Neue Z}rcer Zeitung INLAND Montag, 13.11.2000 Nr.265 11 Schweizer Spiegel jüdischer Geschichte Hundert Jahre «Israelitisches Wochenblatt» Von Jacques Picard, Zürich Das «Israelitische Wochenblatt» ist die älteste jüdische Publikation der Schweiz und steht vor seinem 100. Geburtstag am 4. Januar 2001. Im deutschen Sprachraum ist die Zeitung das am längsten kontinuierlich erscheinende Presseorgan seiner Art. Historisch kommt ihm so eine besondere Bedeutung zu. Am Montag findet in Zürich im Beisein von Bundespräsident Adolf Ogi eine Jubiläums-Festveranstaltung für das «IW» statt. Die Geschichte der jüdischen Presse weist lange und in ihrer Breite unterschiedliche Traditionen auf. Ursprungsland einer jüdischen Presse in Europa waren die Niederlande. In Amsterdam wurden nach 1670, nur 60 Jahre nach Erscheinen der ersten Zeitung überhaupt, mehrere in Jiddisch, Ladino oder Hebräisch edierte Blätter von Juden für Juden geschrieben. Seit 1750 Moses Mendelssohn in Berlin dann den «Kohelet Musar», eine hebräisch geschriebene Zeitung zur Vermittlung von Tradition und Aufklärung, herausgab, verbreiteten sich jüdische Presseorgane in ganz Europa, wo noch bis zum Zweiten Weltkrieg zahlreiche dieser Blätter und Periodika publiziert wurden. Sie erschienen in den verschiedensten Sprachen, in Jiddisch und Hebräisch, dann jedoch vermehrt in allen Sprachen der Länder, in denen Juden vorwiegend lebten und durch die Emanzipation Rechte und Pflichten als Staatsbürger erworben hatten. Allein in Deutschland waren bis zum 11. November 1938, dem Tag des nationalsozialistischen Verbotes aller jüdischen Presseerzeugnisse, 65 jüdische Zeitungen und Zeitschriften erhältlich. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich auf Grund der Migrationen nach Nord- und Südamerika und anderen Zielländern der Auswanderung auch in diesen Regionen eine vielfältige lokale jüdische Presse. Sie ist ein Spiegel der religiösen, gesellschaftlichen und politischen Verschiedenheiten in diesen Ländern und dokumentiert denn auch deren Streiflichter, die kleineren und grösseren Ereignisse und die jüdischen Wahrnehmungen allgemeiner geschichtlicher Vorgänge. Heute existieren auf der Welt mehr als tausend jüdische Zeitungen und Zeitschriften kleineren oder auch grösseren Zuschnitts. Streiflichter jüdischer Modernisierung Die Vielfalt von insgesamt 5000 jüdischen Zeitungen, die zwischen 1670 und 1939 publiziert © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG wurden, ist Teil eines historischen Prozesses, der die innere und äussere Modernisierung des jüdischen Lebens, mit auch allen konflikthaften Momenten in einem schöpferischen Wandel, umfasst hat. Wenn heute das «Israelitische Wochenblatt» (IW) sein hundertjähriges Bestehen begehen kann, öffnet sich hier der Blick auf eine einmalige Kontinuität jüdischer Pressetradition in deutscher Sprache, eine Kontinuität, die implizit auch voraussetzt, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges von einer Besetzung verschont blieb und den im Lande lebenden Juden und Flüchtlingen Aufenthalt, Sicherheit und mit dem Wochenblatt auch eine eigene namhafte Stimme bot. Zum andern verweist die Gründung und Kontinuität des Wochenblattes auf die historische Formierung der Schweizer Juden seit der gelungenen Emanzipation und auf deren eigene Konstitution und Sensibilität. Seit der Gleichstellung in einzelnen Kantonen und dann auf Bundesebene hatten sich die Juden in der Schweiz im Verlauf des 19. Jahrhunderts in neuen Gemeinden und zahlreichen Vereinen organisiert. Dass 1904, nach nur knapp vier Jahrgängen des Wochenblattes, der Schweizerische Israelitische Gemeindebund gegründet wurde, ist kein Zufall, sondern in den bedingenden Zeitumständen zu suchen. Der Startausgabe des Wochenblattes waren erste, vergebliche Versuche vorangegangen, ein nicht nur in einer lokalen Gemeinde angesiedeltes Blatt, sondern ein über das jüdische Leben in der gesamten Schweiz berichtendes Presseorgan zu etablieren. Das Wochenblatt wollte eine Zeitung für die Gemeinden sein und eingehend über das Vereins- und Familienleben berichten, und es machte dadurch den Bedarf nach sorgsam gepflegter Vernetzung in einer durch Mobilität geprägten Gesellschaft sichtbar. Im Übrigen hinterliess es dadurch den heute an Alltagsgeschichte Interessierten einen unersetzlichen historischen Fundus an Hinweisen und Lebenszeugnissen. Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung INLAND Es war den Gründern, wie die Nummer 1 vom 4. Januar 1901 als Ziel formulierte, aber gerade auch um politische Absicht gegangen. Die Wahrung gemeinsamer Interessen machte es erforderlich, dass die Schweizer Juden jene Kräfte bekämpften, von denen man befürchtete, dass sie die eigene, seit der Emanzipation errungene «gesellschaftliche, berufliche und rechtliche Stellung einschränken» könnten. Dazu sollte durch das Wochenblatt unter den knapp 20 000 Juden in der Schweiz eine veröffentlichte Meinung hergestellt werden, um die organisatorische Formierung der Schweizer Juden zu fördern. Die Gründung des Wochenblattes stand dabei im Zeichen von zwei Ereignissen aus den unmittelbaren Vorjahren – einmal die Annahme eines Volksbegehrens auf Einführung des Schächtverbotes, das einigen seiner Initianten und Befürworter auch dazu dienlich erschien, jüdische Zuwanderer aus dem Ausland von der Schweiz abzuhalten, und dann der Eindruck des ersten Zionistenkongresses, der vielen jüdischen Schweizern zu Bewusstsein brachte, dass eine ausschliesslich konfessionell verstandene Identität angesichts antisemitischer Anfechtung nicht mehr genügen konnte und dass eine politische Wahrnehmung der eigenen Interessen notwendig war. Auch wenn sich das Wochenblatt nicht als zionistisches Organ verstand, sondern als politisch unabhängig und somit «neutral», stand man der damals noch jungen zionistischen Bewegung sehr offen gegenüber. Unternehmertum und jüdische Geistigkeit Die Herausgeber des Blattes verkörperten, so wie sie sich selbst sahen, eine Mischung aus unternehmerischer Praxis und jüdischer Geistigkeit. Diese beiden Eigenschaften wurden während der Gründerzeit in David Strauss, der das Wochenblatt geschäftlich fundierte, und Martin Littmann, der als Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich wirkte, erfolgreich kombiniert. 1921 erhielt das Wochenblatt mit Erich Marx einen Publizisten, der nebst seiner akademischen Promotion den Schliff des in Berlin gereiften Journalisten mitbrachte und dann in Zürich für das Wochenblatt während 40 Jahren leitend und lenkend aktiv geblieben ist. Der intellektuelle und kulturelle Standard und das historisch-politische Bewusstsein seiner Redaktoren, das sich in einem Spektrum orthodoxer, religiösliberaler, sozialistischer, zionistischer oder auch philosophisch orientierter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen niederschlug, haben denn auch das geistige Niveau des Wochenblattes in den Jahrzehnten seines Bestehens geprägt. Gelegenheiten, © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Montag, 13.11.2000 Nr.265 11 diese Stärken herauszustreichen, boten im Übrigen auch zahlreiche Spezialausgaben des Wochenblattes, die aus Anlass von Geburtstagsfeiern von jüdischen Gemeinden oder bei historischen Jubiläen wie zum Beispiel Emanzipationsereignissen oder der schweizerischen Bundesstaatsgründung erschienen. Die zu einem grossen Teil im Kongressland Schweiz abgehaltenen Veranstaltungen der zionistischen Bewegung oder dann auch wissenschaftliche Kongresse boten laufend eine Quelle für die Bereitstellung von Themen und Autoren, die zu drängenden Zeitfragen Deutungs- und Meinungsangebote liefern konnten. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs Von besonderer, über die Schweiz hinausweisender Bedeutung war das Wochenblatt zur Zeit des Nationalsozialismus, in dessen Machtbereich die Existenz eines jüdischen Pressewesens abrupt beendet wurde. Den Schweizer Juden selbst erschien das Wochenblatt unentbehrlich im Kampf gegen Antisemitismus und zur Stärkung der eigenen Position, die damals nicht immer selbstverständlich erschien. Im Wochenblatt wurden die Leitlinien und Entscheide der schweizerischen Politik nüchtern und mit einer patriotischen Grundhaltung vermittelt, zuweilen aber auch knapp und bissig kommentiert, wo es dem Wochenblatt nötig erschien. Vor allem aber registrierte das Wochenblatt auf Grund eines eingespielten Informantennetzes eingehend die Vorgänge ausserhalb der Schweiz und hier innerhalb des Macht- und Besatzungsbereichs des Dritten Reiches. Die Massnahmen der NS-Täter, von örtlichen Vertreibungen bis zum Zusammentreiben von Verfolgten und zu ihrer Deportation, liessen sich im Wochenblatt regelmässig nachblättern. Später wurde während der Verhandlungen vor dem Nürnberger Strafgericht gegenüber Julius Streicher, zuvor noch Herausgeber des «Stürmers» und einer der NS-Hetzpropagandisten, von der Anklage der Nachweis erbracht, dass er von der Verfolgung und Vernichtung auch deshalb Kenntnis hatte, weil er damals das «IW» gelesen hatte. In der zweiten Hälfte seines 100-jährigen Bestehens haben die politischen und militärischen Ereignisse um die Gründung und Selbstbehauptung des Staates Israel im Wochenblatt breiten Raum eingenommen. Anlass zur Sorge boten die Kriege im Nahen Osten, dann terroristische Anschläge arabischer Kommandozellen, die auch schweizerische Einrichtungen berührten, und schliesslich der mühevolle Friedensprozess. Im Gegenzug trat für die Berichterstattung die europäische und atlantische Blatt 2 Neue Z}rcer Zeitung INLAND Perspektive in den Hintergrund. Eine Rolle spielte auch die Tatsache, dass die europäische Tradition des Judentums zu einem grossen Teil ausgelöscht und die Shoah für die Überlebenden eine Quelle von bitterem Schmerz war, für den lange keine Sprache gefunden werden konnte. Erst das Heranwachsen einer jüngeren Generation und das Ende des Kalten Krieges, die Bemühung um Gedächtnis und Restitution, um Geschichte und materielle Wiederherstellung haben das «IW» dazu geführt, über die publizistische © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Montag, 13.11.2000 Nr.265 11 Positionierung von neuem nachzudenken. Die Juden in Europa, wo heute jüdische Kultur aufs Neue als Teil des öffentlichen Lebens verstanden wird, werden deshalb neben Israel und Nordamerika wieder stärker Aufmerksamkeit erhalten müssen. Das eigentliche Kontinuum des Wochenblattes bildet in diesem Horizont die Schweiz und hier das Leben der Schweizer Juden. Blatt 3