beitrag xy. Zum
Thema Streß durch Lebensumstände und ressourcenorientierte individuelle Strategien siehe den Band
zur Gesundheitsförderung von B. Blättner, Beitrag xy).
Auf der biologischen Ebene interagiert das System auf der Basis von Zellenbestandteilen und
Zellfunktionen bis hin zu gesamtorganismischen, sich selbst organisierenden Regelkreisen. Auf der
psychischen und Bewußseinsebene interagiert das System intern auf der Basis von Selbstbeobachtung,
Selbstwahrnehmung, Selbstkonzeptualisierung und affektiver Gestaltung des Gesamtsystems. Auf der
sozialen Ebene interagieren lebende Systeme auf der Basis von Sprache.
Ein systemischer Therapieansatz muß alle Ebenen berücksichtigen und könnte eine gemeinsame Basis
für Angehörige von Heilberufen einschließlich ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen/PsychologInnen
sein, um Zusammenarbeit und sinnvolle wechselseitige Zuweisung im Gesundheitssystem regulieren
zu können.
Die Weiterentwicklung des systemischen und konstruktivistischen Denkens spiegelt sich auch in der
Entwicklung der systemischen Therapiestile und –modelle wieder.
4. Familien- oder systemische Therapiemodelle und ihre Methoden
Systemische Therapiemodelle zeichnen sich durch vier Aspekte aus: 1. Die Beziehungskonstruktion
zwischen TherapeutIn und KlientIn, 2. die Einbeziehung des sozialen Kontextes, 3. die
Zieldefinition, 4. die Interventionen und Methoden, die zur Lösungsorientierung im systemischen Sinn
beitragen.
Die therapeutische Beziehungskonstruktion beinhaltet die Gleichwertigkeit aller beteiligten Personen.
TherapeutInnen müssen die außenstehende BeobachterInnenrolle aufgeben und versuchen, durch
Fragen einen kommunikativen Zugang zu dem jeweils subjektiven Beobachtungsbereich der KlientIn
zu bekommen. KlientInnen werden in einem solcherart gestalteten Therapiekontext vorab und
durchgängig als selbstverantwortliche und sich selbst organisierende Menschen ernst genommen. Die
Klientin wird nach lösungsorientierter, konstruktivistischer Sicht als jemand gesehen, der/die über
Ressourcen verfügt und damit über den Schlüssel für ihre Heilung. Aus dem Gespräch über den
beobachtbaren Raum z. B. des Problems, der Krankheit entwickelt sich ein Gespräch über den nicht
beobachteten Raum der Lösung und Gesundheit. Das Augenmerk richtet sich auf den Unterschied
von Symptom und Nicht-Symptom und das Symptomverhalten und Lösungsverhalten in seiner
interaktionellen Vernetzung.
Die neue Rolle der TherapeutIn ist die einer Co-KreatorIn bei der Neufassung von Selbstkonzepten.
(Für die Ausformung dieser Sicht in einer integrativen Gesundheitsförderung siehe xy Blättner.)
Systemische Psychotherapie ist ein bewußt interaktionell geplanter Prozeß, eine Art und Weise der
Kommunikation, welche Gleichwertigkeit und Ko-Kreation beeinhaltet.
Jede KlientIn wird in der systemischen Therapie von Anfang an als Mitglied weiterer Systeme
gesehen, das heißt in ihrem Beziehungskontext. Die explizite Beleuchtung des Beziehungskontextes
richtet die Aufmerksamkeit nicht mehr so sehr auf die Einzelperson mit ihren
Persönlichkeitsmerkmalen, sondern auf die psychosoziale Dynamik im System dieses Menschen. Die
Behandlung richtet sich damit auf den Kontext des realen sozialen Überlebenssystems (z.B.
Familie/Partnerschaft). Die systemische Therapie bezieht sich hierbei in ihrer Methodik explizit auf
die Theorie operational geschlossener, autonomer Systeme. Betrachtet wird das
Kommunikationssystem als die Überlebenseinheit, die das Symptomverhalten aufrechterhält. Im
therapeutischen Gespräch werden die Verhaltensweisen der interagierenden Personen und die
Bedeutungen, welche diesen Verhaltensweisen zugeschrieben werden, untersucht. Auf diese Weise
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werden die individuellen und kollektiven Selbstkonzepte oder Wirklichkeitskonzepte erstellt,
modifiziert, bestätigt oder verworfen.
Die Systemische Psychotherapie betrachtet die dynamischen Muster des Verhaltens und der
Bedeutungsgebung in einem kommunikativen und sozialen Kontext als ätiologisch, diagnostisch und
therapeutisch bedeutsam.
„Legt man systemtheoretische und evolutionstheoretische Modelle und die Theorie der Beobachtung
zugrunde, so verbietet es sich für den Therapeuten, ein positiv definiertes Therapieziel zu haben. Da es
keine Merkmale der Unterscheidung für ‘gesund’ gibt, bleibt ihm nur die Möglichkeit, ein negatives
Therapieziel zu wählen: die Abwesenheit des Symptoms oder des Problems, d.h. das Verschwinden
der Merkmale der Unterscheidung für den als Symptom oder Problem bezeichneten Zustand ... Die
Interventionsstrategien können einem einfachen Schema folgen: Sie müssen die Transformation von
einem Zustand, der als ‘problematisch’- d.h. mit dem Auftreten von Symptomen verbundenbeschrieben wird, zu einem Zustand, der ‘als nicht problematisch’ beschrieben wird fördern“ (Simon
1995, S. 131).
Abbildung 5
Die innere Haltung einer systemisch arbeitenden TherapeutIn ist die des Respekts für die Symptome
und Lösungen der anderen - auch, wenn sie nicht dem eigenen Weltbild entsprechen. Die Stellung der
TherapeutIn ist eher neben der KlientIn als ihr gegenüber.
Systemische Psychotherapie wird in Richtung auf ein Ziel, eine Lösung, einen neuen Systemzustand
„Gesundheit“ durchgeführt. Die dazu förderliche therapeutische Haltung ist durch Respekt, Offenheit,
Neugierde und die Bereitschaft, eigene Vorurteile, Vorstellungen und Definitionen aufzugeben,
gekennzeichnet.
Unter Berücksichtigung der maximalen Selbststeuerung stellt sich die Frage nach den passenden
Interventionen und Methoden. Der erste Interventionsansatz besteht in der Veränderung des um das
Symptom herum geordneten interaktionellen und kommunikativen Musters (Musterunterbrechung)
Der zweite Interventionsansatz besteht in der Veränderung der Verknüpfung zwischen interpersonell
beobachtbarem Verhalten und Bedeutungsgebung.
Der dritte Interventionsansatz zur Unterbrechung symptomstabilisierender Rückkoppelungen besteht
darin, die scheinbar logische Konsistenz und Kohärenz von Wirklichkeitskonstruktionen ad absurdum
zu führen.
In der systemischen Therapie werden diese Interventionsprinzipien miteinander kombiniert.
Die Methoden der systemischen Psychotherapie sind konkrete Ergebnisse des systemischen Denkens.
Sie spiegeln sowohl die oben genannte Vernetzungskomponente z.B im zirkulären Fragen, die
Modell-Komponente, z.B. in den Fragen nach der Lösungswirklichkeit oder in der Wunderfrage
(siehe unten), die dynamische Komponente in den Fragen nach den Zeitkontexten von Problem und
Lösung sowie die pragmatische Komponente in den Fragen nach Ausnahmen oder beobachteten
Lösungen wieder.
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5. Geschichtlicher Exkurs
Die erste Phase der Entwicklung der „Familientherapie“ fand in den 70er und 80er Jahren statt. In
dieser Zeit wurden Wege gesucht, die gesamte Familie in die Therapie einzubeziehen, die
dysfunktionalen Interaktionen in Familien zu untersuchen und zu behandeln. Die strukturelle
Familientherapie (Minuchin 1987) führte hilfreiche Untersuchungen zu den Konfliktformen, zu
Subsystemen und zu spezifischen Beziehungsmustern in Familien durch, über die Hypothesen gebildet
wurden, die auch heute noch Gültigkeit haben. Mit der zweiten Phase der konstruktivistischen Wende
in den 80er und 90er Jahren ist der Begriff Familientherapie aus der Literatur fast verschwunden und
wurde durch den Begriff Systemtherapie ersetzt. Für eine historische Rekonstruktion der
Familientherapie siehe etwa Hoffmann 1996; Boscolo et al. 1988; Stierlin 1994. Viele Methoden der
Familientherapie gehen auf die Mailänder Schule zurück, die wiederum eng in Zusammenarbeit mit
dem Mental Research Institut in Palo Alto entstand, wo sich die InitiatorInnen der Familientherapie
trafen wie z.B. Paul Watzlawick, Virginia Satir, Gregory Bateson. Die Mailänder Schule mit Mara
Selvini- Palazzoli, Giuliana Prata, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin führte neue Techniken ein,
die alle der Interventionsstrategie der Musterunterbrechung dienten.
Die bekanntesten Interventionstechniken dieser Zeit sind:
• die positive Konnotation eines Symptoms (verhindert zu starke Problemorientierung)
• zirkuläres Befragen (ermöglicht das Bewußtwerden komplexer Zusammenhänge)
• paradoxe Verschreibungen (Kontextveränderung des Symptoms)
• Abschlußinterventionen (als „neue“ Information für das System)
• Ressourcenorientierung
• Technik der Einwegscheibe (Beobachtung als Ressource)
• Lange zeitliche Abstände zwischen den Sitzungen (Betonung der Eigenleistungen des Systems).
In der praktischen Durchführung der Therapie werden z.B. neue Verhaltensmuster „verschrieben“, um
dadurch alten Werten zur Geltung zu verhelfen; oder es werden alte Verhaltensmuster verschrieben,
aber mit anderer Bedeutung versehen. Umdeutungen und Umwertungen werden angeboten,
Vorannahmen der KlientIn provokativ in Frage gestellt und anderes mehr.
In der konstruktivistisch erweiterten Fassung der Systemischen Therapie geht es nicht mehr vorrangig
um die Musterunterbrechung wie in der ersten Phase der Familientherapie sondern um die Anregung
von alternativen Perspektiven und neuen Selbstkonstrukten.
Der Familientherapeut Helm Stierlin, der selbst diese Entwicklung zum systemischen bzw.
konstruktivistischen Therapeuten vollzogen hat, sagt dazu: „Der Therapeut versucht, Veränderungen
anzuregen, indem er die von ihm als dysfunktional gesehenen Muster oder als einschränkend
gesehenen Ideen stört und Ideen und Perspektiven einführt, die neue Optionen schaffen, neue
Entwicklungen in Gang setzen und individuell und systemweit den Spielraum der Freiheit erweitern
können, somit hilft er dem System, sich in neuer Weise zu organisieren“ (Stierlin 1988, S. 56).
Auch die lösungsorientierte Kurzzeittherapie Steve de Shazers und der Milwaukee Gruppe (Insoo Kim
Berg, Eve Lipchik, Ellam Nunnally, Ron Kral u.a.) gehört zu den vom Konstruktivismus beeinflußten
Therapiemodellen, in denen Therapie als Konversation verstanden wird. Sie verweist insbesondere auf
die Rolle der Sprache in der Konstruktion von subjektiver und sozialer Wirklichkeit. Dieser
systemische Therapiestil ist durch Klarheit, Prägnanz und Pragmatismus gekennzeichnet. Die
Lösungsorientierung und Ressourcenorientierung wird zur Durchführung einer erfolgreichen Therapie
konsequent beibehalten.
Interventionen, die von dieser Gruppe entwickelt worden sind, sind z.B. das Suchen von Ausnahmen
vom Problem, Lösungen, Bewältigungen, Validierungsinterventionen (Selbsteinschätzung),
Unterbrechungen der Konversation, Komplimente, Aufgaben als Ideen zur Herstellung erweiterter
Betrachtungs- und Handlungsweisen sowie die wohl berühmte sogenannte „Wunderfrage“ (De Shazer
1989), mit der und anderen Fragen ich diese Ausführungen beschließe.
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ANREGUNGEN ZUR SELBSTERFAHRUNG
Entspannen Sie sich für einige Momente. Spüren Sie Ihre Füße und wandern Sie mit Ihrer
Aufmerksamkeit durch Ihren Körper nach oben. Nehmen Sie wahr wie Sie atmen. Wie Sie einatmen
und ausatmen. Wenn Sie sich so für eine Weile zentriert haben, denken Sie an ein Problem, das Sie
kürzlich in einer Situation oder auch immer wieder in derselben Situation erleben. Stellen Sie sich
diese Situation genau vor, und beschreiben Sie diese. Lassen Sie sich Zeit, die folgenden Fragen zu
beantworten.
- Vor den Zeiten, also bevor es Psychiatrie und Psychologie gab, wie hätte man da diese Art
Problem genannt?
- Gab es Zeiten oder Situationen, wo dieses Problem nicht da war? Wie erklären Sie das?
- Haben Sie einen Spitznamen für das Problem? Wenn Sie dieses Problem in den Raum stellen- als
Skulptur zum Beispiel- wie genau würde es aussehen? Wie groß, welche Farbe und Konsistenz,
wie ist die Oberfläche wenn Sie sie berühren...
- Wir tun so, als würde ein Wunder geschehen und eines Tages ist plötzlich das Problem, das Sie
jetzt haben, verschwunden. Wie würden Sie merken, daß es verschwunden ist? Wie würden
andere merken, daß eine Veränderung stattgefunden hat? Welche positiven Dinge werden sich
ereignen, wenn das Problem nicht mehr da ist? Wie würden Sie das „Wunder“ oder Teile davon
erkennen oder wahrnehmen oder spüren? Haben irgendwelche dieser Änderungen schon
angefangen?
- Ich habe da so eine Idee, die vielleicht ein wenig merkwürdig klingt, aber ich hoffe, Sie denken
einmal darüber nach, weil ich einige Aspekte sehe, die diese Idee stützen. Nämlich- unter der
Oberfläche haben Sie das Problem schon gelöst, aber aus irgendeinem Grund haben Sie diese
Veränderung noch nicht öffentlich gemacht. Ich liege da nicht ganz falsch, nicht wahr?
- Beobachten sie nun was sich bezüglich Ihres Problems oder Ihrer Lösung verändert hat!
LITERATUR
Boscolo, Luigi/Cecchin, Gianfranco/Hoffmann, Lynn/Penn, Peggy: Familientherapie-Systemtherapie.
Das Mailänder Modell. Dortmund 1988.
Capra, Fritjof: Lebensnetz. Bern 1996.
Ciompi, Luc: Außenwelt-Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen.
Göttingen 1988.
De Shazer, Steve: Wege der erfolgreichen. Kurztherapie. Stuttgart 1989.
Dörner Dietrich: Die Logik des Mißlingens. Hamburg 1992.
Foerster, Heinz von: Gegenstände: Greifbare Symbole für (Eigen-) Verhalten. Braunschweig 1977.
Hoffmann, Lynn: Therapeutische Konversationen. Dortmund 1996.
Hüther, Gerald: Der Traum vom stressfreien Leben. In: Spektrum der Wissenschaft, Dossier 3, 1999,
S. 11.
Hüther, Gerald: Wie aus Stress Gefühle werden. xy
Maturana, Humberto/Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis. Bern 1987.
Minuchin, Salvador: Familie und Familientherapie. Freiburg 1987.
Simon, Fritz B.: Die andere Seite der Gesundheit. Heidelberg 1995.
Stierlin, Helm: Ich und die anderen. Psychotherapie in einer sich wandelnden Gesellschaft. Stuttgart
1994.
Stierlin, Helm: Prinzipien der systemischen Therapie. In: Simon, Fritz B. (Hrsg.): Lebende Systeme.
Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Berlin 1988, S. 54-56.
Vester, Frederic: Leitmotiv vernetzten Denkens. Für einen besseren Umgang mit der Welt. München
1988.
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: Schratz, Michael/Steiner-Löffler, Ulrike: Die lernende Schule, Weinheim 1998, S. 112.
Abbildung 2: Schratz, Michael/Steiner-Löffler, Ulrike: Die lernende Schule, Weinheim 1998, S. 120.
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Abbildung 3: Simon, Fritz B.: Die andere Seite der Gesundheit, Heidelberg 1995, S. 123.
Abbildung 4: Hüther, Gerald: Der Traum vom stressfreien Leben. In: Spektrum der Wissenschaft,
Dossier 3, 1999, S. 11.
Abbildung 5: Simon, Fritz B.: Die andere Seite der Gesundheit, Heidelberg 1995, S. 134.
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