Herr Dr. med. und med. dent. Carsten Schindler Spezialarzt für Kiefer- und Gesichtschirurgie Fachzahnarzt für Oralchirurgie Marienstrasse 17, 3005 Bern Tel. 031 351 44 43, Fax 031 351 44 43 e-mail: [email protected] www-p.hin.ch/carsten.schindler Die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) - das häufig verkannte Schmerzsyndrom Einleitung und Begriffsbestimmung tik vorhanden ist. Der Ausdruck «The Chronische Schmerzen stellen ein im- big imposter» – der grosse Betrüger mer schwerwiegenderes Problem in charakterisiert hierbei sehr gut dieses unserer Gesellschaft und in unserem Krankheitsbild. Im deutschen Sprach- Gesundheitssystem Unzählige raum werden ebenso gern die Be- Menschen leiden an anhaltenden und zeichnungen Myoarthropathie (MAP), häufig wiederkehrenden Kopf-, Rü- Kiefergelenkserkrankungen, Oroman- ckenschmerzen oder anderen schmerz- dibuläre Dysfunktion, Kiefergelenks- haften Beeinträchtigungen. Hierbei schmerzdysfunktionssyndrom oder my- kommt der Craniomandibulären Dys- ofaciales Schmerzsyndrom verwendet. funktion (CMD) eine besondere Be- Im englischen Sprachraum sind Be- deutung zu, da diese häufig verkannt griffe wie Temporomandibular Disor- wird, bzw. in Kombination mit ande- ders (TMD), TMJ-Disorders, TMJ-Pain ren Schmerzzuständen oder Orofacial-Pain bekannt. Nicht zu- auftritt. Bei der CMD geht es begriff- letzt durch das Wirken der International lich um eine Fehlfunktion im Zusam- College of Craniomandibular Orthope- menspiel von Ober- und Unterkiefer, dics (ICCMO) hat sich auch internatio- bedingt durch eine Funktionsstörung nal der Begriff der Craniomandibular der Zähne, der Kiefergelenke, der Kie- Disorders fermuskulatur und der beteiligten Ner- der Craniomandibulären Dysfunktion, ven. Eine solche Fehlfunktion zeigt sich durchgesetzt. Vor dieser Diagnose- auch für den Laien deutlich durch eine stellung muss jedoch eine sorgfältige abnorm erhöhte Beanspruchung der differenzialdiagnostische Kaumuskulatur, wie zum Beispiel beim erfolgen, damit die anderen Ursachen Knirschen der Zähne. für chronische Schmerzen im Kiefer- chronischen dar. (CMD), gleichbedeutend Abklärung und Gesichtsbereich ausgeschlossen Die topografische Nähe zeigt häufig werden können. Wechselwirkungen zwischen dem Kiefer und dem Ohrenbereich. In diesem Differenzialdiagnose der chronischen Zusammenhang wurde auch der Be- Kiefer- und Gesichtsschmerzen griff Costen-Syndrom geprägt. James Eine ausführliche Anamnese ist gerade Costen (1895-1962) hatte 1934 als tä- beim Kiefer- und Gesichtsschmerz eine tiger ORL-Spezialist festgestellt, dass unabdingbare Voraussetzung, um eine zahlreiche Ohrsymptome eigentlich Schmerzeingrenzung zu ermöglichen. nicht seinem Fachgebiet zugeordnet 6 werden müssen, sondern durch Fehl- Meistens haben die Patienten eine lan- funktion der Kiefergelenke und der ge Odyssee mit diversen Behandlern Zähne verursacht werden. Der Begriff hinter sich, welche vom Schmerzspezi- Costen-Syndrom wird häufig auch von alisten bis hin zum Homöopathen und Ärzten für Kiefergelenkschmerzen be- vom Universitätsspital bis hin zum Palli- nutzt, obwohl keine Ohrensymptoma- ativzentrum reichen. Häufig hat der Pa- tient auch nur einen Teil der Unterlagen dungen, Traumata, ZNS-Störungen, bei sich und kann bisherige Behand- Tumore, Gesichtsschmerz, CMD und lungen und Therapien nur unvollstän- nicht zuletzt verstärkender Psychoso- dig wiedergeben. Hauptursachen da- matik zugeordnet werden. für sind der Behandlungsumfang und eine gewisse Verdrängungshaltung. Diverse bildgebende Verfahren in der modernen Medizin ermöglichen eine Deshalb ist oft nur der Ausschluss aku- verbesserte Diagnosestellung. Neben ter Ursachen wie Traumata und iatro- den Standardverfahren in der Mund-, gener Veränderungen möglich. In der Kiefer- und Gesichtschirurgie wie Ortho- Regel muss in dieser Situation Kontakt pantomogramm beider Kiefer (OPT), mit den Vorbehandlern aufgenommen Zahnfilmröntgen (ZF), Kiefergelenk- werden, damit eine Doppeldiagnos- spezialröntgen (KG), Fernröntgen seit- tik und gegebenenfalls auch -therapie lich (FRS) bietet die Digitale Volumen- vermieden werden kann. tomografie (DVT) gute Möglichkeiten, eine Übersicht über die betroffenen Erfahrungsgemäss ist der klinische Kieferabschnitte und angrenzenden Befund beim Patienten so diffus und Strukturen, wie Nasennebenhöhlen, zu heterogen, dass in nicht einmal einem erhalten. Mit dem DVT-Verfahren kann Drittel der Fälle eine Verdachtsdiagno- auch der dentale Zustand optimal er- se gestellt werden kann. Erschwerend fasst werden, da häufig apikale Entzün- kommt häufig hinzu, dass mehrere dungen an den Zähnen mit den kon- Schmerzursachen in Frage kommen, ventionellen Röntgenverfahren nicht sich teilweise in der Symptomatik zu erkennen sind. Die DVT ermöglicht verstärken und somit die klassischen dabei auch eine Übersicht über die Na- Krankheitsbilder verwischen. sennebenhöhlen und eine Beurteilung der Kiefergelenke. Erste Verdachtsdiagnose durch anamnese und Klinischen Befund Entzündungen Traumata ZNS Tumore Gesichtsschmerz Psychosomatik CMD Ausweichend und ergänzend muss zur Kiefergelenkknorpel- und Muskeldarstellung auf eine kernspintomographische Untersuchung der Kiefergelenke in Funktion zurückgegriffen werden. Betreffs degenerativer und chronischer Veränderungen der Nasennebenhöhlen und zum Ausschluss von Tumoren sollte eine Computertomografie mit zusätzlichem iv-Kontrastmittel erfolgen. Dagegen haben Trotzdem ist häufig durch die Lokali- die Knochenszintigrafie und teilweise sation, die Schmerzqualität und die leider auch der Ultraschall (Sonografie) bereits vorliegenden Fremdbefunde auf diesem Gebiet zur primären diffe- eine Verdachtsdiagnose möglich. Di- renzialdiagnostischen Abklärung an ese kann den Hauptgruppen Entzün- Bedeutung verloren. 7 rechte Seite Wegen der topografischen Nähe zum Nervus trigeminus bereitet die Differenzialdiagnose CMD und neuralgiforme Gesichtsschmerzen häufig Probleme. Obwohl bei den neuralgiformen Gesichtsschmerzen die Trigeminusneuralgie als Hauptdiagnose dominiert, handelt es sich tatsächlich nur in ca. 50% der Fälle um eine typische Trigeminusneuralgie. DIFFERENZIALDIAGNOSE NEURALGIFORMER gESICHTSSCHMERZEN Trigeminusneuralgie: Carbamazepin, Somato-Sensorisch-Evozierte Potentiale des Nervus trigeminus (TSEP) Trigeminusneuropathie: Ursache erforschen, Zustand nach chirurgischen Eingriffen und Traumen (Anamnese!) Atypischer Gesichtsschmerz (AFP): Ausschlussdiagnose und Verlegenheitsdiagnose linke Seite Abb. 1 rechte Seite Kriterien dafür sind neben der typischen Schmerzsymptomatik eine gute Wirksamkeit des Carbamazepins (Tegretol®) sowie eine spezielle Reizantwort bei der Ableitung der Somato-Sensorisch-Evozierten Potentiale des Nervus trigeminus (TSEP). linke Seite Abb. 2 Untersuchungsmethodik und typische kortikale Reizantwort Pathologische Trigeminus-SEP’s rechts: einer TSEP-Ableitung bei Neuralgie (Abb. 1) und Neuropathie (Abb. 2) 8 Bei mehr als einem Drittel der Pati- chronische lang andauernde Schmerz enten bestehen organische Ursachen verursacht eine Persönlichkeitsverän- für die Schmerzen im Trigeminusbe- derung, sondern auch die auf den Pa- reich. Diese Aussage stützt sich auf tienten einwirkende Umwelt. Zum Bei- eine sechsjährige retrospektive Studie, spiel verstärkt und modifiziert Stress im die ich in den Jahren 1996-2001 in Bre- beruflichen oder familiären Umfeld das men durchgeführt habe . Schmerzgeschehen. Diagnose der CMD Nach dem Ausschluss möglicher Schmerzursachen im Kopf-, Kiefer- und Gesichtsbereich sollten nun die Ursachen in einer Craniomandibulären Dysfunktion (CMD) gesucht werden. Einen sehr schönen Überblick über das Beschwerdemuster dieser Erkrankung gibt die Schmerzsymptomliste, die in Anlehnung an die ICCMO-Kriterien erErkrankungsverteilung neuralgiformer Gesichtsschmerzen stellt wurde. MKG-Chirurgie, ZKH, St.Jürgen-Strasse, Bremen, 1996-2001 cmd-SyMptome nach international college of Hierbei wurden die Patienten rein zu- cranio mandibular orthopedics (iccmo) fällig ausgewählt, so dass die Stichprobe als repräsentativ anzusehen ist. Pressen oder Knirschen der Zähne, Keilförmige Defekte, Es ist akribisch notwendig, Entzün- Zahnschmerzen oder empfindliche Zahnhälse, Zahnfleisch dungen im Kiefer- und Gesichtsbereich auszuschliessen. Neben Traumata und Tumoren sollte bei Schmerzen nicht zuletzt auch an eine demyelinisierende Veränderung im Gehirn, wie sie bei einer MS auftritt, als Frühsymptom gedacht werden. geht zurück, Unklare Bisslage der Zähne, Taubheitsgefühl im Mund (Zunge, Lippe, Zähne), Kauschwierigkeiten, Zahnwanderung, Zahnlockerung, Zahnabrasionen, Zahn stört beim Schliessen, Schmerzen in den Kiefergelenken, Knacken oder Reibegeräusch der Kiefergelenke, Mund geht nicht richtig auf, Kieferschmerzen, Verspannung morgens beim Aufwachen, Brennen oder taubes Gefühl in der Zunge, Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Dagegen stellt der atypische Gesichts- Nackenschmerzen, Gesichtsschmerzen, Druck auf dem schmerz (Atypical Facial Pain, AFP) eine Kopf, Berührungsempfindlichkeit von Haaren und Kopfhaut, Ausschlussdiagnose, manchmal auch Ohrgeräusch (Tinnitus), Hörminderung, Ohrenschmerzen, eine Verlegenheitsdiagnose dar. Ohr zu oder juckend, Schwindel, Augenflimmern, Schmerzen Für diesen (AFP) existieren keine ein- hinter den Augen, Doppeltsehen, Lichtempfindlichkeit, deutigen Befunde oder diese lassen Sehstörungen, Schluckbeschwerden, Heiserkeit, sich nicht mit dem Erkrankungsmuster Halsschmerzen, Häufiges Räuspem, Stimmveränderung, erklären. Nicht zuletzt kommt der Psychosomatik beim Schmerzgeschehen eine entscheidende Rolle zu. Nicht nur der Sprachstörung, Kloss im Hals, Schulterschmerzen, Taubheitsgefühl in den Armen und Fingern, Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen, Beruflicher oder familiärer Stress, Gereiztheit, Unruhe, Stimmungsschwankungen, Unentschlossenheit, Schlaflosigkeit, Depressive Verstimmung 9 Faktoren beim Auslösen der CMD zeigt sich sehr gut in einer Trias, welche jedoch erst beim Überschneiden eine Krankheit auslöst. Prädisponierend zeigt sich insbesondere der genetische Faktor, unter anderem durch dentale und basale Dysgnathien, die beim Älterwerden der Patienten immer grössere Probleme, insbesondere auch in der prothetischen Rehabilitation, schaffen. Die zahnärztliche Behandlung spielt hierbei eine zentrale Rolle, sowohl bei den prädisponierenden als auch bei den auslösenden Faktoren. Durch den Wechselbeziehung der ätiologischen Faktoren bei CMD vorzeitigen Zahnverlust ohne prothetischen Ausgleich kommt es beim Patienten zu einem Verlust der Stützzonen, Trotz der erheblichen unterschied- so dass der Kaudruck auf die Restbe- lichen Beschwerden beruhen diese zahnung verlagert wird und somit zur zumeist nur auf einer oder zwei aus- Überlastung sowohl dieser, als auch lösenden Ursachen, die schon weit der Kiefergelenke führt. Ebenso führen in der Vergangenheit liegen können. eine chronische Gewalteinwirkung, wie Hinzu kommen noch prädisponieren- z. B. beim Sport (u.a. Boxen, Handball), de Faktoren, die genetisch oder auch oder auch ausgeprägte Parafunktionen funktionell bedingt sein können. Diese (Habits) wie z.B. das Aufeinanderpres- Wechselbeziehung der ätiologischen sen und Knirschen der Zähne, im weiteren Verlauf oft zu einer CMD. Häufig assoziiert sind auch Kieferschmerzen PRÄDISPONIERENDE FAKTOREN DER CMD mit Nacken- und Schulterschmerzen im Rahmen von Körperhaltungsstö- Genetische Faktoren: Fehlbildungssyndrome, Dysgnathie, Arthrose, Osteoporose, Nervenerkrankungen (Epilepsie, MS u.a.) Funktionelle Faktoren: Stützzonenverlust, Überlastung, Diskusluxation, Chronische Gewalteinwirkung (Sport u.a.), Mundatmung, Pressen und Knirschen der Zähne, Körperhaltungsstörungen. Rheumatische Erkrankungen Fibromyalgie rungen. In diesem Zusammenhang soll jedoch aus Gründen der Themeneingrenzung nicht weiter auf die gesamte Körperstatik bei orthopädischen Fehlstellungen eingegangen werden. Nicht selten kommt es zu einer Kombination der genetischen und funktionellen Faktoren, wie z. B. bei Arthrose und anteriorer Diskusluxation. Eine Abgrenzung von rheumatischen Erkrankungen und der Fibromyalgie ist sehr schwierig, da diese sehr häufig mit der 10 CMD assoziiert auftreten. Die prädis- che. Selbst Zahnschmerzen, z. B. durch ponierenden Faktoren müssen jedoch eine Karies, bewirken eine Verände- nicht zwangsläufig zu einer Cranioman- rung des Öffnungs- und Schliessmu- dibulären Dysfunktion führen. Durch sters beim Patienten. Nicht selten sehe ich auch insuffizienten Zahnersatz bei CMD-Beschwerden. Durch Abrieb an Auslösende FAKTOREN DER CMD den Prothesenzähnen oder durch Knochenatrophie hat sich die Bissebene Zahnärztliche Faktoren: Veränderung der Bisslage (Frühkontakte, neue Füllung und neuer Zahnersatz), Insuffizienter Zahnersatz, Zahnschmerzen Akute traumatische Faktoren: Verkehrsunfälle verändert, was sich im weiteren Verlauf (HWS-Schleudertrauma, Kieferfraktur, Kieferkontussion), Kieferluxation, Roheitsdelikte, iatrogene Manipulationen (lange Zahnbehandlung, ITN) Psychische Faktoren: beruflicher oder familiärer Stress, mentale Überlastung, Schlafstörung, Depression ten traumatischen Faktoren eine nicht negativ auf die Kiefergelenke auswirkt. Neben diesen rein okklusalen Faktoren spielen auch die übergeordneten akuunwesentliche Nebenrolle. So kann sich ein HWS-Schleudertrauma genauso negativ auf die CMD auswirken, wie eine lange Zahnbehandlung oder eine orale Intubationsnarkose. Mehr als 80% der Patienten berichten zusätzlich noch von erheblichem beruflichen und/oder familiären Stress, welcher die Ausgleich der Stützzone, Vermeidung psychische Toleranzgrenze überschrei- weiterer Überlastung und Korrektur ten lässt und im Weiteren zu Schlafstö- der Fehlstellung kann diese vermieden rungen und Depressionen führt. werden. Therapie der CMD Als auslösender Faktor der CMD steht Obwohl bei ca. 60% der Bevölkerung die zahnärztliche Behandlung bzw. Ma- einzelne Symptome der CMD vorüber- nipulation wiederum im Mittelpunkt. gehend auftreten, bedürfen nur etwa Da das Kausystem beim Menschen so 3-6% von diesen einer Behandlung, ausgestattet ist, dass es mit geringst nach Möglichkeit schon mit Vermei- möglichem Energieaufwand seine phy- dung der prädisponierenden Faktoren. siologische Funktion ausführen kann, Da jedoch der Patient häufig erst bei zeigt dieses eine sehr gute Adaptati- einem chronischen, das Leben stark onsfähigkeit (Plastizität). Diese Fähig- beeinträchtigenden keit ermöglicht es dem Kausystem, sich den Arzt aufsucht, besteht der Zwang ständig an veränderte Situationen an- zu einem interdisziplinären Behand- zupassen. Ist die Toleranzgrenze jedoch lungsansatz, obwohl in der Frühphase überschritten, kommt es zu Beschwer- der Erkrankung durch einfache zahn- den. Häufig ist hierbei die Verände- ärztliche Massnahmen, wie z. B. durch rung der Bisslage durch Frühkontakte Einschleifmassnahmen im Mund oder mit Herauswachsen des Zahnes ohne auch Wartung von schlecht sitzenden Antagonisten, durch neue Füllungen Prothesen eine Befundbesserung zu oder aber neuen Zahnersatz die Ursa- erzielen wäre. Krankheitsbild 11 Noch in der Phase der ersten differen- der genügend Zeit haben muss, sich zialdiagnostischen Abklärung kann be- den veränderten Bedingungen anzu- reits der Patient seine CMD-Symptome passen. So sollte auch bei Beschwer- selbst klassifizieren. Durch eine Sen- depersistenz mindestens drei bis sechs sibilisierung des Patienten auf dieses Monate abgewartet werden, bevor mit Krankheitsbild lassen sich durch Selbst- einer speziellen Aufbissschienenthera- beobachtung in gewissem Rahmen pie eine weitere Behandlung der CMD Parafunktionen, wie z.B. das Pressen erfolgt. der Zähne, vermeiden. Selbstständig durchgeführte physiotherapeutische Obwohl in der Literatur unter diversen Massnahmen, wie das Massieren der Schienentypen für die Behandlung der Kaumuskulatur, vertiefen beim Pati- CMD unterschieden wird, besteht in enten das Verständnis für diese Erkran- der prinzipiellen Wirkungsweise Über- kung und bringen unter Umständen einstimmung. auch eine Beschwerdebesserung (Behandlungsmethode nach Schulte). Sowohl durch das Tragen einer Aufbissschiene im Oberkiefer, oder auch 12 Bei weiterer Unklarheit empfehle ich im Unterkiefer kommt es zur Harmo- jedoch dringendst das Führen eines nisierung der Kauebene, Entlastung Schmerztagebuches. Neben dem Ver- der Zähne, muskulären Entspannung lust der Stützzone, welcher sehr leicht und zur Entlastung der Kiefergelenke. durch eine prothetische Rehabilitation Da jedoch häufig mit der Cranioman- ausgeglichen werden kann, spielen dibulären Dysfunktion weitere Ver- häufig die Weisheitszähne in der Pa- änderungen in den Kiefergelenken thogenese der CMD eine herausra- assoziiert sind, sollte dann auf das gende Rolle. Diese bewirken häufig geeignete Schienensystem zurückge- durch Druck auf die Zahnreihe einen griffen werden. Sowohl bei degenera- Engstand, der zu einer Veränderung tiven Kiefergelenkserkrankungen, wie der Bisshöhe führt. Nicht selten sind bei der Arthrose deformans, als auch die Weisheitszähne auch Ursache für bei Diskopathien, wie bei der anteri- Frühkontakte, welche eine verstärkte oren Diskusluxation, hat sich die spe- habituelle Luxation beim Öffnen des zielle Unterkieferschiene nach Gerber Mundes bewirken. Bei einer Fehlstel- bewährt, obwohl diese fortlaufende lung der Zähne sollte kieferorthopä- Kontrollen mit spezieller Einschleifthe- disch durch eine kephalometrische Ver- rapie bedarf. Durch das häufige Tragen messung abgeklärt werden, ob es sich der Schiene nachts aber teilweise auch um eine dentale oder gegebenenfalls tagsüber, kann es unter Umständen auch skelettale (basale) Dysgnathie nicht nur zur Stabilisierung des sto- handelt. Zusätzliche Ausgleichsextrak- matognathen Systems im Bereich der tionen oder/und kieferorthopädische Muskulatur kommen, sondern auch Regulierungen sind unter Umständen zur Veränderung der Bissstellung, wel- erforderlich. Bei allen Massnahmen che möglicherweise zu zusätzlichen sollte jedoch beachtet werden, dass Beschwerden beim Nichttragen der das stomatognathe System immer wie- Schiene führt. Eine Funktionsbehand- lung mit 3-6-wöchigen Einschleifin- Zusammenfassung tervallen vermeidet dies jedoch. Von Obwohl bei ca. 60% der Bevölkerung Schienensystemen, keiner Symptome der Craniomandibulären ausreichenden Abstützung beruhen, Dysfunktion vorliegen, besteht nur bei ist deshalb auf lange Sicht abzuraten. 3-6% dringender Behandlungsbedarf, Zusätzliche Massnahmen wie Entspan- um eine weitere Chronifizierung zu ver- nungstechniken, Physiotherapie und hindern. Eine lange Schmerzanamne- komplementäre Heilverfahren ergän- se der Betroffenen zeigt jedoch, dass zen die Aufbissschienentherapie und oft eine Frühbehandlung verpasst wird. bewirken eine sehr gute Stabilisierung Häufiger Arztwechsel löst beim Patien- des Schmerzzustandes auf möglichst ten im weiteren Verlauf eine zusätz- niedrigem Niveau. liche Psychosomatik aus, die sich er- die auf schwerend auf den Behandlungserfolg Die spezielle Aufbissschienentherapie niederschlägt. Durch die Kenntnis der ist nach Krankenpflegeleistungsverord- wichtigsten Symptome und durch den nung (KLV 17-19) der obligatorischen Ausschluss weiterer Ursachen für den Krankenpflegeversicherung (OKP) als Kiefer- und Gesichtsschmerz lässt sich zahnärztliche Pflichtleistung anerkannt. sehr schnell die Diagnose einer CMD Im Rahmen des Artikels 17 d müssen stellen. Schwierigkeiten treten jedoch die Kosten beim Vorliegen von Erkran- auf, wenn zusätzliche Erkrankungen im kungen des Kiefergelenks- und Bewe- Kiefer- und Gesichtsbereich mitbehan- gungsapparates von den Krankenkas- delt werden müssen. Durch das Ver- sen übernommen werden. Hierbei wird ständnis des stomatognathen Systems jedoch in ungerechtfertigter Weise ein lässt sich sehr schnell durch einfache Budget veranschlagt, das die verschie- Behandlungsmöglichkeiten (Ausgleich denartigen Persönlichkeitsstrukturen des Stützzonenverlustes, Aufbissschie- der Patienten und die unterschiedliche nentherapie) Schmerzfreiheit schaffen. Ausprägung des Krankheitsbildes der Positiv auf den Behandlungserfolg wir- CMD nicht berücksichtigt, so dass der ken die Selbstbeobachtung zur Vermei- Kostendruck sich häufig negativ auf dung von Parafunktionen, die Selbst- das Behandlungsergebnis auswirkt. behandlung und die Physiotherapie. Komplementärmedizinische Heil- In den meisten Fällen kann die spezielle verfahren ergänzen sehr gut die Be- Aufbissschienentherapie nach ca. 12- handlung, vor allem bei ausgeprägter 18 Monaten erfolgreich beendet wer- Psychosomatik und während der Stabi- den, wenn in dieser Zeit beim Patienten lisierungsphase. die prädisponierenden Faktoren verringert oder gegebenenfalls zusätzlich behandelt wurden. Unter Umständen besteht auch die Notwendigkeit einer ständigen Therapie, insbesondere bei Patienten mit einem dominanten ORLBeschwerdemuster (z.B. bei Tinnitus). 13 Interview mit Herrn Dr. med. Carsten Schindler Herr Dr. med. et med. dent. Carsten Schindler ist seit 2005 Belegarzt der Sonnenhof-Kliniken. Neben seinem Hauptbetätigungsfeld dentoalveoläre Chirurgie und Implantologie, zählt zu seinen Spezialitäten die Traumatologie (Unterkiefer- und Mittelgesichtsfrakturen), LASER-Therapie (Er: YAG- und CO2-Laser), plastische Chirurgie dermaler Veränderungen im Gesichtsbereich und nicht zuletzt die spezielle Schmerztherapie. Diese Patienten werden in einer Schmerzsprechstunde mit ausgeprägter interdisziplinärer Zusammenarbeit diagnostiziert und behandelt. In Ihrem Bericht über CMD erwähnen Vermutlich haben im Rahmen einer CMD die Beschwerden Sie, dass chronische Schmerzen ein in den letzten Jahren zugenommen. Genaue langfri- immer grösseres Problem in unserer stige, statistische Daten stehen bisher nicht zur Verfügung. Gesellschaft darstellen. Haben diese Bereits im 18. Jahrhundert wurden von Phillipp Pfaff (kö- Beschwerden in den letzten Jahren zu- niglicher Hofzahnarzt) die Symptome der CMD beschrie- genommen, und wenn ja, weshalb? ben. Die Häufigkeit dieser Diagnose hat mit Sicherheit zugenommen. Eine Hauptursache hierfür kann die allgemeine Stresszunahme im beruflichen und im familiären Umfeld sein. Dies zeigt sich besonders in der Gruppe Frauen, jüngeres bis mittleren Alters. Diese sind ca. 8x häufiger als Männer vergleichbaren Alters betroffen. Obwohl der Grund nicht klar ersichtlich ist, spielen sicherlich auch geschlechtsspezifische Faktoren, wie psychische Kondition, endokrine oder hormonelle Aspekte und auch der Stress durch die Mehrfachbelastung: Kinder, Beruf und Haushalt eine mögliche Rolle. Wie auch bei anderen chronischen Erkrankungen der Neuzeit spielt das Älterwerden der Bevölkerung ebenfalls eine entscheidende Rolle. Hierbei kommt den degenerativen Veränderungen im Kiefergelenksbereich eine zusätzliche Bedeutung zu. Ab wann spricht man von chronischen Nach den ICCMO-Kriterien müssen einige Hauptsymptome Schmerzen resp. von der chronischen auftreten, damit eine Diagnose gestellt und mit der Behand- Schmerzkrankheit? lung begonnen werden kann. Neben dem Hauptsymptom Schmerzen, bzw. Kiefergelenksbeschwerden, kommen den sogenannten ORL-Symptomen wie Tinnitus und Gleichgewichtsstörungen eine entscheidende Bedeutung zu. Das heisst, beim Auftreten der Hauptsymptome mit zusätzlichen Beschwerden muss man von einer Craniomandibulären Dysfunktion (CMD) sprechen. Obwohl bei 60 % der Bevölkerung 14 Einzelsymptome der CMD auftreten, bedarf es in ca. 6 % der Fälle tatsächlich einer Behandlung. Diese Patienten leiden dann auch häufig unter den Hauptsymptomen und suchen deshalb einen Arzt auf. Laut Ihrem Bericht konsultieren die Häufig sind die Frühsymptome einer CMD sehr unspezifisch meisten Patienten den Arzt erst dann, und beeinträchtigen das Leben nur wenig. Obwohl diese wenn sie bereits ein chronisches, bereits vom Patienten häufig bei Arztkonsultationen ange- das Leben stark beeinträchtigendes sprochen werden, wird in der Frühphase, wenn überhaupt, Krankheitsbild vorweisen. Liegt der analgetisch wie bei anderen Kopf- und Gesichtsschmerzen Grund darin, dass die Patienten eine behandelt. Auf dem Weg zur Chronifizierung des Krank- lange Leidenszeit auf sich nehmen, heitsbildes, kann sicherlich ein Spezialist den Leidensweg bevor sie den Spezialisten aufsuchen, beachtlich verkürzen. Trotzdem ist es gerade auch für ihn in oder haben sie bereits eine lange Be- der Anfangsphase häufig nicht einfach, differenzialdiagnos- handlungszeit tisch die weiteren möglichen Schmerzursachen im Kiefer- ohne nennenswerte Besserung hinter sich? gesichtsbereich abzuklären. Auch hierbei liegt das Gewicht auf der interdisziplinären Zusammenarbeit, um schnell einen Ausschluss herbeizuführen, um somit den Leidensweg zu verkürzen. Da häufig der Hausarzt der erste Ansprechpartner bei unklaren Schmerzen ist, kommt ihm hierbei eine herausragende Bedeutung zu. Wann und wieso sollten Patienten mit Wie bereits teilweise schon ausgeführt, kann durch eine spe- CMD-Symptomen zum Spezialisten zialärztliche Untersuchung in den meisten Fällen eine Zeit- überwiesen werden? verkürzung von der Diagnosestellung und bis zum Behandlungsbeginn erreicht werden. Dies bewährt sich auch in dem Fall, wenn mehrere Schmerzentstehungsursachen neben der CMD in Frage kommen, damit parallel bereits mit der Behandlung begonnen werden kann. Wann und wie wird der zuweisende Nach der Diagnosestellung erhält der überweisende Arzt ei- Arzt von Ihnen informiert und wie wird nen ausführlichen Befundbericht und das im speziellen Fall er in die Nachbehandlung miteinbezo- geplante Behandlungskonzept wird erläutert. Da das stoma- gen? tognathe System auch mit den vorhandenen Zähnen und der Zahnstellung zu tun hat, wird gleichermassen mit den anderen Zuweisenden, bzw. behandelnden Zahnärzten, verfahren. Obwohl der Hausarzt häufig die Patienten zuweist, ist in der ersten Phase der Behandlung meistens der zu15 ständige Zahnarzt der erste Ansprechpartner. Denn mit ihm muss ich die Entfernung, z. B. der Weisheitszähne, aber auch weitere verursachende Faktoren, wie neuer Zahnersatz oder die Korrektur einer Zahnfüllung besprechen. Oft erst in der zweiten Phase der Behandlung im Rahmen der speziellen Aufbissschienentherapie kommen zusätzliche Massnahmen, wie Physiotherapie zur Anwendung. Insbesondere auch im Rahmen dieses Krankheitsbildes, sehe ich mich als Vermittler zwischen Medizin und der Zahnmedizin. Gemäss Ihren Aussagen ermöglichen diverse bildgebende Verfahren eine verbesserte Diagnosestellung. Wie sieht Ihre diesbezügliche Zusammenarbeit mit der Radiologie der Sonnenhof-Kliniken aus? Zur Beurteilung degenerativer Veränderungen, aber auch zur Beurteilung des Diskus und des umgebenden Weichgewebes, spielt das Funktions-MR beider Kiefergelenke eine entscheidende Rolle in der Diagnosestellung. Sehr gern überweise ich deshalb meine Patienten auch in die Radiologie der Sonnenhof-Kliniken. Sehr enge persönliche Kontakte zu einigen Radiologen dort haben auch im Ergebnis der Zusammenarbeit zu einer gewissen Standardisierung in der Durchführung und Beurteilung geführt. Neben einer exakten Diagnosestellung und Behandlungsplanung ist diese Untersuchung auch für einige Krankenkassen Hauptkriterium einer Kostenübernahme, insbesondere im Rahmen einer speziellen Aufbissschienentherapie. Zur weiteren differenzialdiagnostischen Abklärung steht mir ausserdem im Sonnenhofbereich eine weitere breite Palette bildgebender Verfahren zur Verfügung, so dass auch weitere Ursachen des Kiefer- und Gesichtsschmerzes abgeklärt werden können. Wieso bedauern Sie, dass die Knochenszintigrafie und teilweise auch der Ultraschall zur primären differenzialdiagnostischen Abklärung an Bedeutung verloren hat? Obwohl der Ultraschall in vielen Bereichen der Medizin in der grundlegenden Diagnostik und teilweise aus der Therapie nicht mehr wegzudenken ist, spielt er leider in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie keine bedeutende Rolle. Um ihn effektiv diagnostisch im Kopf-Halsbereich einsetzen zu können, bedarf es einer intensiven Ausbildung und Erfahrung. Da zusätzlich auch noch gewisse apparative Voraussetzungen am Ultraschallgerät notwendig werden und wenige Indikationen für den Einsatz am Kopf existieren, wird dieser in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie sehr wenig 16 eingesetzt. Zudem wird durch ein MR häufig eine klarere Darstellung und somit auch Diagnosesicherheit erreicht. Ebenso hat die Knochenszintigrafie im Kopfbereich an Bedeutung verloren. Obwohl sehr gut der veränderte Knochenstoffwechsel, wie bei Entzündungen und Tumoren sowie Metastasen, mit dieser Methode erkennbar wird, ist mit der Einführung der Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) eine ebenso sichere Methode bei lokalen Fragestellung, wie z. B. bei Unterkieferosteomyelitis, vorhanden. Funktions-MR Kiefergelenk normal bei geschlossenem Mund Funktions-MR Kiefergelenk normal bei offenem Mund Funktions-MR Kiefergelenk anteriore Diskusluxation bei geschlossenem Mund Funktions-MR Kiefergelenk anteriore Diskusluxation bei offenem Mund 17