Lob der Vielfalt. Pfingsten und das Konzil

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Lob der Vielfalt. Pfingsten und das Konzil
(Theologische Impulse zur Predigt am Pfingstfest)
Von Ansgar Kreutzer, Universitätsprofessor für Fundamentaltheologie an der KatholischTheologischen Privatuniversität Linz.
Im Rahmen der Predigtreihe zum II. Vatikanischen Konzil
http://lebenszeichen.dioezese-linz.at/
Das Zweite Vatikanum. Pfingsten unserer Zeit
Don Luigi Bettazzi, Jahrgang 1923, ist einer der letzten noch lebenden Konzilsväter. Er ist
emeritierter Bischof von Ivrea bei Turin und war lange Jahre Vorsitzender von Pax Christi
Italien und Pax Christi International. Beim Konzil selbst hat er sich für eine „Kirche der
Armen“ eingesetzt: für eine Kirche, die für die Armen da ist und eine Kirche, die selbst arm
ist, anspruchslos in ihrer materiellen Ausstattung, bescheiden in ihrem öffentlichen Auftreten.
Bischof Bettazzi hat bereits zum vierzigjährigen Jubiläum der Konzilseröffnung, im Jahr
2002, ein engagiertes Erinnerungsbuch geschrieben, in dem er die theologischen und
pastoralen Impulse des Konzils gesammelt und zu aktuellen Denkanstößen verarbeitet hat.
Er bringt darin – schon im Titel – auf inspirierende Weise drei zeitliche Dimensionen
zusammen, das biblische Pfingsterlebnis, den kirchlichen Aufbruch des Konzils und dessen
Bedeutung für unsere Zeit: „Das Zweite Vatikanum. Pfingsten unserer Zeit“1. Das Konzil lässt
sich spirituell als pfingstliches Ereignis deuten, das bis heute ein pfingstliches Verständnis
von Kirche inspiriert. Was aber ist das „Pfingstliche“, das die Bibel in der Apostelgeschichte
beschreibt, das Bischof Bettazzi beim Konzil erlebt hat, das auch heute die Kirche
wachrütteln, bewegen, zu neuen Perspektiven führen kann?
Pfingsten in der Bibel
Der historische Kern der Pfingsterzählung (Apg 2,1-13) ist naturgemäß schwer zu
bestimmen. Man muss von einer starken spirituellen Erfahrung ausgehen, welche die nach
Jesu schockierendem Kreuzestod völlig eingeschüchterte Jüngergemeinde gemacht hat. Der
Dogmatiker Bernd Jochen Hilberath interpretiert das Pfingsterlebnis als eine stärkende
gemeinschaftliche Glaubenserfahrung, die zugleich die christliche Verkündigung
entscheidend initiiert hat. „Jüngerinnen und Jünger Jesu wurden an ‚Pfingsten‘ von einer
Macht überwältigt, die sie als den verheißenen Heiligen Geist deuteten. Dieser gab ihnen die
1
Luigi Bettazzi, Das Zweite Vatikanum. Pfingsten unserer Zeit, Würzburg 2002. 1 Kraft, das Evangelium vom Herrn Jesus Christus allen Völkern zu verkünden.“2 Pfingsten war
ein grundlegender Aufbruch der nachösterlichen Jüngergemeinde, damit ein gleichsam
kirchengründendes Ereignis. Der Autor der Apostelgeschichte, der auch das
Lukasevangelium verfasst hat, gestaltet dieses spirituelle Erlebnis nach seinen
theologischen Absichten. Er ordnet es in den Zusammenhang seiner Verkündigung ein und
wählt eine bezeichnende Bildersprache:
Für den Evangelisten ist das Pfingstereignis, die Erfahrung des Geistes Gottes, eine
intensive gruppendynamische Erfahrung, die jedoch nach draußen, zur prophetischen
Verkündigung drängt. So ist der Geistempfang in die Erzählstruktur des Doppelwerkes von
Lukas-Evangelium und Apostelgeschichte eingebunden. Die bereits im Evangelium
verheißene Gabe des Heiligen Geistes, der die Kraft zur Verkündigung schenkt (Lk 24,4749) wird in der Pfingsterzählung Wirklichkeit. Auch in der sich dem Pfingstereignis
anschließenden Predigt des Petrus (Apg 2,14-36) wird das Ausgießen des Geistes – ein
Motiv aus dem alttestamentlichen Buch Joel (Joel 3,2) – mit der prophetischen Bezeugung in
Verbindung gebracht: „Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist
ausgießen in jenen Tagen und sie werden Propheten sein.“ (Apg 2,18). Offenbar ist es dem
Verfasser von Lukas-Evangelium und Apostelgeschichte ein Anliegen, eine zentrale
Gründungserzählung der jungen Kirche mit deren Wendung „nach außen“, zu den anderen,
zu allen Menschen in Verbindung zu bringen. Im Laufe der Apostelgeschichte wird so die
vom Geist gestärkte, ja ermöglichte prophetische Verkündigung auf immer weitere
Adressatenkreise ausgedehnt. Das Pfingstereignis wiederholt sich gewissermaßen, erst in
Samarien (Apg 8,14-17) schließlich bei den Heiden (Apg 10, 44-48).
Für dieses Zusammenspiel von gruppendynamischer Spiritualität, die zugleich die
Gruppengrenzen sprengt und nach außen tritt, stehen auch die Bilder, die das Pfingstwunder
illustrieren: Das Klang- und Feuerwunder, das Brausen des Windes und die Feuerzungen,
entsprechen den Merkmalen des Erscheinens Gottes (Theophanie), wie es im Alten
Testament beschrieben wird. Am augenfälligsten in der Geschichte ist freilich das
Sprachwunder. Obwohl die Jüngerinnen und Jünger in ekstatischer Weise mit „fremden
Zungen“ reden, werden sie von allen, und zwar in ihrer jeweiligen Sprache verstanden. Um
dieses wunderbare „Fremdverstehen“ literarisch zu verstärken wird eine ausführliche Liste
von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gebieten der jüdischen Diaspora stammen,
angeführt. Die Exegeten Detlev Dormeyer und Florencio Galindo werten dies als Aufwertung
kultureller Pluralität. „Die sprachliche und kulturelle Identität der Hörer wird gewürdigt und
weiterentwickelt.“3
Das „Pfingstliche“ könnte nach dieser Interpretation darin bestehen, dass ein spirituellgruppendynamisches Ereignis nicht in den Grenzen der eigenen Gemeinschaft verbleibt,
sondern diese aufbricht. Das Hinaustreten der Verkündigung ist jedoch nicht vereinnahmend
oder „gleichmacherisch“, sondern „adressatenorientiert“, sensibel für den sozialen und
kulturellen Kontext. Hier drängen sich Parallelen zum pastoralen Projekt des Zweiten
Vatikanum auf.
2
Bernd Jochen Hilberath, Pneumatologie, in: Theodor Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 1, Düsseldorf 2000, 445-­‐552, 480. 3
Detlev Dormeyer/Florencio Galindo, Die Apostelgeschichte. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart 2003, 44. 2 Pfingsten beim Konzil
Spirituell deutet Bischof Bettazzi das von ihm als Teilnehmer erlebte II. Vatikanische Konzil
als pfingstliches Ereignis, als Wirken des Heiliges Geistes. „Weil ich […] als ‚Konzilsvater‘ am
Zweiten Vatikanischen Konzil mitarbeitete, konnte ich von innen her klar und deutlich das
Wirken des Heiligen Geistes wahrnehmen.“4 Auch in seiner Interpretation des „pfingstlichen
Konzils“ zeigt sich eine beeindruckende Gruppendynamik, ein spiritueller, theologischer und
pastoraler Aufbruch, der offen für das Neue ist. Für Bettazzi ist es bezeichnend für das
Konzil, dass Minderheitenpositionen konsensfähig wurden, damit im Laufe des Konzils
theologisches und kirchliches Neuland betreten wurde. „Einzelne Bischöfe öffneten nämlich
auf dem Konzil ihr Herz und hörten auf ihre Mitbrüder. Das versetzte sie in die Lage, ihr
Urteil auf neue Einsichten zu gründen und ihre bisherigen Überzeugungen zu ändern. So
wurden von Minderheiten ins Konzil eingebrachte Ideen mehrheitsfähig. Genau dieser
Vorgang hat uns nach Ende des Konzils darauf schließen lassen, daß der Heilige Geist
selbst auf dem Konzil wirkte.“5 Besonders eindrücklich war für den italienischen Bischof, die
Erfahrung der Vielfalt von Weltkirche. Vertreter von allen Teilen der Welt brachten ihre Art
des Glaubens zum Konzil mit, erkannten die Bedingtheit ihrer eigenen Tradition im Licht der
anderen und erlebten unterschiedliche Glaubensformen als Bereicherung: „Wenn z.B.
Bischöfe aus Asien sprachen, merkte man häufig die orientalische Geisteshaltung, in allem,
was ist, Gottes Gegenwart zu verspüren. Die afrikanischen Bischöfe […] baten uns, neue
Wege zu versuchen, ohne uns zu stark von in unserer Mentalität verwurzelten Formeln und
Gewohnheiten fesseln zu lassen. Und die Bischöfe Lateinamerikas, des katholischsten
Kontinents – auf dem es die herzzerreißendste Armut und Marginalisierung gibt, setzten sich
sofort für eine ‚Kirche der Armen‘ ein.“6 Das großartige Bild von Pfingsten, ein gemeinsamer
Geist, der nicht vereinheitlicht, sondern Vielfalt, verschiedene Sprachen, Kulturen,
Mentalitäten, zulässt, ja stärkt, schien beim Zweiten Vatikanischen Konzil ein Stück weit
Realität zu werden. Die Konzilsväter entdeckten lange vor dem Modewort der Globalisierung,
ihre Kirche als Weltkirche und erlebten die interne Vielfalt des Katholizismus als reichen
Schatz. Die nach außen strömende Eigendynamik des Konzils und die Erfahrung von
Weltkirche eröffneten das Neue, den Aufbruch, den Perspektivenwechsel: „Sie [die
Konzilsväter, A.K.] merkten, daß und wie sich Kirche neuen Zeiten, neuen Orten und neuen
Generationen öffnen mußte. Auch dieser Perspektivenwechsel scheint mir ein Werk des
Heiligen Geistes zu sein.“7
Nicht nur in dem von Bettazzi wahrgenommenen Prozess, auch in seinen Inhalten hat das II.
Vatikanum etwas Pfingstliches. Die pneumatische, die auf den Heiligen Geist zurückgeführte
Dimension des Kircheseins wurde neu entdeckt. Die Konzilsväter identifizierten den Heiligen
Geist mit einem dynamischen Kirchenbild: „Durch die Kraft des Evangeliums läßt er [der
Heilige Geist, A.K.] die Kirche allezeit sich verjüngen, erneuert sie immerfort und geleitet sie
zur vollkommenen Vereinigung mit ihrem Bräutigam.“ (LG 4) Auch die Berechtigung der
Vielfalt innerhalb der katholischen Kirche kam beim II. Vatikanum zum Tragen. Das
4
Bettazzi, Das Zweite Vatikanum, 15. Ebd. 15 f. 6
Ebd. 17 f. 7
Ebd. 19. 5
3 Verhältnis von Gesamtkirche und Teilkirchen wird ausbalanciert beschrieben. „In ihnen und
aus ihnen [den Teilkirchen, A.K.] besteht die eine und einzige katholische Kirche.“ (LG 23)
Orts- und Weltkirche bleiben damit aufeinander bezogen, ohne dass einer der Pole
aufgehoben würde.
Pfingsten bei uns
Aus einer pfingstlichen Interpretation könnte sich auch die Bedeutung des Konzils für Kirche
und Welt von heute erschließen. Spirituelle Dynamik der Kirche darf nicht im Innenraum
verbleiben, sondern muss nach außen dringen. Kirche hat sich immer wieder neu der Welt
zu öffnen, muss aus ihren kulturellen und religiösen Ghettos ausziehen. Ein pfingstliches
„Über sich Hinausschreiten“ folgt freilich auch der „Logik“ des Pfingstwunders, ist nicht
vereinnahmend und vereinheitlichend, sondern voller Respekt für religiöse und kulturelle
Vielfalt. Sprache und Handeln der Kirche müssen für die verschiedenen sozialen und
kulturellen Gruppen in deren Sprach- und Symbolwelt verständlich sein: „wir hören sie in
unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden“ (Apg 2,11). Gerade aufgrund ihrer
Weltkirchlichkeit, die sie beim II. Vatikanum entdeckte, kann der katholischen Kirche in der
heutigen „globalen Welt“ eine wichtige Rolle zukommen. Sie repräsentiert in ihrem
Zusammenspiel von Orts- und Weltkirche das Ideal einer ausbalancierten Einheit in Vielfalt.
Nach Formen, Symbolen, Institutionen, Prozessen, die Einheit und Vielfalt verbinden
können, sucht auch die durch Spannungen und Konflikte zerrissene Weltgesellschaft. Sehr
optimistisch hat daher der Soziologe Heinz Bude die katholische Kirche des II. Vatikanum als
„Urbild der globalen Zivilgesellschaft“ bezeichnet.8 Diese „Urbildfunktion“ für die
Weltgesellschaft kann eine Weltkirche freilich nur dann wahrnehmen, wenn es ihr selbst
gelingt unter einem einigenden Band kulturelle, theologische, spirituelle Differenzen, die für
die verschiedenen Völker und Gesellschaften typisch sind, zu bewahren und zu stärken.
Gerade die Weltkirche heute darf, um Weltkirche zu bleiben, nicht allein zentralistisch,
sondern muss zugleich pluralistisch ausgerichtet sein. Der renommierte Kirchensoziologe
Franz-Xaver Kaufmann spricht deshalb davon, dass in der katholischen Kirche das in ihrer
Soziallehre so hochgeschätzte Subsidiaritätsprinzip stärker zur (Selbst-)Anwendung
kommen müsse. Kaufmann rät zu einer „Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse, um
möglichst zweckmäßiges Handeln ‚vor Ort‘ zu ermöglichen“9.
Unter einem pfingstlichen Geist in der Kirche versteht Bischof Bettazzi einen
„geschwisterlichen Geist der gegenseitigen Annahme, der Zusammenarbeit und des
wirklichen Dialoges […]. Nur dann können Christinnen und Christen, die in der Kirche ‚das
um einen Tisch versammelt sein der Unterschiedlichen‘ […] zu leben gelernt haben, auch
Frieden und Solidarität in die Welt hineintragen und dort stiften“10. Wenn Kirche ihrem
eigenen pfingstlichen Anspruch nachkommt, weltkirchliche Einheit in ortskirchlicher Vielfalt
zu verwirklichen, könnte sie eine notwendige globale Solidarität stimulieren und so aus ihrem
binnenkirchlichen Pfingsten heraus „pfingstliche Impulse“ für die Welt entwickeln – ganz in
der Intention des Zweiten Vatikanum, dem „Pfingsten unserer Zeit“.
8
http://www.ndr.de/ndrkultur/programm/sendungen/glaubenssachen/gsmanuskript433.pdf (Stand: 16.3.13). Franz-­‐Xaver Kaufmann, Kirche in der ambivalenten Moderne, Freiburg u. a. 2012, 215. 10
Bettazzi, Das Zweite Vatikanum, 59. 9
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