Überlegungen für eine Programm-Debatte Was nötigt uns dazu? Es sind in unserem Land und in den anderen Industrieländern Veränderungen eingetreten, die erst seit den neunziger Jahren, so liest man, deutlich erkannt wurden, also erst nach Verabschiedung des Berliner Programms der SPD . Das zeigen mehrere Aufsätze in dem von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Band „Die neue SPD. Bonn, Dietz, “ (. Euro) zeigen das deutlich. Hier einige Beispiele: • Die schnellen Veränderungen in der Wirtschaft fordern von den Menschen größere Flexibilität, häufigeren Arbeitsplatzwechsel, auch berufliche Veränderungen und größere Mobilität. • Die Informations-Technologie bringt eine Beschleunigung vieler Lebensbereiche mit sich – nicht nur in der Arbeitswelt –, die viele Menschen überfordert. Viele können nicht mithalten, andere wollen diese Schnelligkeit nicht. Peter Glotz befürchtet, dass die Wissensgesellschaft viele Menschen ausgrenzt („Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus.“ ). Prof. Franz Walter (Mitglied der SPD) befürchtet, dass die nachindustrielle Gesellschaft, in der Wissen, Bildung und Mobilität gefordert sind, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft mit sich bringt. Die Bildungsarmen, Kontakt- und Kompetenzarmen fühlen sich überflüssig und ohne die geringsten Chancen (Spiegel online, ..). Ferner: Es scheint ungewiss, ob wir noch ein Wirtschaftswachstum erreichen können, das so groß und so beständig ist, dass genügend neue Arbeitsplätze entstehen. Das sieht Burkart Lutz so: Das starke Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit werde es nicht mehr geben. Die Antwort auf die Frage, wie eine lebenswerte Gesellschaft der Zukunft aussehen könne, werde nicht in erster Linie in der Wirtschaftsentwicklung zu suchen sein. (Gespräch von Peter Glotz mit Burkart Lutz, in: Neue Gesellschaft, Heft -, . Ganz ähnlich Kurt Biedenkopf, in: DIE ZEIT, Nov. ). Auch Müntefering sieht das so: Wir hätten einige Jahrzehnte immer Wachstum gehabt, das wir hätten umverteilen können. Das sei jetzt vorbei. Neues Nachdenken ist also nötig. In welcher Richtung können Antworten liegen? Solidarität Wenn die Gesellschaft so zerbröselt wie befürchtet, dann braucht es umso mehr Bereitschaft zu Solidarität. Eine Solidarität der Starken mit den Schwachen, das ist klar. Aber die Starken sind nicht mehr nur die Unternehmer, sondern auch die Arbeitnehmer, die mithalten können in der Wissensgesellschaft. Mit unserem alten Solidaritäts-Verständnis – wir Arbeitnehmer halten zusammen gegen die Unternehmer – kommen wir nicht mehr aus. Gesine Schwan spricht in einem Vortrag vor der Programm-Kommission ausdrücklich von personaler Solidarität im Unterschied zur bloßen Gruppensolidarität. Prof. Jürgen Kocka schreibt, dass Solidarität bedeute, über Rechtsverbindlichkeiten hinaus füreinander einzustehen, Solidarität bedeute Gemeinsinn. Wie pflegt man solche Solidarität? Was verlangt Solidarität im Hinblick auf die, die am Rande stehen? Wenn Solidarität nur eine Einbahnstraße ist – nur: die Starken helfen den Schwachen –, dann sind die Schwachen trotzdem am Rande, sie sind nur Objekt von Fürsorge. Ziel muss sein, sie zur Eigenständigkeit zu befähigen. Und ihr eigener Beitrag zur Solidarität besteht in der Bereitschaft, sich zu befähigen und befähigen zu lassen. Es müssen Arbeitsbereiche gefunden und geschaffen werden, die gesellschaftlich gewünscht sind und die ihnen die Möglichkeit bieten, ihren Lebensunterhalt selber zu erwerben und aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen. Nach Burkart Lutz geht es bei den Hartz-Gesetzen im Wesentlichen darum, dieses Ausgegrenztwerden abzufedern und erträglicher zu gestalten. Aber er beklagt, dass weder die Wissenschaft noch die Politik auf diese Situation vorbreitet sind und sagen könnten, wie die Gesellschaft von morgen aussehen könnte. Dasselbe sagt Franz Walter. Wolfgang Thierse schreibt, wir sollten uns überlegen, welche öffentlichen Güter wir wollen, die allen Menschen im Staat offen zugänglich sind. Danach erst wollten wir überlegen, was davon realisiert werden kann. Gerechtigkeit „Gerechtigkeit verlangt ein hohes Maß an Gleichheit. Die fundamentale Gleichheit der Menschenrechte und Bürgerrechte ist Voraussetzung für Gerechtigkeit und Teil der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bedeutet gleiche Freiheit, bedeutet Gleichheit der Lebenschancen.“ (Prof. Thomas Meyer, Mitglied der Programm-Kommission, in: Die Zukunft der sozialen Demokratie. FES). Wenn das nicht blanke Theorie bleiben soll, dann gehört zur Gerechtigkeit, dass die Menschen in Stand gesetzt werden, ihre Grundrechte auch wahr zu nehmen, d.h. sie haben einen Anspruch auf ein Minimum an materieller Sicherheit, an sozialer Sicherheit und an Bildung. Das war schon immer Meinung der SPD. Aber die Theoretiker sehen auch, dass nicht alle Ungleichheiten als ungerecht angesehen werden müssen. Deutlich ist das, wenn zwei mit gleichen Startchancen damit ganz ungleich umgehen, der eine faul, die andere fleißig – das Ergebnis ist sicher ungleich, aber nicht ungerecht. John Rawls („Eine Theorie der Gerechtigkeit“) schreibt: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten (...) müssen (...) sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.“ Konkret heißt das unter anderem: Wenn Ungleichheit der Arbeitsentgelte zu Leistungsanreizen führt, dadurch zu Produktivitätssteigerung, zu Wirtschaftswachstum, zu neuen Arbeitsplätzen, dann haben auch Arbeitslose und Arme etwas davon, so ungefähr Thomas Meyer in „Die neue SPD“. Gehört zur Gerechtigkeit nicht auch ein Ausgleich zwischen Beitrags- und Steuerzahlern einerseits und Leistungsempfängern andererseits? Es gibt somit auch eine Solidaritätspflicht der Leistungsempfänger gegenüber der Gesellschaft. Zur Gerechtigkeit gehört auch, dass wir nicht auf Kosten der nächsten Generation leben. Gerecht ist, gleiche Grundrechte zu haben. Aber zu den Grundrechten gehören auch Grundpflichten, gehört Eigenverantwortung (Thomas Meyer). Freiheit Freiheit bedeutet nicht nur, frei sein von Unterdrückung, Bevormundung, unbegründeten Beschränkungen, auch frei sein von Elend. Frei sein von – das ist negative Freiheit. Positive Freiheit bedeutet: Eigenständigkeit, Autonomie, verantwortlich sein für das eigene Tun. Verantwortlich sein auch für das Zusammenleben mit den Anderen in der Gesellschaft. Diese Freiheit ist gemeint, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist. Ausblick Prof. Paul Nolte schreibt, im neuen Programm müsse die SPD wieder zu ihrem optimistischen und aktivistischen Menschenbild zurückfinden. Das Berliner Programm sei eher von einem pessimistisch-passiven Menschenbild geprägt, der Mensch als Opfer von abstrakten Systemen, von Überforderung usw. (in: „Die neue SPD“). Die Menschen müssen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können, so weit es eben geht.