Kapitel 2 Regeln in Unternehmen 2.1 Überblick Aus einer historischen Perspektive betrachtet, nimmt das Schaffen und Einsetzen von Regeln bei der Erfüllung (komplexer) Aufgaben einen bedeutenden Stellenwert ein. Dieser Auffassung waren auch schon die Menschen der Antike. Aus einigen Überlieferungen geht hervor, dass bereits damals Regeln für die Bewältigung verschiedener Aufgaben eingesetzt wurden ([Geo72], S. 4ff.; [Sut95], S. 16): Überlieferung 2.1 (Cheopspyramide) Eine der ältesten Überlieferungen stammt aus Ägypten zur Zeit des Pyramidenbaus. Es wird vermutet, dass bei der Errichtung der Cheopspyramide mehr als 100’000 Menschen über einen Zeitraum von 20 Jahren beschäftigt waren. Für die Baumeister bestanden damals wesentliche Probleme in der Koordination der zu erfüllenden Arbeiten und in der Verwaltung der zahlreichen Arbeitskräfte. Eine Überlieferung aus dem Jahr 2’700 v. Chr. schildert, dass zur Lösung dieser Probleme eine Vielzahl von Regeln geschaffen wurde, die auf Papyrusrollen schriftlich festgehalten wurden. Überlieferung 2.2 (Chinesisches Reich) Eine weitere Überlieferung kommt aus China zur Zeit der Chou-Dynastie. Damals erstreckte sich das chinesische Reich so weit, dass in seiner Verwaltung ein erhebliches Problem bestand. Etwa um 1’100 v. Chr. wurde ein Handbuch veröffentlicht, das an alle öffentlichen Ämter ausgegeben wurde. In diesem Buch sind Regeln in Form von Anweisungen beschrieben, die die Art und Weise der Reichsverwaltung festlegen. Auch in der heutigen Zeit kann in den Unternehmen nicht auf die Verwendung von Regeln bei der Aufgabenerfüllung verzichtet werden. Ein Grund wird darin gesehen, dass die zu bearbeitenden Aufgaben sehr komplex sind und von Menschen sowie Maschinen arbeitsteilig erfüllt werden ([Gro82], S. 1). Zudem werden die Schaffung und Einführung von Regeln als ein wichtiges Führungsinstrument erachtet, mit dem sich das Erreichen der vom Unternehmen angestrebten Ziele vorteilhaft beeinflussen lässt. In der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie stellen die Schaffung und Einführung von Regeln zwei der wichtigsten Themenschwerpunkte dar. In dieser Theorie werden Unternehmen als sozio-technische Systeme betrachtet, die gewisse wirtschaftliche Ziele verfolgen, wie beispielsweise die Erzeugung von Gütern und/oder Dienstleistungen. Um die in einem Unternehmen angestrebten Ziele zu erreichen, werden aus diesen bestimmte Aufgaben abgeleitet, die von Men- 14 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN schen und Maschinen arbeitsteilig zu erfüllen sind. Die Erfüllung dieser Aufgaben vollzieht sich nach bestimmten Regeln, die in der Organisationstheorie als organisatorische Regeln bezeichnet werden. Sie werden in Anlehnung an Grochla wie folgt definiert ([Gro82], S. 1): Definition 2.1 (Organisatorische Regeln (OR)) Organisatorische Regeln legen auf Dauer das Zusammenwirken der personellen und maschinellen Aktionsträger für die Erfüllung unternehmerischer Aufgaben fest. In ihrer Gesamtheit lassen sich diese Regeln in personenbezogene Verhaltensregeln und maschinenbezogene Funktionsregeln gliedern. Organisatorische Regeln können nach Definition 2.1 als eine Präzisierung der zu erfüllenden Aufgaben aufgefasst werden, die angeben, in welcher Form und in welchem Umfang die Verhaltensbzw. Funktionsweisen der personellen und maschinellen Aktionsträger beeinflusst werden sollen (müssen) ([Gro78], S. 22; [Sut95], S. 5). In Unternehmen bilden diese Regeln ein formales künstliches System, das als Organisation oder Organisationsstruktur bezeichnet wird ([Gro82], S. 1). Die Organisationen stellen somit den formalen Rahmen dar, innerhalb dessen sich die vielfältigen Aufgaben vollziehen. Um eine effiziente Aufgabenerfüllung sicherstellen zu können, müssen die Organisationsstrukturen entwickelt und optimal gestaltet sein. Nur dann kann gewährleistet werden, dass die Regeln ihre Wirkungen im Hinblick auf die Aktionsträger entfalten und zur Erreichung der unternehmerischen Ziele beitragen. Da sich i. allg. die Organisationen nicht von selbst ergeben, sind gewisse organisatorische Handlungen notwendig, die unter dem Begriff organisatorische Gestaltung subsumiert werden ([Gro82], S. 2): Definition 2.2 (Organisatorische Gestaltung) Die organisatorische Gestaltung umfasst alle Aktivitäten, mit denen die Schaffung und Einführung von organisatorischen Regeln als Ziel verfolgt wird. Die organisatorische Gestaltung stellt das Mittel dar, mit dem sich eine Organisation schaffen lässt. Die organisatorische Gestaltung wird als eine äusserst komplexe Aufgabe angesehen, die vor allem von den Managern1 der Unternehmen erfüllt werden sollte. Für ihre Bewältigung wird ein achtstufiges Vorgehensmodell2 vorgeschlagen, mit dem die logische Ordnung der zu erfüllenden Aufgaben als Ziel verfolgt wird. Drei dieser Stufen sind die Problemerkennung, die Generierung von Gestaltungsalternativen sowie die Kontrolle und Weiterentwicklung der eingeführten Organisation. Um eine umfassende und realitätsnahe Behandlung eines organisatorischen Problems sicherzustellen, gilt es, bei der Entwicklung einer Lösung gleichzeitig mehrere Problemdimensionen und zahlreiche Gestaltungsbedingungen zu berücksichtigen: • Problemdimensionen Bei der organisatorischen Gestaltung sind drei Problemdimensionen3 zu beachten ([Gro82], S. 8ff.). Im einzelnen handelt es sich dabei um den Objektbereich, die Mehrstufigkeit und die sachlich-logische, politische Dimension. In der ersten Dimension, dem Objektbereich, stellt die Gestaltung der Organisation eine der Hauptaufgaben dar. Für die Schaffung einer nutzbringenden Organisationsstruktur wird es als wichtig erachtet, dass die organisatorischen Regeln nach aufbau- und ablauforganisatorischen Gesichtspunkten gestaltet werden ([Gro82], S. 24f.): 1 vgl. Abschnitt 2.2.3.1. vgl. Abschnitt 2.2.3.4. 3 vgl. Abschnitt 2.2.3.2. 2 2.1. ÜBERBLICK 15 Definition 2.3 (Aufbauorganisation) Die Aufbauorganisation gliedert das Unternehmen in Aktionseinheiten, wie beispielsweise Teilbereiche, Abteilungen und Stellen, weist diesen Aufgaben zu, die aus der Gesamtaufgabe abgeleitet sind, und ist für ihre Koordination verantwortlich. Dazu werden Leitungs-, Informations- und Kommunikationsbeziehungen zwischen den Aktionseinheiten erzeugt. Zusätzlich umfasst die Aufbauorganisation die temporäre Zusammenfassung mehrerer Stellen zu Kollegien. Definition 2.4 (Ablauforganisation) Die Ablauforganisation beinhaltet die raumzeitliche Strukturierung der zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Arbeits- und Bewegungsvorgänge. Im einzelnen werden dazu Arbeitsgänge gebildet, die den Arbeitsträgern übertragen werden und die in zeitlicher Hinsicht aufeinander abgestimmt sind. Zudem ist die Ablauforganisation verantwortlich für die Ausstattung der Arbeitsplätze und ihre zweckmässige Anordnung. • Gestaltungsbedingungen Bei einer organisatorischen Gestaltung sind auch die Gestaltungsbedingungen zu identifizieren, die einen mehr oder weniger starken Einfluss auf die Aufgabenerfüllung ausüben. Diese Bedingungen bilden in ihrer Gesamtheit einen nicht beeinflussbaren Rahmen, der die möglichen und zulässigen Problemlösungen beschreibt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle Bedingungen in einem absoluten Sinne unveränderbar sind. Für den Zeitraum der Lösungsentwicklung stellen sie jedoch feste Vorgaben dar. Auf einer ersten Stufe lassen sich die Bedingungen in unternehmensinterne und unternehmensexterne Gestaltungsbedingungen4 gliedern. Beispiele dafür sind die Arten der zu erfüllenden Aufgaben, die Unternehmensgrösse sowie ökonomische, rechtliche und technologische Umwelteinflüsse. Änderungen in den Gestaltungsbedingungen können dazu führen, dass die in den Unternehmen geschaffenen und eingeführten Organisationen ihre Wirkungen verlieren und daher neu ausgerichtet (reorganisiert) werden müssen. So ist es z.B. möglich, dass ein Unternehmen infolge einer härteren Konkurrenz höhere Ansprüche an die Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerfüllung stellt und eine organisatorische Gestaltung durchführt. Dabei könnte als Ziel die Rationalisierung oder Automation bestimmter Aufgaben verfolgt werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sowohl in der Theorie als auch in der Praxis ein revolutionäres organisatorisches Umdenken stattgefunden. Dabei wird die Gestaltung einer Organisation nur nach aufbau- und ablauforganisatorischen Gesichtspunkten als nicht mehr ausreichend angesehen: ”The reality that organizations have to confront, however, is that the old ways of doing business – the division of labor around which companies have been organized since Adam Smith first articulated the principle – simply don’t work anymore. ... Adam Smith’s world and its way of doing business are yesterday’s paradigm.” ([HC93], S. 17). Gründe dafür werden vor allem in der Verfügbarkeit und Nutzung von Informationstechnologien (IT), in den sich ständig neu ergebenden Umweltveränderungen und in der Intensivierung des 4 vgl. Abschnitt 2.2.3.3. 16 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Wettbewerbs gesehen. So weisen Hammer und Champy darauf hin, dass der heute zwischen den Unternehmen existierende Wettbewerb von drei Faktoren bestimmt wird ([HC93], S. 17ff.): 1. Veränderungen im Kundenverhalten Seit den frühen 80er Jahren haben sich die Beziehungen zwischen den Unternehmen, die Güter und/oder Dienstleistungen anbieten, und den Kunden, die diese konsumieren, grundlegend gewandelt. Früher bestand in Unternehmen die Fiktion, dass die Kunden die gleichen oder doch zumindest sehr ähnliche Bedürfnisse haben. Es herrschte die Vision, dass mit dem Angebot eines standardisierten Gutes und/oder Dienstleistung die Wünsche der meisten Kunden zufrieden gestellt werden können. Diese Vision bestätigte sich auch, was darauf zurückgeführt wird, dass die Kunden damals nur sehr beschränkte Möglichkeiten hatten, zwischen denen sie wählen konnten. Heute hat sich das Verhalten der Kunden gewandelt, da moderne Informationstechnologien verfügbar sind und genutzt werden: ”Sellers no longer have the upper hand; customers do. Customers now tell suppliers what they want, when they want it, how they want it, and what they will pay.” ([HC93], S. 18). Die Kunden erwarten, dass die Unternehmen Güter und/oder Dienstleistungen anbieten, die ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen: ”Individual customers – whether consumers or industrial firms – demand that they be treated individually. They expect products that are configured to their needs, delivery schedules that match their manufacturing plans or work hours, and payment terms that are convenient for them.” ([HC93], S. 18). Aufgrund dieser Entwicklungen haben sich die Märkte in eine Vielzahl von kleinen Marktsegmenten aufgespalten, die sich durch grundverschiedene Merkmale auszeichnen. Die Unternehmen sehen sich daher gezwungen, ihre Güter und/oder Dienstleistungen kundenorientiert zu gestalten, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. 2. Intensität des Wettbewerbs Neben dem Kundenverhalten hat sich auch der Wettbewerb zwischen den Unternehmen gewandelt und stark intensiviert: ”Adequate is no longer good enough. If a company can’t stand shoulder to shoulder with the world’s best in a competitive category, it soon has no place to stand at all. ... Now, not only does more competition exist, it’s of many different kinds.” ([HC93], S. 21). Gründe dafür werden in dem veränderten Kundenverhalten und in der Nutzung von Informationstechnologien gesehen: • Kundenverhalten Nischenkonkurrenten befriedigen durch das Anbieten von Gütern und/oder Dienstleistungen sehr spezielle Kundenbedürfnisse. Dadurch haben sich die Charakteristika der Marktsegmente stark geändert. So verkaufen sich bspw. ähnliche Güter in verwandten Märkten auf der Basis grundverschiedener Kriterien: In einem Segment werden die Güter mit dem günstigsten Preis gekauft; in einem anderen Segment stellt die Qualität den Kaufgrund dar, und in einem dritten Markt entscheiden die Kunden anhand der Leistungen, die ein Unternehmen vor, während und/oder nach einem Kauf anbietet. 2.1. ÜBERBLICK 17 • Informationstechnologien Der Einsatz von Informationstechnologien eröffnet den Unternehmen eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit denen sich Wettbewerbsvorteile gegenüber den Konkurrenten erreichen lassen. Diese Technologien können z.B. für eine computergestützte Aufgabenerfüllung (z.B. ’Computer Integrated Manufacturing’ (CIM) und ’Computer Aided Design’ (CAD)) eingesetzt werden. 3. Kontinuität der Veränderungen Durch die Globalisierung der Wirtschaftlichkeit sehen sich die Unternehmen einer steigenden Anzahl von Konkurrenten gegenüber, die innovative Güter und/oder Dienstleistungen anbieten. Ein Grund für diese Entwicklung ist in den sich ständig (neu) einstellenden Veränderungen der Informationstechnologien zu sehen. Da diese Technologien permanent weiter entwickelt werden und neue Funktionalitäten aufweisen, eröffnen sich für die Unternehmen immer mehr Einsatzmöglichkeiten. Dies hat u.a. dazu geführt, dass sich nicht nur die Produktlebenszyklen, sondern auch die Entwicklungs- und Einführungszeiten für (neue) Güter und/oder Dienstleistungen stark verkürzt haben: ”Today, companies must move fast, or they won’t be moving at all.” ([HC93], S. 23). Die Unternehmen müssen somit gerade in der heutigen Zeit ihre Wettbewerbsfähigkeit unter Beweis stellen. Damit sie ihren Konkurrenten nicht unterliegen, wird es als besonders notwendig und wichtig erachtet, dass die Unternehmen ihre bestehenden Organisationen radikal neu ausrichten: ”It is no longer necessary or desirable for companies to organize their work around Adam Smith’s division of labor. Task-oriented jobs in today’s world of customers, competition, and change are obsolete. Instead, companies must organize work around process.” ([HC93], S. 27f.). Die Grundlage dieser neuen organisatorischen Orientierung stellen dabei nicht mehr die einzelnen Aufgaben, sondern die im Unternehmen identifizierten Geschäftsprozesse dar. Hammer und Champy definieren einen Geschäftsprozess wie folgt: Definition 2.5 (Geschäftsprozess (GP), Business Process) ”A business process is a collection of activities that takes one or more kinds of input and creates an output that is of value to the customer.” ([HC93], S. 35). Nach Definition 2.5 können Geschäftsprozesse als Wertschöpfungsketten aufgefasst werden, die gewisse Bedürfnisse befriedigen und daher für die Kunden einen bestimmten Wert darstellen ([RS91]). Um eine effiziente Erfüllung dieser Prozesse zu gewährleisten, müssen die dabei zu erfüllenden Aufgaben in ihrer Gesamtheit betrachtet und optimal gestaltet werden. Da sich die Geschäftsprozesse aus einer Vielzahl von einzelnen Aufgaben zusammensetzen, die i. allg. von verschiedenen Stellen und Abteilungen erfüllt werden, verlaufen sie orthogonal zu den traditionell funktional ausgerichteten Unternehmen (vgl. Abb. 2.1). Zur Verdeutlichung wird das folgende Beispiel betrachtet: Beispiel 2.1 (Orthogonalität der Geschäftsprozesse) In vielen Unternehmen stellt die Produktentwicklung einen der wichtigsten Geschäftsprozesse dar. Um ein neues Produkt auf einem Markt erfolgreich lancieren zu können, ist eine Vielzahl von 18 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Research and Development Marketing Manufacturing New Product Development Competitor Analysis Market Research New Product Prototype Abbildung 2.1: Orthogonalität der Geschäftsprozesse ([JEJ95]). Aufgaben zu erfüllen. Diese Aufgaben werden dabei von Stellen bearbeitet, die unterschiedlichen Abteilungen angehören. So werden z.B. in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung (F&E) ein Konzept und gegebenenfalls ein Prototyp erarbeitet. Für eine Überprüfung, ob sich das (neue) Produkt auf dem Markt absetzen lässt, führt die Marketingabteilung entsprechende Analysen durch. Befürworten die Untersuchungsergebnisse die Fertigung, so muss die Art der Herstellung evaluiert werden. Diese Evaluation wird von der Fertigungsabteilung übernommen, in der auch später das marktfähige Produkt hergestellt wird. Für die Reorganisation der Unternehmen werden zahlreiche Vorgehensmodelle vorgeschlagen. Ein Beispiel dafür ist das Modell von Venkatraman, das auf dem Einsatz von Informationstechnologien basiert und fünf Stufen umfasst ([Ven91]). Abbildung 2.2 veranschaulicht, dass mit der dritten Stufe, dem Business Process Redesign, der revolutionäre Teil der Reorganisation beginnt. Dabei wird mit steigendem Transformationsgrad ein potentiell grösserer Nutzen erwartet. In den letzten Jahren wird in der Literatur das Business Process Redesign für die Gestaltung von Geschäftsprozessen vermehrt diskutiert ([Dav93]; [HC93]; [MB93]; [JEJ95]). Zentrale Begriffe, die oft synonym dafür verwendet werden, sind Reengineering und Business Reengineering. Mit der Veröffentlichung des Buches ”Reengineering the Corporation: A Manifesto for Business Revolution” von Hammer und Champy ist der Begriff Reengineering zu einem bedeutenden Schlagwort der 90er Jahre geworden ([HC93]). Die beiden Autoren verstehen darunter: Definition 2.6 (Reengineering, Business Process Redesign (BPR)) ”Reengineering is the fundamental rethinking and radical redesign of business processes to achieve dramatic improvements in critical, contemporary measures of performance, such as cost, quality, service, and speed.” ([HC93], S. 32). 2.1. ÜBERBLICK 19 Degree of Business Transformation High 5th Level Business Scope Redefinition 4th Level Business Network Redesign 3rd Level Business Process Redesign Revolutionary Levels 2nd Level Evolutionary Levels Internal Integration 1st Level Localized Exploitation Low Low Range of Potential Benefits High Abbildung 2.2: Fünf Stufen der Reorganisation von Unternehmen ([Ven91]). Mit dem Business Process Redesign werden hauptsächlich zwei Ziele verfolgt. Ein Ziel besteht darin, die Flexibilität der Unternehmen zu steigern, indem z.B. Kontrollen verringert und Entscheidungen delegiert werden. Das andere Ziel liegt in der Verbesserung der Reaktionsfähigkeit, da auf wichtige Veränderungen (z.B. der Umwelt) so schnell wie möglich zu reagieren ist: ”Companies created to thrive on mass production, stability, and growth can’t be fixed to succeed in a world where customers, competition, and change demand flexibility and quick response.” ([HC93], S. 24). Um diese Zielsetzungen zu erreichen, müssen die Geschäftsprozesse und Organisationen reorganisiert werden. Zudem sind die Prozesse auf ihre effiziente Erfüllung hin zu überprüfen. Beispiele dafür sind Analysen und Simulationen mit Blick auf Kosten, Zeit und Qualität. Ferner sollten die Prozesse auch auf Redundanzen, (bestehende) Engpässe, Ineffizienzen und Schnittstellen, wie z.B. zu anderen Geschäftsprozessen, untersucht werden. Für die Durchführung solcher Analysen ist es notwendig, die Prozesse formal zu spezifizieren und zu modellieren. Davenport schlägt dazu eine auf drei Ebenen basierende Methode vor ([Dav93], S. 139): • Prozessebene Die oberste Ebene ist die Prozessebene. Auf dieser Stufe werden die Geschäftsprozesse in ihrer Gesamtheit spezifiziert, indem bspw. Eingaben, Ausgaben, Schnittstellen, Ablauflogiken und Analysekriterien angegeben werden. 20 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN • Subprozessebene Auf der zweiten Ebene, der Subprozessebene, werden die Teilprozesse der Geschäftsprozesse spezifiziert. Dazu werden u.a. die zu erfüllenden Aktivitäten, die dafür erforderlichen Informationen und die Aktionsträger beschrieben. • Aktivitätenebene Die dritte Ebene ist die Aktivitätenebene, auf der die einzelnen Aufgaben detailliert zu spezifizieren sind. Dazu werden u.a. die zur Verarbeitung notwendigen Informationen, Entscheidungszeitpunkte und Aktionsträger angegeben. Mit diesem Modell können Geschäftsprozesse auf verschiedene Kriterien hin analysiert werden. Für eine Simulation eignet sich diese Darstellung jedoch nicht, da die Prozesse nicht detailliert genug beschrieben sind. In der Literatur werden dafür zahlreiche andere Methoden, wie z.B. synaptische Modelle, State-Transition-Diagramme und Flowcharts, vorgeschlagen und diskutiert ([MB93], S. 97ff.). Um entscheiden zu können, ob eine Methode für die Simulation von Geschäftsprozessen geeignet ist, haben Carr und Johansson eine Liste erarbeitet, aus der ersichtlich ist, welche Daten benötigt werden und daher in der Methode spezifizierbar sein sollten ([CJ95], S. 150). Einige Beispiele dafür sind Prozessablaufdaten, wie Aktivitäten, Ressourcendaten, wie Personen und Maschinen, Eingabedaten, wie Quantitäten, und Ereignisdaten, wie Sitzungstermine und Meilensteine. Neben der Verwendung von Methoden zur Reorganisation von Geschäftsprozessen wird in der Literatur auch der Einsatz von Informationstechnologien diskutiert. So weist z.B. Davenport besonders daraufhin, dass sich mit diesen Technologien Geschäftsprozessinnovationen ermöglichen und fördern lassen. Davenport versteht darunter: Definition 2.7 (Geschäftsprozessinnovation, Process Innovation) ”The term process innovation encompasses the envisioning of new work strategies, the actual process design activity, and the implementation of the change in all its complex technological, human, and organizational dimensions.” ([Dav93], S. 2). Die Verwendung von Informationstechnologien kann nach Davenport zu verschiedenen Arten der Prozessinnovation führen, die sich in ihrer Gesamtheit in neun Kategorien gliedern lassen (vgl. Tab. 2.1). Eine der wichtigeren Innovationsarten sieht er in der Automation von Geschäftsprozessen: ”This opportunity, long understood in manufacturing, is the province of robotics, cell controllors, and so forth. In service environments, where processes are frequently defined by document flows, automational opportunities increasingly rely on imaging systems that remove paper from the process, frequently accompanied by ’work flow’ software that defines paths images follow through a process.” ([Dav93], S. 51). Für eine computergestützte Erfüllung von Geschäftsprozessen werden heute in den Unternehmen neben Kommunikationssystemen vor allem Informationssysteme eingesetzt. Diese Systeme erlauben es, Informationen elektronisch zu erfassen, zu bearbeiten und nach unterschiedlichen Gesichtspunkten auszuwerten: 2.1. ÜBERBLICK 21 Automational Eliminating human labor from a process Informational Capturing process information for purposes of understanding Sequential Changing process sequence, or enabling parallelism Tracking Closely monitoring process status and objects Analytical Improving analysis of information and decision making Geographical Coordinating processes across distances Integrative Coordinating between tasks and processes Intellectual Capturing and distributing intellectual assets Disintermediating Eliminating intermediaries from a process Tabelle 2.1: Einflüsse der IT auf die Prozessinnovation ([Dav93]). Definition 2.8 (Informationssysteme (IS), Information Systems) ”Ein Informationssystem eines Unternehmens enthält die zur Kontrolle und Steuerung dieses Unternehmens notwendigen Informationen sowie die dazugehörigen Verarbeitungsprozesse.” ([SS83], S. 13). Informationssysteme bestehen aus Datenbanksystemen, in denen die erfassten Daten gespeichert und verwaltet werden, und Anwendungsprogrammen, die verschiedene Sichten auf die Daten beschreiben: Definition 2.9 (Datenbanksysteme (DBS), Data Base Systems) Datenbanksysteme werden für die Beschreibung, Speicherung und Wiedergewinnung von umfangreichen Datenmengen eingesetzt. Diese Systeme umfassen eine Datenbasis, in der die Daten abgelegt sind, und das Datenbankmanagementsystem, mit denen die Daten entsprechend den vorgegebenen Beschreibungen gespeichert, wiedergefunden oder andere Datenoperationen durchgeführt werden. Definition 2.10 (Anwendungsprogramme (AP), Applications) In den Anwendungsprogrammen werden die Verarbeitungsprozesse spezifiziert. Dazu wird festgelegt, wie die vom Datenbanksystem angeforderten Daten verarbeitet, verknüpft und ausgewertet werden. Für die Gewährleistung der Datenunabhängigkeit basieren Informationssysteme auf dem 1975 von der ANSI entwickelten 3-Schema-Konzept ([ANS75]). Nach diesem Konzept werden die Daten auf drei Ebenen beschrieben (vgl. Abb. 2.3). Jede Ebene beinhaltet eine andere Datensicht. Zur Formalisierung dienen Schemata: • Externe Ebene Auf der externen Ebene wird die Datenbank aus Sicht der Anwendungsprogramme beschrieben. Dazu werden die Daten in der Art und Weise spezifiziert, in der sie von den Programmen erwartet werden. 22 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Ben. / AP ... Ben. / AP Externes Modell / Externes Schema Ben. / AP ... Ben. / AP ... Ben. / AP Externes Modell / Externes Schema Transformationsregeln DBMS ... Transformationsregeln Konzeptionelles Modell / Konzeptionelles Schema Transformationsregeln Internes Modell / Internes Schema BS Speicher ... Legende: Ben. AP DBMS BS Benutzer Anwendungsprogramm Datenbankmanagementsystem Betriebssystem Befehlsweitergabe Daten- und Kontrollübergabe Ausführung einer Verarbeitung Abbildung 2.3: 3-Schema-Konzept für Datenbanksysteme ([SS83]). 2.1. ÜBERBLICK 23 • Konzeptionelle Ebene Auf der konzeptionellen Ebene werden die Gesamtstruktur der Daten, ihre Eigenschaften und ihre Beziehungen formal beschrieben. Dabei werden weder Aspekte der physikalisch implementierungsabhängigen Datenorganisation noch Anforderungen und Datenbedarf der Anwendungsprogramme berücksichtigt. • Interne Ebene Auf der internen Ebene wird die physische Organisation der Daten spezifiziert. Im Zusammenhang mit der Geschäftsprozessautomation auf der Basis von Informationssystemen wird in der theoretischen und besonders in der praxisorientierten Literatur auf die Verwendung von Geschäftsregeln hingewiesen ([MNP+ 91]; [SK93]; [PL94]; [Ros94]; [App95]; [JSK98]). Diese Regeln werden dabei als wesentliche Bestandteile der Informationssysteme angesehen ([App84]; [App88]; [HK95]; [Mal97]). Da dieser Begriff oft verwendet wird, herrscht unter den Autoren kein einheitliches Begriffsverständnis. So werden z.B. Geschäftsregeln häufig mit semantischen Integritätsbedingungen gleichgesetzt: ”A business rule expresses specific constraints on the creation, updating, and removal for persistent data in an information system.” ([Hal97]). In anderen Veröffentlichungen werden Geschäftsregeln als formale Aussagen verstanden, die das zulässige Verhalten der Aktionsträger bei der Aufgabenerfüllung festlegen: ”A rule is any logical expression describing allowable behavior in the business enterprise.” ([BBG+ 90]). ”Business rules are explicit statements stipulating a condition that must exist in a business environment to be consistent with business policy.” ([App84]). Auch in der Praxis wird dieser Begriff oft verwendet. So definiert z.B. die USoft, die sich mit der Automation von Geschäftsregeln beschäftigt: ”Business rules are statements that govern the business. From the point of view of an information system, business rules state what information is allowed, how to deduce information, and how the system should behave in certain situations. The business rules also define how the organization should work with the system, and how the system should help in this work. Together with data model, the business rules constitute the core knowledge of the business.” ([Mal97], S. 34). In dieser Arbeit werden Geschäftsregeln als Richtlinien und Restriktionen aufgefasst, die sich sowohl auf Zustände als auch auf Prozesse einer Organisation beziehen. Damit wird das Verständnis von Herbst geteilt, der Geschäftsregeln wie folgt definiert: Definition 2.11 (Geschäftsregeln (GR), Business Rules) ”Business rules are statements about how business is done, i.e., about guidelines and restrictions with respect to states and processes in an organization.” ([Her97], S. 2). 24 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Aus Definition 2.11 lässt sich folgern, dass Geschäftsregeln und organisatorische Regeln das gleiche Ziel verfolgen: Die optimale Gestaltung bzw. Modellierung und effiziente Erfüllung der in den Unternehmen existierenden Geschäftsprozesse. In diesem Sinne können Geschäftsregeln mit organisatorischen Regeln gleichgesetzt werden. Jedoch ist zu bemerken, dass mit organisatorischen Regeln die Prozesserfüllung eher aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive betrachtet wird. Geschäftsregeln zeichnen sich mehr durch eine datenverarbeitungs (DV)-technische Sichtweise aus. Für die Implementierung in Informationssystemen sind die Geschäftsregeln sowohl inhaltlich als auch semantisch korrekt darzustellen. Dazu werden i. allg. Event-Condition-Action (ECA)Regeln ([CBB+ 89], S. 7) verwendet, die aus der Datenbanktheorie stammen. Eine ECA-Regel besteht aus drei Komponenten: • Ereignis (Event) In der Ereigniskomponente wird spezifiziert, wodurch die Regel ausgelöst wird. • Bedingung (Condition) In der Bedingungskomponente wird angegeben, was nach der Regelauslösung zu überprüfen ist. • Aktion (Action) In der Aktionskomponente wird spezifiziert, wie reagiert werden muss, wenn die Regel ausgelöst und die Bedingung erfüllt ist. Mit einer solchen formalen Beschreibung werden die Geschäftsregeln durch Situations-AktionsRegeln repräsentiert. Dabei werden Situationen, die von besonderem Interesse sind und auf die zu reagieren ist, durch Ereignisse und Bedingungen beschrieben. Die Reaktionen werden in den Aktionskomponenten der Regeln spezifiziert. ECA-Regeln können somit als ein Instrument aufgefasst werden, mit dem sich ein reaktives bzw. situationsbezogenes Verhalten darstellen lässt. Zur Veranschaulichung wird ein Beispiel betrachtet: Beispiel 2.2 (ECA-Regel) In vielen Unternehmen werden Informationssysteme für die Lagerverwaltung eingesetzt. Um Probleme zu vermeiden, müssen die Artikel in genügender Anzahl verfügbar sein. Dazu wird häufig eine Geschäftsregel verwendet, mit der die Neubestellung initiiert wird: Wenn der Bestand eines Artikels unter einen bestimmten Schwellenwert sinkt, dann ist für diesen eine Neubestellung auszulösen. Diese Geschäftsregel kann als ECA-Regel wie folgt dargestellt werden: E: C: A: ON Artikelbestand manipuliert IF (Bestand < Schwellenwert) DO Löse Neubestellung aus. Das Beispiel 2.2 verdeutlicht, dass bei der Geschäftsprozessautomation die betroffenen Geschäftsregeln unbedingt berücksichtigt werden müssen, wenn eine realitätsnahe Lösung angestrebt wird. Da die Implementierung eines Informationssystems zumeist eine sehr komplexe Aufgabe darstellt, sollte sie im Rahmen einer strukturierten System-Entwicklung durchgeführt werden. Dazu 2.1. ÜBERBLICK 25 werden in der Literatur mehrere Vorgehensmodelle vorgeschlagen ([Bal92]; [Sch95b]). Diese Modelle bestehen aus mehreren Phasen, mit denen die verschiedenen Stadien einer Software von der Entstehung bis zum Ende repräsentiert werden. Abbildung 2.4 zeigt ein Vorgehensmodell, das sechs Phasen umfasst: Analyse, Entwurf, Implementierung, Funktionsüberprüfung, Leistungsüberprüfung und Installation, Abnahme. Da die Qualität einer Software besonders durch die ersten beiden Phasen bestimmt ist, werden diese im Kontext der Prozessautomation genauer betrachtet: 1. Analyse Die Analyse beinhaltet die fachliche Spezifikation der für ein Informationssystem relevanten Elemente, wie die abzudeckenden Geschäftsobjekte, Geschäftsprozesse und Geschäftsregeln sowie die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge. Das Resultat besteht in einem konzeptionellen Modell, welches das zu entwickelnde Gesamtsystem darstellt. Wird die Automation eines Geschäftsprozesses als möglich erachtet, sind die Realweltausschnitte des Prozesses genauestens zu analysieren. Dazu müssen u.a. die Ablauflogiken und die benötigten Daten spezifiziert werden. Zudem sind alle Geschäftsregeln zu ermitteln und zu beschreiben, die einen Einfluss auf die Prozesse ausüben ([KS97]). Dabei stellt die Klassifikation der Regeln eine nützliche Hilfe dar. Das konzeptionelle Modell eines Informationssystems repräsentiert die Realweltausschnitte und setzt sich aus einem Datenmodell und einem oder mehreren Prozessmodell(en) zusammen. Für eine realistische Darstellung der Realwelten sind Methoden zu verwenden, mit denen sich nicht nur die Daten und die Ablauflogiken, sondern auch die Geschäftsregeln und ihre Wirkungen exakt modellieren lassen: (a) Datenmodelle Für die Entwicklung konzeptioneller Datenmodelle werden in der Literatur mehrere Methoden vorgeschlagen. Eine der wichtigsten ist das Entity Relationship Model (ERM) ([Che76]; [BCN92]), bei dem die Struktur der Realweltausschnitte mit Hilfe von Entitätstypen, Beziehungstypen und Attributen modelliert wird. Für die Darstellung von Geschäftsregeln, die z.B. die Datenintegrität sicherstellen, unterstützt diese Methode jedoch keine Konstrukte. Zur Behebung dieses Nachteils wurde das ER-Modell erweitert. Zwei Beispiele dafür sind das Entity Relationship-Rules Model (ER-RM) ([TNCK91]), das über ein zusätzliches Konstrukt für die Regelmodellierung verfügt, und das Behavior Integrated Entity Relationship Model (BIER) ([EKTW87]; [KS89]) bei dem ER-Modelle und Petri-Netze kombiniert werden. In BIER werden die Konstrukte der Petri-Netze für die Darstellung von Regeln verwendet. Aus Untersuchungen geht hervor, dass auch diese Methoden für die Regelmodellierung wenig geeignet sind ([HKMS94]). (b) Prozessmodelle In Prozessmodellen werden die Ablauflogiken spezifiziert. Hierfür wird ebenfalls eine Vielzahl von Methoden vorgeschlagen. Beispiele dafür sind Datenflussdiagramme (DFD) ([You89]; [ECS91]), Petri-Netze (PN) ([Mes90]; [GD93]; [Gat95]), der MeriseAnsatz ([QC91]; [Tar92]) und das Entity Life History Model von SSADM ([Ash88]; [DCC92]). Obgleich sich mit diesen Methoden Prozessmodelle erstellen lassen, so sind sie doch für die Modellierung von Geschäftsregeln entweder gar nicht oder nur bedingt geeignet ([HKMS94]). Für die Modellierung von Geschäftsregeln werden somit Methoden benötigt, mit denen sich die Regeln sowohl inhaltlich als auch semantisch korrekt darstellen lassen. Zudem müssen 26 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Problem Analysephase Funktionsüberprüfungsphase Anforderungsdefinition Leistungsüberprüfungsphase Entwurfsphase Modifizierte Software Installations- und Abnahmephase Spezifikation Implementierungsphase Anforderungsgerechte Software Wartung Dokumentierte Software "Verschrottung" Abbildung 2.4: Phasenmodell der System-Entwicklung. in diesen Methoden die Wirkungen der Geschäftsregeln auf Daten und Prozesse modellierbar sein. Zwei Ansätze, die diese Anforderungen weitestgehend erfüllen, sind ereignisgesteuerte Prozessketten (EPK)5 ([HKS93]; [Kel94]; [Sch94], S. 49ff.) und das Business Rule Oriented Conceptual Modeling (BROCOM)6 ([Her97]). Mit diesen Methoden lassen sich Prozessmodelle erstellen, in denen die Ablauflogiken ereignisgesteuert auf der Grundlage von Event-Action (EA)-Regeln und Event-Condition-Action-Action (ECAA)-Regeln modelliert werden. Für eine Darstellung der Wirkungen auf Daten können die Prozessmodelle mit Datenmodellen, wie z.B. ER-Diagrammen, verknüpft werden. 2. Entwurf Die Entwurfsphase umfasst die technische Spezifikation der von einem Informationssystem zu unterstützenden Funktionen, Prozesse, Datenstrukturen und Regeln. Diese Entwurfsmodelle werden aus den entsprechenden fachlichen Konstrukten abgeleitet. In dieser Phase werden die in der Analyse erstellten Modelle auf der Basis der einzusetzenden Technologien umgesetzt. Der Entwurf eines Informationssystems umfasst im wesentlichen zwei Teile. Zum einem muss das Datenmodell in das Datenschema eines Datenbanksystems übertragen werden. Zum anderen sind die Prozessmodelle in Form von Anwendungsprogrammen zu implementieren: (a) Datenbanksysteme Die Mehrzahl der heute kommerziell verfügbaren Datenbanksysteme basiert entweder auf einem relationalen oder einem objektorientierten Datenmodell. In relationalen Datenbanksystemen werden die Daten und ihre Beziehungen in Form von Tabellen (Relationen) organisiert. In objektorientierten Systemen werden die Daten als Ob5 6 vgl. Abschnitt 2.3.2.1. vgl. Abschnitt 2.3.2.2. 2.1. ÜBERBLICK 27 jekte bezeichnet und in Klassen verwaltet. Andere Modelle, die heute in der Datenbanktheorie eine untergeordnete Stellung einnehmen, sind das hierarchische und das netzwerkorientierte Datenmodell. Auf eine genauere Betrachtung dieser Datenbanksysteme wird daher verzichtet. Konventionelle Datenbanksysteme eignen sich für die Implementierung von Geschäftsregeln nicht, da sie passiv sind. In diesen Systemen werden Daten dann manipuliert und selektiert, wenn die dazu notwendigen Befehle von den Benutzern oder Anwendungsprogrammen spezifiziert und an das Datenbankmanagementsystem zur Verarbeitung übergeben werden. Neuere Trends in der Datenbankforschung beschäftigen sich damit, konventionelle Systeme in aktive Datenbanksysteme zu überführen. Aktive Datenbanksysteme sind charakterisiert durch ein reaktives Verhalten, da sie selbständig die definierten Situationen erkennen und darauf mit der Ausführung von Aktionen reagieren. Diese Systeme wurden um Funktionalitäten erweitert, mit denen Geschäftsregeln in Form von ECA-Regeln spezifiziert und ausgeführt werden können. Die Entwicklungen der Forschung haben sich auch auf kommerzielle relationale Datenbanksysteme ausgewirkt. Heute unterstützen nahezu alle Systeme einen TriggerMechanismus, mit dem ein situationsbezogenes Verhalten implementierbar ist. Die Geschäftsregeln werden durch Datenbanktrigger repräsentiert, die auf der ECA-Struktur basieren. Ausgelöst werden diese Trigger durch Ereignisse, die im Zusammenhang mit der Ausführung der Datenmanipulationsbefehle insert, update und delete eintreten. Diese Ereignisse werden Datenmanipulations-Ereignisse genannt. Kommerziell verfügbare objektorientierte Datenbanksysteme unterstützen keine Trigger-Mechanismen. Jedoch gibt es auch hier Möglichkeiten der Regelimplementierung ([Kot92]). Bei der Definition der Klassen werden u.a. die Operationen spezifiziert, mit denen sich Objekte manipulieren und selektieren lassen. Diese Operationen werden als Methoden bezeichnet und durch das Empfangen von Nachrichten (messages) ausgelöst. Für die Implementierung von Geschäftsregeln können entweder existierende Methoden verwendet bzw. neue Methoden definiert werden. (b) Anwendungsprogramme Anwendungsprogramme werden auf der Grundlage von Programmiersprachen erstellt. Dazu werden vor allem Sprachen der dritten Generation, wie z.B. C und Pascal, oder Sprachen der vierten Generation, wie Uniface, Oracle*Forms und PowerBuilder, verwendet. Auf der Applikationsebene können Geschäftsregeln auf zwei Arten implementiert werden7 . Eine Möglichkeit besteht darin, die Programme um Regeln zu erweitern. Die andere Alternative ist die Implementierung von speziellen Programmen, in denen Regeln realisiert sind. Diese Ausführungen zeigen, dass Geschäftsregeln bei der Geschäftsprozessautomation einen hohen Stellenwert einnehmen und daher besonders berücksichtigt werden müssen. Dazu sind u.a. die betroffenen Regeln zu ermitteln, sorgfältig zu analysieren, konzeptionell exakt zu beschreiben und, wenn es ihre Inhalte zulassen, auf eine geeignete Art und Weise in Informationssystemen zu implementieren. In den nachfolgenden Abschnitten wird auf diese Aspekte genauer eingegangen. Dazu werden zuerst die organisatorischen Regeln, ihre Schaffung und Einführung in Unternehmen aus einer organisationstheoretischen Perspektive betrachtet. Im Anschluss daran werden Geschäftsregeln erläutert, wobei auf Klassifikationsansätze, Methoden der Modellierung und Alternativen der Implementierung in Informationssystemen eingegangen wird. 7 vgl. Abschnitt 2.3.3.1. 28 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN 2.2 Organisatorische Regeln In ihrer Gesamtheit bilden die organisatorischen Regeln eines Unternehmens ein formales und künstliches Gebilde, das in der betriebswirtschaftlichen Literatur als (formale) Organisation bezeichnet wird ([Gro82], S. 1). Die Schaffung und Einführung dieser Regeln wird als eine entscheidende Aktivität angesehen, die i. allg. von Mitgliedern der Geschäftsleitung, Abteilungsleitern, speziellen Organisationsfachleuten oder externen Beratern ausgeübt bzw. unterstützt wird. Daneben existiert in den Unternehmen aber auch eine Vielzahl von Regeln, die nicht von den dazu legimitierten Stellen erzeugt und eingeführt werden. Die Gesamtheit dieser organisatorischen Regeln wird als informale Organisation bezeichnet ([Gro78], S. 13ff.). Die Organisationen repräsentieren den Rahmen, innerhalb dessen die Geschäftsprozesse ablaufen. Um ihre effiziente Erfüllung zu gewährleisten, wird die Gesamtaufgabe des Unternehmens in Teilaufgaben zerlegt und den geschaffenen Aktionseinheiten (Stellen, Abteilungen) zugeordnet ([Gro82], S. 2). Für die Koordination des Zusammenwirkens der Aktionseinheiten werden vielfältige und zahlreiche organisatorische Regeln eingesetzt. Diese Regeln stellen somit ein wichtiges Instrument dar, zur Handhabung komplexer Aufgaben in Unternehmen ([Gro82], S. 25). Neben dieser Koordinationsaufgabe werden organisatorische Regeln auch für andere Aufgabenzwecke eingesetzt: • Führungsinstrument Als Führungsinstrument umfassen organisatorische Regeln alle die für die Realisierung gewählter Handlungsalternativen notwendigen institutionellen, funktionellen und instrumentalen Begebenheiten. Diese Regeln dienen zur Willenskundgebung der Geschäftsleitung sowie zur Willensübertragung und Willensannahme der ihr unterstellten Mitarbeiter ([Rü93], S. 18). • Ordnungsinstrument Als Ordnungsinstrument kommt den organisatorischen Regeln die Strukturierung des Unternehmens zu. Diese Regeln werden auch als ordnungsgenerierende Maschinen ([Per89], S. 6) bezeichnet, die, als Mittel zum Zweck, primär der Leistungssicherung dienen. Zudem schaffen sie die notwendigen Voraussetzungen, um die Leistungspotentiale des Unternehmens im Sinne der verfolgten Strategien wirksam zu entfalten ([Gro82], S. 92; [Sut95], S. 6). • Motivations- bzw. Demotivationsfunktion Jede organisatorische Regel weist in Abhängigkeit der Situation eine Motivations- oder Demotivationsfunktion auf. Wird z.B. eine Regel als Orientierungshilfe für die berufliche Tätigkeit eingesetzt, dann kann sie motivationsfördernd wirken. Im Unterschied dazu haben Regeln, die als Machtinstrument verwendet werden, eher eine demotivierende Wirkung, da sie die Entfaltungsmöglichkeiten der Mitarbeiter einengen ([Gro78], S. 16). Weitere Beispiele für Aufgabenzwecke der organisatorischen Regeln sind Zielsetzungs-, Umsetzungs-, Unterstützungs- und Informationsfunktionen ([Rü93], S. 21f.). Um die Wirkungen der organisatorischen Regeln entsprechend entfalten zu können, müssen geeignete Formen der Realisierung gewählt werden. Drei Beispiele dafür sind: • Graphische Hilfsmittel Mit graphischen Hilfsmitteln lassen sich relativ einfache Sachverhalte im Überblick darstellen. Beispiele dafür sind Organigramme, Ablaufdarstellungen und Funktionsdiagramme. 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 29 • Verbale Darstellungen Verbale Darstellungen organisatorischer Regeln werden hauptsächlich für die Beschreibung differenzierter Sachverhalte verwendet. Beispiele dafür sind Statuten, Reglemente, Stellenbeschreibungen, Arbeitsverträge, Vorschriften, Bestimmungen, Richtlinien sowie Arbeitsund Dienstanleitungen. • Formale Spezifikationen Diese Spezifikationen sind im Vergleich zu den anderen beiden Realisierungsformen am präzisesten. Jedoch sind sie schwer kommunizierbar. Beispiele dafür sind formale Logiken und Spezifikationssprachen. Da die Zahl der im Unternehmen existierenden Regeln immens gross sein kann, wird es als sinnvoll und hilfreich erachtet, die organisatorischen Regeln schriftlich zu fixieren, zu strukturieren und durch identifizierende Kriterien eindeutig zu klassifizieren. Für eine optimale Gestaltung und Wirkungsentfaltung der Regeln ist aber ihre möglichst lückenlose Kenntnis eine wichtige Voraussetzung. Dabei bietet die Einordnung organisatorischer Regeln nach ihrer Herkunft (Quellen) eine hilfreiche Unterstützung. 2.2.1 Quellen Organisatorische Regeln können verschiedener Herkunft (Quelle) sein. So gibt es bspw. Regeln, die vom Unternehmen selbst geschaffen und eingeführt werden, um die Koordination der arbeitsteiligen Geschäftsprozesse sicherzustellen. Daneben existiert aber auch eine Vielzahl von Regeln, die den Unternehmen extern vorgegeben sind und auch berücksichtigt werden müssen. Ein Beispiel dafür sind Regeln, die in Gesetzen verankert sind. Aufgrund dieser verschiedenen Herkunftsarten erscheint es sinnvoll, die Gesamtheit der organisatorischen Regeln auf einer ersten Stufe in unternehmensinterne und unternehmensexterne Quellen zu gliedern ([Sut95], S. 14ff.) (vgl. Abb. 2.5): 1. Unternehmensinterne Quellen In dieser Klasse sind organisatorische Regeln zusammengefasst, die vom Unternehmen selbst geschaffen werden. Diese Regeln können zwar vom Unternehmen beliebig verändert werden, jedoch ist zu beachten, dass die erzielbaren Wirkungen von den Situationen abhängen, in denen sie eingesetzt werden. Im Hinblick auf den Anlassgrund lassen sie sich in zwei weitere Klassen gliedern: (a) Neuorganisation (Primärquellen) Bei der Neuorganisation wird ein Unternehmen neu gegründet, eine Abteilung oder Stelle neu geschaffen ([Gro82], S. 24). Die hierzu erzeugten und eingeführten organisatorischen Regeln werden daher Primärquellen zugeordnet, da sie sich nicht direkt aus Regeln anderer Quellen ableiten lassen. Da diese Regeln nicht immer von den dazu legimitierten Stellen geschaffen werden, ist eine weitere Gliederung sinnvoll: • Selbstorganisation Diese Klasse beinhaltet die organisatorischen Regeln, die von den neu geschaffenen Stellen oder Abteilungen selbst erzeugt und eingeführt werden. • Fremdorganisation In dieser Klasse sind die organisatorischen Regeln zusammengefasst, die von den dazu legimitierten Stellen geschaffen werden. 30 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Quellen organisatorischer Regeln Unternehmensinterne Quellen Neuorganisation Selbstorganisation Unternehmensexterne Quellen Reorganisation Fremdorganisation Selbstorganisation Fremdorganisation Naturgegebene Fakten Normen Ethische Normen Kulturelle Normen Rechtliche Normen Abbildung 2.5: Quellen organisatorischer Regeln. (b) Reorganisation (Sekundärquellen) Bei einer Reorganisation wird der Tatbestand erkannt, dass die Organisationen aufgrund geänderter Zielsetzungen, Situationen und/oder Bedingungen ihre Wirkungen verlieren. So werden z.B. Verfahrensrichtlinien revidiert, Kompetenzen erweitert oder eingeschränkt und bisher getrennte Stellen zusammengefasst. Um dennoch eine effiziente Erfüllung der Gesamtaufgabe des Unternehmens und/oder der Aufgaben einzelner Teilbereiche, Abteilungen oder Stellen zu gewährleisten, sind die Regeln zu aktualisieren ([Gro82], S. 24). Da diese neuen Regeln auf bereits bestehende organisatorische Regeln zurückgeführt werden können, lassen sie sich Sekundärquellen zuordnen. Auf einer nächsten Stufe können diese organisatorischen Regeln in Selbstund Fremdorganisation gegliedert werden, weil sie nicht nur von den dazu legimitierten Stellen eingeführt werden. 2. Unternehmensexterne Quellen Die Klasse der unternehmensexternen Quellen beinhaltet die organisatorischen Regeln, die dem Unternehmen exogen vorgegeben sind. Diese Regeln können entweder gar nicht oder nur beschränkt beeinflusst werden. In ihrer Gesamtheit lassen sie sich auf einer nächsten Ebene in naturgegebene Fakten und Normen unterteilen: (a) Naturgegebene Fakten Naturgegebene Fakten sind organisatorische Regeln, die unwiderruflichen Tatsachen entsprechen und ohne Zeitbeschränkung gültig sind. Ein Beispiel für eine solche Regel ist: Das Geschlecht eines jeden Menschen ist entweder weiblich oder männlich. (b) Normen Normen können sich im Laufe der Zeit verändern und regionale Unterschiede aufweisen, da sie durch die Wertvorstellungen der Gesellschaft geprägt sind. Aus Sicht der Unternehmen sind Normen kaum steuerbar, weshalb sie auch als unveränderbar angesehen werden ([Rü93], S. 26f.; [HK95]). 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 31 Normen lassen sich in ethische, kulturelle und rechtliche Normen gliedern. Kulturelle und ethische Normen äussern sich hauptsächlich im Rahmen der in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen kulturellen und ethischen Grundsätze. Rechtliche Normen konkretisieren sich in der Rechtsprechung und Rechtswirklichkeit. Für die Unternehmen sind diese Normen verbindlich und müssen daher strikt eingehalten werden. Ein Beispiel für eine solche Regel ist: Jeder neu eingestellte Mitarbeiter muss mindestens 14 Jahre alt sein (Verbot der Kinderarbeit). 2.2.2 Formalisierung und Dokumentation Um die Übersichtlichkeit der in einem Unternehmen existierenden organisatorischen Regeln zu erhöhen, ist ihre Formalisierung und Dokumentation hilfreich. 2.2.2.1 Formalisierung In der organisationstheoretischen Literatur wird der Begriff Formalisierung unterschiedlich verwendet: • So versteht z.B. Schmidt unter diesem Begriff die schriftliche Fixierung organisatorischer Regeln, die u.a. in Organisationshandbüchern beschrieben sind ([Sch85], S. 38). • Grochla bezeichnet mit Formalisierung die Festlegung von Geschäftsprozessen, die durch ihre Programmierung und Dokumentation erfolgt. Dadurch wird jedem einzelnen Aktionsträger mehr oder weniger genau der Handlungsspielraum vorgeschrieben, den er bei der Erfüllung seiner Aufgaben einzuhalten hat ([Gro82], S. 174ff.). Die von Schmidt formulierte Definition kann als ein Teilaspekt des Begriffsverständnisses von Grochla aufgefasst werden, da bei der Festlegung von Geschäftsprozessen auch organisatorische Regeln berücksichtigt und schriftlich formuliert werden. Aus einer historischen Perspektive betrachtet existierten in den früheren Jahrhunderten kaum schriftlich formulierte Regeln. Bis in die späten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts galten mündliche Instruktionen als die beste Form der organisatorischen Anweisung. Gegen Ende dieses Jahrhunderts wurden die Betriebsvorgänge aufgrund der beginnenden Industrialisierung zunehmend reglementiert und arbeitsteilig organisiert. An die Stelle von persönlichen Beziehungen traten allgemeine, schriftlich formulierte Verfahrensregeln. Diese wurden u.a. in Form von Dienstreglementen, Pflichtenheften und Betriebsordnungen verankert. So wurden z.B. in Grossunternehmen Arbeitskarten und Formulare eingeführt ([Hei93], S. 162). Um die Kontrolle zu verbessern und die Informationsflüsse übersichtlicher zu gestalten, wurde bereits 1878 in einem betriebsorganisatorischen Handbuch der Vorschlag unterbreitet, Aufträge, Konstruktionsangaben und Magazinbestellungen numerisch zu kennzeichnen und diese Nummern in Formulare einzutragen ([Koc69]). In der heutigen Zeit stellt die Formalisierung organisatorischer Regeln in gewissen Situationen ein notwendiges Mittel dar, um die Koordination der organisatorischen Einzelaktivitäten bewältigen zu können. Zudem herrscht vielfach die Überzeugung, dass mündliche Regeln oft (zu) spontan ausgesprochen werden. Ein Vorteil bei der schriftlichen Fixierung wird darin gesehen, dass die Mitarbeiter zum Nachdenken aufgefordert werden, ob diese Regeln wirklich notwendig und wenn ja, ob sie auch in der beschriebenen Form sinnvoll sind ([Kor69]). 32 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN 2.2.2.2 Dokumentation Für die Dokumentation organisatorischer Regeln werden in Unternehmen oft Organisationshandbücher verwendet. Da die Regeln in diesen Handbüchern schriftlich verankert sind, tragen sie zu ihrer Verbreitung bei und fördern ihre Anwendung. Neben den Regeln beinhalten diese Bücher auch Unternehmensziele, Organisationsprinzipien, Führungsprinzipien, Abläufe sowie unternehmensinterne und -externe Veröffentlichungen ([Sch89], S. 336f.; [Sut95], S. 18ff.). Organisationshandbücher können sehr umfangreich sein. Daher wird eine übersichtliche Gliederung und klare Strukturierung sowie die Verwendung einer einheitlichen Terminologie als wichtig angesehen ([Gro82], S. 179). Zudem ist die Auswahl eines zweckmässigen Erfassungs-, Wartungs- und Vervielfältigungsverfahrens von hoher Bedeutung ([Sch89], S. 338). Aus diesem Grund sollte das Handbuch von einer zentralen Stelle im Unternehmen, wie bspw. der Organisationsabteilung, herausgegeben werden. In grossen Unternehmen können mehrere Organisationshandbücher existieren. Umfangreiche Handbücher weisen i. allg. eine Gliederung in vier Teile auf ([Gro82], S. 179; [Sch85], S. 337): 1. Allgemeines In diesem ersten Abschnitt wird zumeist eine Übersicht über die Besetzung und Aufgabenverteilung in der Unternehmensspitze gegeben. Zudem werden die Unternehmensziele, die Unternehmenspolitik sowie generelle Organisationsprinzipien aufgeführt. Oft wird auch eine allgemeine Führungsanweisung zur Dokumentation des hausinternen Führungsstils wiedergegeben. 2. Aufbauorganisation In diesem Teil wird die Aufbauorganisation des Unternehmens beschrieben. I. allg. wird dazu das Organigramm des Unternehmens verwendet, das gegebenenfalls von Angaben über Stellen-, Besetzungs- und Kostenpläne ergänzt wird. 3. Ablauforganisation Die Ablauforganisation des Unternehmens wird mit Hilfe von Arbeitsanweisungen (Ablaufbeschreibungen) und Verfahrensregelungen dargestellt. Beispiele dafür sind Spesenund Kassenordnungen, Regelungen der Aus- und Weiterbildung, Postordnungen sowie die Benutzung von Firmenwagen. Bei Bedarf können auch Entscheidungstabellen in das Organisationshandbuch einbezogen werden. 4. Anhang Der Anhang eines Organisationshandbuches beinhaltet eine Zusammenfassung aller Aufzeichnungen, welche die vorangehenden Ausführungen ergänzen. Üblicherweise umfasst dieser Teil das Nummern- und Begriffssystem, verschiedene Verzeichnisse (Schlüssel-, Abkürzungs-, Formular-, Organisations- und Kostenstellenverzeichnis), Verkaufs- und Lieferbedingungen sowie einen Lage- und Wegeplan. Durch die Führung und die laufende Aktualisierung eines Organisationshandbuches ergeben sich mehrere Vorteile: • Das Handbuch dient als Nachschlagewerk zur schnellen und gezielten Informationsbeschaffung über organisatorische Regeln. Zudem kann das Verständnis der Mitarbeiter für die Belange der übergeordneten Gesamtorganisation gefördert und Widersprüche sowie Überschneidungen innerhalb des organisatorischen und informationsorientierten Ablaufgefüges können reduziert werden ([NLB78], S. 34). 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 33 • Das Organisationshandbuch kann als Führungsinstrument eingesetzt werden, indem es die Mitarbeiter und Manager über Ziele und Aufgaben des Unternehmens und ihrer Teilbereiche informiert. Zudem lässt sich das Handbuch als Kontrollinstrument verwenden, da es Überprüfungen nach einheitlichen und optimalen Kriterien erlaubt. Es erleichtert auch die Koordination der Geschäftsprozesse ([Gro82], S. 178ff.). • Den Mitarbeitern dient das Handbuch als Orientierungs- und Kontrollinstrument, da sie ihre Handlungen und Entscheidungen überprüfen können. Neu eingestellten Mitarbeitern und Ersatzkräften wird durch das Handbuch die Einarbeitung erleichtert ([MN80]; [Gro82], S. 178). • Das Handbuch fördert die fortlaufende Weiterentwicklung der Gesamtorganisation, da die Regeln und Vorschriften systematisch zusammengefasst sind und organisatorische Teillösungen besser aufeinander abgestimmt werden können. Eine laufende Aktualisierung führt dazu, dass die Organisationshandbücher immer auf dem neuesten Stand sind und organisatorische Änderungen sich schnell verbreiten. Ferner kann der Moment der Formalisierung von Regeln ein neues organisatorisches Bewusstsein suggerieren ([MN80]). Diesen Vorteilen stehen aber auch einige Nachteile gegenüber: • Kritische Stimmen der Praxis behaupten, dass die Führung eines Organisationshandbuches die Flexibilität eines Unternehmens einschränke. Dieses Argument kann dadurch entkräftet werden, dass das Handbuch selbst keine Regeln schafft, sondern nur Sachverhalte dokumentiert, die zwar vorher geregelt, aber noch nicht systematisiert waren. Infolgedessen wird die Flexibilität nicht durch das Handbuch eingeschränkt, sondern durch die Formalisierung starrer Regeln ([Gro82], S. 179). • Kritisiert werden auch die erhöhten Personalkosten, die für die fortlaufende Bearbeitung und Aktualisierung des Handbuches benötigt werden. Personalkosten fallen nicht nur bei der Führung und Aktualisierung der Organisationshandbücher an sondern generell für die Anfertigung beliebiger Dokumentationen. Dieses Argument wird zusätzlich dadurch entkräftet, dass die geschaffenen organisatorischen Regeln nur den unbedingt notwendigen Rahmen bilden, der durch eigenverantwortliches Handeln ausgefüllt wird ([Sut95], S. 22). 2.2.3 Organisatorischer Gestaltungsprozess Organisationen bilden die Rahmen, in denen die Geschäftsprozesse ablaufen. Ein solches System ergibt sich aber nicht von selbst, sondern stellt vielmehr das Resultat einer organisatorischen Gestaltung dar, die alle Aktivitäten umfasst, mit denen die Schaffung und Einführung organisatorischer Regeln als Ziel verfolgt wird ([Gro82], S. 2). Die organisatorische Gestaltung ist somit das Mittel, mit dem sich Organisationsstrukturen bilden lassen. 2.2.3.1 Führungsaufgabe In der klassischen Managementlehre wurde bereits früh erkannt, dass die Tätigkeit des Organisierens eine der Funktionen ist, die vom Top-Management übernommen werden muss ([Gro82], S. 4). Diese Sichtweise ist dahingehend zu erweitern, dass jeder Manager im Rahmen seines 34 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Verantwortungsbereiches als ein organisatorischer Gestalter agieren muss. Die organisatorische Gestaltung stellt eine arbeitsteilige Aufgabe dar, die vom oberen, mittleren und unteren Management zu erfüllen ist ([Gro82], S. 4f.): • Das obere Manangement ist verantwortlich für die Behandlung von organisatorischen Problemen, die das Unternehmen in der Gesamtheit betreffen. Beispiele dafür sind die Neubildung oder Neuordnung wichtiger Teilbereiche und die Anpassung von Abläufen wesentlicher Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollprozesse. • Das mittlere Management beschäftigt sich mit abteilungsspezifischen, aufbau- und ablauforganisatorischen Problemen. Die Schaffung neuer Stellen, die Neuordnung bestehender Stellen und die Einführung neuer Verfahren können hier als Beispiele angeführt werden. • Das untere Management setzt sich mit der Lösung ablauforganisatorischer Probleme auseinander. Beispiele dafür sind Veränderungen in den Arbeitsgruppen und innerhalb einzelner Stellen. In der Praxis wird der Bedeutung, die organisatorische Gestaltung als eine Führungsaufgabe zu betrachten, wenig Beachtung geschenkt. So zeigt sich, dass das Organisieren unsystematisch und auf der Grundlage von ad-hoc-Handlungen erfolgt. Zudem werden Entscheidungen über bedeutende organisatorische Veränderungen ohne klare Problemdefinition, ohne eingehenden Vergleich zu Alternativen sowie ohne klar definierte Beurteilungskriterien und Lösungsanforderungen getroffen ([Gro82], S. 5). Für die Unternehmen stellt die organisatorische Gestaltung eine äusserst komplexe Aufgabe dar. Gründe dafür sind darin zu sehen, dass sich durch eine hohe Innovationsrate immer kürzer werdene Produktlebenszyklen ergeben, und dass sich durch die zunehmende Konkurrenz die Bedingungen ständig ändern, um in einem Markt erfolgreich zu sein. Zudem verändern sich die Anforderungen und Erwartungen der Mitarbeiter und Manager an das Unternehmen. Mit der Verfügbarkeit von Informationstechnologien ergeben sich zusätzliche Möglichkeiten, um z.B. Geschäftsprozesse in den Bereichen der Informationsverarbeitung oder der Fertigung vollständig oder doch zumindest teilweise zu automatisieren. Daher müssen diese sich ständig neu einstellenden Anforderungen, die einen wesentlichen Einfluss auf die Organisationen ausüben, bei einer organisatorischen Gestaltung berücksichtigt werden. Um die Entwicklung einer kreativen organisatorischen Lösung zu erhöhen, ist eine systematische Analyse des Gegenstandsbereiches und der Probleme der organisatorischen Gestaltung sowie die Herausarbeitung der für das Organisieren bedeutenden Ziele, Massnahmen und Bedingungen wichtig ([Gro82], S. 7). Zudem müssen mehrere Problemdimensionen berücksichtigt werden, wenn eine umfassende und realistische Behandlung angestrebt wird. 2.2.3.2 Problemdimensionen Bei der organisatorischen Gestaltung müssen mehrere Problematiken gleichzeitig betrachtet werden. Nach Grochla lassen sich diese Probleme in drei Dimensionen gliedern ([Gro82], S. 8ff.), die er als Objektbereich, Mehrstufigkeit und sachlich-logische, politische Dimension bezeichnet (vgl. Abb. 2.6): 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 35 Mehrstufigkeit Sachlich-logische, politische Dimension detailliertspezielle Ebene globalprinzipielle Ebene Detailstruktur Rahmenstruktur Gestaltungstaktik Gestaltungsstrategie politische Dimension sachlich-logische Dimension Objektbereich Organisationsstruktur Gestaltungsprozess Abbildung 2.6: Organisatorische Gestaltung als mehrdimensionales Problem ([Gro82]). 1. Objektbereich Der Objektbereich stellt die erste Dimension dar. Die Hauptprobleme werden hier in der Gestaltung der Organisationsstruktur und der Gestaltung des organisatorischen Gestaltungsprozesses gesehen: • Gestaltung der Organisationsstruktur Bei der Gestaltung der Organisationsstruktur wird als Ziel die Entwicklung eines Systems von personenbezogenen Verhaltensregeln und maschinenbezogenen Funktionsregeln verfolgt, mit dem sich eine effiziente Erfüllung der Geschäftsprozesse dauerhaft sicherstellen lässt. Für die Schaffung einer geeigneten Organisationsstruktur sind die Aufbauorganisation8 und Ablauforganisation9 zu gestalten. Für die Gestaltung der Organisationsstruktur sind je nach Umfang des Problems unterschiedlich komplexe Gestaltungsprozesse erforderlich. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob es sich um ein umfassendes Problem, wie die Reorganisation, oder nur um ein begrenztes Problem, wie die Zusammenfassung einzelner Stellen, handelt. • Gestaltung des organisatorischen Gestaltungsprozesses Die Gestaltung des organisatorischen Gestaltungsprozesses bildet das zweite Problemfeld, das sich aus der Aufgabe zur Gestaltung der Organisationsstruktur ableitet. Daher wird hier auch von einer derivativen Aufgabe gesprochen ([Gro82], S. 8). Der Gestaltungsprozess bedarf selbst einer systematischen Gestaltung, in der im wesentlichen die Arbeitsteilung und die Koordination des Prozesses festgelegt wird. Zusätzlich müssen die Träger bestimmt werden, die Gestaltungsaufgaben übernehmen ([Gro82], 8 9 vgl. Def. 2.3 in Abschnitt 2.1. vgl. Def. 2.4 in Abschnitt 2.1. 36 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN S. 27). Das Ergebnis ist eine Organisation auf Zeit, innerhalb der sich der organisatorische Gestaltungsprozess vollzieht. Bei der Entwicklung dieser Organisation sind eine Reihe von Bedingungen zu beachten. Beispiele dafür sind die Dringlichkeit des Gestaltungsproblems, verfügbares Know-how, rechtliche Vorschriften sowie prozessund ergebnisbezogene Zielsetzungen. Bei der Gestaltung des Gestaltungsprozesses bestehen grundsätzlich ähnliche aufbauund ablauforganisatorische Probleme wie bei der Gestaltung der Organisationsstruktur ([Gro82], S. 27). Im einzelnen ergeben sich aber besondere Ansatzpunkte der Prozessgestaltung. So kann u.a. die zeitliche Abfolge der Behandlung von Teilproblemen und die Mitwirkung bestimmter Unternehmensmitglieder in einzelnen Phasen unterschiedlich festgelegt sein. Dadurch wird nicht nur die Qualität der zu schaffenden organisatorischen Regeln beeinflusst, sondern es ergeben sich auch weitere organisatorisch bedeutsame Konsequenzen. Ein Beispiel dafür sind die Beziehungen zwischen der Organisationsabteilung und den Fachabteilungen, welche die Art der Verknüpfung von Fach- und Methodenwissen und damit die Qualität der Problemlösung beeinflussen. Diese Beziehungen können auch Auswirkungen auf die Akzeptanz der erzeugten Regeln sowie auf die Kommunikation und Kooperation zwischen den Mitarbeitern der Organisationsabteilung und der Fachabteilungen haben. Die Ausführungen verdeutlichen, dass diese beiden Gestaltungsaufgaben eng miteinander verbunden sind. Um eine systematische Lösung des strukturellen Problems und damit ein qualitativ hochwertiges Gestaltungsergebnis zu erreichen, ist ein zweckmässig organisierter Gestaltungsprozess eine wichtige Voraussetzung. 2. Mehrstufigkeit Die organisatorische Gestaltung erfordert eine Vorgehensweise, bei der die ständigen Anpassungen der Organisationsstruktur an die Unternehmensentwicklung berücksichtigt werden. So sind bspw. einzelne Geschäftsprozesse immer wieder neu zu gestalten. Häufig müssen auch Anpassungen der Struktur einzelner Teilbereiche, Abteilungen und Stellen vorgenommen werden. Die Mehrstufigkeit der organisatorischen Gestaltung wird daher als die zweite Dimension angesehen. Mehrstufiges Vorgehen bedeutet in diesem Kontext die Unterscheidung und Betrachtung verschiedener Detaillierungsstufen sowohl für die Gestaltung der Organisationsstruktur als auch für die Gestaltung des organisatorischen Gestaltungsprozesses. Es wird zwischen zwei Stufen unterschieden ([Gro82], S. 9ff.): (a) Global-prinzipielle Ebene Auf dieser Ebene werden bei der Gestaltung der Organisationsstruktur Grundsatzentscheidungen über die wesentlichen Merkmale der angestrebten Aufbau- und Ablauforganisation getroffen. Dabei werden für die Organisationsstruktur Rahmenvorgaben festgelegt, die eine tendenziell langfristige Geltungsdauer besitzen. Für die prozessuale Gestaltungsaufgabe werden auf dieser Ebene Grundsatzentscheidungen über die Träger und den Ablauf der organisatorischen Gestaltungsaufgabe gefällt. Dies erscheint vorteilhaft, da solche Prozesse in verschiedenen Organisationsprojekten immer wieder ihre Anwendung finden und daher zumindest grundsätzlich einer generellen organisatorischen Regelung zugänglich sind. Alle diese Entscheidungen legen die Gestaltungsstrategie fest, die eine allgemein gültige Leitlinie für die Abwicklung organisatorischer Gestaltungsprojekte im Unternehmen darstellt. Diese Strategie eröffnet Handlungsspielräume für projektspezifische Gestaltungsprozesse und grenzt diese zugleich ab. 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 37 (b) Detailliert-spezielle Ebene Auf der detailliert-speziellen Ebene werden bei der Gestaltung der Organisationsstruktur die Einzelheiten der Aufbau- und Ablauforganisation festgelegt. Dabei sind die durch die vorgegebene Rahmenstruktur eröffneten und abgegrenzten Handlungsspielräume mit dem Ziel auszufüllen, ein funktionsfähiges System organisatorischer Regeln zu schaffen und einzuführen. Bei der prozessualen Gestaltungsaufgabe wird auf dieser Ebene die Gestaltungstaktik festgelegt, mit der die zuvor bestimmten Handlungsspielräume ausgefüllt werden. Diese sind von Projekt zu Projekt dispositiv festzulegen. So werden hier beispielsweise Termine für die Abwicklung einzelner Aktivitäten innerhalb eines abgegrenzten Projektes determiniert, Aktionsträger mit der Durchführung bestimmter Aufgaben beauftragt und u.U. auch bestimmte Instrumente zur Steuerung und Kontrolle vorgegeben. 3. Sachlich-logische, politische Dimension Die organisatorische Gestaltung stellt grundsätzlich einen rational, sachlich-logischen Prozess dar, der aber von Konflikten, Machtkämpfen und Beeinflussungsaktivitäten der am Prozess beteiligten Personen überlagert wird. Diese Aktivitäten können als politisch bezeichnet werden, da sie das Ziel verfolgen, bestimmte organisatorische Veränderungen entweder zu fördern oder zu verhindern. Diese politischen Aktivitäten sind u.a. darin begründet, dass Veränderungen der Organisationsstruktur im Unternehmen zu Veränderungen der Machtstruktur und/oder zu Statusgewinnen oder -verlusten einzelner Stelleninhaber führen. Daher muss die organisatorische Gestaltung stets als ein sachlich-logischer und zugleich als ein politischer Problemlösungsprozess angesehen werden. Die Organisationspraxis zeigt, dass es oft wesentlich schwieriger ist, sachlich richtige organisatorische Lösungen den betroffenen Personen zu ’verkaufen’, als diese Lösungen zu entwickeln ([Gro82], S. 11). So kann es vorkommen, dass aufgrund unüberwindbarer Widerstände einflussreicher Personen notwendige organisatorische Anpassungen im Unternehmen unterbleiben oder aufgeschoben werden. Auch können Lösungskonzepte in einer Weise abgewandelt werden, dass sie kaum noch den ursprünglichen Intentionen entsprechen. Daher muss von den am Gestaltungsprozess beteiligten Personen ein politisches Verhalten verlangt werden. Dies wird dadurch gestützt, dass die organisatorische Gestaltung nicht die Aufgabe einer einzelnen, sondern mehrerer Personen ist, die nur einen begrenzten Ausschnitt des Gesamtproblems sehen und darüber hinaus diesen mit ihren oft erheblich voneinander abweichenden Interessen, Zielen und Wertvorstellungen betrachten. Daher gilt es, die politische Komponente der organisatorischen Gestaltung nicht nur bei der Entwicklung von Gestaltungsstrategien zu berücksichtigen, sondern sie muss auch in die Überlegungen zur Gestaltung der Rahmen- und Detailstruktur einfliessen. Es stellt sich also nicht nur die Frage, ob ein entwickeltes Lösungskonzept sachlich richtig ist und zu den unternehmerischen Zielsetzungen beiträgt, sondern auch, ob sich dieses Konzept, politisch gesehen, durchsetzen lässt. Neben der Festlegung der Gestaltungsziele bedarf es der Identifizierung der relevanten Gestaltungsbedingungen, die bei der Problemlösung zu beachten sind. 2.2.3.3 Gestaltungsbedingungen Bei der organisatorischen Gestaltung müssen verschiedene Gestaltungsbedingungen berücksichtigt werden, die kurzfristig als nicht beeinflussbare Faktoren aufzufassen sind. Langfristig gesehen 38 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN sind einige der Gestaltungsbedingungen durch das Unternehmen veränderbar. Dabei handelt es sich insbesondere um solche Bedingungen, die das Unternehmen selbst aufgestellt hat. In ihrer Gesamtheit beschreiben die Gestaltungsbedingungen den Raum zulässiger organisatorischer Lösungen. Für die Beschreibung der Situationen, unter denen organisatorische Regeln geschaffen und eingeführt werden, umfassen die Bedingungen gewisse Parameter. Dabei üben diese Parameter einen direkten Einfluss auf die Wirkungen der Regeln aus. Falls sich die Parameter ändern, ist zu prüfen, ob die betroffenen Regeln aktualisiert werden sollen. Aus Sicht der Unternehmen lassen sich die zu berücksichtigenden Bedingungen in unternehmensinterne und unternehmensexterne Gestaltungsbedingungen gliedern ([Gro82], S. 116ff.): 1. Unternehmensinterne Gestaltungsbedingungen Diese Klasse beinhaltet die Gestaltungsbedingungen, welche die unternehmensspezifischen Umstände beschreiben, unter denen organisiert wird. Sie beeinflussen die Erfüllung der Geschäftsprozesse in unterschiedlicher Weise. Zu den wichtigsten Einflussfaktoren werden die Art der zu erfüllenden Aufgabe, der Entwicklungsstand eines Unternehmens, die Unternehmensgrösse, die Management- und Mitarbeitereinstellungen sowie die Fähigkeiten und Motivationen des Managements und der Mitarbeiter gezählt (vgl. Abb. 2.7): (a) Art der zu erfüllenden Aufgabe Eine der wichtigsten internen Gestaltungsbedingungen ist die Art der zu erfüllenden Aufgabe. Darunter werden mehrere Variablen subsumiert, von denen hier vier näher betrachtet werden ([Sch85], S. 40ff.): • Wiederholungshäufigkeit Für eine organisatorische Wiederholung ist keine ständige Durchführung identischer Aktivitäten notwendig. Es reicht bereits aus, wenn die im einzelnen zu erfüllenden Aktivitäten gewissse Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten aufweisen ([Kos76], S. 31). Allgemein kann gesagt werden: Eine grosse Wiederholungshäufigkeit erhöht tendenziell die Regeldichte. • Konstanz Die Konstanz bzw. Wandelbarkeit einer Aufgabe wird hauptsächlich durch die sie umgebende Umwelt bestimmt. Ist die Umwelt relativ stabil, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Aufgaben immer in der gleichen Form und mit denselben gestellten Anforderungen auftreten. Es kann festgehalten werden: Je konstanter eine Aufgabe ist, desto besser eignet sie sich für die Festlegung aufgabenspezifischer Regelungen. • Komplexität Die Komplexität einer Aufgabe kann anhand der Zahl der zu verknüpfenden Elementaraufgaben gemessen werden. Je mehr Verknüpfungen innerhalb der relevanten Umgebung existieren, desto komplexer ist die zu erfüllende Aufgabe. Organisatorische Regeln werden in diesem Zusammenhang vor allem für die Koordination eingesetzt. • Determiniertheit Die Determiniertheit sagt aus, in welchem Ausmass eine Aufgabe bekannt ist: Je determinierter eine Aufgabe ist, desto eher kann sie verbindlich geregelt, im Extremfall sogar automatisiert werden. (b) Entwicklungsstand eines Unternehmens Der Entwicklungsstand eines Unternehmens beeinflusst den Formalisierungs- und Organisationsgrad des Regelwerkes. Bei einem neu gegründeten Unternehmen sind 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 39 Ökonomische Umwelt Entwicklungsstand Unternehmensgrösse Aufgabenart Einstellungen Technologische Umwelt Rechtliche Umwelt Fähigkeiten Organisatorische Regeln Motivation Unternehmen Sozio-kulturelle Umwelt Umwelt Abbildung 2.7: Unternehmensinterne Gestaltungsbedingungen. bspw. die zu erfüllenden Aufgaben noch nicht klar definiert, die verschiedenen Tätigkeitsfelder noch nicht eindeutig voneinander abgegrenzt und die Kommunikationswege noch nicht fest geregelt. Der Grad der Formalisierung und der Organisation ist bei einem solchen Unternehmen relativ niedrig. Durch organisatorisches Lernen werden die internen Koordinations- und Kommunikationsprobleme im Laufe der Zeit erkannt, die Tätigkeitsfelder eindeutig festgelegt und bestimmte Aufgaben zur Routine. Tendenziell kann also davon ausgegangen werden: Mit zunehmendem Alter des Unternehmens erhöht sich der Formalisierungsund Organisationsgrad. Diese Aussage stimmt jedoch nur für die relativ frühe Entwicklungsphase eines Unternehmens. In den späteren Jahren überwiegen andere Einflüsse wie bspw. die Unternehmensgrösse ([Gro82], S. 121ff.). (c) Unternehmensgrösse In empirischen Studien wird die Unternehmensgrösse anhand der Zahl der Mitarbeiter, des Umsatzes, des Anlagevermögens oder der Bilanzsumme gemessen. In zahlreichen Untersuchungen wurde der Zusammenhang zwischen der Unternehmensgrösse und den Ausprägungen der Organisation analysiert ([Gro82], S. 122). Dabei wurde festgestellt, dass die Unternehmensgrösse einen Einfluss auf die Gestaltung der Rahmenstruktur ausübt. Dieser Zusammenhang ist dadurch zu begründen, dass häufig 40 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN eine positive Korrelation zwischen der Grösse und der Komplexität der zu erfüllenden Aufgabe existiert. Nach Frese lassen sich grundsätzlich zwei Ergebnisse festhalten ([KK77]; [Fre80]; [Gro82], S. 122): • Grössere Unternehmen sind tendenziell stärker spezialisiert und weisen einen hohen Programmierungsgrad der Geschäftsprozesse auf. • Mit zunehmender Grösse des Unternehmens werden mehr Entscheidungen dezentral getroffen. Es kann also festgehalten werden: Es besteht eine positive Korrelation zwischen der Unternehmensgrösse und der Anzahl schriftlich fixierter Regeln ([BS71]; [Sut95], S. 10). (d) Management- und Mitarbeitereinstellungen Weitere Einflussfaktoren, die bei der organisatorischen Gestaltung nicht zu vernachlässigen sind, stellen die Einstellungen des Managements und der Mitarbeiter dar ([Gro82], S. 123ff.): • Managementeinstellungen Die Einstellungen des Managements beinhalten die grundsätzlichen Werte und Normen bezüglich Organisation, Mitarbeiter und Führungsstil. Im Management ist ein bestimmtes Menschenbild über die Mitarbeiter verankert, das Annahmen über Eigenschaften, Motive, Einstellungen und Erwartungen der Mitarbeiter umfasst. In Abhängigkeit dieses Menschenbildes können die organisatorischen Regeln unterschiedlich ausfallen: – Dominiert ein rational-ökonomisches Menschenbild, dann dienen die organisatorischen Regeln vor allem der intensiven Kontrolle der Mitarbeiter. – Dominiert das Bild des sozialen Mitarbeiters, dann liegt das Interesse in der Entwicklung von Regeln, die das Bedürfnis der Mitarbeiter nach Anerkennung und Gruppenzusammenarbeit befriedigen. – Dominiert das Bild des nach Selbstverwirklichung strebenden Mitarbeiters, dann liegt das Interesse in der Entwicklung von Regeln, die den Mitarbeitern Freiräume gewähren, die zur Entfaltung ihrer Potentiale beitragen. – Dominiert das Bild des komplexen Menschen, dann liegt das Interesse darin, alle zuvor genannten Gesichtspunkte bei der Entwicklung organisatorischer Regeln zu berücksichtigen. Da es aber keine optimale Organisation gibt, muss von Fall zu Fall entschieden werden, welche Regeln den jeweiligen Erwartungen und Zielen der Mitarbeiter entsprechen. • Mitarbeitereinstellungen Die Einstellungen der Mitarbeiter beinhalten die Werte und Normen im Hinblick auf ihre Tätigkeiten im Unternehmen. Diese Einstellungen stellen im wesentlichen organisatorische Wünsche dar. Beispiele dafür sind: – Weitgehende Partizipation an innerbetrieblichen Entscheidungsprozessen – Vergrösserte Autonomie und Selbstverantwortung – Möglichst vielseitige Tätigkeiten in umfassenden Aufgabengebieten – Verstärkte Zusammenarbeit in Gruppen – Direkte Informationen über die Unternehmensziele und -strategien, über die Stellung des Unternehmens am Markt sowie über geplante Massnahmen. (e) Fähigkeiten und Motivationen des Managements und der Mitarbeiter Für die Gestaltung organisatorischer Regeln sind zudem die Fähigkeiten und Motivationen des Managements und der Mitarbeiter besonders zu beachten: 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 41 • Fähigkeiten Bei der organisatorischen Gestaltung ist grundsätzlich darauf zu achten, dass die durch Ausbildung und Erfahrung gewonnenen Fähigkeiten sowie die Leistungspotentiale der Manager und Mitarbeiter mit den Anforderungen der Aufgabenstellungen weitestgehend übereinstimmen. Zu vermeiden sind ([Gro82], S. 126): – Überforderungen Überforderungen fördern das Auftreten von Stresserscheinungen, die sich in mangelhafter Aufgabenerfüllung, wie bspw. in Qualitätseinbussen, in erhöhtem Krankenstand und zunehmender Fluktuation niederschlagen können. – Unterforderungen Unterforderungen führen i. allg. zur Unzufriedenheit und stellen darüber hinaus eine Verschwendung von Ressourcen dar. Zur Vermeidung dieser Probleme ist eine sorgfältig durchzuführende Analyse des Fähigkeitspotentials der Manager und Mitarbeiter erforderlich, bei der das Wissen, Können und Verhalten untersucht werden. Die Auswirkungen des vorhandenen Fähigkeitspotentials können die Gestaltung unterschiedlich beeinflussen: – Verfügt ein Unternehmen über eine grosse Zahl hochqualifizierter Manager und Mitarbeiter, so erleichtert dies die Dezentralisation von Entscheidungen, die Vergrösserung von Leitungsspannen sowie die Einführung personenorientierter Koordinationsinstrumente und ergebnisorientierter Kontrollen. – Stehen dagegen weniger qualifizierte Mitarbeiter und Manager zur Verfügung, so ist es eher erforderlich, Entscheidungen in der Unternehmensspitze zu zentralisieren, eindeutige Regelungen der Weisungsbeziehungen zu schaffen, Geschäftsprozesse so weit wie möglich zu programmieren und weitgehend verfahrensorientierte Kontrollen durchzuführen. • Motivationen Auch der Leistungswille und die Motivation der Manager und Mitarbeiter sind wichtige Einflussfaktoren, die bei der Gestaltung organisatorischer Regeln zu berücksichtigen sind. Dazu ist eine Analyse durchzuführen, in der die Bedürfnisse, Werte und Persönlichkeitseigenschaften der Manager und Mitarbeiter untersucht werden. Die dabei ermittelten Ergebnisse müssen in die organisatorischen Gestaltungsprozesse einfliessen: – Dominieren unter den Mitarbeitern bspw. die Bedürfnisse nach sozialen Kontakten, so hat dies zur Konsequenz, dass von der Schaffung streng hierarchisch gegliederter Strukturen mit stark formalisierten Geschäftsprozessen abgesehen werden sollte. – Stehen Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung im Vordergrund, so sollte die Unternehmensführung durch eine verstärkte Entscheidungsdezentralisation und durch Schaffung von Partizipationsmöglichkeiten dafür Sorge tragen, dass den Erwartungen der Mitarbeiter entsprochen werden kann. Die Anwendung organisatorischer Regeln kann je nach Ausgangslage zu unterschiedlichen Resultaten führen. Die möglichen Wirkungen organisatorischer Regeln sollten daher nie isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit dem relevanten Umfeld beurteilt werden. 2. Unternehmensexterne Gestaltungsbedingungen Die unternehmensexternen Gestaltungsbedingungen ergeben sich durch die Tatsache, dass sich ein Unternehmen in einer Umwelt befindet. Unter diesen Bedingungen sind daher die aktuellen oder potentiellen Handlungen direkter und/oder indirekter Interaktionspartner des Unternehmens zu verstehen. 42 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Für die Gestaltung ist die Umweltentwicklung von besonderer Bedeutung. Für viele Unternehmen ist diese Entwicklung durch eine hohe Dynamik, grosse Komplexität, geringe Transparenz und wenige Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme gekennzeichnet ([Gro82], S. 116f.). Es gehört daher zu den Aufgaben des Unternehmens, diese Beziehungen zu beobachten, Entwicklungen zu beurteilen und Veränderungen in den zu fällenden Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Gesamtheit dieser Einflussfaktoren lässt sich in vier Klassen gliedern ([Gro82], S. 117ff.; [Sut95], S. 11ff.): Ökonomische Umwelt, rechtliche Umwelt, sozio-kulturelle Umwelt und technologische Gestaltungsbedingungen (vgl. Abb. 2.8): (a) Ökonomische Umwelt Diese Umwelt beschreibt ein weites Spektrum ökonomischer Faktoren, die direkt oder indirekt auf die Gestaltung organisatorischer Regeln Einfluss nehmen: • Indirekte Einflussfaktoren Einen indirekten Einfluss üben u.a. die Wirtschaftsordnung, Absatzmarktpolitik und die Stellung des Unternehmens auf Absatz- und Beschaffungsmärkten aus. Da dies wesentliche Faktoren bei der Entwicklung der Unternehmensstrategie sind, fliessen sie indirekt in die Gestaltung ein. • Direkte Einflussfaktoren Einen direkten Einfluss auf die Gestaltung üben die Marktverhältnisse und die Beziehungen zu anderen Unternehmen aus, da die Unternehmen über ihre Beschaffungs- und Absatzmärkte in ständigen Austauschbeziehungen stehen. Diese Beziehungen gilt es organisatorisch zu gestalten, wobei die bestehenden Marktverhältnisse zu berücksichtigen sind. Dabei muss unterschieden werden, ob der Markt eher stationär oder eher dynamisch ist ([Gro82], S. 117f.): – Stationärer Markt Ein stationärer Markt ist durch eine geringe Konkurrenzintensität und eine geringe Veränderungsrate der Marktteilnehmer und Produkte gekennzeichnet. Ein solcher Markt ist überschaubar und es besteht nur geringe Unsicherheit im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen. – Dynamischer Markt Dagegen ist ein dynamischer Markt durch eine hohe Konkurrenzintensität und laufende Veränderungen der Marktteilnehmer und Produkte charakterisiert. Dieser Markt ist kaum überblickbar und es besteht eine hohe Unsicherheit im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen. Weitere Einflussfaktoren, die an dieser Stelle nur erwähnt werden, sind die Branche, in der das Unternehmen tätig ist, sowie die bestehenden Abhängigkeiten zu Kapitalgebern. Diese Ausführungen lassen den Schluss zu: Die Gestaltung organisatorischer Regeln ist von ökonomischen Entwicklungen geprägt. (b) Rechtliche Umwelt Einen direkten Einfluss auf die Gestaltung übt die rechtliche Umwelt aus. Beispiele für solche Einflussfaktoren sind gesetzliche Bestimmungen und Gerichtsurteile. Da einschneidende Gesetzesänderungen einer langen Vorbereitungszeit durch die gesetzesgebenden Organe bedürfen, ist eine Prognose der Entwicklungen im rechtlichen Umfeld relativ langfristig möglich. (c) Sozio-kulturelle Umwelt Bei der organisatorischen Gestaltung ist auch der Einfluss der sozio-kulturellen Umwelt zu berücksichtigen ([Gro82], S. 120f.). Den für die Gestaltung relevanten Aspekt 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 43 Ökonomische Umwelt Entwicklungsstand Unternehmensgrösse Aufgabenart Einstellungen Technologische Umwelt Rechtliche Umwelt Fähigkeiten Organisatorische Regeln Motivation Unternehmen Sozio-kulturelle Umwelt Umwelt Abbildung 2.8: Unternehmensexterne Gestaltungsbedingungen. stellen die gesellschaftlichen Normen- und Wertesysteme dar, die u.a. durch die Religion, den vorherrschenden Zeitgeist, die Sprache und die Medien stark geprägt sind. Das Werte- und Normensystem beeinflusst die Einstellungen der Manager und Mitarbeiter zum Unternehmen, zur Arbeit und in ihrem Verhalten gegenüber organisatorischen Regelungen. Mögliche Folgen können etwa Forderungen nach mehr Autonomie und Selbstverantwortung, nach mehr Partizipation und Teamarbeit sein. Aus diesem Grund sollten solche Strömungen bereits bei der Gestaltung organisatorischer Regeln berücksichtigt werden. Die dazu notwendigen Informationen erhält das Management durch Mitarbeiter-, Beurteilungs- und Förderungsgespräche. (d) Technologische Gestaltungsbedingungen Diese Bedingungen resultieren aus dem erhöhten Einsatz an finanziellen Mitteln, dem erhöhten Risiko von Forschung und Entwicklung und aus der Beschleunigung des technologischen Wandels. Die Bedeutung dieser Gestaltungsbedingungen zeigt sich u.a. in den sich laufend verkürzenden Innovations- und Produktlebenszyklen. Zeit und Raum unternehmerischen Handels verdichten sich zunehmend. Entscheidungen müssen schneller getroffen, Strategien und Projekte effektiver realisiert werden. Diese zeitliche und räumliche Komprimierung verlangt nach organisatorischen Regeln, die trotz eingeschränkter Informationen zu möglichst fehlerfreien Entscheiden führen. 44 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Die Konsequenzen der unternehmensexternen Gestaltungsbedingungen im Hinblick auf die Strukturierung organisatorischer Regeln lassen sich wie folgt zusammenfassen ([Tho67], S. 72; [Sut95], S. 13f.): • Eine homogene, stabile Umwelt führt zu einer einfachen funktionalen Abteilungsgliederung, standardisierten Vorschriften und generellen Regeln10 . • Eine heterogene, stabile Umwelt hat eine Vielfalt funktionaler Untergliederungen mit individuellen Anpassungsregeln zur Folge. • Eine homogene, dynamische Umwelt verlangt nach regionaler Dezentralisation mit individuellen Planungsverfahren. • Eine heterogene, dynamische Umwelt führt zu einer funktionalen, stark dezentralisierten Organisationsstruktur mit dezentralen Informations- und Planungsstellen. 2.2.3.4 Phasenschema Für die Bewältigung einer organisatorischen Gestaltung wird in Analogie zu Entscheidungsprozessen ([Wit68]; [MRT76]) ein Phasenschema vorgeschlagen, das acht Schritte umfasst ([Gro82], S. 44ff.). Diese Phasen stellen eine logische Ordnung der zu erfüllenden Aufgaben dar, die aber nicht in einer strengen zeitlichen Reihenfolge zu bearbeiten sind. Im einzelnen werden folgende Schritte unterschieden: 1. Problemerkennung Die Existenz organisatorischer Probleme muss aktiv erkannt werden. Oft weisen nur einige wenige Indikatoren, die zunächst nur in einen indirekten Zusammenhang mit dem Bestehen eines organisatorischen Mangels gebracht werden können, darauf hin. Daher wird der frühzeitigen Problemerkennung eine hohe Bedeutung zugewiesen. Grundsätzlich kann von der Existenz organisatorischer Probleme gesprochen werden, wenn die bestehenden Regeln nicht oder nicht in genügendem Masse in der Lage sind, die zur effizienten Aufgabenerfüllung notwendige Ordnungsfunktion zu leisten. Typische Mängel stellen bspw. Doppelarbeiten und unklare Zuständigkeiten dar. Solche Probleme lassen sich u.a. mit Hilfe von Schwachstellen- und Prüffragenkatalogen identifizieren. Ein weiterer Ursprung wird in der Änderung der Unternehmensziele, der unternehmensinternen und externen Gestaltungsbedingungen sowie im Bekanntwerden neuer Gestaltungsalternativen gesehen. 2. Initiierung und Förderung der Gestaltung Das Bestehen eines organisatorischen Problems muss nicht notwendigerweise zu der Initiierung eines organisatorischen Gestaltungsprozesses führen. Vielmehr ist zu prüfen, welche Chancen und Risiken mit der Durchführung einer organisatorischen Gestaltung verbunden sind. Eine Reorganisation hat immer Kosten zur Folge und durch die Änderung gewisser Regeln können Folgeprobleme entstehen, die es ratsam erscheinen lassen, die bestehenden organisatorischen Regeln als das ’geringere Übel’ beizubehalten. Ist ein Gestaltungsprozess initiiert, so bedeutet das nicht, dass dieser auch erfolgreich beendet wird. Hierzu sind entsprechende Förderungsaktivitäten durchzuführen. Ziel dieser Aktivitäten ist es, der stets latent vorhandenen Möglichkeit eines Abbruchs oder eines ’Versandens’ entgegenzuwirken. Die Verwendung von Projektmanagement-Techniken, wie Balkendiagramme und Netzpläne, mit denen die Zusammenhänge der zeitlichen Abfolge der 10 vgl. Abschnitt 2.2.4.3. 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 45 durchzuführenden Aktivitäten festgelegt werden kann, erscheint in diesem Zusammenhang wichtig ([Gro82], S. 342ff.). 3. Aufnahme und Analyse des Problemfeldes In dieser Phase werden Vorarbeiten für die Lösung des Problems durchgeführt. Die grundlegende Aufgabenstellung besteht darin, den zumeist nur in groben Zügen vorhandenen Überblick über das zu lösende Problem zu verfeinern. Da diese Phase einen hohen Arbeitsund Zeitaufwand erfordern kann, sollte sorgfältig unter den vielfältigen Verfahren und Techniken, mit denen das Problemfeld untersucht wird, gewählt werden. Beispiele dafür sind Befragungen und Dokumentanalysen ([Gro82], S. 358ff.). 4. Problemdiagnose und Vorgabe von Gestaltungszielen Gegenstand der Problemdiagnose ist die Ermittlung der Ursachen von erkannten Schwachstellen und Mängeln. Werden diese Ursachen nicht genau herausgearbeitet, so kann dies zu einer bereits im Ansatz verfehlten Lösung organisatorischer Probleme führen. Für die in diesem Zusammenhang durchzuführenden Aufgaben können verschiedene Techniken, wie bspw. die progressive Abstraktion, die Relevanzbaumanalyse, die Gemeinkostenwertanalyse und das Analyse-Synthese-Konzept verwendet werden ([Gro82], S. 374ff.). Für die weitere Durchführung eines organisatorischen Gestaltungsprozesses ist die Vorgabe von Zielen wichtig. Dies stellt eine zentrale Problematik dar und beinhaltet die Festlegung von Sach- und Formalzielen ([Gro82], S. 60): • Sachziele Sachziele der organisatorischen Gestaltung kennzeichnen die Art der durchzuführenden Gestaltungsaufgaben. • Formalziele Formalziele beziehen sich auf die Qualität der zu entwickelnden Lösungen und das Ende eines Gestaltungsprozesses. Zudem erlauben diese Ziele eine Bewertung unterschiedlicher Gestaltungsalternativen. 5. Generierung von Gestaltungsalternativen Zur Erreichung der festgelegten Ziele bieten sich i. allg. mehrere Lösungsmöglichkeiten an. In dieser Phase werden die Lösungsalternativen entworfen und inhaltlich konkretisiert. Bei umfangreichen Gestaltungsproblemen wird diese Phase mehrmals durchlaufen. Der Weg der zu realisierenden Alternative führt dabei über zahlreiche Zwischenentscheide, in denen über entwickelte Lösungen und/oder Grobkonzepte entschieden wird. Wird ein Grobkonzept verabschiedet, schliesst sich die Erarbeitung von detaillierten Lösungen an. Die Generierung von Alternativen erfordert einen kreativen Prozess, der durch eine Reihe von Techniken unterstützt werden kann. Beispiele dafür sind die morphologische Analyse, das Brainstorming, die Synektik und die Collective-Notebook Technik ([Gro82], S. 389ff.). 6. Bewertung und Auswahl von Gestaltungsalternativen In dieser Phase werden die generierten organisatorischen Alternativen den Zielvorstellungen gegenübergestellt, die im Hinblick auf ihre Realisierung zu überprüfen sind. Dabei sollte versucht werden, dass durch einen Vergleich der Alternativen auf der Basis der zu erwartenden Wirkungen auf die angestrebten Gestaltungsziele, diejenige Alternative gewählt wird, welche die höchste Zielwirksamkeit verspricht und so die Grundlage für die abschliessende Auswahlentscheidung liefert. Als Hilfsmittel können systematische Bewertungsverfahren wie bspw. die Kostenvergleichsrechnung, die Kosten-Nutzen-Analyse und 46 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN die Nutzwert-Analyse verwendet werden ([Gro82], S. 396ff.). Dadurch wird der Bewertungsund Auswahlprozess transparent und nachvollziehbar. 7. Einführung und Durchsetzung der gewählten Alternative Die bisher erläuterten Phasen führen zu einem gedanklichen Konzept des neuen Systems organisatorischer Regeln. In diesem Schritt wird das Konzept realisiert, indem Aktivitäten für die Einführung und die Durchsetzung der verabschiedeten Lösungsalternative ausgeführt werden. Zudem sind Schulungs-, Informierungs- und Motivierungsaktivitäten durchzuführen, um bspw. Wissensbarrieren zu vermeiden und die Bereitschaft, die neuen Regeln anzunehmen, zu fördern. Zur Unterstützung dieser Aktivitäten steht eine Vielzahl von Techniken zur Verfügung. Beispiele dafür sind Präsentationen, Organigramme, Funktionendiagramme, Kommunikationsschaubilder, Stellenbeschreibungen und Entscheidungstabellen ([Gro82], S. 410ff.). 8. Kontrolle und Weiterentwicklung der eingeführten Organisation Die Aufgabe dieser letzten Phase besteht darin, die eingeführten organisatorischen Regeln nach einer bestimmten Zeit auf ihre Wirkungen hin zu beurteilen und den Erfolg des Gestaltungsergebnisses festzustellen. Werden dabei partielle Mängel festgestellt, schliesst sich an diese Phase eine sofortige systematische Weiterentwicklung der organisatorischen Regeln an. Falls gravierendere Mängel erkannt werden, wird die Kontrolle zur Grundlage einer erneuten Reorganisation. Die Kontrolle bildet in dieser Hinsicht eine Voraussetzung für eine systematische Problemerkennung. Auch für die Kontrolle stehen verschiedene Techniken der Problemerkennung und der Problemdiagnose zur Verfügung. Für die Weiterentwicklung müssen die zukünftig an die Organisation gestellten Anforderungen prognostiziert werden. Dazu können Techniken, wie bspw. das Scenario-Writing und die Cross-ImpactAnalyse, verwendet werden ([Gro82], S. 418ff.). 2.2.4 Klassifikationsansätze In einem Unternehmen existiert i. allg. eine Vielzahl von organisatorischen Regeln, wodurch leicht der Überblick verloren gehen kann. Um die Verwaltung, Administration und Weiterentwicklung der Regeln zu fördern, wird eine Klassifikation auf der Grundlage eindeutiger Kriterien als sinnvoll und hilfreich erachtet. Bei der Entwicklung einer Klassifikation muss eine klare Systematik definiert werden. Diese Systematik beinhaltet die exakte, eindeutige und vollständige Formulierung von Kriterien, die orthogonal zueinander stehen. Mit der Schaffung solcher Kriterien lässt sich eine jede organisatorische Regel eindeutig einer Klasse zuordnen. Auch wird das Wiederauffinden von Regeln erleichtert, da die Kriterien zur Suche verwendet werden können. Klassifikationen weisen zudem den Vorteil auf, dass Analysen, wie z.B. Untersuchungen auf Widersprüche und Redundanzen, durchgeführt werden können. Für eine Gliederung organisatorischer Regeln werden in der Literatur mehrere Klassifikationsansätze ([Gut62]; [Sie68]; [Tho91]) vorgeschlagen, von denen hier vier genauer betrachtet werden. 2.2.4.1 Aufbau- und ablauforganisatorische Regeln In diesem Klassifikationsansatz werden die organisatorischen Regeln nach aufbau- und ablauforganisatorischen Gesichtspunkten gegliedert: 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 47 • Aufbauorganisatorische Regeln Bei den aufbauorganisatorischen Regeln steht die Aufgabe als Zielsetzung im Vordergrund. Den Gegenstandsbereich dieser Regeln bilden daher die statischen Beziehungszusammenhänge zwischen Personen, Sachmitteln, Aufgaben, Stellen und Abteilungen. Beispiele dafür sind die Schaffung von Stellen und die Festlegung von Kommunikationswegen im Stellengefüge. Aufbauorganisatorische Regeln kommen u.a. in Organigrammen, Stellenbeschreibungen, Funktionsdiagrammen und Organisationshandbüchern zum Ausdruck ([Tho88]). • Ablauforganisatorische Regeln Bei den ablauforganisatorischen Regeln stehen die Geschäftsprozesse zur Zielerreichung im Mittelpunkt. Den Wirkungsbereich dieser Regeln bilden somit die dynamischen Beziehungszusammenhänge, die zwischen Personen, Aufgaben, Stellen und Abteilungen existieren. Die zeitlichen und räumlichen Aspekte beinhalten die Bestimmung von Arbeitsgängen, ihre Zusammenfassung zu Arbeitsgangfolgen, die Abstimmung der Leistung, die Regelung des zeitlich erforderlichen Aufwandes für den Aktionsträger sowie die Ermittlung der optimalen Durchlaufwege und -zeiten ([Kos80]). Die ablauforganisatorischen Regeln spiegeln sich u.a. in Richtlinien, Arbeitsanweisungen, Ablaufkarten, Balkendiagrammen und Netzplänen wieder. Um die Schaffung organisatorischer Regeln sowohl für die Aufbau- als auch für die Ablauforganisation zu fördern, werden zwei Arbeitsschritte vorgeschlagen ([Tho91], S. 576ff.): die Analyse und die Synthese (vgl. Abb. 2.9). Dabei stehen bei beiden Organisationen die Verrichtung und das Objekt im Mittelpunkt. Bei der Ablauforganisation werden zudem Raum- und Zeitaspekte der auszuführenden Aufgaben berücksichtigt ([Bü86], S. 10f.): 1. Analyse Bei der Aufbauorganisation beinhaltet der erste Schritt die Aufgabenanalyse ([Gai92], Sp. 4). Dazu wird die Gesamtaufgabe in Elementaraufgaben gegliedert, die sich nicht weiter zerlegen lassen. Der erste Schritt der Ablauforganisation beschäftigt sich mit der Arbeitsanalyse ([Gai92], Sp. 4). Die Grundlage dazu bilden die in der Aufgabenanalyse ermittelten Elementaraufgaben, die in einzelne Arbeitsteile bzw. Tätigkeiten zerlegt werden. 2. Synthese Bei der Aufbauorganisation umfasst der zweite Schritt die Aufgabensynthese ([Gai92], Sp. 4). Dabei werden die analytisch abgeleiteten Elementaraufgaben zu zweckmässigen Teilaufgaben zusammengefasst und auf Stellen übertragen. Zudem werden die Stellen zu Abteilungen und die Abteilungen schliesslich zur Gesamtstruktur des Unternehmens subsumiert. Der zweite Schritt der Ablauforganisation beinhaltet die Arbeitssynthese ([Gai92], Sp. 4), bei der die Arbeitsteile bzw. Tätigkeiten unter Berücksichtigung personaler, temporaler und lokaler Aspekte zu Arbeitsgängen zusammengestellt werden. Dabei steht bei der personalen Arbeitssynthese das Leistungsvermögen der Aktionsträger im Mittelpunkt. Bei der temporalen Arbeitssynthese liegt das Augenmerk auf der zeitlichen Festlegung und Abstimmung der Arbeitsgänge. Die lokale Arbeitssynthese beschäftigt sich mit der zweckmässigen Anordnung und Ausstattung der Arbeitsplätze. Je nach Art des Gestaltungsproblems kann der Regelungsbedarf unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Für die Regelungsintensität ist auf der einen Seite die Beschaffenheit der Aufgabenziele 48 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Gesamtstruktur des Unternehmens Aufgabenanalyse Teilaufgaben / Elementaraufgaben Aufgabensynthese Arbeitsanalyse Arbeitsteile / Tätigkeiten Stelle Stellenzusammenfassung Arbeitsverteilung (personale Synthese) Arbeitsvereinigung (temporale Synthese) Abteilung Raumgestaltung (lokale Synthese) Abteilungszusammenfassung Gesamtstruktur des Unternehmens Arbeitsgänge Schaffung ablauforganisatorischer Regeln Schaffung aufbauorganisatorischer Regeln Organigramme Stellenbeschreibungen Funktionendiagramme Richtlinien Arbeitsanweisungen Netzpläne Organisationshandbuch Abbildung 2.9: Schaffung organisatorischer Regeln ([Sut95]). 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 49 und auf der anderen Seite die Aufgabenstruktur, d.h. die Gleichartigkeit der Aufgabenstellung sowie die Häufigkeit ihrer Wiederholungen, von Bedeutung. Nach Nordsieck sind fünf Stufen des Regelungsbedarfs bei der Ablauforganisation zu unterscheiden ([Nor55]; [Sut95], S. 39f.): • Freier Verlauf Die Abfolge der Aktivitäten wird nicht durch organisatorische Regeln eingeschränkt. • Inhaltlich gebundener Verlauf Organisatorische Regeln legen die Aktivitäten der Leistungserstellung und der dazu benötigten Hilfsmittel fest. • Abfolge gebundener Verlauf Die Regeln legen die Abfolge der Aktivitäten an dem zu bearbeitenden Objekt fest. • Zeitlich gebundener Verlauf Für die zu erfüllenden Aktivitäten werden die Bearbeitungszeiten festgelegt. Zudem werden die Durchlaufzeiten aufeinander abgestimmt. • Taktmässig gebundener Verlauf Auf dieser Stufe werden die Sequenzen aufeinander folgender und gleichartiger Aktivitäten zeitlich und inhaltlich strukturiert. Durch die Standardisierung und Routinierung ablauforganisatorischer Regeln wird dazu beigetragen, dass Bearbeitungssequenzen vereinfacht und vereinheitlicht werden können. Jedoch ist zu beachten, dass der schematische Ablauf von Vorgängen Probleme zur Folge haben kann, die aus der Starrheit und der Bürokratisierung des Arbeitsflusses resultieren ([Sut95], S. 40). 2.2.4.2 Formale und informale Regeln In der organisationstheoretischen Literatur wird mit Formalisierung11 u.a. die schriftliche Formulierung organisatorischer Regeln bezeichnet. Diese Regeln spiegeln sich bspw. in Richtlinien, Stellenbeschreibungen und in Organisationshandbüchern wieder. Dieser Aspekt der Formalisierung ist vom Begriff formale organisatorische Regeln abzugrenzen, da diese Regeln schriftlich fixiert sein können, aber nicht müssen. In diesem Ansatz werden die organisatorischen Regeln in formale und informale Regeln gegliedert ([Sut95], S. 40ff.): 1. Formale Regeln Aus betriebswirtschaftlicher Sicht stellen die formalen organisatorischen Regeln rational gestaltete, exakt und explizit formulierte Regeln dar, welche die Unternehmensleitung für gültig erklärt hat. Die formalen Regeln bezeichnen personenunabhängige Vorschriften, die zur Erreichung der unternehmerischen Zielsetzungen beitragen sollen. In diesem Sinne können formale Regeln als ein Versuch betrachtet werden, die Struktur der Beziehungen innerhalb eines sozio-technischen Systems mit Hilfe von Standardisierungen und Reglementierungen sichtbar und transparent zu gestalten. Für die Mitarbeiter stellen die formalen Regeln Informationen zur zielgerichteten Aufgabenerfüllung und Verhaltensbestimmung dar. Sie führen zu einer Organisation, die aufgrund der formalen Struktur sowohl von bestimmten Personen als auch bis zu einem gewissen Grad von den positiven wie auch negativen Emotionen unabhängig ist. 11 vgl. Abschnitt 2.2.2.1. 50 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Auf einer nächsten Stufe lassen sich diese Regeln nach der Form der Informationsgebung und nach dem Grad der Detailliertheit unterteilen ([Bü81]). In Hinsicht auf die Informationsgebung können die formalen Regeln als direkte und indirekte Regeln klassifiziert werden: • Direkte Regeln Mit direkten Regeln wird eine persönliche, fallweise Koordination mit Hilfe von Aufsichten und Anweisungen festgelegt. • Indirekte Regeln Mit indirekten Regeln wird eine Koordination auf der Basis von schriftlich fixierten, unpersönlichen Regeln festgelegt. In Bezug auf den Detailliertheitsgrad lassen sich die Regeln in explizite und implizite Regeln gliedern ([Bü81]): • Explizite Regeln Explizite Regeln schreiben dem Regelempfänger für alle möglichen Situationen vor, wie er sich zu verhalten hat. • Implizite Regeln Implizite Regeln schreiben dem Entscheidungsträger nicht für alle möglichen Eventualitäten genau vor, wie er sich zu verhalten hat. Ihm wird ein Ziel vorgegeben, an dem er sich zu orientieren hat. 2. Informale Regeln Informale Regeln wirken oft wie implizite ungeschriebene Gesetze, die das Verhalten der Mitarbeiter erheblich beeinflussen können. Im Unterschied zu den formalen Regeln werden die informalen organisatorischen Regeln u.a. von den persönlichen Zielen und Verhaltensweisen der Mitarbeiter geprägt. Formale Regeln können somit als ein zielorientiertes, rationales und wünschenswertes Regelgefüge aufgefasst werden, während sich die informalen Regeln als Störquellen mit Folgen interpretieren lassen. 2.2.4.3 Generelle und fallweise Regeln Der zentrale Gedanke dieses Klassifikationsansatzes besteht darin, dass die zu erfüllenden Geschäftsprozesse in gleicher oder ähnlicher Weise mehr oder weniger regelmässig wiederkehren. Auf der Grundlage dieser Überlegung lassen sich die organisatorischen Regeln in generelle und fallweise Regeln gliedern ([Gut62]): • Generelle Regeln Generelle Regeln beziehen sich auf die betrieblichen Vorgänge, die durch eine relativ grosse Gleichartigkeit, Einfachheit und Periodizität gekennzeichnet sind. Mit Hilfe von einmalig exakt formulierten Weisungen können der Umfang, die Reihenfolge und die Geschwindigkeit der Aufgabenerfüllungen eines Mitarbeiters ermittelt werden. • Fallweise Regeln Fallweise Regeln beziehen sich auf die betrieblichen Vorgänge, die eher selten durchgeführt werden und daher individuell geregelt werden müssen. Mit der Schaffung von fallweisen 2.2. ORGANISATORISCHE REGELN 51 Regelungen können die Gegebenheiten einer bestehenden Situation besser berücksichtigt werden und in die Aufgabenerfüllung einfliessen. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass jeder dieser so geregelten Vorgänge bei einer wiederholten Verarbeitung neu und eventuell anders beurteilt wird. Dies erschwert die Entwicklung einer ’klaren Linie’ für die Verarbeitung solcher betrieblichen Vorgänge. Unter bestimmten Voraussetzungen lassen sich die fallweisen Regeln durch generelle Regeln ersetzen. Dieser Sachverhalt wird als das Substitutionsgesetz der Organisation bezeichnet, mit dem das Ziel der organisatorischen Rationalisierung verfolgt wird ([Gut62], S. 145). Eine solche Rationalisierung hat zur Folge, dass die Stellen, welche die fallweisen Regelungen schaffen, entlastet werden. Zudem kann die Arbeitsleistung gesteigert werden, da sich der mit der schematisch zu erledigenden Arbeit verbundene Übungs- und Lerneffekt erhöht ([Har59], S. 148ff.). Ein Indiz für die Anwendung dieses Gesetzes wird in der Entwicklung der betrieblichen Steuerungs- und Lenkungsprozesse gesehen, wenn diese immer mehr an Individualität verlieren ([Gut62], S. 147). Die Wirkungen organisatorischer Regeln kann dann als optimal angesehen werden, wenn der Umfang der generellen Regelungen mit demjenigen übereinstimmt, der sich aus der Gleichförmigkeit der zu organisierenden Tatbestände ergibt. Daher existiert für jede organisatorische Aufgabe ein optimales Verhältnis aus fallweisen und generellen Regeln ([Gut62], S. 147). Neben der Substitution der fallweisen Regeln durch generelle Regeln gibt es auch Möglichkeiten, generelle Regeln durch andere generelle Regeln zu ersetzen (vgl. Abb. 2.10). Dazu wird zwischen zwei Grundformen unterschieden ([Sut95], S. 50): • Direkte Substitution Die eine Möglichkeit besteht darin, dass generelle Regeln direkt durch andere generelle Regeln ersetzt werden, die bspw. durch eine höhere Effizienz gekennzeichnet sind. • Indirekte Substitution Die zweite Alternative sieht vor, dass generelle Regeln zuerst durch fallweise Regeln substituiert werden, die dann zu einem späteren Zeitpunkt durch (andere) generelle Regeln ersetzt werden. Die direkte Substitution ist für eine Vielzahl von betrieblichen Reorganisationsprozessen charakteristisch. Bei der indirekten Substitution handelt es sich um einen Übergangstyp. Die Schaffung solcher Regeln kann bspw. dann sinnvoll sein, wenn es gewisse Ausnahmesituationen erfordern, dass ein Mitarbeiter vorübergehend Sonderbefugnisse erhält, um damit fallweise in das Betriebsgeschehen eingreifen zu können ([Kre75], S. 61ff.). 2.2.4.4 Vollkommen generelle und vollkommen fallweise Regeln In dieser Klassifikation werden die organisatorischen Regeln in vollkommen generelle und vollkommen fallweise Regeln gegliedert ([Sie68]). Dieser Ansatz kann als eine Erweiterung der in Abschnitt 2.2.4.3 erläuterten Klassifikation gewertet werden: • Vollkommen generelle Regeln Vollkommen generelle Regeln sind vergleichbar mit Anweisungen, die in Informationssystemen spezifiziert werden. Sie lassen sich mit Hilfe von Informationstechnologien automatisieren. Um aber Regeln als konkrete Anweisungen in Form von Anwendungsprogrammen erstellen zu können, ist ihre vollständige formale Beschreibung notwendig. In 52 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Substitution organisatorischer Regeln Substitution fallweiser durch generelle Regeln Substitution genereller durch generelle Regeln Direkte Substitution Indirekte Substitution Direkte Substitution Indirekte Substitution Fallweise Regel Fallweise Regel Generelle Regel Generelle Regel Fallweise Regel Improvisation Generelle Regel Geregelter Ablauf Generelle Regel Generelle Regel Abbildung 2.10: Generelle und fallweise Regeln ([Sut95]). diesem Zusammenhang wird unter einem Anwendungsprogramm eine bis ins letzte Detail festgelegte Verhaltensregel verstanden, bei der sämtliche Entscheidungen auf Ja-/NeinAlternativen zurückgeführt werden können. Vollkommen generelle Regeln stellen daher eine Verarbeitungs- bzw. Denkvorschrift dar, die auf einer klaren Trennung zwischen Eingabedaten und den Programmen basiert. Mit Hilfe der Eingabedaten lassen sich die konkreten Situationen beschreiben, die zu einer Verarbeitung durch die Programme führen. Eine solche Regelung kann lange Zeit latent vorhanden sein, ohne dass eine Aktivität hervorgerufen wird. Beispiel 2.3 (Vollkommen generelle Regel) Ein Beispiel für eine vollkommen generelle Regel ist: Fällt der Bestand eines Artikels unter einen gewissen Schwellenwert, dann ist eine Neubestellung dieses Artikels auszulösen. Solange der Artikelbestand grösser als der Schwellenwert ist, wird diese Regel nicht verarbeitet. Fällt der Bestand aber unter den Grenzwert, dann kann dies zu Problemen führen, die sich durch eine Neubestellung vermeiden lassen. • Vollkommen fallweise Regeln Die vollkommen fallweisen Regeln berücksichtigen den individuellen Gestaltungsprozess des Menschen. Es handelt sich dabei um ad-hoc-Regelungen, die keiner rational-formalen Entscheidungsvorschrift folgen. In diesem Sinne entsprechen die vollkommen fallweisen Regeln den in Abschnitt 2.2.4.3 erläuterten fallweisen Regeln. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 53 Neben der Automation weisen vollkommen generelle Regeln weitere Vorteile auf ([Sut95], S. 52): • Personale und temporale Wissensakkumulation Unter der personalen Wissensakkumulation wird die Formulierung einer Regel verstanden, an der nahezu beliebig viele Menschen simultan beteiligt sein können. Mit der zeitlichen Wissensakkumulation wird auf eine Möglichkeit hingewiesen, dass generelle Regeln langfristig existieren und über mehrere Generationen hinweg verbessert werden. Bedingt durch diese Wissensakkumulationen können vollkommen generelle Regeln mehr Wissen und Erfahrung beinhalten, wozu ein einzelner Mensch nicht in der Lage ist. Dies scheint in der heutigen Zeit auch notwendig zu sein. So kann z.B. die Koordination der Verrichtungen und Arbeitsplätze in Unternehmen ab einer gewissen Betriebsgrösse einen Umfang erreichen, der von einem einzigen Mitarbeiter nicht mehr überblickbar ist. Zudem ist davon auszugehen, dass mit der steigenden Grösse eines Unternehmens auch das Prinzip der Arbeitsteilung vermehrt zur Anwendung kommt. Dies führt zu einem erhöhten Bedarf an vollkommen generellen Regeln. • Objektivierung der Verwaltungsarbeit Als ein weiterer Vorteil wird die Objektivierung der Verwaltungsarbeit gewertet, die sich aus der formalen Beschreibung der vollkommen generellen Regeln ergibt. Die interindividuelle Übertragbarkeit der Regeln bewirkt, dass bspw. neu eingestellte Mitarbeiter nur eine verhältnismässig kurze Einarbeitungsphase benötigen, da der Lernvorgang genau festgelegt und überprüfbar ist. Ein solcher Arbeitsplatz kann daher jederzeit kurzfristig ohne gravierende Störungen des Betriebsablaufs neu besetzt werden. Der betriebliche Informationsverarbeitungsprozess ist mitarbeiterunabhängig und die Konstanz der Organisation ist langfristig sichergestellt. Neben diesen Vorteilen muss aber auch auf einen wesentlichen Nachteil hingewiesen werden. Die Grenzen der vollkommen generellen Regeln liegen vor allem in der Komplexität des Sachproblems. Alle Hardware- und Softwareleistungen nützen nichts, wenn der Mensch als Empfänger einer solchen Regel überfordert ist. Die Vorschriften müssen sich daher auf einem Niveau befinden, das von den entsprechenden informationsverarbeitenden Einheiten bewältigt werden kann. Nur so lässt sich eine Befolgung der vollkommen generellen Regeln sicherstellen. 2.3 Geschäftsregeln In den letzten Jahrzehnten hat sich der Wettbewerb zwischen den Unternehmen stark gewandelt und kontinuierlich intensiviert. Diese Entwicklung hat zu der Erkenntnis geführt, dass die Unternehmen ihre Organisationen prozessorientiert ausrichten müssen, wenn sie ihren Konkurrenten nicht unterlegen sein wollen ([HC93], S. 27f.). Der zentrale Gedanke dieser neuen Orientierung besteht in der Identifikation und optimalen Gestaltung von Geschäftsprozessen. Zur Erfüllung werden heute in den Unternehmen Informationssysteme eingesetzt, die einen so hohen Stellenwert einnehmen, dass eine adäquate Aufgabenverrichtung ohne ihre Verwendung als nicht mehr möglich angesehen wird. In diesem Zusammenhang wird nicht mehr von organisatorischen Regeln, sondern von Geschäftsregeln gesprochen. Diese Regeln stellen einen wesentlichen Bestandteil von Informationssystemen dar ([App88]; [HK95]) und werden hier als Aussagen über die Art und Weise der Geschäftsabwicklung verstanden12 . Sie beschreiben Richtlinien und Restriktionen, die sich sowohl auf Zustände als auch auf Prozesse einer Organisation beziehen ([Her97], S. 2). 12 vgl. Def. 2.11 in Abschnitt 2.1. 54 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Um Informationssysteme für eine Geschäftsprozessautomation einsetzen zu können, sollten sie im Rahmen einer strukturierten System-Entwicklung erstellt werden. Dabei wird eine regelbasierte Entwicklung als ein neues Paradigma angesehen ([Mor83]). Da die Softwarequalität vor allem durch die ersten beiden Phasen (Analyse und Entwurf) bestimmt wird, sind für eine realitätsnahe Lösung des Problems die betroffenen Geschäftsregeln in jeder dieser Phasen besonders zu berücksichtigen: • Analyse In der Analyse müssen u.a. die Unternehmensbereiche, in denen ein Informationssystem eingesetzt werden soll, auf Geschäftsregeln untersucht werden, die einen Einfluss auf die Geschäftsprozesse ausüben. Für eine Identifikation dieser Regeln wird ihre Klassifikation als hilfreich erachtet, da die Regeln sich nicht nur eindeutig gliedern lassen, sondern auch die System-Entwicklung unterstützen können13 . Für die Erstellung des konzeptionellen Modells eines Informationssystems müssen die Ablauflogiken der Geschäftsprozesse in Prozessmodellen und die dazu benötigten Daten in einem Datenmodell formal dargestellt werden. Zudem sind die involvierten Geschäftsregeln zu beschreiben. Da sich die Regeln sowohl auf die Zustände einer Datenbank als auch auf die Ablauflogiken beziehen können, ist eine Vielzahl der vorgeschlagenen Methoden14 , wie das Entity Relationship Model (ERM), das Behavior Integrated Entity Relationship Model (BIER), Datenflussdiagramme und der Merise-Ansatz, nicht geeignet. Ein Grund besteht darin, dass diese Methoden keine geeigneten Konstrukte für die Regelmodellierung unterstützen ([HKMS94]). In neueren Ansätzen, wie z.B. den (erweiterten) ereignisgesteuerten Prozessketten ((e)EPK)15 und dem Business Rule Oriented Conceptual Modeling (BROCOM)16 steht die Darstellung von Geschäftsregeln im Zentrum. In diesen Modellen werden die Prozesse durch Regeln repräsentiert, die auf der ECA-Struktur basieren. • Entwurf In dieser Phase wird das entwickelte Modell realisiert. Für die Implementierung von Geschäftsregeln stehen mehrere Möglichkeiten zur Auswahl. So können z.B. die Regeln auf der Applikationsebene durch die Erweiterung der Anwendungsprogramme implementiert werden. Eine andere Alternative besteht darin, die Regeln auf der Datenbankebene zu realisieren. Dazu müssen aber die Datenbanksysteme die Spezifikation eines reaktiven Verhaltens unterstützen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass für jeden Geschäftsregeltyp die am besten geeignete Form der Implementierung bestimmt werden muss. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels werden nun für Geschäftsregeln mehrere Ansätze der Klassifikation, Methoden der Modellierung und Alternativen der Implementierung genauer betrachtet. 2.3.1 Klassifikationsansätze Für eine Verwaltung und Administration von Geschäftsregeln wird ihre Klassifikation als sinnvoll angesehen. Zudem unterstützt die Gliederung der Regeln die System-Entwicklung besonders in den Phasen der Analyse, des Entwurfs, der Implementierung und der Wartung ([HK95]): 13 vgl. vgl. 15 vgl. 16 vgl. 14 Abschnitt Abschnitt Abschnitt Abschnitt 2.3.1. 2.1. 2.3.2.1. 2.3.2.2. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 55 • Geschäftsregeln können nach betriebswirtschaftlich-organisatorischen und systemtechnischen Kriterien ausgewertet und verwaltet werden (Analyse, Wartung). • Geschäftsregeln lassen sich auf ihre Übereinstimmmung mit der Realwelt untersuchen (Analyse, Wartung). • Geschäftsregeln können auf ihre Widerspruchsfreiheit gegenüber anderen Regeln analysiert werden (Analyse, Wartung). • Jeder Geschäftsregelklasse können Implementierungsalternativen zugeordnet werden (Entwurf, Implementierung). Geschäftsregeln können auf einer ersten Stufe in Automationsregeln und Integritätsregeln gegliedert werden ([Her97], S. 66). Dabei beziehen sich Automationsregeln auf die Ablauflogiken der Geschäftsprozesse: Definition 2.12 (Automationsregeln (AR), Automation Rules) ”Automation rules describe the logic of a task execution.” ([Her97], S. 66). Integritätsregeln stellen die Datenintegrität sicher. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die Daten in Informationssystemen gespeichert sind oder in der Umwelt der Systeme vorkommen: Definition 2.13 (Integritätsregeln (IR), Integrity Rules) ”Integrity rules describe allowed states and state transitions of data that is stored in a database or exists in the real world.” ([Her97], S. 66). In der Datenbankliteratur wird mit dem Begriff Integrität das Problem bezeichnet, ob der jeweilige Realweltausschnitt angemessen, d.h. entsprechend der realen Semantik, in einer Datenbank modelliert ist ([Lip89], S. 1). In diesem Sinne lässt sich Integrität als logische Korrektheit oder auch als semantische Integrität auffassen. Dieses Verständnis impliziert, dass in einer Datenbank ausschliesslich zulässige Zustände gespeichert sind, die existierende Situationen der Realwelt repräsentieren. Dabei bezeichnen die Attribute sinnvolle Spektren, die von Tatsachen der Realwelt bis hin zu organisatorischen, rechtlichen oder politischen Regeln reichen. Zur Sicherstellung der Integrität in Datenbanksystemen werden Integritätsbedingungen verwendet, die durch die Manipulation der Daten ausgelöst werden. Integritätsbedingungen lassen sich somit als ein Mechanismus auffassen, mit dem die Eingabe und Manipulation unzulässiger Daten verhindert wird: Definition 2.14 (Integritätsbedingungen (IB), Integrity Constraints) ”Die Integritätsbedingungen beschreiben für einzelne Datenelemente, welche Werte erlaubt sein sollen, welche konkreten Beziehungen zwischen Objekten möglich sein sollen, welche Veränderungen zulässig sein sollen usw..” ([SS83], S. 288). Für eine Klassifikation von Geschäftsregeln und Integritätsbedingungen werden in der Literatur zahlreiche Ansätze diskutiert ([HK95]; [Her97]). Dabei ist jede Klassifikation durch eine andere Sichtweise gekennzeichnet. Einige dieser Ansätze werden nun näher erläutert. 56 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN 2.3.1.1 Ansätze für Geschäftsregeln Geschäftsregeln lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien gliedern. Einige Beispiele für Klassifikationsansätze sind Quellen von Geschäftsregeln, Bezug zu organisatorischen Bereichen, Bezug zu Verwendungsbereichen, Bezug zu Informationssystemen und deren Umwelten und Bezug zu Objekttypen, Objekten und Attributen. Diese Ansätze werden nun genauer betrachtet: 1. Quellen von Geschäftsregeln Für die Erstellung eines Anforderungskataloges an ein Informationssystem müssen die in den betroffenen Unternehmensbereichen existierenden Geschäftsregeln ermittelt und formal spezifiziert werden. Dazu sind zahlreiche Quellen zu berücksichtigen, wie z.B. Gesetze, Organigramme, Kennzahlen- und Lohnsysteme. Die Zuordnung der Regeln zu bestimmten Quellen ist besonders für ihre Erfassung und Systematisierung bedeutsam ([HK95]): • Für eine Suche nach Geschäftsregeln können die potentiellen Quellen verwendet werden. Dadurch lässt sich die Suche selbst gezielt und effizient durchführen. • Eine Klassifikation der Geschäftsregeln nach Quellen ermöglicht es, dass in der Analyse- und Wartungsphase überprüft werden kann, welche der Regeln berücksichtigt wurden und welche nicht. • Können die Quellen nach ihrer Verbindlichkeit hierarchisiert werden, lässt sich eine Strategie zur Auflösung von Regelkonflikten entwickeln. In Analogie zu den Quellen organisatorischer Regeln17 erscheint es sinnvoll, dass auch Geschäftsregeln nach ihrer Herkunft gegliedert werden. Dabei wird ebenfalls auf einer ersten Stufe zwischen unternehmensinternen und unternehmensexternen Quellen unterschieden (vgl. Abb. 2.11). Eine Erläuterung dieses Ansatzes ist in [HK95] angegeben. 2. Bezug zu organisatorischen Bereichen Informationssysteme können nicht nur für einen, sondern für mehrere Unternehmensbereiche konzipiert sein. Daher sind bei der System-Entwicklung diese Bereiche besonders auf zu berücksichtigende Geschäftsregeln zu untersuchen. Für Analytiker und Endbenutzer stellen sich dabei einige wesentliche Probleme ([HK95]): • Vollständigkeit Für eine Analyse müssen alle Unternehmensbereiche bestimmt werden, in denen das zu entwickelnde Informationssystem eingesetzt werden soll. • Regelinterdependenzen Für die Mitarbeiter der Fachabteilungen und die Analytiker ist es wichtig zu erkennen, welche Geschäftsregeln mehrere Unternehmensbereiche betreffen. Für diese Regeln sind die Schnittstellen zwischen den einzelnen Bereichen und die daraus resultierenden Interdependenzen exakt zu spezifizieren. • Regelinkonsistenzen Eine Geschäftsregel kann in mehreren Bereichen eingesetzt sein, wobei sie auf Widersprüche hin zu untersuchen ist. Der zentrale Gedanke dieses Klassifikationsansatzes besteht darin, dass die Geschäftsregeln nach ihrer Zugehörigkeit zu Unternehmensbereichen gegliedert werden (vgl. Abb. 2.12). Es wird zwischen zwei Regelklassen unterschieden ([HK95]): 17 vgl. Abschnitt 2.2.1. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 57 Quellen der Geschäftsregeln Unternehmensinterne Quellen Unternehmensexterne Quellen Primärquelle Abgeleitete Quelle .... .... Naturgegebene Fakten Normen Ethische Normen Kulturelle Normen Rechtliche Normen Abbildung 2.11: Quellen von Geschäftsregeln. (a) Intra-Unternehmensbereichs-Geschäftsregeln Diese Klasse beinhaltet alle Geschäftsregeln, die sich (vollständig) auf genau einen Unternehmensbereich beziehen. Es müssen daher keine Schnittstellen zu anderen Bereichen berücksichtigt werden. Für eine bessere Transparenz sind jedoch die bestehenden Regelinterdependenzen zu bestimmen: Ruft ein Kunde, der über einen entsprechenden Vertrag verfügt, bei der HotLine an, wird ihm direkt eine telefonische Auskunft erteilt. (b) Inter-Unternehmensbereichs-Geschäftsregeln Diese Klasse umfasst Geschäftsregeln, die sich auf mehrere Unternehmensbereiche beziehen. Durch eine Analyse lassen sich Bereichsüberschneidungen entdecken und die bestehenden Schnittstellen beschreiben. Zudem werden (bereichsübergreifende) Regelinterdependenzen transparent: Sobald der Schwellenwert von Artikeln unterschritten wird, muss das Lager den Einkauf informieren, damit eine Neubestellung geprüft wird. Eine solche Klassifikation kann die Planung von Informationssystemen in mehrerer Hinsicht fördern. Es lassen sich z.B. die Systemgrenzen so festlegen, dass möglichst viele Geschäftsregeln automatisiert werden. Ein anderes Planungsziel kann darin bestehen, die Regeln so auf die Informationssysteme aufzuteilen, dass die Anzahl der Systemschnittstellen minimiert wird. Eine weitere Bedeutung dieser Klassifikation liegt in der Komplexität begründet, mit der die Verifizierung und Manipulation von Geschäftsregeln verbunden ist. So sind beispielsweise bei Intra-Unternehmensbereichs-Geschäftsregeln nur Mitarbeiter eines einzigen Unternehmensbereiches für eine Regelüberprüfung oder -manipulation zu befragen. Sobald eine Geschäftsregel mehrere Bereiche umfasst, müssen Aussagen von Mitarbeitern mehrerer Bereiche berücksichtigt werden ([HK95]). 3. Bezug zu Verwendungsbereichen Geschäftsregeln können in Informationssystemen für verschiedene Aufgaben eingesetzt werden. Für die Bestimmung einer geeigneten Implementierung sind die Aufgabenbereiche 58 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Unternehmensbereich (n) Unternehmensbereich (n+1) Intra-BereichsGeschäftsregeln Intra-BereichsGeschäftsregeln Inter-BereichsGeschäftsregeln Abbildung 2.12: Klassifikation von Geschäftsregeln nach organisatorischen Bereichen. der Regeln auf den Grad der Zentralisierung zu untersuchen. Die Ergebnisse dieser Analysen können zur Gliederung der Geschäftsregeln verwendet werden (vgl. Abb. 2.13). Dabei wird zwischen drei Regelklassen unterschieden ([HK95]): (a) Inter-Informationssystem-Geschäftsregeln Diese Klasse beinhaltet Geschäftsregeln, die sich auf mehrere Informationssysteme beziehen. Damit sich diese Regeln in den Unternehmensbereichen, in denen die Systeme eingesetzt werden sollen, verwenden lassen, sind sie auf der Basis eines zentralen Mechanismus zu implementieren. (b) Intra-Informationssystem-Geschäftsregeln Diese Klasse besteht aus Geschäftsregeln, deren Gültigkeitsbereich auf ein Informationssystem beschränkt ist. Damit die Regeln in den Anwendungsprogrammen verwendet werden können, sind sie an einer zentralen Stelle (z.B. im Datenbanksystem) zu realisieren. (c) Applikationsregeln Diese Klasse umfasst Geschäftsregeln, die in einer einzigen Applikation eingesetzt werden. Für alle anderen Programme haben sie keine Bedeutung und müssen somit auch nicht zugreifbar sein. Diese Regeln können daher dezentral in den jeweiligen Anwendungsprogrammen implementiert werden. Im Zusammenhang mit diesem Klassifikationsansatz ist zu erwähnen, dass bei der Zuordnung nicht nur die gegenwärtigen, sondern auch zukünftige Implementierungsalternativen der Regeln zu berücksichtigen sind. So besteht bspw. die Möglichkeit, dass eine Geschäftsregel heute als Applikationsregel klassifiziert ist und daher dezentral im Programmcode implementiert wird. Zu einem späteren Zeitpunkt wird aber erkannt, dass diese Regel ihre Gültigkeit auch in anderen Programmen des gleichen Systems oder sogar in mehreren Informationssystemen hat. Da die Regel in einem Anwendungsprogramm ’verankert’ ist, wird die Wiederverwendbarkeit der Geschäftsregel verhindert. Dies impliziert, dass die Regel erneut implementiert werden muss, wodurch Inkonsistenzen auftreten können. Zusammen- 2.3. GESCHÄFTSREGELN Applikation (1) 59 Applikation (n) Applikation (1) ... Applikationsregeln Applikation (r) ... Applikationsregeln Applikationsregeln Applikationsregeln ... Datenbankmanagementsystem Datenbankmanagementsystem Datenbank (1) ... Datenbank (m) Datenbank (1) Datenbank (s) Intra-Informationssystem-Geschäftsregeln Intra-Informationssystem-Geschäftsregeln IS (1) ... IS (p) Inter-Informationssystem-Geschäftsregeln Abbildung 2.13: Klassifikation von Geschäftsregeln nach Verwendungsbereichen. fassend ist festzuhalten, dass der Zentralisierungsgrad der Regeln aus einer langfristigen Perspektive heraus bestimmt werden sollte ([HK95]). 4. Bezug zu Informationssystemen und deren Umwelten Bei der Entwicklung von Informationssystemen stellt sich die Frage: Welche Geschäftsregeln können automatisiert werden und welche Regeln sind manuell zu erfüllen? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, müssen die Regeln auf ihren Automationsgrad untersucht werden. Dazu ist es hilfreich, wenn die Geschäftsregeln als ECA-Regeln18 beschrieben werden und jede Komponente auf ihre Automation (I) oder manuelle Erfüllung (U) analysiert wird (vgl. Abb. 2.14). Diese Untersuchungsergebnisse lassen sich für eine Klassifikation verwenden. Dabei wird zwischen acht Regelklassen unterschieden. Die Zuordnung der Regeln ist aber nicht immer eindeutig entscheidbar. So besteht z.B. die Möglichkeit, dass eine Aktionskomponente sowohl automatisiert als auch manuell erfüllt werden kann ([HK95]): (a) Klasse 1: III Diese Klasse beinhaltet Geschäftsregeln, die sich vollständig in einem Informationssystem automatisieren lassen. Eine Interaktion durch einen Benutzer ist nicht notwendig: ON IF DO 18 vgl. Abschnitt 2.1. ’Lösche Kunden’ (Kunde hat Aufträge) Lösche Aufträge. 60 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Geschäftsprozess ECADarstellung Teilprozess 1 Bezug zu IS und Umwelt E-C-A E-C-A E-C-A E-C-... E-C-A Teilprozess 2 Teilprozess 3 Teilprozess 4 ...-...-A E-C-A E-C-A ...-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-...-... E-...-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A E-C-A Umwelt E-...-... ...-C-A E-C-A E-C-A E-C-A ...-C-... E-C-A Informationssystem Abbildung 2.14: Klassifikation von Geschäftsregeln nach ihrem Bezug zu Informationssystemen und deren Umwelten. (b) Klasse 2: IIU Diese Klasse umfasst Geschäftsregeln, die eine automatisierbare Ereignis- und Bedingungskomponente besitzen. Die Verarbeitung der Aktionskomponenten muss aber manuell sichergestellt werden. Somit wird durch diese Regeln eine Schnittstelle zwischen dem Informationssystem und der Umwelt definiert: ON IF DO ’Manipuliere Artikelbestand’ (Artikelbestand < ’100’) Neubestellung prüfen. (c) Klasse 3: IUI Die Geschäftsregeln dieser Klasse sind gekennzeichnet durch eine automatisierbare Ereignis- und Aktionskomponente. Die Auswertung der Bedingungskomponenten ist manuell zu erfüllen. Diese Regeln beschreiben somit zwei Schnittstellen zwischen einem Informationssystem und dessen Umwelt: 2.3. GESCHÄFTSREGELN ON IF DO 61 ’Erfasse Kunde’ (Kreditwürdigkeit = ’hoch’) Manipuliere Kreditlimit zu ’unbeschränkt’. (d) Klasse 4: IUU Die Klasse IUU umfasst Geschäftsregeln, von denen einzig die Ereignisse im Informationssystem erkennbar sind. Die Bedingungsauswertung und Aktionsverarbeitung erfolgt in der Umwelt: ON IF DO ’30 Tage’ NACH ’Offerte verschickt’ (Kunde hat nicht reagiert) Kunde kontaktieren. (e) Klasse 5: UII Durch diese Geschäftsregeln wird eine Schnittstelle zwischen dem Informationssystem und der Umwelt definiert. Die Ereignisse müssen dabei durch Benutzer erkannt und dem Informationssystem signalisiert werden. Die Bedingungs- und Aktionskomponenten lassen sich automatisieren: ON IF DO ’Kunde will aus Kundendatei gelöscht werden’ (Kunde existiert) Lösche Kunden und alle seine Aufträge. (f) Klasse 6: UIU In dieser Klasse sind Geschäftsregeln zusammengefasst, durch die zwei Schnittstellen zwischen dem Informationssystem und dessen Umwelt definiert werden. Diese Schnittstellen resultieren daraus, dass die Benutzer die auslösenden Ereignisse erkennen und die Aktionen erfüllen. Die Auswertung der Bedingungen kann im Informationssystem durchgeführt werden: ON IF DO ’Kunde bestellt Artikel’ (Artikel verfügbar) Kommissioniere und versende Artikel. (g) Klasse 7: UUI Die Klasse UUI beinhaltet Geschäftsregeln, von denen die Ereignisse und Bedingungen in der Umwelt erkannt und ausgewertet werden müssen. Die Aktionskomponenten lassen sich im System verarbeiten. Diese Regelklasse beschreibt somit eine Schnittstelle zwischen Informationssystem und dessen Umwelt: ON IF DO ’Neue Ware eingetroffen’ (Lieferung stimmt mit Bestellung überein) Lagereingang erfassen. (h) Klasse 8: UUU In Analogie zu der Klasse III umfasst diese Klasse Geschäftsregeln, die vollständig manuell zu erfüllen sind. Diese Regeln beinhalten keine Schnittstellen: ON IF DO ’Kunde reklamiert Ware’ (Garantiefrist ist abgelaufen) Informiere Kunden über Garantieverlust. Diese Klassifikation verdeutlicht, dass sich Geschäftsregeln nur dann (teilweise) automatisieren lassen, wenn sie über mindestens eine Komponente verfügen, die im Informationssystem verarbeitet werden kann. Bei der System-Entwicklung sind daher sieben der acht Regelklassen von Bedeutung und in der Analyse und den nachfolgenden Phasen zu berücksichtigen. Ferner können sich Hinweise darüber ergeben, welche Arten der Implementierung möglich und geeignet sind ([HK95]). 62 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Daneben kann diese Klassifikation auch einen Einfluss auf die organisatorischen Gestaltungsprozesse haben. So lässt sich bspw. überprüfen, ob Geschäftsregeln, die bisher in der Umwelt erfüllt wurden, zukünftig automatisiert werden können. Dazu sind der IstZustand, die möglichen Alternativen und das Soll-Konzept für jede Geschäftsregel zu ermitteln ([HK95]): • Ist-Zustand Der Ist-Zustand einer Geschäftsregel beschreibt die aktuelle Art der Realisierung. • Alternativen Für jede Komponente einer Geschäftsregel ist zu untersuchen, ob diese aufgrund ihres Inhalts und der eingesetzten Informationstechnologien automatisiert werden kann oder nicht. Aus dieser Analyse ergibt sich das Spektrum der möglichen Implementierungsarten. • Soll-Konzept Im Soll-Konzept wird für jede Regelkomponente beschrieben, welche Form der Realisierung angestrebt wird. Dabei ist der potentiell erreichbare Zustand zu beachten. Bei der Festlegung der Soll-Konzepte sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Einige Beispiele dafür sind die verfügbaren Technologien, die Einschränkung der Flexibilität, die Anzahl der Schnittstellen zwischen Informationssystem und dessen Umwelt sowie die Konsistenz der Regelerfüllungen ([HK95]). 5. Bezug zu Objekttypen, Objekten und Attributen Durch die Spezifikation von Geschäftsregeln in einer ECA-Struktur lassen sich Anforderungen von Daten und Vorgaben an Geschäftsprozesse in einer einheitlichen Form beschreiben. Dadurch wird die klare Trennung zwischen Daten-, Funktions- und Ablaufbeschreibung aufgehoben ([HK95]). Diese Kombination von statischen und dynamischen Gesichtspunkten ist möglich, weil sich durch die Spezifikation von Geschäftsregeln sowohl Objekttypen referenzieren als auch Geschäftsprozesse bilden lassen. Um zu verdeutlichen, welche Beziehungen zwischen Geschäftsregeln und Datenelementen bestehen, ist es hilfreich, die Regeln auf Objekttypen, Objekte und Attribute zu untersuchen und zu klassifizieren. Eine solche Gliederung umfasst sechs Regelklassen (vgl. Abb. 2.15): ”Eine Geschäftsregel kann 1 oder x Objekttypen, 1 oder y Objekte und 1 oder z Attribute referenzieren.” ([HK95]). In diesem Gliederungsansatz werden die Geschäftsregeln als Ganzes betrachtet. Durch eine Analyse der einzelnen Regelkomponenten (Ereignis, Bedingung, Aktion) lässt sich zusätzlich ein Einblick gewinnen, auf welche Objekttypen, Objekte und Attribute lesend und/oder schreibend zugegriffen wird. Ein weiterer Nutzen dieser Klassifikation besteht darin, dass sich Ansatzpunkte für die Realisierung von Geschäftsregeln ableiten lassen. So sind bspw. alle Regeln, die ausschliesslich Objekttypen der Realwelt referenzieren, manuell zu erfüllen. Im Unterschied dazu können Regeln, die auf Objekttypen eines Informationssystems zugreifen, automatisiert werden. Geschäftsregeln, in denen Objekttypen der Umwelt und der Informationssysteme referenziert werden, sind zu vermeiden, da Schnittstellen berücksichtigt werden müssen. Zudem erhöht sich die Komplexität der Regelverarbeitungen ([HK95]). 2.3. GESCHÄFTSREGELN 63 Geschäftsregeln 1 Objekttyp x Objekttypen y Objekte y Objekte 1 Objekt 1 Attribut z Attribute 1 Attribut z Attribute 1 Attribut z Attribute Typ I Typ II Typ III Typ IV Typ V Typ VI Abbildung 2.15: Klassifikation von Geschäftsregeln nach ihrem Bezug zu Objekttypen, Objekten und Attributen. 2.3.1.2 Ansätze für Integritätsbedingungen Integritätsbedingungen stellen eine spezielle Art der Geschäftsregeln dar, die in Datenbanksystemen für die Datenintegrität eingesetzt werden. Für ihre Gliederung werden in der Literatur zahlreiche Klassifikationsansätze vorgeschlagen (für einen Überblick vgl. [HK94]; [Her97], S. 65ff.), von denen nun einige genauer betrachtet werden: 1. Anzahl involvierter Datenbankzustände In vielen Klassifikationsansätzen werden die Integritätsbedingungen nach der Anzahl der Datenbankzustände gegliedert, die für ihre Auswertung benötigt werden. So unterscheidet z.B. Lipeck zwischen statischen, transitionalen und dynamischen Integritätsbedingungen ([Lip89], S. 4f.) (vgl. Abb. 2.16): (a) Statische Integritätsbedingungen Mit statischen Integritätsbedingungen wird die Menge der potentiell möglichen Datenbankzustände auf die Menge der zulässigen Zustände eingeschränkt. Die Auswertung der Bedingungen erfolgt dabei anhand des gerade aktuellen Datenbankzustandes: ON IF DO ’Einfügen Mitarbeiter’ (Geburtstag >= heutiges Datum) Fehlermeldung; Abbruch. (b) Transitionale Integritätsbedingungen Transitionale Integritätsbedingungen überprüfen, ob der Übergang von einem in einen anderen Datenbankzustand zulässig ist. Für eine Auswertung dieser Bedingungen werden daher zwei Zustände benötigt: 64 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Integritätsbedingungen Statische Integritätsbedingungen Transitionale Integritätsbedingungen Dynamische Integritätsbedingungen Abbildung 2.16: Klassifikation von Integritätsbedingungen nach der Anzahl involvierter Datenbankzustände. ON IF DO ’Manipuliere Zivilstand’ (:OLD.Zivilstand = ’geschieden’ AND :NEW.Zivilstand = ’verwitwet’) Fehlermeldung; Abbruch. In diesem Beispiel wird mit :OLD der alte und mit :NEW der neue Wert des Attributes Zivilstand referenziert. (c) Dynamische Integritätsbedingungen Dynamische Integritätsbedingungen basieren auf einer Menge von mehr als zwei Datenbankzuständen. Sie definieren die zulässigen Zustandsübergänge. 2. Auslösungszeitpunkte Der Auslösezeitpunkt einer Integritätsbedingung muss nicht immer mit dem Zeitpunkt übereinstimmen, zu dem die Bedingung ausgewertet wird. So ist es bspw. bei Transaktionen sinnvoll, dass dynamische Integritätsbedingungen erst am Ende überprüft werden. In ihrer Gesamtheit lassen sich die Integritätsbedingungen nach drei Auslösungszeitpunkten gliedern ([EC75]; [HM75]; [Laf82]; [WSK83]; [SW85]; [Reu87]; [Dat93]; [EW93]) (vgl. Abb. 2.17): (a) Unmittelbar / Sofort Diese Integritätsbedingungen werden unmittelbar nach ihrer Auslösung ausgewertet. Ein Beispiel dafür sind Schlüssel-Integritätsbedingungen, mit denen die Eindeutigkeit der Datensätze sichergestellt wird. (b) Verzögert Integritätsbedingungen, die den Zeitpunkt verzögert aufweisen, werden am Ende eines Befehls oder einer Transaktion verarbeitet. Im Kontext von Transaktionen werden diese Bedingungen nach dem letzten Befehl und vor dem Festschreiben der Daten (commit) ausgewertet. (c) Benutzerinitiiert Der dritte Auslösungszeitpunkt ist benutzerinitiiert. Die Auswertung dieser Integritätsbedingungen wird durch die Benutzer ausgelöst. Ein Beispiel hierfür ist der Import einer (riesigen) Datenmenge in ein Datenbanksystem. Bevor die Benutzer auf diese Daten zugreifen dürfen, muss die Datenintegrität sichergestellt sein. Dazu kann die Überprüfung gewisser Integritätsbedingungen benutzerinitiiert ausgelöst werden. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 65 Auslösungszeitpunkte unmittelbar verzögert benutzerinitiiert Abbildung 2.17: Klassifikation von Integritätsbedingungen nach Auslösungszeitpunkten. 3. Bezug zum Datenmodell In einem weiteren Klassifikationsansatz werden Integritätsbedingungen nach ihrem Bezug zum Datenmodell gegliedert (vgl. Abb. 2.18). Zwischen drei Typen wird unterschieden ([Reb83]; [SK86]; [EN94], S. 641): (a) Inhärente Integritätsbedingungen Die inhärenten Integritätsbedingungen ergeben sich aus den grundsätzlichen Annahmen des Datenmodelles. Daher sind diese Bedingungen nicht explizit im Datenmodell spezifiziert. Zwei Beispiele dafür sind: In einem Objekttypen gibt es keine zwei gleichen Objekte. In einer Beziehung kommen nur Objekte vor, die zu einem der Objekttypen gehören, zwischen denen diese Beziehung definiert ist. (b) Implizite Integritätsbedingungen Implizite Integritätsbedingungen lassen sich aus den Konstruktionselementen des Datenmodelles ableiten. Beispiele dafür sind Datentypen, Primärschlüssel und die Kardinalitäten der Beziehungstypen. (c) Explizite Integritätsbedingungen Explizite Integritätsbedingungen sind zusätzliche Bedingungen, die sich aus dem Kontext einer Anwendung ergeben. Ein Beispiel dafür sind transitionale Integritätsbedingungen, mit denen die Zulässigkeit der Zustandsübergänge sichergestellt wird. 4. Arten der (Re-)Aktionen Mit Integritätsbedingungen wird in Datenbanksystemen die Datenintegrität sichergestellt. Falls diese Integrität verletzt wird, müssen die Bedingungen auf eine gewisse Art und Weise reagieren. Es wird zwischen zwei Reaktionsarten unterschieden ([HM75]; [Reb83], S. 53; [Gä91], S. 38): (a) Zurückweisung Mit dieser Reaktionsart werden die Befehle und Transaktionen, die zu einer Verletzung führen, abgebrochen. Zudem wird (i. allg.) eine Fehlermeldung ausgegeben und alle bereits durchgeführten Datenmanipulationen werden zurückgesetzt, so dass der Datenbankzustand wieder hergestellt wird, der vor der Verarbeitung des Befehls oder der Transaktion existierte. Diese Art der Reaktion kann somit als eine passive Aktion ([HK94]) bezeichnet werden: ON IF DO ’Lösche Kunden’ (Kunde hat Aufträge) Fehlermeldung; Abbruch. 66 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Integritätsbedingungen Inhärente Integritätsbedingungen Implizite Integritätsbedingungen Explizite Integritätsbedingungen Abbildung 2.18: Klassifikation von Integritätsbedingungen nach ihrem Bezug zum Datenmodell. (b) Korrektur In gewissen Situationen kann die Verletzung der Datenintegrität durch die Ausführung vordefinierter Aktionen korrigiert werden. Hierfür wird der nicht zulässige Datenbankzustand in einen erlaubten Zustand überführt. Die Aktionsart stellt somit eine aktive Reaktion ([HK94]) dar: ON ’Lösche Kunden’ IF (Kunde hat Aufträge) DO Lösche Aufträge. Im SQL-92 Standard für relationale Datenbanksysteme kann bei der Definition von referentiellen Integritätsbedingungen ([Dat81]) zwischen vier Arten der Reaktion gewählt werden ([MS93], S. 221): set null, set default, no action und cascade. Dabei entspricht die Aktionsart no action der zuvor erläuterten Zurückweisung (vgl. Abb. 2.19). 5. Bezug zum Datenbankschema In einem weiteren Klassifikationsansatz werden Integritätsbedingungen nach ihrem Bezug zum Lebenszyklus eines Objektes gegliedert. Dazu wird zwischen konstitutiven und regulativen Bedingungen unterschieden ([Wed83]; [Lei90], S. 30) (vgl. Abb. 2.20): (a) Konstitutive Integritätsbedingungen Konstitutive Integritätsbedingungen beziehen sich auf den Anfang eines Lebenszyklus und werden durch die Erzeugung neuer Objekte ausgelöst und überprüft. Objekte, die eine solche Bedingung verletzen, müssen korrigiert werden, da sie sonst nicht existieren können. Konstitutive Integritätsbedingungen sind daher mit statischen Integritätsbedingungen vergleichbar, da sie auf der Basis genau eines Datenbankzustandes ausgewertet werden: ON ’Einfügen Mitarbeiter’ IF (Geburtsdatum > Heutiges Datum - 14) DO Fehlermeldung; Abbruch. (b) Regulative Integritätsbedingungen Diese Klasse beinhaltet Integritätsbedingungen, mit denen die korrekte Verwendung der Objekte sichergestellt wird. Die Auswertung einer solchen Bedingung führt i. allg. zu der Auslösung konstitutiver Integritätsbedingungen, da mit diesen Bedingungen die Zulässigkeit der Objekte überprüft wird: ON ’Manipuliere Mitarbeiter’ IF (:OLD.Salär > :NEW.Salär) DO Fehlermeldung; Abbruch. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 67 (Re-)Aktionen Zurückweisung Korrektur No Action Set Null Set Default Aktionen in SQL-92 Cascade Abbildung 2.19: Klassifikation von Integritätsbedingungen nach ihren (Re-)Aktionsarten. 6. Bezug zu Objekttypen, Objekten und Attributen In Analogie zu Geschäftsregeln lassen sich auch die Integritätsbedingungen nach ihrem Bezug zu Objekttypen, Objekten und Attributen klassifizieren. So wird z.B. im Zusammenhang mit relationalen Datenmodellen vorgeschlagen, die Integritätsbedingungen in datensatz-, relations- und multi-relationsorientierte Bedingungen zu gliedern ([BA84]). In einem anderen, dazu sehr ähnlichen, Ansatz werden die Bedingungen auf der Grundlage von Domänen, Objekten und Beziehungen, die zwischen Objekten bestehen, klassifiziert ([HM75]; [Cod90], S. 246). In dem hier erläuterten Ansatz werden die Integritätsbedingungen auf einer ersten Stufe in Intra-Relations- und Inter-Relations-Integritätsbedingungen gegliedert ([HK95]; [Her97], S. 68f.). Auf einer zweiten Stufe lassen sich insgesamt acht Regelklassen unterscheiden (vgl. Abb. 2.21). Für eine Erläuterung dieser Klassen wird ein relationales Datenmodell angenommen ([Dat93]): (a) Intra-Relations-Integritätsbedingungen Diese Klasse beinhaltet Integritätsbedingungen, die sich auf genau eine Tabelle beziehen: • Typ I Typ I umfasst Integritätsbedingungen, die genau ein Attribut eines Datensatzes referenzieren. Ein Beispiel dafür sind Not Null Integritätsbedingungen. • Typ II Typ II beinhaltet Integritätsbedingungen, die sich auf mehrere Attribute eines Datensatzes beziehen. Ein Beispiel dafür ist eine Bedingung, die überprüft: beginn datum < end datum. 68 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Integritätsbedingungen Konstitutive Integritätsbedingungen Regulative Integritätsbedingungen Abbildung 2.20: Klassifikation von Integritätsbedingungen nach ihrem Bezug zum Datenbankschema. • Typ III Typ III umfasst Integritätsbedingungen, die genau ein Attribut referenzieren. Für ihre Auswertung werden jedoch mehrere Datensätze benötigt. SchlüsselIntegritätsbedingungen, die auf einem Attribut basieren, sind hierfür ein Beispiel. • Typ IV Typ IV beinhaltet Integritätsbedingungen, die sich auf Attribute mehrerer Datensätze beziehen. Ein Beispiel dafür sind Integritätsbedingungen, welche die Schlüsseleigenschaft auf der Grundlage von zwei Attributen überprüfen. (b) Inter-Relations-Integritätsbedingungen In dieser Klasse sind die Integritätsbedingungen zusammengefasst, in denen mehrere Relationen referenziert werden: • Typ V Typ V beinhaltet Integritätsbedingungen, in denen von mehreren Relationen genau ein Attribut eines Datensatzes referenziert wird. Beispiele dafür sind referentielle Integritätsbedingungen, die auf einem Attribut basieren. • Typ VI Typ VI umfasst Integritätsbedingungen, die sich auf mehrere Attribute eines Datensatzes jeder involvierten Relation beziehen. Referentielle Integritätsbedingungen, die auf mindestens zwei Attributen basieren, sind ein Beispiel hierfür. • Typ VII Typ VII beinhaltet Integritätsbedingungen, in denen ein Attribut mehrerer Datensätze einer jeden Relation referenziert werden. Ein Beispiel dafür ist eine Integritätsbedingung, mit der eine 1:4 Beziehung sichergestellt wird. • Typ VIII Typ VIII umfasst Integritätsbedingungen, in denen von jeder betroffenen Relation mehrere Attribute mehrerer Datensätze referenziert werden. Ein Beispiel dafür ist eine Integritätsbedingung, in der aggregierte Daten, wie eine kumulierte Auftragssumme und ein Kreditlimit, miteinander verglichen werden. Die erläuterten Klassifikationsansätze für Geschäftsregeln und Integritätsbedingungen sind durch unterschiedliche Sichten gekennzeichnet. Um einen umfassenden Überblick zu erhalten, ist es daher ratsam, die Regeln in einem Klassifikationssystem zu verwalten, in dem mehrere Ansätze kombiniert sind. Dabei ist jedoch zu beachten, dass alle Kriterien, nach denen die Regeln gegliedert werden, orthogonal zueinander stehen und eindeutig formuliert sein müssen, damit Zuordnungsprobleme vermieden werden. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 69 Integritätsbedingungen 1 Relation 1 Datensatz x Relationen y Datensätze 1 Attribut z Attribute 1 Attribut z Attribute Typ I Typ II Typ III Typ IV 1 Datensatz 1 Attribut Typ V y Datensätze z Attribute 1 Attribut z Attribute Typ VI Typ VII Typ VIII Abbildung 2.21: Klassifikation von Integritätsbedingungen nach ihrem Bezug zu Objekttypen, Objekten und Attributen. 2.3.2 Regelorientierte Modellierungsmethoden Für eine computergestützte Erfüllung sind die Geschäftsprozesse und die Realweltausschnitte, in denen sie ablaufen, konzeptionell zu modellieren. Dabei sind insbesondere auch die Geschäftsregeln zu berücksichtigen, die einen Einfluss auf die Prozesse ausüben. Um eine realitätsnahe und umfassende Darstellung der Geschäftsregeln zu erreichen, müssen Methoden verwendet werden, mit denen sich die zu beschreibenden Sachverhalte exakt und vollständig darstellen lassen. Bei der Methodenauswahl sind zudem in bezug auf die Modellierung von Geschäftsregeln einige wichtige Aspekte zu beachten: • Geschäftsregeln können Anforderungen an Daten und Vorgaben für Prozesse beinhalten. Da durch diese Regeln sowohl statische als auch dynamische Aspekte kombiniert werden, müssen diese Beziehungen, die zwischen Prozessmodellen und Datenmodellen bestehen, darstellbar sein. Dies impliziert, dass sich diese Modelle miteinander verknüpfen lassen müssen. • Geschäftsregeln sind charakterisiert durch ein situationsbezogenes Verhalten. Für die konzeptionelle Modellierung ist es daher wichtig, dass Situationen und Reaktionen in Datenund Prozessmodellen dargestellt werden können. • Zwischen Geschäftsregeln können Interdependenzen bestehen, da z.B. durch die Verarbeitung einer Regel andere Regeln ausgelöst werden. Diese Beziehungen müssen sich sowohl in Prozessmodellen als auch in Datenmodellen beschreiben lassen. In der Literatur werden für die Erstellung von Prozess- und Datenmodellen zahlreiche Methoden disktuiert. Für die Regelmodellierung sind viele dieser Methoden19 jedoch nicht oder nur sehr 19 vgl. Abschnitt 2.1. 70 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN beschränkt geeignet ([HKMS94]). Dies kann damit begründet werden, dass diese Ansätze keine adäquaten Konstruktionselemente unterstützen, mit denen sich die Geschäftsregeln inhaltlich und semantisch korrekt beschreiben lassen. So können z.B. Regeln, die auf Zeit-Ereignissen (z.B. 1999-01-01,12:00h) basieren, oftmals nicht modelliert werden. Für die Modellierung des situationsbezogenen Verhaltens von Geschäftsregeln werden in der Literatur aber auch andere Methoden vorgeschlagen. Zwei Beispiele hierfür sind ereignisgesteuerte Prozessketten (EPK) und die BROCOM-Methode, die im folgenden genauer betrachtet werden. 2.3.2.1 Ereignisgesteuerte Prozessketten Für die formale Beschreibung von Geschäftsprozessen wird in ARIS (Architektur integrierter Informationssysteme) die Methode der ereignisgesteuerten Prozessketten (EPK) verwendet ([HKS93]; [Kel94]; [Sch94], S. 49ff.). Der zentrale Gedanke dieser Methode besteht darin, dass Ereignisse unternehmerische Funktionen auslösen und deren Ergebnis darstellen. Durch eine solche ereignisgesteuerte Modellierung wird die Funktionssicht mit der Datensicht verbunden ([Sch94], S. 49). Für die Erstellung von EPK-Diagrammen stehen insgesamt drei Konstruktionselemente zur Verfügung: 1. Ereignisse Ereignisse bezeichnen bestimmte Zeitpunkte, die in ARIS als Daten aufgefasst werden. Graphisch werden Ereignisse als Sechsecke repräsentiert. 2. Funktionen Im Unterschied zu Ereignissen stellen Funktionen ein zeitverbrauchendes Geschehen dar, die in EPK-Diagrammen als abgerundete Rechtecke dargestellt werden. 3. Boolesche Operatoren Boolesche Operatoren beschreiben die Verknüpfung von Ereignissen. Dabei wird zwischen der Verknüpfung von Eingängen und Ausgängen unterschieden, die auf logischen AND, OR und XOR Beziehungen basieren. Graphisch werden diese Konnektoren durch (geteilte) Kreise dargestellt, die über gerichtete Kanten mit Ereignissen und Funktionen verbunden sind. Der obere Teil eines Kreises repräsentiert dabei die Eingangs- und der untere Teil die Ausgangsverknüpfung. Bei der Erstellung von EPK-Diagrammen sind einige Konstruktionsregeln zu beachten. So ist es bspw. nicht zulässig, dass zwei Ereignisse oder zwei Funktionen direkt miteinander verbunden werden: • Ein Ereignis kann mit einer oder mehreren Funktion(en) verknüpft sein. Im zweiten Fall sind Konnektoren zu verwenden. • Der Abschluss einer Funktion führt zu einem Ereignis. Stellt ein Ereignis das Ergebnis mehrerer Funktionen dar, sind Konnektoren zu verwenden. • Hat ein Konnektor nur einen Eingang, dann wird auf die Angabe des Booleschen Operators für die Eingangsverknüpfung verzichtet. Analoges gilt für den Ausgang eines Konnektors. • Hat ein Konnektor genau einen Eingang und genau einen Ausgang, dann entfällt die Angabe des Konnektors. In diesem Fall wird entweder das Ereignis mit der Funktion oder die Funktion mit dem Ereignis direkt über eine gerichtete Kante verbunden. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 71 Um zu verdeutlichen, wie Geschäftsprozesse in EPK-Diagrammen dargestellt werden, wird als Beispiel eine vereinfachte Auftragsabwicklung betrachtet. Beispiel 2.4 (Auftragsabwicklung) Die Auftragsabwicklung stellt in einem Versandhaus für Bekleidungsartikel einen wichtigen Geschäftsprozess dar. Dieser Prozess umfasst eine Vielzahl von Einzelaufgaben, die von unterschiedlichen Stellen und Abteilungen erfüllt werden. So müssen z.B. Bestellungen erfasst, Artikel kommissioniert, Rechnungen versendet und Zahlungen überprüft werden. In der Gesamtheit lassen sich diese Aufgaben zu sechs Teilprozessen zusammenfassen (vgl. Abb. 2.22): • Auftragsannahme Der Geschäftsprozess der Auftragsabwicklung wird durch den Eingang einer Kundenbestellung ausgelöst. In der Auftragsannahme wird überprüft, ob der Kunde schon bekannt ist oder als ein neuer Kunde behandelt werden muss. Zudem ist die Bestellung zu erfassen. • Auftragsvorbereitung In der Auftragsvorbereitung werden Vorbereitungen getroffen, damit die Bestellung bearbeitet werden kann. So wird z.B. kontrolliert, ob die bestellten Artikel am Lager verfügbar sind oder nicht. • Auftragsbearbeitung Im Teilprozess der Auftragsbearbeitung wird die Bestellung ausgeführt. Dazu werden die Artikel kommissioniert, die Artikelbestände aktualisiert und Lieferscheine erstellt. Bevor die Waren den Kunden gesendet werden können, müssen die kommissionierten Artikel anhand der Lieferscheine überprüft werden. • Auftragsfakturierung In diesem Teilprozess werden Rechnungen erstellt und den Kunden zugesendet. • Rechnungsverfolgung Die Rechnungsverfolgung hat die Aufgabe, die fristgerechte Bezahlung der Rechnungen zu überwachen. Für Kunden, die ihre Zahlungsfristen verletzt haben, werden Mahnbescheide erstellt und versendet. • Zahlungsüberprüfung In der Zahlungsüberprüfung werden die Zahlungen der Kunden auf ihre Richtigkeit kontrolliert. So wird z.B. in dem Fall, dass ein zu geringer Betrag überwiesen wurde, eine neue Rechnung über den Restbetrag erstellt und dem Kunden zugesendet. Um eine effiziente Erfüllung dieses Geschäftsprozesses gewährleisten zu können, wurde eine Vielzahl von Geschäftsregeln geschaffen und eingeführt. So wurden z.B. für die Auftragsbearbeitung acht Regeln erzeugt, die die zu erfüllenden Aufgaben und ihre Ausführungsreihenfolge wie folgt beschrieben: • GR 1: Ausführungsreihenfolge Die Kommissionierung der Artikel, Erzeugung der Lieferscheine und Aktualisierung der Bestände werden parallel ausgeführt. Erst nach der Bearbeitung dieser Aufgaben, werden die Artikel kontrolliert und an den Kunden versendet. • GR 2: Informierung des Abteilungsleiters Sobald ein Auftrag vorbereitet ist, erhält der Abteilungsleiter des Lagers eine entsprechende Mitteilung. Zudem ist ein Formular über die Artikel zu erstellen, die aus dem Lager geholt werden müssen. 72 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Auftragsabwicklung Auftragsannahme Auftragsvorbereitung Auftragsbearbeitung Auftragsfakturierung Rechnungsverfolgung Zahlungsüberprüfung Abbildung 2.22: Teilprozesse der Auftragsabwicklung. • GR 3: Artikel kommissionieren Die von den Kunden bestellten Artikel werden von den Mitarbeitern des Lagers kommissioniert. Dazu erhalten sie ein Formular, aus dem ersichtlich ist, welche Artikel aus dem Lager zu holen sind. • GR 4: Artikelbestände aktualisieren Für jeden Artikel, der aus dem Lager entnommen wird, muss der Artikelbestand aktualisiert werden. Sollte ein Bestand den Schwellenwert 100 unterschreiten, ist eine Neubestellung auszulösen. Für diese Aufgaben ist der Abteilungsleiter des Lagers verantwortlich. • GR 5: Lieferscheine erzeugen Für jede Bestellung muss ein Lieferschein erzeugt und (elektronisch) erfasst werden. Dazu werden die Daten der Kunden und der Bestellungen benötigt. Diese Aufgabe wird von den Mitarbeitern des Lagers erfüllt. • GR 6: Artikel kontrollieren und verpacken Die kommissionierten Artikel sind anhand des erstellten Lieferscheines zu überprüfen. Danach werden die Artikel verpackt. Diese Arbeiten werden von den Lagermitarbeitern durchgeführt. • GR 7: Artikel versenden Den Kunden werden die bestellten Artikel samt Lieferschein zugesendet. Dazu werden ihre Adressen benötigt. Für den Versand werden die Pakete von Mitarbeitern des Lagers zur Post gebracht. • GR 8: Auftragsbearbeitung beendet Dem Abteilungsleiter des Lagers ist das Ende der Auftragsbearbeitung mitzuteilen. Für eine Modellierung der Auftragsbearbeitung kann die Methode der ereignisgesteuerten Prozessketten verwendet werden (vgl. Abb. 2.23). Dazu müssen die elementaren Funktionen beschrieben und Ereignisse bestimmt werden. Zusätzlich sind Konnektoren zu verwenden, um die parallele Verarbeitung darstellen zu können. Aus Abbildung 2.23 ist zu ersehen, dass die Auftragsbearbeitung erst dann gestartet werden darf, wenn das Ereignis Auftrag vorbereitet eintritt. Dieses Ereignis symbolisiert dabei die Situation, in der die Teilprozesse der Auftragsannahme und Auftragsvorbereitung beendet sind. Mit Hilfe des oberen Konnektors, (bei dem der Ausgang durch den Booleschen Operator AND 2.3. GESCHÄFTSREGELN 73 Auftrag vorbereitet Abteilungsleiter informieren Abteilungsleiter informiert AND Artikelbestände aktualisieren Artikel zusammenstellen Lieferschein erzeugen Bestände aktualisiert Artikel zusammengestellt Lieferschein erzeugt Artikelbestände kontrollieren Artikel kontrollieren und verpacken XOR Neubestellung ausgelöst AND Neubestellung nicht ausgelöst Artikel kontrolliert und verpackt Artikel versenden Artikel versendet Abteilungsleiter informieren Auftrag bearbeitet Abbildung 2.23: EPK-Diagramm der Auftragsbearbeitung. 74 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN verknüpft ist), wird die parallele Verarbeitung eingeleitet. Da für die Kontrolle der Artikel die kommissionierten Artikel und der erstellte Lieferschein benötigt werden, müssen beide Aufgaben erfüllt und abgeschlossen sein. Im EPK-Diagramm wird diese Abhängigkeit durch einen Konnektor dargestellt, bei dem die Eingänge mit dem AND Operator verknüpft sind. Die Auftragsbearbeitung endet mit der Warenversendung und der Informierung des Abteilungsleiters. Diese Situation wird durch das Ereignis Auftrag bearbeitet repräsentiert. Beispiel 2.4 verdeutlicht, dass sich mit der Methode der ereignisgesteuerten Prozessketten sowohl Geschäftsprozesse als auch Geschäftsregeln formal beschreiben lassen. Diese Möglichkeit ergibt sich daraus, dass die unterstützten Konstruktionselemente für die Modellierung von unternehmerischen Funktionen und Geschäftsregeln verwendet werden. Daher lassen sich nicht nur die Ablauflogiken der Prozesse, sondern auch die Regelinterdependenzen beschreiben. Ein weiterer Vorteil dieser Methode besteht darin, dass Geschäftsprozesse und Geschäftsregeln auf verschiedenen Detailliertheitsebenen dargestellt werden können. Dazu sind die Ereignisse und Funktionen zu konkretisieren. Zudem können ECA-Regeln aus EPK-Diagrammen abgeleitet werden. Neben diesen Vorteilen gilt es aber auch einige Nachteile dieser Methode zu nennen: • Wenn Geschäftsregeln auf Basis einer ECA-Struktur beschrieben werden, lassen sich die Bedingungen nicht explizit darstellen. In EPK-Diagrammen müssen die Regelbedingungen zusammen mit den Aktionen durch Funktionen beschrieben werden. Daher sind in diesen Diagrammen Geschäftsregeln, die sich einzig in ihren Bedingungen unterscheiden, durch genau ein Ereignis und eine (mehrdeutige) Funktion modelliert. Eine solche Darstellung beeinträchtigt nicht nur die Transparenz eines Modelles, sondern kann auch zu Zuordnungsund Auswertungsproblemen führen. • In EPK-Diagrammen können nur bestimmte Typen komplexer Ereignisse detailliert dargestellt werden. Ereignisse, wie Verzögerungs-Ereignisse (z.B. 30 Minuten nach Auftrag erfasst) und Intervall-Ereignisse (z.B. Kunde ruft an zwischen (Auftrag eingegangen und Auftrag bearbeitet)), lassen sich nur sprachlich beschreiben und durch ein Ereignis darstellen. Eine detaillierte Modellierung ist nicht möglich, da die dazu notwendigen Operatoren nicht unterstützt werden. • In EPK-Diagrammen lassen sich die Beziehungen zu Elementen der Datenmodelle und Organisationsmodelle nicht darstellen. Deshalb können Regelwirkungen auf Daten und Stellen, die für die Aufgabenerfüllung verantwortlich sind, nicht modelliert werden. Zur Behebung des zuletzt genannten Nachteils wurde diese Methode um zusätzliche Konstruktionselemente erweitert. Zwei Konstrukte, die in der Methode der erweiterten ereignisgesteuerten Prozessketten (eEPK) zur Verfügung stehen, sind: • Organisationseinheiten Organisationseinheiten beschreiben Stellen oder Abteilungen. Mit ihrer Zuordnung zu den Funktionen eines Prozesses wird die Zuständigkeit festgelegt. Zudem wird die für die Aufgabenerfüllung erforderliche Entscheidungskompetenz an die Organisationseinheit übertragen. Graphisch werden Organisationseinheiten durch Ovale dargestellt, die an der linken Seite eine senkrechte Linie aufweisen. • Zustände Mit Zuständen werden Objekte der Umwelt beschrieben, die für die Bearbeitung einer unternehmerischen Funktion benötigt werden. Während einer Prozessbearbeitung können 2.3. GESCHÄFTSREGELN 75 diese Zustände geändert werden. In eEPK-Diagrammen werden diese Elemente durch Rechtecke repräsentiert, die an der linken und rechten Seite je zwei senkrechte Linien enthalten. Durch die Verwendung dieser beiden Konstruktionselemente können die Realweltausschnitte, in denen die Geschäftsprozesse ablaufen, detaillierter dargestellt werden. Zudem lassen sich auch die Wirkungen der Geschäftsregeln auf Datenobjekte und Organisationseinheiten beschreiben (vgl. Abb. 2.24). 2.3.2.2 BROCOM Die BROCOM-Methode stellt einen weiteren Ansatz dar, mit dem sich Geschäftsprozesse und Geschäftsregeln konzeptionell darstellen lassen ([HK96]; [Her97]). Im Unterschied zu der EPKMethode steht hier nicht die Modellierung von Geschäftsprozessen, sondern die realitätsgetreue Darstellung von Geschäftsregeln im Vordergrund. Dazu werden die Geschäftsregeln als eventcondition-action-action (ECAA)-Regeln repräsentiert, die ECA-Regeln um eine Aktionskomponente erweitern. Diese neue Komponente ist vergleichbar mit dem else-Teil eines if-then-else Konstruktes, die genau dann verarbeitet wird, wenn das Ereignis der Regel eintritt und die Bedingung verletzt ist. Zur Modellierung von Geschäftsprozessen werden in BROCOM ebenfalls ECAA-Regeln verwendet. Dabei werden die Ablauflogiken durch die Inhalte der Aktionskomponenten beschrieben und die Verarbeitungsreihenfolgen werden durch Verknüpfungen zwischen den Aktions- und Ereigniskomponenten realisiert. Somit wird in Analogie zu der EPK-Methode auch hier eine ereignisgesteuerte Modellierung verfolgt. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass sich in BROCOM die Bedingungen der Geschäftsregeln explizit darstellen lassen. Für die Spezifikation von regelbasierten Geschäftsprozessen wurden ein Vorgehensmodell und ein Meta-Modell entwickelt: • Vorgehensmodell Die formale Beschreibung von Geschäftsprozessen kann zu einer sehr grossen Menge von Geschäftsregeln führen. Um diese Komplexität zu verringern, werden in BROCOM zwei Ansätze verfolgt ([Her97], S. 134ff.): 1. Geschäftsprozesse werden nach der Top-Down Methode modelliert, mit der eine Hierarchie von übergeordneten und untergeordneten Prozessen geschaffen wird. Dabei wird das Verhalten der Teilprozesse voneinander getrennt spezifiziert. 2. Geschäftsregeln werden dahingehend unterschieden, ob sie mindestens einem Prozess zugeordnet oder für alle Prozesse gültig sind. Die zuerst genannte Regelmenge wird bei der Spezifikation der Prozesse erzeugt und besteht vor allem aus Automationsregeln20 . Die zuletzt genannte Regelmenge beinhaltet hauptsächlich Integritätsregeln21 , die sich auf das Datenmodell beziehen. Aus diesen beiden Ansätzen lassen sich einige Schritte des Vorgehensmodells ableiten. Insgesamt umfasst das Modell fünf Schritte (vgl. Abb. 2.25): 20 21 vgl. Abschnitt 2.3.1. vgl. Abschnitt 2.3.1. 76 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Auftrag vorbereitet Auftragsvorbereitung Abteilungsleiter informieren Auftrag Kunde Abteilungsleiter informiert Lager Lager AND Auftrag Auftrag Artikelbestände aktualisieren Artikel zusammenstellen Lieferschein erzeugen Artikel Kunde Bestände aktualisiert Artikel zusammengestellt Lieferschein erzeugt Lager Artikelbestände kontrollieren AND Artikel Artikel kontrollieren und verpacken XOR Neubestellung ausgelöst Neubestellung nicht ausgelöst Lager Artikel kontrolliert und verpackt Artikel versenden Lager Artikel versendet Abteilungsleiter informieren Lager Auftrag bearbeitet Abbildung 2.24: eEPK-Diagramm der Auftragsbearbeitung. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 77 Modeling Steps Specification of the process structure Specification of the processes by using business rules Repository Specification of the conceptual data model Specification of integrity constraints by using business rules Validation Business rules, processes, data model, processors, facts on the organization Meta-Model Systems design, implementation, ... Abbildung 2.25: Vorgehensmodell der BROCOM-Methode ([Her97]). 1. Prozessstruktur Der erste Schritt beinhaltet die Festlegung der Prozessstruktur. Dadurch werden die Prozessinterdependenzen transparent. Zudem können die Prozesse in Teilprozesse aufgespalten werden, wodurch sich ihre Verwaltung und Wiederverwendbarkeit erhöht. 2. Prozessdynamik Im zweiten Schritt werden die Prozesse und Teilprozesse auf der Grundlage von Geschäftsregeln spezifiziert. Durch eine schrittweise Verfeinerung der ECAA-Regeln lassen sich die Prozesse und Prozessstrukturen sukzessiv detaillieren. 3. Konzeptionelles Datenmodell Im dritten Schritt wird das Datenmodell entwickelt. Dazu werden aus den modellierten Prozessen die Datenobjekte abgeleitet, die im Datenmodell strukturiert werden sollten. 4. Integritätsbedingungen Im vierten Schritt wird das Datenmodell analysiert. Dabei werden statische und dynamische Integritätsbedingungen definiert, die auf der Basis von ECAA-Regeln spezifiziert werden. 78 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN 5. Validierung Im fünften Schritt werden die Prozessmodelle und das Datenmodell von Analytikern und Mitarbeitern auf ihre Korrektheit überprüft. Durch die Verwendung von ECAA-Regeln lassen sich in BROCOM die gleichen Konstruktionselemente für die Verfeinerung von Geschäftsprozessen einsetzen. • Meta-Modell Für eine strukturierte Speicherung der Meta-Daten, die für die konzeptionelle Darstellung von Geschäftsregeln benötigt werden, wurde ein Meta-Modell entwickelt ([Her95]; [Her97], S. 109ff.; [HM97]). Dieses Modell umfasst sechs Komponenten (vgl. Abb. 2.26): 1. Komponente ’Business Rule’ In dieser Komponente sind die Geschäftsregeln in der Form von ECAA-Regeln dargestellt. Hierfür werden u.a. die Entitätstypen Business Rule, Events, Conditions und Actions verwendet. 2. Komponente ’Processes’ In diesem Teil des Meta-Modelles werden die Geschäfts- und Teilprozesse beschrieben. Dazu umfasst diese Komponente den Entitätstypen Process, der u.a. mit der Komponente Business Rule verknüpft ist. 3. Komponente ’Data Model’ In dieser Komponente werden die Datenobjekte erfasst, die für die Verarbeitung von Geschäftsregeln benötigt werden. Das Modell beinhaltet dazu die Entitätstypen Entity Type, Attribute und Relationship Type. 4. Komponente ’Origins’ Die Quellen der Geschäftsregeln werden in dieser Komponente gespeichert, die u.a. für eine Analyse verwendet werden können. 5. Komponente ’Processor’ In der Komponente ’Processor’ werden die verarbeitenden Einheiten erfasst, die für die Ausführung der ECAA-Regeln verantwortlich sind. Dabei wird zwischen Mitarbeitern, Maschinen und Software-Komponenten unterschieden. 6. Komponente ’Organizational Unit’ Diese Komponente repräsentiert die organisatorische Struktur des Unternehmens und die notwendigen Verantwortlichkeiten zur Prozessverarbeitung. Das Meta-Modell wurde auf der Basis des kommerziell verfügbaren Repository-Systems Rochade realisiert. Dieser Prototyp heisst BURRO, was ein Akronym für Business Rule Repository ist, und erlaubt über eine Benutzerschnittstelle, die im Repository gespeicherten Daten aus verschiedenen Sichten zu betrachten und graphisch darzustellen. Beispiele für solche Sichten sind die Prozesssicht, die Datensicht und die Datenverwendungssicht, mit der die Beziehungen zwischen Prozessen und Daten veranschaulicht werden. Zur Veranschaulichung, wie sich Geschäftsregeln in BROCOM spezifizieren und graphisch darstellen lassen, wird hier der Teilprozess der Auftragsbearbeitung aus Beispiel 2.4 noch einmal aufgegriffen. Beispiel 2.5 (Darstellung der Auftragsbearbeitung in BROCOM) In BROCOM müssen die Geschäftsregeln in Form von ECAA-Regeln spezifiziert werden, die z.B. aus EPK-Diagrammen abgeleitet werden können. Um zu verdeutlichen, wie sich Geschäftsregeln auf der Basis von ECAA-Regeln repräsentieren lassen, werden die in Beispiel 2.4 beschriebenen Regeln noch einmal angegeben: 2.3. GESCHÄFTSREGELN 79 is_raised_by consists_of (0,n) (0,n) Processes (0,n) (1,n) (0,1) refines is_specified_by (0,n) Origins (0,n) Business Rule (1,1) encompasses (0,1) (0,n) (0,n) is_part_of (1,1) (0,1) (1,2) (0,n) (0,n) Events (0,n) consists_of Conditions (1,n) (0,n) Actions consists_of (0,n) (0,n) (0,n) (0,n) refers_to (0,n) refers_to (0,n) (1,n) refers_to (0,n) Data Model is_evaluated_by (1,n) Processor is_raised_by (1,n) is_performed_by (1,n) (0,n) belongs_of (1,1) is_owned_by (1,n) (0,n) Organizational Unit consists_of (0,n) (0,n) is_performed_by Abbildung 2.26: Meta-Modell der BROCOM-Methode ([Her97]). (0,n) (0,n) 80 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN • GR 1: Ausführungsreihenfolge Die Kommissionierung der Artikel, Erzeugung der Lieferscheine und Aktualisierung der Bestände werden parallel ausgeführt. Erst nach der Bearbeitung dieser Aufgaben, werden die Artikel kontrolliert und an den Kunden versendet. Diese Geschäftsregel wird nicht explizit durch eine ECAA-Regel dargestellt. Die Verarbeitungsreihenfolge der einzelnen Aufgaben ergibt sich aus den Interdependenzen, die zwischen den Aktions- und Ereigniskomponenten der anderen Regeln existieren, die im folgenden erläutert werden. • GR 2: Informierung des Abteilungsleiters Sobald ein Auftrag vorbereitet ist, erhält der Abteilungsleiter des Lagers eine entsprechende Mitteilung. Zudem ist ein Formular über die Artikel zu erstellen, die aus dem Lager geholt werden müssen. GR-2: E: C: A: A: Abteilungsleiter informieren ON ’Auftrag vorbereitet’ IF <leer> DO Abteilungsleiter informieren; raise ’Abteilungsleiter informiert’ ELSE <leer>. • GR 3: Artikel kommissionieren Die von den Kunden bestellten Artikel werden von den Mitarbeitern des Lagers kommissioniert. Dazu erhalten sie ein Formular, aus dem ersichtlich ist, welche Artikel aus dem Lager zu holen sind. GR-3: E: C: A: A: kommissionieren ’Abteilungsleiter informiert’ <leer> Artikel zusammenstellen; raise ’Artikel zusammengestellt’ ELSE <leer>. Artikel ON IF DO • GR 4: Artikelbestände aktualisieren Für jeden Artikel, der aus dem Lager entnommen wird, muss der Artikelbestand aktualisiert werden. Sollte ein Bestand den Schwellenwert 100 unterschreiten, ist eine Neubestellung auszulösen. Für diese Aufgaben ist der Abteilungsleiter des Lagers verantwortlich. Diese Geschäftsregel kann auf der Basis von zwei ECAA-Regeln beschrieben werden: GR-4a: E: C: A: A: GR-4b: E: C: A: A: Bestände aktualisieren ON ’Abteilungsleiter informiert’ IF <leer> DO Artikelbestände aktualisieren; raise ’Bestände aktualisiert’ ELSE <leer>. Bestände überprüfen ON ’Bestände aktualisiert’ IF (Bestände < 100) DO Neubestellung auslösen; raise ’Neubestellung ausgelöst’ ELSE <leer>. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 81 • GR 5: Lieferscheine erzeugen Für jede Bestellung muss ein Lieferschein erzeugt und (elektronisch) erfasst werden. Dazu werden die Daten der Kunden und der Bestellungen benötigt. Diese Aufgabe wird von den Mitarbeitern des Lagers erfüllt. GR-5: E: C: A: A: Lieferschein erzeugen ON ’Abteilungsleiter informiert’ IF (Kunden- und Bestelldaten verfügbar) DO Lieferschein erzeugen und erfassen; raise ’Lieferschein erzeugt’ ELSE <leer>. • GR 6: Artikel kontrollieren und verpacken Die kommissionierten Artikel sind anhand des erstellten Lieferscheines zu überprüfen. Danach werden die Artikel verpackt. Diese Arbeiten werden von den Lagermitarbeitern durchgeführt. GR-6: E: C: A: A: Artikel kontrollieren ON ’Lieferschein erzeugt’ AND ’Artikel zusammengestellt’ IF <leer> DO Artikel kontrollieren und verpacken; raise ’Artikel kontrolliert und verpackt’ ELSE <leer>. • GR 7: Artikel versenden Den Kunden werden die bestellten Artikel samt Lieferschein zugesendet. Dazu werden ihre Adressen benötigt. Für den Versand werden die Pakete von Mitarbeitern des Lagers zur Post gebracht. GR-7: E: C: A: A: versenden ’Artikel kontrolliert und verpackt’ <leer> Artikel versenden; raise ’Auftrag versendet’ ELSE <leer>. Artikel ON IF DO • GR 8: Auftragsbearbeitung beendet Dem Abteilungsleiter des Lagers ist das Ende der Auftragsbearbeitung mitzuteilen. GR-8: E: C: A: A: Bestellung versenden ON ’Artikel versendet’ IF <leer> DO Abteilungsleiter informieren; raise ’Auftrag bearbeitet’ ELSE <leer>. In BURRO können für die graphische Darstellung von Prozesssichten ECAA (ECA2 )-Netze verwendet werden, die eine Art von höheren Petri-Netzen darstellen. Diese Netze basieren neben Plätzen und Transitionen auf zwei weiteren Konstruktionselementen (vgl. Abb. 2.27), die zur Darstellung der Bedingungs- und Aktionskomponenten verwendet werden. Ereignisse sind in diesen Netzen durch Plätze repäsentiert. 82 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN ECAA Struktur ECA Struktur EA Struktur Ereignis Bedingung 1 0 DannAktion 1 0 SonstAktion Ereignis Abbildung 2.27: ECA2 -Netze für ECAA-, ECA- und EA-Regeln ([Her97]). ECA2 -Netze weisen im Unterschied zu EPK-Diagrammen eine höhere Komplexität (vgl. Abb. 2.28) auf, die vor allem darin begründet ist, dass die Bedingungskomponenten der ECAA-Regeln explizit darstellbar sind. Dadurch wird das Prozessverhalten transparent und nachvollziehbar. Neben dieser Prozesssicht lassen sich in BURRO die ECAA-Regeln auch aus einer Datenverwendungssicht betrachten (vgl. Abb. 2.29). In dieser Sicht werden die Prozessmodelle mit dem Datenmodell (z.B. einem ER-Diagramm) verbunden. Dabei zeigt diese Sicht, welche Datenobjekte für die Verarbeitung der ECAA-Regeln benötigt werden. Die Datenverwendungssicht ist vergleichbar mit eEPK-Modellen, in denen die Organisationseinheiten nicht dargestellt sind. 2.3.3 Alternativen der Implementierung Die Implementierung eines Informationssystems beinhaltet die informationstechnikbezogene Umsetzung des entwickelten konzeptionellen Modelles. Dazu werden die Prozessmodelle durch Anwendungsprogramme realisiert und das Datenmodell wird in das Schema eines konkreten Datenbanksystems übertragen. Um eine vollständige und realitätsgetreue Umsetzung sicherzustellen, müssen auch die in den Modellen beschriebenen Geschäftsregeln, die als ECA-Regeln repräsentiert sind, implementiert werden. Ihre Realisierung beinhaltet daher die Implementierung von Situationen (Ereignissen und Bedingungen), die überwacht und bei ihrem Eintreten erkannt werden müssen. Zudem sind die Reaktionen (Aktionen) zu programmieren, die in Folge des Erkennens der Situationen auszuführen sind. Daher erscheint es sinnvoll, dass die Regeln, die sich primär auf die Datenbankebene beziehen, im Datenbanksystem und die Regeln, die sich in erster Linie der Applikationsebene zuordnen lassen, in Anwendungsprogrammen realisiert werden. Für die computergestützte Erfüllung der Geschäftsregeln stellen sich auf beiden Ebenen mehrere Alternativen zur Auswahl. Um entscheiden zu können, ob und welche dieser Implementierungsarten geeignet sind, werden sie im folgenden genauer erläutert. 2.3.3.1 Applikationsebene Anwendungsprogramme werden auf der Grundlage von Programmiersprachen erstellt, die sich in ihrer Gesamtheit in fünf Generationen gliedern lassen ([Dis88], S. 2): 2.3. GESCHÄFTSREGELN 83 ’Auftrag vorbereitet’ Abteilungsleiter informieren ’Abteilungsleiter informiert’ Artikelbestände aktualisieren Artikel zusammenstellen ’Bestände aktualisiert’ ’Artikel zusammengestellt’ Kunden- und Bestellungsdaten vorhanden 1 Lieferschein erzeugen ’Lieferschein erzeugt’ Artikelbestände < 100 1 0 Neubestellung auslösen ’Neubestellung ausgelöst’ ’Lieferschein erzeugt’ AND ’Artikel zusammengestellt’ Artikel kontrollieren und verpacken ’Artikel kontrolliert und verpackt’ Artikel versenden ’Artikel versendet’ Abteilungsleiter informieren ’Auftrag bearbeitet’ Abbildung 2.28: ECA2 -Netz für die Auftragsbearbeitung. 0 84 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN ’Auftrag vorbereitet’ Abteilungsleiter informieren ’Abteilungsleiter informiert’ Artikelbestände aktualisieren Artikel zusammenstellen ’Bestände aktualisiert’ ’Artikel zusammengestellt’ Kunden- und Bestellungsdaten vorhanden 1 Lieferschein erzeugen ’Lieferschein erzeugt’ Artikelbestände < 100 1 0 Neubestellung auslösen ’Lieferschein erzeugt’ AND ’Artikel zusammengestellt’ ’Neubestellung ausgelöst’ Artikel kontrollieren und verpacken ’Artikel kontrolliert und verpackt’ Kunde (1,1) Artikel versenden hat (1,n) Auftrag (1,1) gibt es ’Artikel versendet’ (1,1) enthält (1,n) Abteilungsleiter informieren Artikel ’Auftrag bearbeitet’ (1,1) Lieferschein Abbildung 2.29: ECA2 -Netz und ER-Diagramm für die Auftragsbearbeitung. 0 2.3. GESCHÄFTSREGELN 85 • 1. Generation (1GL) Die Klasse der 1. Generation besteht aus Maschinensprachen, deren Programmierung auf der Grundlage von Binärcodes erfolgt. • 2. Generation (2GL) Die 2. Generation der Programmiersprachen beinhaltet maschinenorientierte Sprachen, die auch als Assembler-Sprachen bekannt sind. Die Programme werden auf der Basis von symbolischen (mnemonischen) Befehlen erstellt. • 3. Generation (3GL) Die Sprachen der 3. Generation werden als höhere Programmiersprachen bezeichnet, deren Programme aus einer Sequenz von Anweisungen bestehen, die durch Schleifen und Verzweigungen strukturiert sind. Ein wichtiges Konzept dieser Sprachen stellen die Variablen dar, in denen die Werte für die Verarbeitung gespeichert sind. Beispiele sind C, Pascal und Modula-2. • 4. Generation (4GL) Die Klasse der 4. Generation beinhaltet Programmiersprachen, die als deskriptische Sprachen bekannt sind. Die Programme basieren auf Befehlen, mit denen nicht die Verarbeitungsvorschriften festgelegt, sondern die Eigenschaften bestimmter Daten beschrieben werden. Beispiele dafür sind Oracle*Forms, PowerBuilder und Uniface. • 5. Generation (5GL) Die 5. Generation der Programmiersprachen ist charakterisiert durch Sprachen, mit denen wissensbasierte Systeme, wie Expertensysteme ([Goo85]; [Sil87]; [Ern88]), entwickelt werden können. Wissensbasierte Systeme stellen Systeme dar, in denen das Wissen über ein spezielles Gebiet in Form von Fakten und Regeln gespeichert ist. Beispiele für solche Sprachen sind PROLOG und OPS5 ([BFKM85]). Auf Expertensysteme wird im Zusammenhang mit aktiven Datenbanksystemen eingegangen22 . Für die Implementierung von Anwendungsprogrammen werden heute vor allem Sprachen der 3. und 4. Generation verwendet. Dies impliziert, dass die Geschäftsregeln mit Hilfe der Konstruktionselemente einer Sprache beschrieben und in die Programme integriert werden müssen. Die regelauslösenden Situationen sind daher in diesen Programmen zu überwachen und zu erkennen. Dabei muss auf einige wichtige Gesichtspunkte hingewiesen werden: • Situationen können nur in den Anwendungsprogrammen erkannt werden, in denen sie implementiert sind. • Situationen können nur dann erkannt werden, wenn die entsprechenden Anwendungsprogramme ausgeführt werden. Geschäftsregeln können in Programmen, die in Sprachen der 3. Generation erstellt sind, auf zwei Arten implementiert werden: 1. Erweiterung der Anwendungsprogramme Bei dieser Alternative wird der Quellcode der Regeln in die Anwendungsprogramme integriert, in denen auf das Eintreten der spezifizierten Situationen reagiert werden muss. Die Situationen werden durch die Bedingungskomponenten repräsentiert, die mit Hilfe von 22 vgl. Abschnitte 3.2 und 3.9.2.3. 86 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN if-then-else Konstrukten realisiert sind. Die auszuführenden Aktionen sind im then-Teil programmiert (vgl. Abb. 2.30). Diese Implementierungsalternative ist für Geschäftsregeln geeignet, die durch Situationen der Applikationsebene ausgelöst und nur von einem Programm verwendet werden. Mit einer solchen Realisierung sind aber einige Nachteile verbunden: • Die Änderung einer Geschäftsregel erfordert, dass das Programm aktualisiert und neu übersetzt werden muss. • Falls eine so implementierte Geschäftsregel auch in anderen Anwendungsprogrammen benötigt wird, muss sie in diesen Programmen ebenfalls neu implementiert werden. Dies kann zu Inkonsistenzen führen, da durch die Änderung einer Regel auch alle anderen Regelkopien angepasst werden müssen. Zudem verhindert die ’feste Programmierung’ der Geschäftsregeln ihre Wiederverwendbarkeit. • Sind in einem Anwendungsprogramm viele Situationen berücksichtigt, kann dies die Lesbarkeit und Verständlichkeit der Programme verschlechtern. Um die Wiederverwendung zu ermöglichen, können Module erstellt werden, in denen die Bedingungskomponenten und Aktionskomponenten der ECA-Regeln in Form von Prozeduren zusammengefasst sind. Die Erkennung der regelauslösenden Situationen verbleibt in den Anwendungsprogrammen, da ihr Eintreten sonst nicht bemerkt wird. Wenn eine bestimmte Situation eintritt, wird die Verarbeitung der zugehörigen Regeln durch einen Prozeduraufruf initiiert (vgl. Abb. 2.31). Um die Modularisierung zu erhöhen, können die Bedingungs- und Aktionskomponenten in separaten Prozeduren implementiert werden. 2. Spezielle Anwendungsprogramme Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Geschäftsregeln in Form spezieller Anwendungsprogramme zu implementieren. Diese Art der Realisierung ist geeignet für Regeln, die durch Ereignisse der Datenbankebene ausgelöst werden, die aber auf der Applikationsebene zu verarbeiten sind. Damit diese Situationen erkannt werden, muss in periodischen Abständen die Datenbank abgefragt werden. Tritt ein bestimmtes Ereignis ein, wird die Verarbeitung der Regel(n) initiiert, indem z.B. eine Prozedur aufgerufen wird. Diese Art der Implementierung wird auch als polling ([WC96], S. 3) bezeichnet. Bei der Erstellung dieser Programme muss festgelegt werden, in welchen Abständen die Überprüfungen durchgeführt werden sollen: • Wenn eine hohe Frequenz (z.B. jede Sekunde) gewählt wird, dann wird die Datenbank häufig bis sehr oft kontrolliert. Da für jede dieser Kontrollen gewisse Anfragen vom Datenbankmanagementsystem zu verarbeiten sind, kann dies zu einer Verschlechterung der Performance und des Antwortverhaltens führen. Zudem ist zu vermuten, dass auf die meisten Anfragen nicht reagiert werden muss. • Ist eine geringe Frequenz (z.B. alle 7 Tage) festgelegt, wird die Datenbank selten überprüft. Dabei besteht die Gefahr, dass Situationen entweder verspätet oder gar nicht erkannt werden. Dies hat zur Folge, dass sich eine sofortige Reaktion auf die eintretende Situation nicht garantieren lässt. Beide Implementierungsalternativen beinhalten wesentliche Nachteile, so dass von diesen Möglichkeiten der Geschäftsregelrealisierung Abstand genommen werden sollte. Neben den bereits zuvor erläuterten Nachteilen ist zu erwähnen, dass sich auf diese Weise nur wenige Arten der Geschäftsregeln implementieren lassen. Regeln, die durch Datenmanipulations-Ereignisse oder Zeit-Ereignisse ausgelöst werden, können entweder nicht adäquat oder gar nicht realisiert werden. 2.3. GESCHÄFTSREGELN 87 Anwendungsprogramm ... IF (Bedingung_i) THEN Aktion_i END_IF ... Geschäftsregel (i) ... IF (Bedingung_j) THEN Aktion_j END_IF ... Geschäftsregel (j) Abbildung 2.30: Erweiterung eines Anwendungsprogramms. Regelmodul Anwendungsprogramm ... PROCEDURE Regel_i Begin ... IF (Bedingung_i) THEN Aktion_i CALL Regel_i ... END_IF Aufruf Geschäftsregel (i) End ... Geschäftsregel (i) ... PROCEDURE Regel_j Begin ... IF (Bedingung_j) THEN Aktion_j CALL Regel_j END_IF ... Aufruf Geschäftsregel (j) End ... Geschäftsregel (j) Abbildung 2.31: Modulare Implementierung von Geschäftsregeln. 88 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN Die Implementierung von Geschäftsregeln mit Programmiersprachen der 4. Generation führt im wesentlichen zu den gleichen Problemen, obgleich die Bedeutung und Verwendungsmöglichkeiten von Ereignissen in modernen 4-GL Sprachen erkannt und berücksichtigt wurde. Die Ereignisse eignen sich aber für die Implementierung von Geschäftsregeln nur wenig. So werden z.B. Ereignisse unterstützt, die durch das Klicken auf Elemente einer graphischen Benutzeroberfläche ausgelöst werden. Solche Ereignisse können für Geschäftsregeln von Bedeutung sein, sind aber vor allem davon abhängig, wie die Oberflächen konzipiert und realisiert sind. Daher wird diese Implementierungsalternative nicht weiter betrachtet. In Sprachen der 4. Generation werden auch Ereignisse unterstützt, die durch Datenmanipulationsbefehle ausgelöst werden. Damit ergibt sich für Geschäftsregeln, die auf datenbezogenen Ereignissen basieren, eine bessere Art der Implementierung als mit dem polling Ansatz. Regeln, die auf Zeit-Ereignissen basieren, lassen sich aber in diesen Sprachen nicht oder nur bedingt realisieren ([Her97], S. 37). 2.3.3.2 Datenbankebene Die Geschäftsregelimplementierung auf Datenbankebene erfordert, dass die Regeln in einem Datenbanksystem spezifiziert werden können. Für eine Verarbeitung sind somit Konzepte und Mechanismen notwendig, mit denen sich Situationen spezifizieren und überwachen sowie Reaktionen ausführen lassen. Konventionelle Datenbanksysteme sind dafür ungeeignet, da sie passiv sind. In diesen Systemen werden Daten nur dann manipuliert oder selektiert, wenn die dazu erforderlichen Befehle von Benutzern oder Anwendungsprogrammen spezifiziert und an das Datenbankmanagementsystem zur Verarbeitung übergeben werden. Der Einsatz solcher Systeme in Informationssystemen impliziert, dass alle Regeln mit Ausnahme von Integritätsbedingungen auf der Applikationsebene zu implementieren sind. Im Forschungsbereich Datenbanksysteme wird seit mehreren Jahrzehnten an einer Lösung dieses Problems gearbeitet. Dabei ist u.a. untersucht worden, ob und wie sich passive Datenbanksysteme erweitern lassen, damit sie für Anwendungen mit einem situationsbezogenen Verhalten eingesetzt werden können. Zwei Entwicklungen, die es in diesem Zusammenhang zu nennen gilt, sind deduktive und aktive Datenbanksysteme: • Deduktive Datenbanksysteme Deduktive Datenbanksysteme sind Systeme, in denen relationale Datenbanksysteme mit der logischen Programmierung verknüpft sind ([GMN84]; [Gal88]; [HD93]; [RH94]). Die ursprüngliche Problemstellung, die zu der Entwicklung dieser Systeme führte, bestand in der Frage: Wie können aus gespeicherten Fakten andere Fakten abgeleitet werden? Die Antwort darauf stellen Ableitungsregeln oder deduktive Regeln dar ([WF90]; [HW93]). In deduktiven Datenbanksystemen werden die Fakten in Form von Daten und (deduktiven) Regeln gespeichert. Für die Ableitung von nicht gespeicherten Fakten werden diese Regeln ausgelöst und verarbeitet. Sie können daher als eine allgemeine Art von Sichten aufgefasst werden, die im Kontext relationaler Systeme bekannt sind. Im Unterschied dazu beschreiben ECA-Regeln, welche (Folge-)Aktionen aufgrund eingetretener Ereignisse auszuführen sind. Es handelt sich somit um zwei orthogonale Konzepte, die aber durchaus gemeinsam in einem System realisiert werden können. So wurde z.B. die Integration aktiver und deduktiver Mechanismen untersucht ([dMS88]; [DUHK92]). Zudem wurde daran gearbeitet, ECA-Regeln für die Implementierung deduktiver Regeln zu verwenden ([CW91]; [Wid93]). Die Idee besteht darin, für jede deduktive Regel eine Menge von ECA-Regeln zu generieren. Zur Verdeutlichung wird folgendes Beispiel betrachtet ([DG96], S. 40f.) 2.3. GESCHÄFTSREGELN 89 Beispiel 2.6 (Deduktive und ECA-Regeln) In einem deduktiven Datenbanksystem sei die folgende deduktive Regel definiert: p(X) ← q(X,Y), s(Y) Diese Regel hat die Semantik: p(X) wird von q(X,Y) und s(Y) abgeleitet. Um diese Regel in aktiven Datenbanksystemen implementieren zu können, sind zwei ECA-Regeln zu definieren: ON IF DO query(p(X)) (true) query(q(X,Y)) ON IF DO answer(q(X,Y)) (true) query(s(Y)) Auf diese Weise wird jedesmal, wenn eine Anfrage p(X) erfolgt, eine Anfrage nach q(X,Y) generiert. Liefert diese Anfrage ein wahres Ergebnis, erfolgt eine Anfrage s(Y). Mit deduktiven Regeln lässt sich aber nur ein eingeschränktes reaktives Verhalten realisieren. Eine Vielzahl von Situationen, die z.B. auf Zeit-Ereignissen basieren, kann nicht spezifiziert werden. Aus diesem Grund sind diese Systeme für die Implementierung von Geschäftsregeln nicht geeignet. • Aktive Datenbanksysteme Aktive Datenbanksysteme erweitern passive Systeme um Funktionalitäten, mit denen sich ein reaktives bzw. situationsbezogenes Verhalten realisieren lässt. Diese Datenbanksysteme sind dadurch charakterisiert, dass sie selbständig Situationen erkennen und darauf mit der Ausführung von Aktionen reagieren können. Für die Spezifikation und Ausführung eines solchen Verhaltens werden ECA-Regeln unterstützt, die basierend auf einer Regelsprache definiert werden. Mit diesen Sprachen ist das Spektrum reaktiven Verhaltens festgelegt, das in aktiven Datenbanksystemen implementiert werden kann. Für die Regelverarbeitung beinhalten sie ein spezielles Ausführungsmodell, das Ereignisse erkennt, Bedingungen auswertet und Aktionen verarbeitet. In den letzten Jahren wurde im Rahmen von Projekten eine Vielzahl von Prototypen entwickelt. Dabei wurden sowohl relationale als auch objektorientierte Datenbanksysteme um aktive Komponenten erweitert. Einige Beispiele dafür sind: – Postgres ([SR86]; [SHP88]; [SHP89]) – Starburst ([HCL+ 90]; [WCL91]; [Wid92b]; [Wid96a]; [Wid96b]) – Ode ([GJ91]; [GJ96]; [LGA96]) – Samos ([Gat95]). Diese Forschungsentwicklungen haben sich auch auf kommerzielle Systeme ausgewirkt. Heute unterstützt nahezu jedes relationale Datenbanksystem, wie z.B. DB2 ([Luf96]; [Luf97]), Ingres ([Ing91a]; [Ing91b]), Oracle ([Ora92a]; [Ora92b]) und Sybase ([Syb94a]; [Syb94b]), einen Trigger-Mechanismus. Dabei wird das reaktive Verhalten auf der Basis von Datenbanktriggern spezifiziert und realisiert. Ein Beispiel für einen in Ingres definierten Trigger ist: 90 KAPITEL 2. REGELN IN UNTERNEHMEN CREATE RULE emp_delete AFTER DELETE ON EMPLOYEE EXECUTE PROCEDURE manager_emp_track (ename = OLD.name, mname = OLD.manager) CREATE PROCEDURE manager_emp_track (ename VARCHAR (39), mname VARCHAR (30)) AS BEGIN UPDATE manager SET employee = employee -1 WHERE name = :mname; INSERT INTO mgrlog VALUES (:mname, :ename); END; Jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass sich im Vergleich zu den Funktionalitäten der Prototypen mit diesen Systemen meist nur ein sehr eingeschränktes Verhalten spezifizieren lässt. Dies hat dazu geführt, dass in der Praxis zumeist auf den Einsatz der TriggerMechanismen kommerzieller Datenbanksysteme verzichtet wird ([KS95]). Aktive Datenbanksysteme scheinen für die Implementierung von Geschäftsregeln besonders gut geeignet zu sein. Um diesen Eindruck zu überprüfen, wird im folgenden Kapitel 3 eine Einführung in die Theorie aktiver Datenbanksysteme und einen Überblick über entwickelte Systeme gegeben.