Die Franckeschen Stiftungen in der Zeit des Nationalsozialismus im Vergleich mit weiteren höheren Schulen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Schlesien Florian Foltin Vorbemerkung Dr. R. Osterwald: : Über die Gratwanderung der Stiftungsdirektoren 1933-1945 In seiner Wissenschaftlichen Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien befasst sich der Autor Florian Foltin mit dem Thema "Die Franckeschen Stiftungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Gleichschaltung". Darin kommt er zu dem Ergebnis, dass die Franckeschen Stiftungen über die Zeit des Nationalsozialismus "als christlich geprägte Schulanstalten" fortbestanden. "Sie wurden weder in eine NPEA ("Napola") respektive in eine "Deutsche Heimschule" überführt, darüber hinaus mussten sie auch nicht die vollständige Schließung befürchten. Da die Franckeschen Stiftungen die Umwandlungsprozesse bei den anderen Bildungseinrichtungen registrierten und die eigene Gefahr für sich darin erkannten, vermieden sie schwerwiegende Loyalitätskonflikte mit der Staatsgewalt. Die stiftische Selbstverwaltung konnte somit über die Zeit des Nationalsozialismus erhalten bleiben. Dies gelang durch eine Gratwanderung von äußerlicher Anpassung trotz interner nachweisbarer Ablehnung des nationalsozialistischen Gedankenguts." Die Direktoren der Stiftungen standen vor der Frage: "Wie lässt sich der neue Zeitgeist der Nationalsozialisten mit der gewachsen humanistisch-pietistischen Tradition von August Hermann Francke vereinen? Denn eine Tatsache stand fest: Um die Autonomie der Schulen zu wahren, war es unumgänglich, mit den nationalsozialistischen Eliten zu kooperieren. Dieser Prozess der Anpassung an das politische System war aber keine Frage von Freiwilligkeit. Denn entweder, man zeigte sich loyal zu den Behörden und setzte die aufgetragenen Reformen um oder man widerstrebte den Aufforderungen, so dass aber in letzter Konsequenz eine vollständige Vereinnahmung oder gar die Schließung der Einrichtung zu befürchten war. Beide Direktoren gingen in ihrer Öffnung der Schule gegenüber der nationalsozialistischen Erziehungspolitik mit Augenmaß und Besonnenheit vor. Die Schüler der Stiftungen wurden den nationalsozialistischen Verbänden übermittelt, äußerliche Rituale, wie das Begrüßen des Lehrer mit dem "Deutschen Gruß", das Hissen der Fahne des Dritten Reiches oder auch die Einführung des Faches "Rassenkunde" *) wurden als strukturelle Neuerungen an der Schule umgesetzt. Darüber hinaus ist in dieser Untersuchung aber auch erkenntlich geworden, dass sich die Direktoren Walther Michaelis respektive Max Dorn, gleichwohl sie Parteimitglieder der NSDAP waren, durch eine christlich- konservative Werterhaltung auszeichneten. Dementsprechend konnten im Inneren der Schule die Ideale von August Hermann Francke weiter erhalten bleiben, sowie die Erziehung und Bildung der Zöglinge nach einer humanistischen Maßgabe fortgeführt werden." Wie groß die Leistung von Michaelis und insbesondere Dorns in dieser Zeit gewesen ist, zeigt sich besonders, wenn man das Schicksal der mit den Franckeschen Stiftungen vergleichbaren pädagogischen Einrichtungen vergleicht. Aus diesem Grund veröffentlichen wir hier das entsprechende Kapitel aus der Hausarbeit. R. O. __________________________________________________________________________________ * ) Da es in diesem Zusammenhang sehr oft zu Missverständnissen kommt, hier der Versuch einer Klärung. Immer wieder sagen viele ehemalige Schüler, dass sie sich an das Unterrichtsfach Rassenkunde nicht erinnern können, bzw. behaupten, dass es dieses an ihrer Schule nicht gegeben habe. Richtig ist, dass tatsächlich die Rassenkunde zu keiner Zeit ein Unterrichtsfach neben den anderen gewesen ist, es tauchte also in keinem Stundenplan einer Schule auf. Der "Reichserziehungsminister" Bernhard Rust dehnte am 15. 1. 1935 den bis dahin nur in Preußen gültigen Erlass über "Vererbungslehre und Rassenkunde in den Schulen" auf das ganze Deutsche Reich aus. Aus dem Erlass geht eindeutig hervor, dass es sich nicht um ein neues Fach, sondern einen fachübergreifenden Unterrichtsgegenstand handelte. Rust führte aus, wie z. B. in Deutsch, Erdkunde, Geschichte die geforderten Probleme zu behandeln sind, er nennt sogar "Singen" und "Leibesübungen", die sich bei der Kenntnis- und Überzeugungsvermittlung einzuschalten hätten. Das ist auch der Grund, dass auf keinem Versetzungszeugnis "Rassenkunde" als Unterrichtsfach erscheint und folglich auch nicht zensiert wurde. Aber: In der gleichen Verordnung verfügte Rust, dass alle Schüler, die eine Schule mit Abgangszeugnis verlassen, ihre Kenntnisse in diesem Unterrichtsgegenstand nachweisen mussten. Damit wurde "Rassenkunde" zu einem Prüfungsfach. Alle Abiturienten wurden in Rassenkunde geprüft, und folgerichtig erscheint auf dem Abiturzeugnis (ganz an er Spitze!) das Prüfungsfach Rassenkunde mit der erreichten Prüfungsnote. Wegen dieser Verfahrensweise habe auch ich bis in die Oberstufe kein Unterrichtsfach Rassenkunde gehabt. Mein Biologie- und Klassenlehrer Lindemann verfügte dann aber in der Abiturklasse (damals 8. Klasse), dass er die ihm zu Verfügung stehenden Biologiestunden auf a) Biologie und b) Rasenkunde aufteilt. Damit führte er eigenverantwortlich das Fach Rassenkunde ein, in dem er eine große Zahl von Prüfungsaufgaben mitteilte, die wir alle dann im Laufe der Wochen einpauken mussten und die, wie er verriet, mit dem Text der AbiPrüfungsaufgaben übereinstimmen würden. (Was sie auch taten!) 41 Bildeten die Franckeschen Stiftungen im Nationalsozialismus mit ihrem Verhalten eine symbolträchtige Ausnahme oder haben vergleichbare Institutionen ähnlich gehandelt? Bereits der ehemalige Oberrealschüler Theodor Körner vermutete in dem Interview: „Ich habe auch so mehr das Gefühl, dass wir relativ autonom waren. Sie können aber natürlich nicht außerhalb der Welt gewesen sein.“1 Um diese Frage zu beantworten, sollen nachfolgend die Franckeschen Stiftungen mit weiteren höheren Schulen aus der Zeit kontrastiert werden. Durch Inbezugnahme der vergleichenden Methode werden die Stiftungsschulen in einen Gesamtzusammenhang gesetzt und stehen nicht weiter singulär im Raum der Diskussion. Der Aufsatz von Marianne Doerfel aus dem „Vierteljahres Heft für Zeitgeschichte“ aus dem Jahr 1983 stellt dabei das Fundament der vergleichenden Betrachtung dar. Frau Doerfel hatte in dem genannten Beitrag bereits ähnlich strukturierte Bildungseinrichtungen wie die Franckeschen Stiftungen miteinander verglichen. Infolge der schwierigen Verfügbarkeit von Quellenmaterial zu den Stiftungsschulen hatte die Autorin in ihrer Arbeit aber davon abgesehen, die Franckeschen Stiftungen in die Gegenüberstellung aufzunehmen. Diese Lücke kann heute in Folge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und der daraus resultierenden leichteren Verfügbarkeit von Quellenmaterial durchaus realisiert werden. So erachtet auch Herr Rüdiger Loeffelmeier in seiner Promotionsschrift das Schließen dieses „blinden Fleckes“ als allgemein „[…] möglich und wünschenswert.“2 Frau Doerfel stellt in ihrem Aufsatz exemplarisch verschiedene Internatsschulen dar und zeigt deren Politik des Hinhaltens, der zögernden Anpassung und des verdeckten Festhaltens an traditionellen Werten auf. Ausgehend von den Strukturmerkmalen, unterteilt sie dabei die Bildungseinrichtungen in drei Kategorien: Fürstenschulen, Stiftungsschulen und Ritterakademien. Zu den Fürstenschulen3 zählen die von Kurfürst Moritz von Sachsen gestifteten Schulen in dem Zisterzienserkloster Pforte bei Naumburg und das Barfüßerkloster St. Afra in Meißen sowie das von Kurfürst Joachim Friedrich umgebaute Jagdschloss Joachimsthal in der Uckermark. Eine weitere private Stiftungsschule entstand nordöstlich von Naumburg im heutigen Thüringen. Ihr Gründer Dr. Heinrich von Witzleben stiftete die Schule in dem Kloster bei Roßleben. Als Standesschulen für den Adel entstanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Ritterakademien in Brandenburg und bei Liegnitz in Schlesien. In ihrer jeweiligen präferierten Zielsetzung lassen sich die drei Schultypen klar voneinander unterscheiden. Jeweils auf dem distinguierten Ausleseprinzip beruhend, standen bei den Fürstenschulen die humanistische Charakterbildung und die Förderung der Wissenschaft im Vordergrund, wobei die Ritterakademien sich eher als preußische Eliteschulen verstanden, um den Adel für die Führungspositionen im Staat pragmatisch auszubilden. In ihrer Zielsetzung zwischen diesen beiden Schulkonzepten befanden sich die Klosterschule in Roßleben4 respektive die Franckeschen Stiftungen zu Halle. Von der Gründungsgeschichte ausgehend, hatte sich August Hermann Francke zum einen zur Aufgabe gemacht, die Waisen sowie die Kinder aus dem bürgerlichen Milieu zu erziehen und zu unterrichten. Parallel dazu sollte aber auch im königlichen Pädagogium der preußisch-adlige Nachwuchs für die traditionellen Führungsaufgaben ausgebildet werden. Als gemeinsames Charakteristikum besaßen alle Schultypen ein starkes Traditionsbewusstsein, welches auf politisch-historische und christlich-konservative Wertvorstellungen zurückging. Dieses hatte sich über die Jahrhunderte entwickelt und wurde stetig gefestigt. Weitere hinreichende Prämissen für einen Vergleich der einzelnen Schulen ergeben sich durch die spartanische Einfachheit in der Ausstattung, dem äußeren Habitus durch die unprätentiöse und praktische Schulkleidung, die über Generationen lebenslänglich anhaltende Identifikation mit der Schule und der Traditionspflege sowie die schuleigenen Sitten und Bräuche von z.B. Schul- und Stiftungsfesten.5 Dadurch entwickelte sich im Inneren eine starke Erziehungs- und Gefühlsgemeinschaft, welche die Schulen nach außen zu anderen staatlichen Einrichtungen klar abgrenzte. Wie auch in den Frackeschen Stiftungen bildete in allen genannten Schulen das gewachsene Traditionsbewusstsein im Denken und Empfinden sowie der bewussten Erziehung zum Frieden die größte Demarkationslinie zu der nationalsozialistischen Bildungspolitik. Dieser Gegensatz führte zu 1 Interview mit Theodor Körner (24.07.2013). Loeffelmeier, 2004, S. 362. 3 Später wird auch häufig der Begriff „Landesschulen“ verwendet. 4 Vgl. Doerfel, 1983, S 403. 5 Vgl. Doerfel, 1983, S 403. 2 42 einem regelrechten Kampf zwischen den Privatschulen und den staatlichen Behörden. Marianne Doerfel fasst diesen Identitätskampf sehr treffend zusammen: „Staatliche Eingriffe durch Lehrer und Schulleiterwechsel führten zu andauernder Beunruhigung und Frontstellung gegen einen Staat, dem es, trotz aller gegenteiligen Erklärung, offenbar nur um Zerstörung bewährter Institutionen und politische Unterjochung ging.“6 Aufgrund des Stiftungscharakters hatten alle Einrichtungen über einen, wenn auch unterschiedlichen, Grad an Autonomie verfügt, welcher sich in den Aufnahmeprüfungen der Schüler und in der Berufung von Lehrern und Schulleitern ausdrückte. Bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus versuchten sich die Schulen mit allen Mitteln vor den staatlichen Eingriffen zu entziehen, um so ihre Freiheit in der internen Bildungspolitik zu wahren. Die weltweite Wirtschaftskrise am Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhundert stellte in diesem Prozess ein gravierendes Problem für die Einrichtungen dar. Aufgrund der allgemeinen Inflation wurde das stiftische Eigenkapital, welches den monetären Grundstock der autonomen Schulführung darstellte, zusehends entwertet. Dementsprechend waren die Einrichtungen auf finanzielle Unterstützung und Hilfe von staatlicher Seite angewiesen. Infolgedessen wurden auf der Grundlage von planwirtschaftlichen Verträgen engmaschige Kooperationen und Neuordnungen durch die staatlichen Träger ausgehandelt. Der Vertrag zwischen der Franckeschen Mittelschule und der städtischen Volksschule im Jahr 1931 stellte de facto eine solche behördliche Zwangskollektivierung dar. Auch an der Schulpforta und dem Joachimsthaler Gymnasium, welche trotz struktureller Änderung der Vermögensverwaltungen einen Staatszuschuss beantragen mussten, kam es zu vergleichbaren Eingriffen. Die finanziellen Mittel, welche unter der Prämisse aufgetragener Reformen gewährt wurden, führten auch an diesen Orten zu starker Kritik seitens der Lehrer und Eltern. Der internationales Ansehen genießende Altphilologe Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf sprach über diesen Prozess der ersten Gleichschaltungsphase von „Tyrannen im ehemaligen Kultusministerium“ und von einer „brutalen Vergewaltigung“7 der historisch gewachsenen Schulen. Die drohende Verstaatlichung belastete das Verhältnis zu den Behörden und entwickelte sich zu einem zähen Ringen, ferner spiegelte es aber auch die innenpolitischen Gegensätze in der damaligen Zeit wider. Über den souveränen Schulen hing drohend das Damoklesschwert der Verstaatlichung, welches sinnbildlich für die damit einhergehende Aufhebung des traditionellen Erziehungssystems stand. Ein besonderes Moment im Nationalsozialismus bildete in diesem Zusammenhang Adolf Hitlers Bewunderung der englischen „Public Schools“. Das königliche Empire förderte diese Eliteschulen bewusst, um so Nachwuchs in Form von hohen Beamten und Offizieren oder auch Kolonialverwaltern zu rekrutieren. Adolf Hitler entlehnte sich dem englischen Konzept der „Public Schools" und entwickelte die Idee, „Nationalpolitische Erziehungsanstalten“ (NPEA) mit einem Eliteanspruch zu fördern. Ziel war es, für die zukünftig im Osten eroberten Gebiete des Großdeutschen Reiches eine nationalsozialistische Führungsschicht heranzubilden, welche blinden Gehorsam und Befehlen gelernt hatte und in ihrer Gesinnung einheitlich war. Zwei wesentliche Konzepte sollten für diese Eliteschulen entscheidend sein. Zum einen stellte die „rassische Auslese“ eine wesentliche Zugangsvoraussetzung dar. Die arische Blutreinheit respektive die sportliche Disposition waren hierbei entscheidend. Andererseits sollte durch eine Typenbildung in Form einer omnipräsenten Gesinnungserziehung versucht werden, die vorhandene Elite in den neuen Staat zu integrieren. In diesen Erziehungsanstalten wurden humanistische Bildungs- und Wissenschaftsideale als nachrangig erachtet. Das Augenmerk lag fortan in der völkischen Gemeinschaftserziehung. Aus diesem Grund wurde bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten das Internatsschulwesen umgewandelt. Die vorrangige Bedeutung in der Überführung dieser Internate in NPEAs ergab sich auch durch die Besonderheit, dass die pädagogische Einwirkung in die Gemeinschaft eine sehr viel stärkere Beeinflussung ermöglichte, als dies in den städtischen Tagesschulen der Fall gewesen wäre. Auf der anderen Seite stellte dieses Wesensmerkmal der Internate durch das stark ausgeprägte Traditionsbewusstsein ebenso eine große Schwierigkeit in der Auflösung und Umwandlung der Schulen dar. In verschiedenen Etappen wurden daher Schulleiter, Lehrer, Schülerschaften und Schulträger schrittweise beseitigt oder durch parteitreue Funktionäre ausgetauscht. 8 Eines der ersten Opfer dieser nationalsozialistischen Umgestaltung wurde Professor Walther Kranz. Der Direktor der Schulpforta wurde in einer böswilligen Hetzkampagne von Seiten des Kollegiums 6 Ebd., S. 413. Ebd. 8 Vgl. Doerfel, 1983, S. 420. 7 43 aus dem Schuldienst getrieben. Nachdem sich in einer Flugblattkampagne über ihn als „Juden Kranz“ echauffiert wurde, zog er durch den Rücktritt von seiner Amtstätigkeit als „Rektor Portensis“ im Mai 1933 die persönliche Konsequenz aus diesem feindlichen Vorgehen. Danach folgte ein zweijähriges Interregnum mit einem aus der Lehrerschaft kommenden Stellvertreter. Am 19. Juli 1935 wurde schließlich die Schulpforta in eine NPEA umgewandelt. Den Vorsitz als Direktor und Anstaltsleiter erhielt der von der bereits existierenden NPEA-Köslin berufene Dr. Adolf Schieffer. Im Range eines militärischen SS-Standartenführers9 war der neue Anstaltsleiter in erster Linie für die politische und organisatorische Neustrukturierung der Schule zuständig. Nach den Sommerferien wurde den oberen Jahrgängen die Rückkehr an die Schule versagt. Die Schüler mussten folglich an eine andere Schule wechseln. Der Grund war, dass sich bei ihnen das humanistische Traditionsbewusstsein bereits zu stark verfestigt hatte und dementsprechend eine kurzfristige Indoktrination nicht die gewünschten Erfolge gebracht hätte. Des Weiteren wurde bis auf zwei systemtreue Parteigenossen das gesamte Lehrerkollegium ausgetauscht und neue Aufnahmeprüfungen für Lehramtsanwärter und Schüler eingeführt. Die innere und äußere Gleichschaltung der traditionsreichen Schule war damit besiegelt.10 Als humanistisches Gymnasium war Schulpforta bedeutungslos geworden. Auch dieses Schicksal hätte die Franckeschen Stiftungen ereilen können. Aber die Stiftungsschulen sowie auch die anderen traditionellen Internate blieben von der Umwandlung in eine NPEA verschont. Dementsprechend konnten in diesen Einrichtungen die alten Traditionen und Erziehungsinhalte zunächst erhalten bleiben. Die entscheidende Bedeutung kam dabei der schweigenden Übereinkunft zwischen Teilen der Lehrerschaft und der Schülerschaft zu, denn die nationalsozialistische Ideologie drang auf unterschiedliche Weise in die Schulen ein. Jede differenzierte Kritik und Abwehr musste die möglichen Repressalien mit einkalkulieren, aber auch die ungeduldige Bereitschaft vieler Schüler berücksichtigen, sich für die neuen Ideen zu engagieren. In diesem politischen Machtkampf spielten die Schulleiter eine entscheidende Rolle. In den Direktoren Walther Michaelis und Max Dorn besaßen die Anstalten durchaus intelligente Persönlichkeiten mit individueller Gewandtheit und Augenmaß an ihrer administrativen Spitze, so dass eine Umwandlung in eine NPEA verhindern werden konnte. Durch die Flucht nach vorne versuchte Walther Michaelis die Schulen vor der vollständigen Vereinnahmung durch den Staat zu schützen, wie in den Francke-Blätter verkündet wurde: 'Am Tage des Schanddiktats von Versailles, Mittwoch, den 28. Juni 1933, wird als Bekenntnis der Franckeschen Stiftungen zum nationalsozialistischen Erziehungsziel den Zöglingen aller Schülerheime der Franckeschen Stiftungen verbindlich gemacht, dem Jungvolk oder dem Bund deutscher Mädel beizutreten.'11 Resümierend wird er später über diesen Schritt persönlich berichten: „Diese Maßnahme hatte den Erfolg, daß ich von den Schwierigkeiten, mit denen die städtischen Schulleiter dauernd zu kämpfen hatten, besonders den Übergriffen der jugendlich, stürmischen HJ-Führern, sehr wenig verspürte und in den Schulen und Heimen unbehelligt blieb. Auch die Rechte der Stiftungen blieben unangetastet.“12 Dadurch, dass alle Schüler „ordnungsgemäß“ den nationalsozialistischen Verbänden gemeldet worden waren, blieben weitere Repressionen der Behörden zunächst aus, da kein widerstrebendes Verdachtsmoment vorlag. Durch den von Hitler bezeichneten Prozess der „nationalen Neuerung“ wurde aber in der Folgezeit der Druck auf die privaten Schulen stetig erhöht und mündete wie an dem Joachimsthalschen Gymnasium in Templin in einer regelrechten Kraftprobe. Auch in dieser Einrichtung waren wie an den Franckeschen Stiftungen alle Schüler der HJ respektive dem DJ gemeldet worden. Jedoch bemerkten erfahrene Beobachter innerhalb der Schule, dass es keine wesentlichen Änderungen in der Internatsordnung gegeben hatte und noch immer Morgensandachten abgehalten wurden. Darüber hinaus wurde beanstandet, dass die nationalsozialistische Ausrichtung der Jugend durch die HJ nicht in dem erwarteten Maße erreicht wurde wie es angedacht war. Infolgedessen sollte der Schulleiter von seiner Amtstätigkeit entbunden werden. In einer durch den Bannführer der HJ vorher bekanntgegeben Forderung sollten alle HJ-Mitglieder zu Beginn des neuen Schuljahres und dem daran anschließendem Appell „[…] die Errichtung eines eigenen Fahnenmastes auf dem Schulgebäude, die Absetzung des Rektors und zur Erlernung der Volksgemeinschaft die Eingliederung der Joachimsthaler Schüler in 9 Der SS-Standartenführer war im „Deutschen Reich“ der zweithöchste Offiziersrang der Schutzstaffel. Vgl. Doerfel, 1983, S. 422f. 11 Nebe, 1933/3, S. 1. 12 Osterwald, 1992/3, S. 32. 10 44 eine gemischte Einheit mit der Stadt- und Landjugend […]“13 fordern. Aber nicht alle Schüler vertraten diese Aufforderung, denn 16 Primaner bekräftigten ihre Loyalität zur Schule und zum Schulleiter. Die boykottierende Unternehmung der Schüler führte zu einem regelrechten Affront und wurde sofort in einem Bericht nach Berlin zu Minister Rust gesandt. Die Delinquenten sowie auch der Schulleiter wurden daraufhin der Schule verwiesen. Da es sich bei der Einrichtung um eine sehr renommierte Institution handelte, kam es in der Folgezeit zu scharfem Protest von Eltern und ehemaligen Schülern. Die Nationalsozialisten wandten die erprobte Taktik des scheinbaren Entgegenkommens an, um so ein vermeintliches Vertrauen zu wecken und die alte Ordnung wiederherzustellen. Demzufolge konnten durch den darauffolgenden Beschluss des Ministeriums alle 16 Jungen ebenso so wie der beurlaubte Direktor an das Gymnasium zurückkehren. Der Schulleiter führte seine Amtstätigkeit aber nur noch zwei weitere Monate bis zu den Sommerferien aus. Danach wurde er durch einen linientreuen Parteigenossen stillschweigend zur Öffentlichkeit ausgetauscht.14 Diese schleierhafte Verfahrensweise des Ministeriums kann auch an den Franckeschen Stiftungen bei der Geschichtslehrerin Frau Elisabeth Brosius nachgezeichnet werden. Auch sie wurde nach den Ferien wortlos an das Oberlyzeum nach Stendal versetzt, nachdem ihr regimekritischer Unterricht nachgewiesen werden konnte. Die ehemalige Schülerin Getraude Heber berichtete später über ihre Lehrerin: „Frau Brosius war für mich die erste Erwachsene, die - ohne es direkt zu sagen - Kritik an den neuen Machthabern deutlich werden ließ und in einer Arbeitsgemeinschaft, in der wir Teile aus Hitlers 'Mein Kampf' und Rosenbergs 'Mythos des 20. Jahrhunderts' lasen, Skepsis auch bei denen wach werden ließ, die Brüder bei der SA und SS hatten oder selbst begeisterte BDM-Führerinnen geworden waren.“15 In einem ähnlichen Kontext kann ebenfalls der Protest der Religionslehrer gedeutet werden. Die „Reichskristallnacht“ in Halle hatte auf besondere Weise eine unmittelbare Auswirkung auf den Religionsunterricht in den Franckeschen Stiftungen. Kurz nach dem Pogrom auf jüdische Geschäfte und auch auf die Synagoge im Stadtgebiet wurde durch die Gauverwaltung des NSLB am 17. November 1938 verlautet: „Auf Grund der letzten Nacht fordert die Reichsverwaltung des N.S.L.B. alle Mitglieder auf, den Religionsunterricht mit sofortiger Wirkung niederzulegen, da wir eine Verherrlichung des jüdischen Verbrechervolkes an den deutschen Schulen nicht mehr länger dulden können.“ Die Fachkonferenz der Religionslehrer widerstrebte dieser Aufforderung. In dem Konferenzbuch ist als Reaktion auf die Ankündigung vermerkt: „Auf Befragung erklären die Herren, daß nach ihrer Überzeugung ihr Unterricht weder eine Verherrlichung des jüdischen Verbrechervolkes sei, noch im Widerspruch mit der nationalsozialistischen Weltanschauung steht. Sie hätten daher keine Veranlassung, von der Aufforderung des NSLB Gebrauch zu machen und würden den bisher erteilten Religionsunterricht weiterführen.“16 Die Lehrer Weise, Rodehau, Hertling und Werner bekundeten mit ihrer Unterschrift unter dem Schreiben persönlich ihren Protest. Dieser Eintrag in dem Konferenzbuch stellt als heutige Quelle ein besonderes Moment hinsichtlich aktiven Widerstandsverhaltens dar. Wie erkenntlich wird, widersprachen die Fachlehrer der Weisung des NSBL und fuhren mit ihrem Unterricht wie zuvor fort. Daraufhin schaltete sich der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust am 23. November 1938 persönlich ein und setzte die Weisung des NSLB außer Kraft: „Es besteht Veranlassung, auf seinen Erlaß die Erteilung des Religionsunterricht […] erneut hinzuweisen. Danach ist es der Gewissensentscheidung jedes Lehrers überlassen, ob er Religionsunterricht erteilen oder sich hieran außerstande erklären will. Aus dem Grundsatz der Gewissensfreiheit ergibt sich, daß ihm weder aus der Erteilung noch aus der Niederlegung des Religionsunterrichts Nachteile erwachsen dürfen.“17 Die Behörden umgingen auch in diesem Konflikt die Gefahr der Ausweitung in ein öffentliches Politikum. Da der Religionsunterricht für die Franckeschen Stiftungen ein Wesensmerkmal darstellte, wurde in dieser Angelegenheit auf weitere Konsequenzen bei Lehrern und Schulleiter in Form eines erneuten Verbotsantrages verzichtet. Das Joachimthalsche Gymnasium hingegen stand in der Folgezeit aufgrund der erläuterten öffentlichen Kritik und der Disziplinverstöße unter verschärfter Beobachtung. Offener Widerstand am politischen System musste fortan vermieden werden, um weitere Repressionen zu verhindern. Um die 13 Doerfel, 1983, S 425. Ebd., S 426f. 15 Heber, 1999/1, S. 82. 16 Osterwald, 1993/2, S. 26. 17 Osterwald, 1993/2, S. 27. 14 45 verfahrene Situation zu entschärfen, bedienten sich die Joachimthaler einer listigen Strategie. Durch die Kontakte eines ehemaligen Schülers, der zum damaligen Zeitpunkt als Fliegeroffizier im Luftfahrtministerium tätig war, baten sie Hermann Göring um eine Schirmherrschaft für das Gymnasium. Am 15. Dezember 1936 erfolgte die Zusage des führenden nationalsozialistischen Politikers und Oberbefehlshabers der deutschen Luftwaffe. Da Hermann Göring in seinem Ministerium unabkömmlich war, konnte er sein Patronat nicht aktiv wahrnehmen. Dem Joachimthalschen Gymnasium war durch diese symbolische Schirmherrschaft die Flucht vor der staatlichen Aufsicht gelungen. Durch diese äußere Anpassung entzog man sich den weiteren Eingriffen der Nationalsozialisten. Vor allem dem häufig auf sozialem Ressentiment beruhenden Misstrauen der örtlichen Partei- und HJ-Dienststellen konnte nun mit größerer Sicherheit entgegengetreten werden.18 Vor diesem Hintergrund erscheint das Patronat von August von Mackensen für die Franckeschen Stiftungen in Hinblick auf die Politik des Hinhaltens, der zögernden Anpassung und des verdeckten Festhaltens an traditionellen Werten wesentlich bedeutsamer. Am Tag der feierlichen Namenstaufe der Oberschule für Jungen wurde in der Rede des Orators ausgeführt: „Wir wählen einen Namen, der für das innere Leben der Schule richtungsweisend sein soll. […] So soll der Name 'Mackensen' nicht nur unsere Schule zieren, sondern er soll uns verpflichten in unserer Arbeit an der Jugend des Dritten Reiches. Diese Arbeit aber hat nur ein Ziel: Für Volk und Führer eine Mannschaft auszulesen und heranzubilden, die geistig und körperlich fähig und charakterlich bereit ist, ihr Letztes einzusetzen für den Lebenskampf unseres Volkes. Ihr Jungen sollt Soldaten Adolf Hitlers werden!“19 Es kann daher abgeleitet werden, dass die Schirmherrschaft eine bewusste Entscheidung der Schulleitung war, sich vor weiteren Interventionen durch die Staatsgewalt zu schützen. Im Vergleich mit dem Joachimthalschen Gymnasium muss aber deutlich festgehalten werden, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen den Personen Hermann Göring und August von Mackensen gab und eine Gegenüberstellung fast indiskutabel erscheint. Hermann Göring wurde in den Nürnberger Prozessen in den Anklagepunkten: Verschwörung gegen den Weltfrieden; Planung, Entfesselung und Durchführung eines Angriffskrieges; Verbrechen gegen das Kriegsrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Dem gegenüber kollaborierte August von Mackensen zwar mit den Nationalsozialisten und lies sich für deren Propagandazwecke missbrauchen, gleichwohl trat er aber stets für eine humanistische respektive christlich-konservative Politik und Erziehung ein, wie er dies auch bei einem Besuch in den Franckeschen Stiftungen betonte: „'Er vertrauete Gott'. Wie oft habe ich dieser Worte gedacht in schwierigen Lagen des Krieges, vor schweren Entscheidungen, und aus ihnen Kraft und Zuversicht geschöpft! Dabei habe ich mich stets leiten lassen von meinem Wahlspruch: 'Der kühnste Entschluß ist der beste', aber möglich war mir das nur auf der Grundlage eines starken Gottvertrauens, wie es mir die Erziehung in diesen Stiftungen eingeflößt hat [...].“20 Das Jahr 1941 stellte eine weitere Phase der Überführung der Privatschulen in das nationalsozialistische Erziehungssystem dar. Um den Führernachwuchs zu sichern, wurden neben den bereits existierenden NPEAs, sogenannte „Deutsche Heimschulen“, eingeführt. Die Heimschulen sollten, so Martin Bormann21, gemäß Anordnung des Führers: „[…] künftig ein Mittel zur Verwirklichung des totalen staatlichen Erziehungsanspruches werden. Wir müssen also so viele Heimschulen schaffen, daß die in konfessionell ausgerichteten Internaten erzogenen Kinder auf Heimschulen weiter erzogen werden können.“22 Die „Deutschen Heimschulen“ hatten sich organisatorisch am Vorbild der NPEAs zu orientieren. Sonach wurden nur Waisenkinder respektive Jungen aufgenommen, deren Väter im zweiten Weltkrieg gefallen waren. Alle Schüler mussten Mitglied der HJ sein und sich dort durch besonderes Verhalten hervorgetan haben. Konnte durch weitgehende Geschicklichkeit der Schulleitung eine Gleichschaltung bei den meisten traditionellen Schulen noch verhindert werden, veränderte sich das Bild nun schlagartig. Am 17. November 1942 wurde in einem feierlichen Staatsakt die sächsische Landeschule St. Afra in eine „Deutsche Heimschule“ umgewandelt. Eine Fortsetzung der Schultradition war nun nicht mehr 18 Vgl. Doerfel, 1983, S. 427f. Michaelis, 1939/1, S. 9ff. 20 Osterwald, 2001/3, S. 48. 21 Martin Bormann (* 1900; † 1945) war in der Zeit des Nationalsozialismus Leiter der Parteikanzlei der NSDAP. 22 Vollbrecht, 2001, S. 8 19 46 möglich. Auch der Rundbrief vieler Altafraner konnte die vorzeitige Pensionierung des Direktors, den vollständigen Austausch des Lehrerkollegiums und die vorzeitige Einberufung der Primaner als Luftwaffenhelfer nicht verhindern. In demselben Maße wurde auch dieser traditionsreichen Bildungsstätte die Souveränität genommen. Das gleiche Schicksal ereilte im Januar 1944 dem Joachimthalschen Gymnasium trotz vehementen Widerstandes. Der Glanz des Patronats Hermann Göring war längst verblasst. Ein an ihn gerichtetes Gesuch, die Schule in alter Form zu erhalten, wurde an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung weitergeleitet, das mit der Ablösung des Schulleiters sofort reagierte. Damit war nun auch die letzte Fürstenschule eine „Deutsche Heimschule“ geworden.23 Unter den von Martin Bormann verkündeten Heimschulerlass fiel auch die Klosterschule Roßleben in Thüringen. Die Stiftung lag bis dato ununterbrochen im Familienbesitz der Angehörigen von Witzleben. Diese Kontinuität konnte in erster Linie durch den Erbadministrator gesichert werden, der stets von einem jüngeren Mitglied der Familie von Witzleben gestellt wurde. So überstand das humanistische Gymnasium die Zeit der Weimarer Republik ohne Reformzwänge. Die Losung des Gründervaters Dr. Heinrich von Witzleben „[…] Erziehungsziel und Bildungsideal waren vom christlichen Humanismus bestimmt […]“24 konnte in der Folgezeit zunächst erhalten bleiben. Dr. Wolf-Dietrich von Witzleben, familiärer Erbadministrator und Leiter der Personalabteilung von Siemens in Berlin, war es zu verdanken, dass er bei der Neubesetzung des Schulleiters im Jahre 1934 einen bereits an der Schule tätigen Lehrer, der die Tradition dieses Gymnasiums verinnerlicht hatte, als neuen Direktor wählte. Sein ganzes Bemühen war darauf gerichtet, die ihm anvertraute Schule in ihrer Eigenart und humanistischen Tradition vor dem Machtanspruch des NS-Staates zu verteidigen. An dem Roßlebener Gymnasium hatte ein nationalsozialistischer Schülerbund von der HJ oder DJ bis dato nicht existiert. Die Zöglinge gehörten lediglich dem „Verein für Deutschtum im Ausland“25 (VDA), eine vom Volksbildungsministerium ausdrücklich zugelassene Schülervereinigung, an. In ihrer politischen Ausrichtung war die Schülerschaft national-konservativ entsprechend ihrer Herkunft aus dem Großbürgertum, Beamten- und Offiziersfamilien eingestellt. Sie verstanden sich als „Getreue des Kaisers“ und richteten daher ihren Lebensstil an den preußischen Tugenden der Genügsamkeit und Disziplin sowie an einem starken Traditionsbewusstsein aus. Dementsprechend bedeutete für die Schüler „reaktionär“ zu sein eher ein Unheil und eine Gefahr für die preußische Traditionspflege, wodurch sich entsprechend die soziokulturelle Distanz zum Nationalsozialismus ableiten lässt.26 Das Roßlebener Gymnasium versuchte sich daher vor äußeren Zugriffen der neuen Machthaber zu schützen. Politische Kontrolle durch den Staat konnte zunächst nur durch die an der Schule parteigebundenen Studienreferendare und –assessoren erwirkt werden. Diese weisungsbedingte Ohnmacht bereitete den Behörden zusehends Unbehagen. Des Weiteren forderten die Disziplinverstöße der Schülerschaft die Amtsträger stetig heraus. In einem Vorfall aus dem Jahr 1941 wird berichtet, dass im Schlafsaal heimlich die Musiksendung des Londoner Rundfunks gehört wurde. Das bedeutete in der nationalsozialistischen Logik als Störung der Schlafsaalordnung ein Disziplinarverstoß und als Abhörung eines feindlichen Senders ein politisches Delikt, für das der verantwortliche Gruppenälteste mit Zuchthaus bestraft werden konnte.27 Der Schulleiter reagierte auf diesen Vorfall wider Erwarten mit einem sehr salomonischen Urteil, da der Schülervertreter nur seines Amtes enthoben und auf politische Konsequenzen des Deliktes verzichtet wurde. Die unterlassene politische Verfolgung des Schülers verlangte nach radikalen Konsequenzen, da das Bildungsministerium die Reaktion des Schulleiters als ein zersetzendes Widerstandsverhalten gegenüber dem Staat deutete. In diesem Zusammenhang wurde am Ende des Jahres 1941 die Umwandlung der Klosterschule Roßleben in eine „Deutsche Heimschule“ verkündet. Das Klima in dem Gymnasium änderte sich schlagartig. Die Schülerschaft musste der HJ beitreten, wodurch der ortsansässige Bannführer umfassende Weisungsbefugnisse erhielt. Ebenso wurde der kirchliche 23 Vgl. Doerfel, 1983, S. 434ff. Ebd., S. 437. 25 Der VDA war als „Allgemeiner Deutscher Schulverein zur Erhaltung des Deutschtums im Ausland“ 1881 gegründet wurden. Sein Ziel war die Pflege der Bindungen der Auslandsdeutschen an Deutschland, besonders durch deutschen Schulunterricht. Der VDA verlor 1938 seine Unabhängigkeit und wurde als Volksbund für das Deutschtum im Ausland von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke missbraucht. 26 Vgl. Doerfel, 1983, S. 437f. 27 Ebd., S. 439. 24 47 Einfluss auf die Schule stark zurückgedrängt und der amtierende Schulleiter nach wenigen weiteren Monaten aus seiner Amtstätigkeit entlassen. Die Stiftungsschule in Roßleben war nun vollständig von der politischen Gleichschaltung durchdrungen. Die Ritterakademien waren als Standesschulen geschaffen worden für die distinguierten Söhne des in der jeweiligen Provinz beheimateten Adels. Sie standen nicht unter dem Patronat eines Königs und waren mit keiner Stiftung ausgestattet. Die Schulen finanzierten sich ausschließlich durch die regelmäßig zu entrichtenden Beträge des Schul- und Pensionsgeldes. Auf dem Dom zu Brandenburg war 1705 eine Ritterakademie in den leeren Räumen des ehemaligen Prämonstratenserklosters gegründet worden. Für die Schulangelegenheiten war der von der adligen Standesorganisation berufene Kurator zuständig. Im Gegensatz zu den Stifts- respektive Fürstenschulen waren Ritterakademien nicht im eigentlichen Sinne „Gelehrtenschulen“, da die Zöglinge gezielt für ihre Tätigkeit im Staat ausgebildet wurden und dies dementsprechend keine ganzheitliche humanistische Bildung erforderte. Auch auf politischer Ebene war das Verhältnis von Staat und Schule im Gegensatz zu den anderen Traditionsschulen durch Nähe zur Obrigkeit gekennzeichnet. Der von 1921 bis 1934 amtierende Direktor wurde rückblickend in der Broschüre von 1941 als „[…] energischer Vorkämpfer nationaler Ziele[…]“ glorifiziert, der „[…] an hervorragender Stelle in Brandenburg der NSDAP den Weg zur Macht ebnete.“28 Denn bereits kurz nach der Machtergreifung Adolf Hitlers begrüßt der Direktor die politischen Kampftruppen der „Sturmabteilung“ (SA) und des „Stahlhelms“29 feierlich in den Örtlichkeiten der Ritterakademie. Hierin zeigt sich bereits der Schulterschluss zu den neuen Machthabern in Deutschland. Ebenso wurde von keinem vernehmbaren Prostest seitens der Eltern berichtet. Die Ritterakademie trat augenscheinlich im Gleichschritt mit den Nationalsozialisten. Der ehemalige Schüler Hans Georg von Ribbeck hat später reflektierend über diesen Vorgang berichtet: „Wir hatten ein verhältnismäßig beschränktes Weltbild und ein einseitiges politisches Wissen von der Welt.“30 In ihrem Selbstverständnis sah sich die Ritterakademie als Eliteschule, Nachwuchs in den Führungspositionen des Staates und Heeres zu besetzen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland entstand zunächst ein Vakuum, welches nun durch die Herrschaft der Nationalsozialisten wieder ausgefüllt wurde und einen neuen Bezugspunkt für die Schule darstellte. Nachdem der damalige Direktor altersbedingt in den Ruhestand trat, wurde die Stelle durch den nationalsozialistischen Regierungspräsidenten Dr. Ernst Fromm31 eingenommen. Diese Neubesetzung erwies sich jedoch als völlige Fehlentscheidung für die Traditionsschule, da der Leiter die Schülerund Lehrerschaft nicht kontrollieren konnte. Ungeachtet dessen die Standesschule zwar den Nationalsozialisten nicht feindlich gegenüberstand, war die Ritterakademie trotz alledem bestrebt, ihren autonomen Status in der Schulführung zu wahren und sich der bildungspolitischen Vereinnahmung durch den Staat zu entziehen. Infolgedessen führten notorische Disziplinstörungen der mit preußischem Pflichtethos beseelten Schülerschaft zu häufigen Beschwerden des Direktors bei der Schulaufsicht. Das Ministerium reagierte mit der Schließung der Standesschule zu Ostern 1937, da die zuständigen Behörden von einer Umwandlung in eine NPEA absahen. Nur durch hartnäckiges Verhandeln gelang es dem Kurator, die Schließung des parallel zur höheren Schule existierenden Internats zu verhindern. Aber auch die funktionsverwaltende Autonomie des Alumnats währte nicht lange. Im September 1944 wurde die sofortige Umwandlung in eine „Deutsche Heimschule“ beschlossen und das Internat der Dienststelle des SS-Obergruppenführers unterstellt. Nach dieser bildungspolitischen Neuorganisation verblieben lediglich 20 Zöglinge an der Schule, zwei weitere Klassenzüge wurden von der „Deutschen Heimschule“, des ehemaligen Joachimthalschen Gymnasiums, zur Aufstockung nach Brandenburg verlegt. Damit fand die Gleichschaltung der Standesschule ihren Abschluss.32 Eine ähnliche Entwicklung kann anhand der zweiten Ritterakademie in Liegnitz nachgezeichnet werden. Die 1735 in Schlesien errichtete Standesschule unterteilte sich ebenfalls in ein höheres Gymnasium und in einen Internatsbereich. Die Zöglinge rekrutierten sich aus dem schlesischen Adel und aus dem Bürgertum der Region. Die administrativen Vollmachten besaß der aus dem Adelskreis ernannte Kurator. Eine Besonderheit stellte die Erziehung der Internatskinder durch abkommandierte 28 Ebd., S. 442. Der „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ war ein paramilitärisch organisierter Wehrverband. 30 Doerfel, 1983, S. 442f. 31 Ernst Fromm (* 1881; † 1971) war ein deutscher Staatswissenschaftler und Politiker der NSDAP. 32 Vgl. Doerfel, 1983, S. 441ff. 29 48 Offiziere dar. Diese Regel war bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt worden. Dabei ging es weniger um eine militärische Ausrichtung als vielmehr um den Wunsch, Erzieher aus einem ähnlichen sozialen Milieu, welchem die Schülerschaft von Hause aus entsprach, an die Schule zu berufen. In ihrer politischen Tradition orientierte sich die Ritterakademie ebenfalls an den Idealen der einstig preußischen Monarchie. Dementsprechend waren die pluralistischen Wirren der Weimarer Republik eine Kampfansage gegen das preußische Traditionsbewusstsein der Einrichtung. Trotz Verbots der Schulleitung nahmen die älteren Schüler aktiv an den politischen Machtkämpfen der Weimarer Republik teil und setzen sich für eine Wiedererrichtung der Monarchie in Deutschland ein. Nachdem Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, veränderte sich augenscheinlich auch die politische Ausrichtung der Schule. Um die Vorwürfe zu entkräften, dass die Ritterakademie eine „reaktionäre Standesschule“ sei, wurden folglich mehr Söhne aus bürgerlichen Familien aufgenommen. Weiterhin beanstandeten aber höhere HJ-Stellen, dass eine „[…] mangelnde Beteiligung und Interessenlosigkeit […]“33 an den nationalsozialistischen Schülerverbänden an der Ritterakademie vorherrschte. Dieser Konflikt drohte die Daseinsberechtigung der Standesschule zu gefährden, sodass sich die Leitung entschloss, eine hochkarätige Schirmherrschaft an ihre Einrichtung zu binden. Bei Kriegsausbruch unternahm der Kurator den Versuch, die Armee für ein Patronat zu gewinnen, da er erkannte, dass die Standesschule in seiner bisherigen Form nicht mehr lange existieren würde. Die Initiative scheiterte und der Kurator sowie alle Beteiligten wurden abgesetzt. Danach folgte eine harsche Säuberungsaktion. Eingeschleuste HJ-Schüler denunzierten Lehrer und widerständige Schüler, die anschließend durch die GESTAPO verhört und mental zersetzt wurden. Die Primaner konnten sich dem Umsturz durch die vorzeitige Meldung zur Wehrmacht entziehen. Einzelne jüngere Schüler wurden auf Wunsch der Eltern von der Schule genommen und an die städtische Schule geschickt. Die Führungsstruktur war folglich zerstört und die Renitenz der Schülerschaft zerstreut. Die Standesschule unterstand nun vollständig der Bildungspolitik der Nationalsozialisten. Ausnahmslos wurden die neuen Leiter, Lehrer und Zöglinge an der Schule in ihrer politischen Gesinnung überprüft. Statt der traditionsbewussten Elitenerziehung auf preußischer Grundlage wurde fortan der nationalsozialistische Gefolgschaftsgedanke propagiert.34 Im Gegensatz zu den dargestellten Ritterakademien, Stifts- und Fürstenschulen bestanden die Franckeschen Stiftungen über die Zeit des Nationalsozialismus als christlich geprägte Schulanstalten fort. Sie wurden weder in eine NPEA respektive in eine „Deutsche Heimschule“ überführt, darüber hinaus mussten sie auch nicht die vollständige Schließung befürchten. Da die Franckeschen Stiftungen die Umwandlungsprozesse bei den anderen Bildungseinrichtungen registrierten und die eigene Gefahr für sich darin erkannten, vermieden sie schwerwiegende Loyalitätskonflikte mit der Staatsgewalt. Die stiftische Selbstverwaltung konnte somit über die Zeit des Nationalsozialismus erhalten bleiben. Dies gelang durch eine Gratwanderung von äußerlicher Anpassung trotz interner nachweisbarer Ablehnung des nationalsozialistischen Gedankenguts. Quellen und Literaturverzeichnis Marianne Doerfel, Der Griff des NS-Regimes nach Elite-Schulen. Stätten klassischer Bildungstradition zwischen Anpassung und Widerstand, In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1989/37, S. 401-455. Getraude Heber, Aus der staatlichen August-Hermann-Francke-Schule, In: Francke-Blätter 1999/1. Rüdiger Loeffelmeier, Die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale von 1918-1946. Bildungsarbeit und Erziehung im Spannungsfeld der politischen Umbrüche, Tübingen 2004. Rolf Osterwald, -Zur Geschichte der Oberrealschule. Teil 6, In: Francke-Blätter 1992/3. - Zur Geschichte der Oberrealschule. Teil 8, In: Francke-Blätter 1993/2. - Die Franckeschen Stiftungen und Generalfeldmarschall August von Mackensen, In: Francke-Blätter 2001/3. Gerhard Vollbrecht, Die Deutsche Heimschule Schloß Iburg. Oberschule für Jungen. 1942–1945, Glandorf 2001. Blätter der Franckeschen Stiftungen, - Jg. 1933, Heft 1-3 und Jg. 1934, Heft 1: Hrsg. von August Nebe. - Jg. 1935-1940, Hrsg. von Walther Michaelis. 33 34 Ebd., S. 449. Ebd., S. 448ff. 49