Die Franckeschen Stiftungen in der Zeit des Nationalsozialismus im

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Die Franckeschen Stiftungen in der Zeit des Nationalsozialismus im Vergleich mit weiteren
höheren Schulen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Schlesien
Florian Foltin
Vorbemerkung Dr. R. Osterwald: : Über die Gratwanderung der Stiftungsdirektoren 1933-1945
In seiner Wissenschaftlichen Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien befasst sich
der Autor Florian Foltin mit dem Thema "Die Franckeschen Stiftungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Im
Spannungsfeld zwischen Autonomie und Gleichschaltung". Darin kommt er zu dem Ergebnis, dass die
Franckeschen Stiftungen über die Zeit des Nationalsozialismus "als christlich geprägte Schulanstalten"
fortbestanden. "Sie wurden weder in eine NPEA ("Napola") respektive in eine "Deutsche Heimschule" überführt,
darüber hinaus mussten sie auch nicht die vollständige Schließung befürchten. Da die Franckeschen Stiftungen
die Umwandlungsprozesse bei den anderen Bildungseinrichtungen registrierten und die eigene Gefahr für sich
darin erkannten, vermieden sie schwerwiegende Loyalitätskonflikte mit der Staatsgewalt. Die stiftische
Selbstverwaltung konnte somit über die Zeit des Nationalsozialismus erhalten bleiben. Dies gelang durch eine
Gratwanderung von äußerlicher Anpassung trotz interner nachweisbarer Ablehnung des nationalsozialistischen
Gedankenguts."
Die Direktoren der Stiftungen standen vor der Frage: "Wie lässt sich der neue Zeitgeist der Nationalsozialisten
mit der gewachsen humanistisch-pietistischen Tradition von August Hermann Francke vereinen? Denn eine
Tatsache stand fest: Um die Autonomie der Schulen zu wahren, war es unumgänglich, mit den
nationalsozialistischen Eliten zu kooperieren. Dieser Prozess der Anpassung an das politische System war aber
keine Frage von Freiwilligkeit. Denn entweder, man zeigte sich loyal zu den Behörden und setzte die
aufgetragenen Reformen um oder man widerstrebte den Aufforderungen, so dass aber in letzter Konsequenz eine
vollständige Vereinnahmung oder gar die Schließung der Einrichtung zu befürchten war. Beide Direktoren
gingen in ihrer Öffnung der Schule gegenüber der nationalsozialistischen Erziehungspolitik mit Augenmaß und
Besonnenheit vor. Die Schüler der Stiftungen wurden den nationalsozialistischen Verbänden übermittelt,
äußerliche Rituale, wie das Begrüßen des Lehrer mit dem "Deutschen Gruß", das Hissen der Fahne des Dritten
Reiches oder auch die Einführung des Faches "Rassenkunde" *) wurden als strukturelle Neuerungen an der
Schule umgesetzt. Darüber hinaus ist in dieser Untersuchung aber auch erkenntlich geworden, dass sich die
Direktoren Walther Michaelis respektive Max Dorn, gleichwohl sie Parteimitglieder der NSDAP waren, durch
eine christlich- konservative Werterhaltung auszeichneten. Dementsprechend konnten im Inneren der Schule die
Ideale von August Hermann Francke weiter erhalten bleiben, sowie die Erziehung und Bildung der Zöglinge
nach einer humanistischen Maßgabe fortgeführt werden."
Wie groß die Leistung von Michaelis und insbesondere Dorns in dieser Zeit gewesen ist, zeigt sich besonders,
wenn man das Schicksal der mit den Franckeschen Stiftungen vergleichbaren pädagogischen Einrichtungen
vergleicht. Aus diesem Grund veröffentlichen wir hier das entsprechende Kapitel aus der Hausarbeit.
R. O.
__________________________________________________________________________________
*
) Da es in diesem Zusammenhang sehr oft zu Missverständnissen kommt, hier der Versuch einer Klärung.
Immer wieder sagen viele ehemalige Schüler, dass sie sich an das Unterrichtsfach Rassenkunde nicht erinnern
können, bzw. behaupten, dass es dieses an ihrer Schule nicht gegeben habe. Richtig ist, dass tatsächlich die
Rassenkunde zu keiner Zeit ein Unterrichtsfach neben den anderen gewesen ist, es tauchte also in keinem
Stundenplan einer Schule auf. Der "Reichserziehungsminister" Bernhard Rust dehnte am 15. 1. 1935 den bis
dahin nur in Preußen gültigen Erlass über "Vererbungslehre und Rassenkunde in den Schulen" auf das ganze
Deutsche Reich aus. Aus dem Erlass geht eindeutig hervor, dass es sich nicht um ein neues Fach, sondern einen
fachübergreifenden Unterrichtsgegenstand handelte. Rust führte aus, wie z. B. in Deutsch, Erdkunde, Geschichte
die geforderten Probleme zu behandeln sind, er nennt sogar "Singen" und "Leibesübungen", die sich bei der
Kenntnis- und Überzeugungsvermittlung einzuschalten hätten. Das ist auch der Grund, dass auf keinem
Versetzungszeugnis "Rassenkunde" als Unterrichtsfach erscheint und folglich auch nicht zensiert wurde. Aber:
In der gleichen Verordnung verfügte Rust, dass alle Schüler, die eine Schule mit Abgangszeugnis verlassen, ihre
Kenntnisse in diesem Unterrichtsgegenstand nachweisen mussten. Damit wurde "Rassenkunde" zu einem
Prüfungsfach. Alle Abiturienten wurden in Rassenkunde geprüft, und folgerichtig erscheint auf dem
Abiturzeugnis (ganz an er Spitze!) das Prüfungsfach Rassenkunde mit der erreichten Prüfungsnote. Wegen
dieser Verfahrensweise habe auch ich bis in die Oberstufe kein Unterrichtsfach Rassenkunde gehabt. Mein
Biologie- und Klassenlehrer Lindemann verfügte dann aber in der Abiturklasse (damals 8. Klasse), dass er die
ihm zu Verfügung stehenden Biologiestunden auf a) Biologie und b) Rasenkunde aufteilt. Damit führte er
eigenverantwortlich das Fach Rassenkunde ein, in dem er eine große Zahl von Prüfungsaufgaben mitteilte, die
wir alle dann im Laufe der Wochen einpauken mussten und die, wie er verriet, mit dem Text der AbiPrüfungsaufgaben übereinstimmen würden. (Was sie auch taten!)
41
Bildeten die Franckeschen Stiftungen im Nationalsozialismus mit ihrem Verhalten eine
symbolträchtige Ausnahme oder haben vergleichbare Institutionen ähnlich gehandelt? Bereits der
ehemalige Oberrealschüler Theodor Körner vermutete in dem Interview: „Ich habe auch so mehr das
Gefühl, dass wir relativ autonom waren. Sie können aber natürlich nicht außerhalb der Welt gewesen
sein.“1 Um diese Frage zu beantworten, sollen nachfolgend die Franckeschen Stiftungen mit weiteren
höheren Schulen aus der Zeit kontrastiert werden. Durch Inbezugnahme der vergleichenden Methode
werden die Stiftungsschulen in einen Gesamtzusammenhang gesetzt und stehen nicht weiter singulär
im Raum der Diskussion.
Der Aufsatz von Marianne Doerfel aus dem „Vierteljahres Heft für Zeitgeschichte“ aus dem Jahr 1983
stellt dabei das Fundament der vergleichenden Betrachtung dar. Frau Doerfel hatte in dem genannten
Beitrag bereits ähnlich strukturierte Bildungseinrichtungen wie die Franckeschen Stiftungen
miteinander verglichen. Infolge der schwierigen Verfügbarkeit von Quellenmaterial zu den
Stiftungsschulen hatte die Autorin in ihrer Arbeit aber davon abgesehen, die Franckeschen Stiftungen
in die Gegenüberstellung aufzunehmen. Diese Lücke kann heute in Folge der Wiedervereinigung der
beiden deutschen Staaten und der daraus resultierenden leichteren Verfügbarkeit von Quellenmaterial
durchaus realisiert werden. So erachtet auch Herr Rüdiger Loeffelmeier in seiner Promotionsschrift
das Schließen dieses „blinden Fleckes“ als allgemein „[…] möglich und wünschenswert.“2
Frau Doerfel stellt in ihrem Aufsatz exemplarisch verschiedene Internatsschulen dar und zeigt deren
Politik des Hinhaltens, der zögernden Anpassung und des verdeckten Festhaltens an traditionellen
Werten auf. Ausgehend von den Strukturmerkmalen, unterteilt sie dabei die Bildungseinrichtungen in
drei Kategorien: Fürstenschulen, Stiftungsschulen und Ritterakademien. Zu den Fürstenschulen3
zählen die von Kurfürst Moritz von Sachsen gestifteten Schulen in dem Zisterzienserkloster Pforte bei
Naumburg und das Barfüßerkloster St. Afra in Meißen sowie das von Kurfürst Joachim Friedrich
umgebaute Jagdschloss Joachimsthal in der Uckermark. Eine weitere private Stiftungsschule entstand
nordöstlich von Naumburg im heutigen Thüringen. Ihr Gründer Dr. Heinrich von Witzleben stiftete
die Schule in dem Kloster bei Roßleben. Als Standesschulen für den Adel entstanden zu Beginn des
18. Jahrhunderts die Ritterakademien in Brandenburg und bei Liegnitz in Schlesien.
In ihrer jeweiligen präferierten Zielsetzung lassen sich die drei Schultypen klar voneinander
unterscheiden. Jeweils auf dem distinguierten Ausleseprinzip beruhend, standen bei den
Fürstenschulen die humanistische Charakterbildung und die Förderung der Wissenschaft im
Vordergrund, wobei die Ritterakademien sich eher als preußische Eliteschulen verstanden, um den
Adel für die Führungspositionen im Staat pragmatisch auszubilden. In ihrer Zielsetzung zwischen
diesen beiden Schulkonzepten befanden sich die Klosterschule in Roßleben4 respektive die
Franckeschen Stiftungen zu Halle. Von der Gründungsgeschichte ausgehend, hatte sich August
Hermann Francke zum einen zur Aufgabe gemacht, die Waisen sowie die Kinder aus dem
bürgerlichen Milieu zu erziehen und zu unterrichten. Parallel dazu sollte aber auch im königlichen
Pädagogium der preußisch-adlige Nachwuchs für die traditionellen Führungsaufgaben ausgebildet
werden.
Als gemeinsames Charakteristikum besaßen alle Schultypen ein starkes Traditionsbewusstsein,
welches auf politisch-historische und christlich-konservative Wertvorstellungen zurückging. Dieses
hatte sich über die Jahrhunderte entwickelt und wurde stetig gefestigt. Weitere hinreichende Prämissen
für einen Vergleich der einzelnen Schulen ergeben sich durch die spartanische Einfachheit in der
Ausstattung, dem äußeren Habitus durch die unprätentiöse und praktische Schulkleidung, die über
Generationen lebenslänglich anhaltende Identifikation mit der Schule und der Traditionspflege sowie
die schuleigenen Sitten und Bräuche von z.B. Schul- und Stiftungsfesten.5 Dadurch entwickelte sich
im Inneren eine starke Erziehungs- und Gefühlsgemeinschaft, welche die Schulen nach außen zu
anderen staatlichen Einrichtungen klar abgrenzte.
Wie auch in den Frackeschen Stiftungen bildete in allen genannten Schulen das gewachsene
Traditionsbewusstsein im Denken und Empfinden sowie der bewussten Erziehung zum Frieden die
größte Demarkationslinie zu der nationalsozialistischen Bildungspolitik. Dieser Gegensatz führte zu
1
Interview mit Theodor Körner (24.07.2013).
Loeffelmeier, 2004, S. 362.
3
Später wird auch häufig der Begriff „Landesschulen“ verwendet.
4
Vgl. Doerfel, 1983, S 403.
5
Vgl. Doerfel, 1983, S 403.
2
42
einem regelrechten Kampf zwischen den Privatschulen und den staatlichen Behörden. Marianne
Doerfel fasst diesen Identitätskampf sehr treffend zusammen: „Staatliche Eingriffe durch Lehrer und
Schulleiterwechsel führten zu andauernder Beunruhigung und Frontstellung gegen einen Staat, dem
es, trotz aller gegenteiligen Erklärung, offenbar nur um Zerstörung bewährter Institutionen und
politische Unterjochung ging.“6
Aufgrund des Stiftungscharakters hatten alle Einrichtungen über einen, wenn auch unterschiedlichen,
Grad an Autonomie verfügt, welcher sich in den Aufnahmeprüfungen der Schüler und in der Berufung
von Lehrern und Schulleitern ausdrückte. Bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus versuchten sich
die Schulen mit allen Mitteln vor den staatlichen Eingriffen zu entziehen, um so ihre Freiheit in der
internen Bildungspolitik zu wahren. Die weltweite Wirtschaftskrise am Ende der 20er Jahre des 20.
Jahrhundert stellte in diesem Prozess ein gravierendes Problem für die Einrichtungen dar. Aufgrund
der allgemeinen Inflation wurde das stiftische Eigenkapital, welches den monetären Grundstock der
autonomen Schulführung darstellte, zusehends entwertet. Dementsprechend waren die Einrichtungen
auf finanzielle Unterstützung und Hilfe von staatlicher Seite angewiesen. Infolgedessen wurden auf
der Grundlage von planwirtschaftlichen Verträgen engmaschige Kooperationen und Neuordnungen
durch die staatlichen Träger ausgehandelt. Der Vertrag zwischen der Franckeschen Mittelschule und
der städtischen Volksschule im Jahr 1931 stellte de facto eine solche behördliche
Zwangskollektivierung dar. Auch an der Schulpforta und dem Joachimsthaler Gymnasium, welche
trotz struktureller Änderung der Vermögensverwaltungen einen Staatszuschuss beantragen mussten,
kam es zu vergleichbaren Eingriffen. Die finanziellen Mittel, welche unter der Prämisse aufgetragener
Reformen gewährt wurden, führten auch an diesen Orten zu starker Kritik seitens der Lehrer und
Eltern. Der internationales Ansehen genießende Altphilologe Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf
sprach über diesen Prozess der ersten Gleichschaltungsphase von „Tyrannen im ehemaligen
Kultusministerium“ und von einer „brutalen Vergewaltigung“7 der historisch gewachsenen Schulen.
Die drohende Verstaatlichung belastete das Verhältnis zu den Behörden und entwickelte sich zu einem
zähen Ringen, ferner spiegelte es aber auch die innenpolitischen Gegensätze in der damaligen Zeit
wider. Über den souveränen Schulen hing drohend das Damoklesschwert der Verstaatlichung, welches
sinnbildlich für die damit einhergehende Aufhebung des traditionellen Erziehungssystems stand.
Ein besonderes Moment im Nationalsozialismus bildete in diesem Zusammenhang Adolf Hitlers
Bewunderung der englischen „Public Schools“. Das königliche Empire förderte diese Eliteschulen
bewusst, um so Nachwuchs in Form von hohen Beamten und Offizieren oder auch Kolonialverwaltern
zu rekrutieren. Adolf Hitler entlehnte sich dem englischen Konzept der „Public Schools" und
entwickelte die Idee, „Nationalpolitische Erziehungsanstalten“ (NPEA) mit einem Eliteanspruch zu
fördern. Ziel war es, für die zukünftig im Osten eroberten Gebiete des Großdeutschen Reiches eine
nationalsozialistische Führungsschicht heranzubilden, welche blinden Gehorsam und Befehlen gelernt
hatte und in ihrer Gesinnung einheitlich war. Zwei wesentliche Konzepte sollten für diese Eliteschulen
entscheidend sein. Zum einen stellte die „rassische Auslese“ eine wesentliche Zugangsvoraussetzung
dar. Die arische Blutreinheit respektive die sportliche Disposition waren hierbei entscheidend.
Andererseits sollte durch eine Typenbildung in Form einer omnipräsenten Gesinnungserziehung
versucht werden, die vorhandene Elite in den neuen Staat zu integrieren. In diesen Erziehungsanstalten
wurden humanistische Bildungs- und Wissenschaftsideale als nachrangig erachtet. Das Augenmerk
lag fortan in der völkischen Gemeinschaftserziehung. Aus diesem Grund wurde bereits kurz nach der
Machtergreifung der Nationalsozialisten das Internatsschulwesen umgewandelt. Die vorrangige
Bedeutung in der Überführung dieser Internate in NPEAs ergab sich auch durch die Besonderheit,
dass die pädagogische Einwirkung in die Gemeinschaft eine sehr viel stärkere Beeinflussung
ermöglichte, als dies in den städtischen Tagesschulen der Fall gewesen wäre. Auf der anderen Seite
stellte dieses Wesensmerkmal der Internate durch das stark ausgeprägte Traditionsbewusstsein ebenso
eine große Schwierigkeit in der Auflösung und Umwandlung der Schulen dar. In verschiedenen
Etappen wurden daher Schulleiter, Lehrer, Schülerschaften und Schulträger schrittweise beseitigt oder
durch parteitreue Funktionäre ausgetauscht. 8
Eines der ersten Opfer dieser nationalsozialistischen Umgestaltung wurde Professor Walther Kranz.
Der Direktor der Schulpforta wurde in einer böswilligen Hetzkampagne von Seiten des Kollegiums
6
Ebd., S. 413.
Ebd.
8
Vgl. Doerfel, 1983, S. 420.
7
43
aus dem Schuldienst getrieben. Nachdem sich in einer Flugblattkampagne über ihn als „Juden Kranz“
echauffiert wurde, zog er durch den Rücktritt von seiner Amtstätigkeit als „Rektor Portensis“ im Mai
1933 die persönliche Konsequenz aus diesem feindlichen Vorgehen. Danach folgte ein zweijähriges
Interregnum mit einem aus der Lehrerschaft kommenden Stellvertreter. Am 19. Juli 1935 wurde
schließlich die Schulpforta in eine NPEA umgewandelt. Den Vorsitz als Direktor und Anstaltsleiter
erhielt der von der bereits existierenden NPEA-Köslin berufene Dr. Adolf Schieffer. Im Range eines
militärischen SS-Standartenführers9 war der neue Anstaltsleiter in erster Linie für die politische und
organisatorische Neustrukturierung der Schule zuständig. Nach den Sommerferien wurde den oberen
Jahrgängen die Rückkehr an die Schule versagt. Die Schüler mussten folglich an eine andere Schule
wechseln. Der Grund war, dass sich bei ihnen das humanistische Traditionsbewusstsein bereits zu
stark verfestigt hatte und dementsprechend eine kurzfristige Indoktrination nicht die gewünschten
Erfolge gebracht hätte. Des Weiteren wurde bis auf zwei systemtreue Parteigenossen das gesamte
Lehrerkollegium ausgetauscht und neue Aufnahmeprüfungen für Lehramtsanwärter und Schüler
eingeführt. Die innere und äußere Gleichschaltung der traditionsreichen Schule war damit besiegelt.10
Als humanistisches Gymnasium war Schulpforta bedeutungslos geworden.
Auch dieses Schicksal hätte die Franckeschen Stiftungen ereilen können. Aber die Stiftungsschulen
sowie auch die anderen traditionellen Internate blieben von der Umwandlung in eine NPEA verschont.
Dementsprechend konnten in diesen Einrichtungen die alten Traditionen und Erziehungsinhalte
zunächst erhalten bleiben. Die entscheidende Bedeutung kam dabei der schweigenden Übereinkunft
zwischen Teilen der Lehrerschaft und der Schülerschaft zu, denn die nationalsozialistische Ideologie
drang auf unterschiedliche Weise in die Schulen ein. Jede differenzierte Kritik und Abwehr musste die
möglichen Repressalien mit einkalkulieren, aber auch die ungeduldige Bereitschaft vieler Schüler
berücksichtigen, sich für die neuen Ideen zu engagieren. In diesem politischen Machtkampf spielten
die Schulleiter eine entscheidende Rolle. In den Direktoren Walther Michaelis und Max Dorn besaßen
die Anstalten durchaus intelligente Persönlichkeiten mit individueller Gewandtheit und Augenmaß an
ihrer administrativen Spitze, so dass eine Umwandlung in eine NPEA verhindern werden konnte.
Durch die Flucht nach vorne versuchte Walther Michaelis die Schulen vor der vollständigen
Vereinnahmung durch den Staat zu schützen, wie in den Francke-Blätter verkündet wurde: 'Am Tage
des Schanddiktats von Versailles, Mittwoch, den 28. Juni 1933, wird als Bekenntnis der Franckeschen
Stiftungen zum nationalsozialistischen Erziehungsziel den Zöglingen aller Schülerheime der
Franckeschen Stiftungen verbindlich gemacht, dem Jungvolk oder dem Bund deutscher Mädel
beizutreten.'11 Resümierend wird er später über diesen Schritt persönlich berichten: „Diese Maßnahme
hatte den Erfolg, daß ich von den Schwierigkeiten, mit denen die städtischen Schulleiter dauernd zu
kämpfen hatten, besonders den Übergriffen der jugendlich, stürmischen HJ-Führern, sehr wenig
verspürte und in den Schulen und Heimen unbehelligt blieb. Auch die Rechte der Stiftungen blieben
unangetastet.“12 Dadurch, dass alle Schüler „ordnungsgemäß“ den nationalsozialistischen Verbänden
gemeldet worden waren, blieben weitere Repressionen der Behörden zunächst aus, da kein
widerstrebendes Verdachtsmoment vorlag.
Durch den von Hitler bezeichneten Prozess der „nationalen Neuerung“ wurde aber in der Folgezeit der
Druck auf die privaten Schulen stetig erhöht und mündete wie an dem Joachimsthalschen Gymnasium
in Templin in einer regelrechten Kraftprobe. Auch in dieser Einrichtung waren wie an den
Franckeschen Stiftungen alle Schüler der HJ respektive dem DJ gemeldet worden. Jedoch bemerkten
erfahrene Beobachter innerhalb der Schule, dass es keine wesentlichen Änderungen in der
Internatsordnung gegeben hatte und noch immer Morgensandachten abgehalten wurden. Darüber
hinaus wurde beanstandet, dass die nationalsozialistische Ausrichtung der Jugend durch die HJ nicht
in dem erwarteten Maße erreicht wurde wie es angedacht war. Infolgedessen sollte der Schulleiter von
seiner Amtstätigkeit entbunden werden. In einer durch den Bannführer der HJ vorher bekanntgegeben
Forderung sollten alle HJ-Mitglieder zu Beginn des neuen Schuljahres und dem daran anschließendem
Appell „[…] die Errichtung eines eigenen Fahnenmastes auf dem Schulgebäude, die Absetzung des
Rektors und zur Erlernung der Volksgemeinschaft die Eingliederung der Joachimsthaler Schüler in
9
Der SS-Standartenführer war im „Deutschen Reich“ der zweithöchste Offiziersrang der Schutzstaffel.
Vgl. Doerfel, 1983, S. 422f.
11
Nebe, 1933/3, S. 1.
12
Osterwald, 1992/3, S. 32.
10
44
eine gemischte Einheit mit der Stadt- und Landjugend […]“13 fordern. Aber nicht alle Schüler
vertraten diese Aufforderung, denn 16 Primaner bekräftigten ihre Loyalität zur Schule und zum
Schulleiter. Die boykottierende Unternehmung der Schüler führte zu einem regelrechten Affront und
wurde sofort in einem Bericht nach Berlin zu Minister Rust gesandt. Die Delinquenten sowie auch der
Schulleiter wurden daraufhin der Schule verwiesen. Da es sich bei der Einrichtung um eine sehr
renommierte Institution handelte, kam es in der Folgezeit zu scharfem Protest von Eltern und
ehemaligen Schülern. Die Nationalsozialisten wandten die erprobte Taktik des scheinbaren
Entgegenkommens an, um so ein vermeintliches Vertrauen zu wecken und die alte Ordnung
wiederherzustellen. Demzufolge konnten durch den darauffolgenden Beschluss des Ministeriums alle
16 Jungen ebenso so wie der beurlaubte Direktor an das Gymnasium zurückkehren. Der Schulleiter
führte seine Amtstätigkeit aber nur noch zwei weitere Monate bis zu den Sommerferien aus. Danach
wurde er durch einen linientreuen Parteigenossen stillschweigend zur Öffentlichkeit ausgetauscht.14
Diese schleierhafte Verfahrensweise des Ministeriums kann auch an den Franckeschen Stiftungen bei
der Geschichtslehrerin Frau Elisabeth Brosius nachgezeichnet werden. Auch sie wurde nach den
Ferien wortlos an das Oberlyzeum nach Stendal versetzt, nachdem ihr regimekritischer Unterricht
nachgewiesen werden konnte. Die ehemalige Schülerin Getraude Heber berichtete später über ihre
Lehrerin: „Frau Brosius war für mich die erste Erwachsene, die - ohne es direkt zu sagen - Kritik an
den neuen Machthabern deutlich werden ließ und in einer Arbeitsgemeinschaft, in der wir Teile aus
Hitlers 'Mein Kampf' und Rosenbergs 'Mythos des 20. Jahrhunderts' lasen, Skepsis auch bei denen
wach werden ließ, die Brüder bei der SA und SS hatten oder selbst begeisterte BDM-Führerinnen
geworden waren.“15 In einem ähnlichen Kontext kann ebenfalls der Protest der Religionslehrer
gedeutet werden. Die „Reichskristallnacht“ in Halle hatte auf besondere Weise eine unmittelbare
Auswirkung auf den Religionsunterricht in den Franckeschen Stiftungen. Kurz nach dem Pogrom auf
jüdische Geschäfte und auch auf die Synagoge im Stadtgebiet wurde durch die Gauverwaltung des
NSLB am 17. November 1938 verlautet: „Auf Grund der letzten Nacht fordert die Reichsverwaltung
des N.S.L.B. alle Mitglieder auf, den Religionsunterricht mit sofortiger Wirkung niederzulegen, da wir
eine Verherrlichung des jüdischen Verbrechervolkes an den deutschen Schulen nicht mehr länger
dulden können.“ Die Fachkonferenz der Religionslehrer widerstrebte dieser Aufforderung. In dem
Konferenzbuch ist als Reaktion auf die Ankündigung vermerkt: „Auf Befragung erklären die Herren,
daß nach ihrer Überzeugung ihr Unterricht weder eine Verherrlichung des jüdischen
Verbrechervolkes sei, noch im Widerspruch mit der nationalsozialistischen Weltanschauung steht. Sie
hätten daher keine Veranlassung, von der Aufforderung des NSLB Gebrauch zu machen und würden
den bisher erteilten Religionsunterricht weiterführen.“16 Die Lehrer Weise, Rodehau, Hertling und
Werner bekundeten mit ihrer Unterschrift unter dem Schreiben persönlich ihren Protest. Dieser Eintrag
in dem Konferenzbuch stellt als heutige Quelle ein besonderes Moment hinsichtlich aktiven
Widerstandsverhaltens dar. Wie erkenntlich wird, widersprachen die Fachlehrer der Weisung des
NSBL und fuhren mit ihrem Unterricht wie zuvor fort. Daraufhin schaltete sich der Reichsminister für
Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust am 23. November 1938 persönlich ein und
setzte die Weisung des NSLB außer Kraft: „Es besteht Veranlassung, auf seinen Erlaß die Erteilung
des Religionsunterricht […] erneut hinzuweisen. Danach ist es der Gewissensentscheidung jedes
Lehrers überlassen, ob er Religionsunterricht erteilen oder sich hieran außerstande erklären will.
Aus dem Grundsatz der Gewissensfreiheit ergibt sich, daß ihm weder aus der Erteilung noch aus der
Niederlegung des Religionsunterrichts Nachteile erwachsen dürfen.“17 Die Behörden umgingen auch
in diesem Konflikt die Gefahr der Ausweitung in ein öffentliches Politikum. Da der
Religionsunterricht für die Franckeschen Stiftungen ein Wesensmerkmal darstellte, wurde in dieser
Angelegenheit auf weitere Konsequenzen bei Lehrern und Schulleiter in Form eines erneuten
Verbotsantrages verzichtet.
Das Joachimthalsche Gymnasium hingegen stand in der Folgezeit aufgrund der erläuterten
öffentlichen Kritik und der Disziplinverstöße unter verschärfter Beobachtung. Offener Widerstand am
politischen System musste fortan vermieden werden, um weitere Repressionen zu verhindern. Um die
13
Doerfel, 1983, S 425.
Ebd., S 426f.
15
Heber, 1999/1, S. 82.
16
Osterwald, 1993/2, S. 26.
17
Osterwald, 1993/2, S. 27.
14
45
verfahrene Situation zu entschärfen, bedienten sich die Joachimthaler einer listigen Strategie. Durch
die Kontakte eines ehemaligen Schülers, der zum damaligen Zeitpunkt als Fliegeroffizier im
Luftfahrtministerium tätig war, baten sie Hermann Göring um eine Schirmherrschaft für das
Gymnasium. Am 15. Dezember 1936 erfolgte die Zusage des führenden nationalsozialistischen
Politikers und Oberbefehlshabers der deutschen Luftwaffe. Da Hermann Göring in seinem
Ministerium unabkömmlich war, konnte er sein Patronat nicht aktiv wahrnehmen. Dem
Joachimthalschen Gymnasium war durch diese symbolische Schirmherrschaft die Flucht vor der
staatlichen Aufsicht gelungen. Durch diese äußere Anpassung entzog man sich den weiteren
Eingriffen der Nationalsozialisten. Vor allem dem häufig auf sozialem Ressentiment beruhenden
Misstrauen der örtlichen Partei- und HJ-Dienststellen konnte nun mit größerer Sicherheit
entgegengetreten werden.18
Vor diesem Hintergrund erscheint das Patronat von August von Mackensen für die Franckeschen
Stiftungen in Hinblick auf die Politik des Hinhaltens, der zögernden Anpassung und des verdeckten
Festhaltens an traditionellen Werten wesentlich bedeutsamer. Am Tag der feierlichen Namenstaufe der
Oberschule für Jungen wurde in der Rede des Orators ausgeführt: „Wir wählen einen Namen, der für
das innere Leben der Schule richtungsweisend sein soll. […] So soll der Name 'Mackensen' nicht nur
unsere Schule zieren, sondern er soll uns verpflichten in unserer Arbeit an der Jugend des Dritten
Reiches. Diese Arbeit aber hat nur ein Ziel: Für Volk und Führer eine Mannschaft auszulesen und
heranzubilden, die geistig und körperlich fähig und charakterlich bereit ist, ihr Letztes einzusetzen für
den Lebenskampf unseres Volkes. Ihr Jungen sollt Soldaten Adolf Hitlers werden!“19 Es kann daher
abgeleitet werden, dass die Schirmherrschaft eine bewusste Entscheidung der Schulleitung war, sich
vor weiteren Interventionen durch die Staatsgewalt zu schützen. Im Vergleich mit dem
Joachimthalschen Gymnasium muss aber deutlich festgehalten werden, dass es einen qualitativen
Unterschied zwischen den Personen Hermann Göring und August von Mackensen gab und eine
Gegenüberstellung fast indiskutabel erscheint. Hermann Göring wurde in den Nürnberger Prozessen in
den Anklagepunkten: Verschwörung gegen den Weltfrieden; Planung, Entfesselung und Durchführung
eines Angriffskrieges; Verbrechen gegen das Kriegsrecht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Dem gegenüber kollaborierte August
von Mackensen zwar mit den Nationalsozialisten und lies sich für deren Propagandazwecke
missbrauchen, gleichwohl trat er aber stets für eine humanistische respektive christlich-konservative
Politik und Erziehung ein, wie er dies auch bei einem Besuch in den Franckeschen Stiftungen betonte:
„'Er vertrauete Gott'. Wie oft habe ich dieser Worte gedacht in schwierigen Lagen des Krieges, vor
schweren Entscheidungen, und aus ihnen Kraft und Zuversicht geschöpft! Dabei habe ich mich stets
leiten lassen von meinem Wahlspruch: 'Der kühnste Entschluß ist der beste', aber möglich war mir das
nur auf der Grundlage eines starken Gottvertrauens, wie es mir die Erziehung in diesen Stiftungen
eingeflößt hat [...].“20
Das Jahr 1941 stellte eine weitere Phase der Überführung der Privatschulen in das
nationalsozialistische Erziehungssystem dar. Um den Führernachwuchs zu sichern, wurden neben den
bereits existierenden NPEAs, sogenannte „Deutsche Heimschulen“, eingeführt. Die Heimschulen
sollten, so Martin Bormann21, gemäß Anordnung des Führers: „[…] künftig ein Mittel zur
Verwirklichung des totalen staatlichen Erziehungsanspruches werden. Wir müssen also so viele
Heimschulen schaffen, daß die in konfessionell ausgerichteten Internaten erzogenen Kinder auf
Heimschulen weiter erzogen werden können.“22 Die „Deutschen Heimschulen“ hatten sich
organisatorisch am Vorbild der NPEAs zu orientieren. Sonach wurden nur Waisenkinder respektive
Jungen aufgenommen, deren Väter im zweiten Weltkrieg gefallen waren. Alle Schüler mussten
Mitglied der HJ sein und sich dort durch besonderes Verhalten hervorgetan haben.
Konnte durch weitgehende Geschicklichkeit der Schulleitung eine Gleichschaltung bei den meisten
traditionellen Schulen noch verhindert werden, veränderte sich das Bild nun schlagartig. Am 17.
November 1942 wurde in einem feierlichen Staatsakt die sächsische Landeschule St. Afra in eine
„Deutsche Heimschule“ umgewandelt. Eine Fortsetzung der Schultradition war nun nicht mehr
18
Vgl. Doerfel, 1983, S. 427f.
Michaelis, 1939/1, S. 9ff.
20
Osterwald, 2001/3, S. 48.
21
Martin Bormann (* 1900; † 1945) war in der Zeit des Nationalsozialismus Leiter der Parteikanzlei der NSDAP.
22
Vollbrecht, 2001, S. 8
19
46
möglich. Auch der Rundbrief vieler Altafraner konnte die vorzeitige Pensionierung des Direktors, den
vollständigen Austausch des Lehrerkollegiums und die vorzeitige Einberufung der Primaner als
Luftwaffenhelfer nicht verhindern. In demselben Maße wurde auch dieser traditionsreichen
Bildungsstätte die Souveränität genommen. Das gleiche Schicksal ereilte im Januar 1944 dem
Joachimthalschen Gymnasium trotz vehementen Widerstandes. Der Glanz des Patronats Hermann
Göring war längst verblasst. Ein an ihn gerichtetes Gesuch, die Schule in alter Form zu erhalten,
wurde an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung weitergeleitet, das
mit der Ablösung des Schulleiters sofort reagierte. Damit war nun auch die letzte Fürstenschule eine
„Deutsche Heimschule“ geworden.23
Unter den von Martin Bormann verkündeten Heimschulerlass fiel auch die Klosterschule Roßleben in
Thüringen. Die Stiftung lag bis dato ununterbrochen im Familienbesitz der Angehörigen von
Witzleben. Diese Kontinuität konnte in erster Linie durch den Erbadministrator gesichert werden, der
stets von einem jüngeren Mitglied der Familie von Witzleben gestellt wurde. So überstand das
humanistische Gymnasium die Zeit der Weimarer Republik ohne Reformzwänge. Die Losung des
Gründervaters Dr. Heinrich von Witzleben „[…] Erziehungsziel und Bildungsideal waren vom
christlichen Humanismus bestimmt […]“24 konnte in der Folgezeit zunächst erhalten bleiben. Dr.
Wolf-Dietrich von Witzleben, familiärer Erbadministrator und Leiter der Personalabteilung von
Siemens in Berlin, war es zu verdanken, dass er bei der Neubesetzung des Schulleiters im Jahre 1934
einen bereits an der Schule tätigen Lehrer, der die Tradition dieses Gymnasiums verinnerlicht hatte,
als neuen Direktor wählte. Sein ganzes Bemühen war darauf gerichtet, die ihm anvertraute Schule in
ihrer Eigenart und humanistischen Tradition vor dem Machtanspruch des NS-Staates zu verteidigen.
An dem Roßlebener Gymnasium hatte ein nationalsozialistischer Schülerbund von der HJ oder DJ bis
dato nicht existiert. Die Zöglinge gehörten lediglich dem „Verein für Deutschtum im Ausland“25
(VDA), eine vom Volksbildungsministerium ausdrücklich zugelassene Schülervereinigung, an. In
ihrer politischen Ausrichtung war die Schülerschaft national-konservativ entsprechend ihrer Herkunft
aus dem Großbürgertum, Beamten- und Offiziersfamilien eingestellt. Sie verstanden sich als „Getreue
des Kaisers“ und richteten daher ihren Lebensstil an den preußischen Tugenden der Genügsamkeit und
Disziplin sowie an einem starken Traditionsbewusstsein aus. Dementsprechend bedeutete für die
Schüler „reaktionär“ zu sein eher ein Unheil und eine Gefahr für die preußische Traditionspflege,
wodurch sich entsprechend die soziokulturelle Distanz zum Nationalsozialismus ableiten lässt.26 Das
Roßlebener Gymnasium versuchte sich daher vor äußeren Zugriffen der neuen Machthaber zu
schützen. Politische Kontrolle durch den Staat konnte zunächst nur durch die an der Schule
parteigebundenen Studienreferendare und –assessoren erwirkt werden. Diese weisungsbedingte
Ohnmacht bereitete den Behörden zusehends Unbehagen. Des Weiteren forderten die
Disziplinverstöße der Schülerschaft die Amtsträger stetig heraus. In einem Vorfall aus dem Jahr 1941
wird berichtet, dass im Schlafsaal heimlich die Musiksendung des Londoner Rundfunks gehört wurde.
Das bedeutete in der nationalsozialistischen Logik als Störung der Schlafsaalordnung ein
Disziplinarverstoß und als Abhörung eines feindlichen Senders ein politisches Delikt, für das der
verantwortliche Gruppenälteste mit Zuchthaus bestraft werden konnte.27 Der Schulleiter reagierte auf
diesen Vorfall wider Erwarten mit einem sehr salomonischen Urteil, da der Schülervertreter nur seines
Amtes enthoben und auf politische Konsequenzen des Deliktes verzichtet wurde. Die unterlassene
politische Verfolgung des Schülers verlangte nach radikalen Konsequenzen, da das
Bildungsministerium die Reaktion des Schulleiters als ein zersetzendes Widerstandsverhalten
gegenüber dem Staat deutete. In diesem Zusammenhang wurde am Ende des Jahres 1941 die
Umwandlung der Klosterschule Roßleben in eine „Deutsche Heimschule“ verkündet. Das Klima in
dem Gymnasium änderte sich schlagartig. Die Schülerschaft musste der HJ beitreten, wodurch der
ortsansässige Bannführer umfassende Weisungsbefugnisse erhielt. Ebenso wurde der kirchliche
23
Vgl. Doerfel, 1983, S. 434ff.
Ebd., S. 437.
25
Der VDA war als „Allgemeiner Deutscher Schulverein zur Erhaltung des Deutschtums im Ausland“ 1881
gegründet wurden. Sein Ziel war die Pflege der Bindungen der Auslandsdeutschen an Deutschland, besonders
durch deutschen Schulunterricht. Der VDA verlor 1938 seine Unabhängigkeit und wurde als Volksbund für das
Deutschtum im Ausland von den Nationalsozialisten für ihre Zwecke missbraucht.
26
Vgl. Doerfel, 1983, S. 437f.
27
Ebd., S. 439.
24
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Einfluss auf die Schule stark zurückgedrängt und der amtierende Schulleiter nach wenigen weiteren
Monaten aus seiner Amtstätigkeit entlassen. Die Stiftungsschule in Roßleben war nun vollständig von
der politischen Gleichschaltung durchdrungen.
Die Ritterakademien waren als Standesschulen geschaffen worden für die distinguierten Söhne des in
der jeweiligen Provinz beheimateten Adels. Sie standen nicht unter dem Patronat eines Königs und
waren mit keiner Stiftung ausgestattet. Die Schulen finanzierten sich ausschließlich durch die
regelmäßig zu entrichtenden Beträge des Schul- und Pensionsgeldes. Auf dem Dom zu Brandenburg
war 1705 eine Ritterakademie in den leeren Räumen des ehemaligen Prämonstratenserklosters
gegründet worden. Für die Schulangelegenheiten war der von der adligen Standesorganisation
berufene Kurator zuständig. Im Gegensatz zu den Stifts- respektive Fürstenschulen waren
Ritterakademien nicht im eigentlichen Sinne „Gelehrtenschulen“, da die Zöglinge gezielt für ihre
Tätigkeit im Staat ausgebildet wurden und dies dementsprechend keine ganzheitliche humanistische
Bildung erforderte. Auch auf politischer Ebene war das Verhältnis von Staat und Schule im Gegensatz
zu den anderen Traditionsschulen durch Nähe zur Obrigkeit gekennzeichnet. Der von 1921 bis 1934
amtierende Direktor wurde rückblickend in der Broschüre von 1941 als „[…] energischer Vorkämpfer
nationaler Ziele[…]“ glorifiziert, der „[…] an hervorragender Stelle in Brandenburg der NSDAP den
Weg zur Macht ebnete.“28 Denn bereits kurz nach der Machtergreifung Adolf Hitlers begrüßt der
Direktor die politischen Kampftruppen der „Sturmabteilung“ (SA) und des „Stahlhelms“29 feierlich in
den Örtlichkeiten der Ritterakademie. Hierin zeigt sich bereits der Schulterschluss zu den neuen
Machthabern in Deutschland. Ebenso wurde von keinem vernehmbaren Prostest seitens der Eltern
berichtet. Die Ritterakademie trat augenscheinlich im Gleichschritt mit den Nationalsozialisten. Der
ehemalige Schüler Hans Georg von Ribbeck hat später reflektierend über diesen Vorgang berichtet:
„Wir hatten ein verhältnismäßig beschränktes Weltbild und ein einseitiges politisches Wissen von der
Welt.“30 In ihrem Selbstverständnis sah sich die Ritterakademie als Eliteschule, Nachwuchs in den
Führungspositionen des Staates und Heeres zu besetzen. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie in
Deutschland entstand zunächst ein Vakuum, welches nun durch die Herrschaft der Nationalsozialisten
wieder ausgefüllt wurde und einen neuen Bezugspunkt für die Schule darstellte. Nachdem der
damalige Direktor altersbedingt in den Ruhestand trat, wurde die Stelle durch den
nationalsozialistischen Regierungspräsidenten Dr. Ernst Fromm31 eingenommen. Diese Neubesetzung
erwies sich jedoch als völlige Fehlentscheidung für die Traditionsschule, da der Leiter die Schülerund Lehrerschaft nicht kontrollieren konnte. Ungeachtet dessen die Standesschule zwar den
Nationalsozialisten nicht feindlich gegenüberstand, war die Ritterakademie trotz alledem bestrebt,
ihren autonomen Status in der Schulführung zu wahren und sich der bildungspolitischen
Vereinnahmung durch den Staat zu entziehen. Infolgedessen führten notorische Disziplinstörungen der
mit preußischem Pflichtethos beseelten Schülerschaft zu häufigen Beschwerden des Direktors bei der
Schulaufsicht. Das Ministerium reagierte mit der Schließung der Standesschule zu Ostern 1937, da die
zuständigen Behörden von einer Umwandlung in eine NPEA absahen. Nur durch hartnäckiges
Verhandeln gelang es dem Kurator, die Schließung des parallel zur höheren Schule existierenden
Internats zu verhindern. Aber auch die funktionsverwaltende Autonomie des Alumnats währte nicht
lange. Im September 1944 wurde die sofortige Umwandlung in eine „Deutsche Heimschule“
beschlossen und das Internat der Dienststelle des SS-Obergruppenführers unterstellt. Nach dieser
bildungspolitischen Neuorganisation verblieben lediglich 20 Zöglinge an der Schule, zwei weitere
Klassenzüge wurden von der „Deutschen Heimschule“, des ehemaligen Joachimthalschen
Gymnasiums, zur Aufstockung nach Brandenburg verlegt. Damit fand die Gleichschaltung der
Standesschule ihren Abschluss.32
Eine ähnliche Entwicklung kann anhand der zweiten Ritterakademie in Liegnitz nachgezeichnet
werden. Die 1735 in Schlesien errichtete Standesschule unterteilte sich ebenfalls in ein höheres
Gymnasium und in einen Internatsbereich. Die Zöglinge rekrutierten sich aus dem schlesischen Adel
und aus dem Bürgertum der Region. Die administrativen Vollmachten besaß der aus dem Adelskreis
ernannte Kurator. Eine Besonderheit stellte die Erziehung der Internatskinder durch abkommandierte
28
Ebd., S. 442.
Der „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ war ein paramilitärisch organisierter Wehrverband.
30
Doerfel, 1983, S. 442f.
31
Ernst Fromm (* 1881; † 1971) war ein deutscher Staatswissenschaftler und Politiker der NSDAP.
32
Vgl. Doerfel, 1983, S. 441ff.
29
48
Offiziere dar. Diese Regel war bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt worden. Dabei ging es
weniger um eine militärische Ausrichtung als vielmehr um den Wunsch, Erzieher aus einem ähnlichen
sozialen Milieu, welchem die Schülerschaft von Hause aus entsprach, an die Schule zu berufen. In
ihrer politischen Tradition orientierte sich die Ritterakademie ebenfalls an den Idealen der einstig
preußischen Monarchie. Dementsprechend waren die pluralistischen Wirren der Weimarer Republik
eine Kampfansage gegen das preußische Traditionsbewusstsein der Einrichtung. Trotz Verbots der
Schulleitung nahmen die älteren Schüler aktiv an den politischen Machtkämpfen der Weimarer
Republik teil und setzen sich für eine Wiedererrichtung der Monarchie in Deutschland ein. Nachdem
Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, veränderte sich augenscheinlich auch die politische Ausrichtung
der Schule. Um die Vorwürfe zu entkräften, dass die Ritterakademie eine „reaktionäre Standesschule“
sei, wurden folglich mehr Söhne aus bürgerlichen Familien aufgenommen. Weiterhin beanstandeten
aber höhere HJ-Stellen, dass eine „[…] mangelnde Beteiligung und Interessenlosigkeit […]“33 an den
nationalsozialistischen Schülerverbänden an der Ritterakademie vorherrschte. Dieser Konflikt drohte
die Daseinsberechtigung der Standesschule zu gefährden, sodass sich die Leitung entschloss, eine
hochkarätige Schirmherrschaft an ihre Einrichtung zu binden. Bei Kriegsausbruch unternahm der
Kurator den Versuch, die Armee für ein Patronat zu gewinnen, da er erkannte, dass die Standesschule
in seiner bisherigen Form nicht mehr lange existieren würde. Die Initiative scheiterte und der Kurator
sowie alle Beteiligten wurden abgesetzt. Danach folgte eine harsche Säuberungsaktion. Eingeschleuste
HJ-Schüler denunzierten Lehrer und widerständige Schüler, die anschließend durch die GESTAPO
verhört und mental zersetzt wurden. Die Primaner konnten sich dem Umsturz durch die vorzeitige
Meldung zur Wehrmacht entziehen. Einzelne jüngere Schüler wurden auf Wunsch der Eltern von der
Schule genommen und an die städtische Schule geschickt. Die Führungsstruktur war folglich zerstört
und die Renitenz der Schülerschaft zerstreut. Die Standesschule unterstand nun vollständig der
Bildungspolitik der Nationalsozialisten. Ausnahmslos wurden die neuen Leiter, Lehrer und Zöglinge
an der Schule in ihrer politischen Gesinnung überprüft. Statt der traditionsbewussten Elitenerziehung
auf preußischer Grundlage wurde fortan der nationalsozialistische Gefolgschaftsgedanke propagiert.34
Im Gegensatz zu den dargestellten Ritterakademien, Stifts- und Fürstenschulen bestanden die
Franckeschen Stiftungen über die Zeit des Nationalsozialismus als christlich geprägte Schulanstalten
fort. Sie wurden weder in eine NPEA respektive in eine „Deutsche Heimschule“ überführt, darüber
hinaus mussten sie auch nicht die vollständige Schließung befürchten. Da die Franckeschen Stiftungen
die Umwandlungsprozesse bei den anderen Bildungseinrichtungen registrierten und die eigene Gefahr
für sich darin erkannten, vermieden sie schwerwiegende Loyalitätskonflikte mit der Staatsgewalt. Die
stiftische Selbstverwaltung konnte somit über die Zeit des Nationalsozialismus erhalten bleiben. Dies
gelang durch eine Gratwanderung von äußerlicher Anpassung trotz interner nachweisbarer Ablehnung
des nationalsozialistischen Gedankenguts.
Quellen und Literaturverzeichnis
Marianne Doerfel, Der Griff des NS-Regimes nach Elite-Schulen. Stätten klassischer
Bildungstradition zwischen Anpassung und Widerstand, In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte
1989/37, S. 401-455.
Getraude Heber, Aus der staatlichen August-Hermann-Francke-Schule, In: Francke-Blätter 1999/1.
Rüdiger Loeffelmeier, Die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale von 1918-1946.
Bildungsarbeit und Erziehung im Spannungsfeld der politischen Umbrüche, Tübingen 2004.
Rolf Osterwald, -Zur Geschichte der Oberrealschule. Teil 6, In: Francke-Blätter 1992/3.
- Zur Geschichte der Oberrealschule. Teil 8, In: Francke-Blätter 1993/2.
- Die Franckeschen Stiftungen und Generalfeldmarschall August von Mackensen, In: Francke-Blätter
2001/3.
Gerhard Vollbrecht, Die Deutsche Heimschule Schloß Iburg. Oberschule für Jungen. 1942–1945,
Glandorf 2001.
Blätter der Franckeschen Stiftungen,
- Jg. 1933, Heft 1-3 und Jg. 1934, Heft 1: Hrsg. von August Nebe.
- Jg. 1935-1940, Hrsg. von Walther Michaelis.
33
34
Ebd., S. 449.
Ebd., S. 448ff.
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