Latein als Mittel europäischer Selbstaufklärung

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Latein als Mittel europäischer Selbstaufklärung
Vorbemerkung
Dieser Text wurde mir von einem Freund abverlangt, der Philosophie an der Tamkang-University in
Taiwan unterrichtet und zusammen mit Prager Kollegen am 1. Juni 2002 eine kleine Tagung organisierte. Was sollte ein klassischer Philologe zum Thema "Globalisierungsprozesse und kulturelle Identität" denn schon beitragen? fragte ich ihn und mich, suchte Ausflüchte und bekam zu hören: Du musst
das machen. So geriet ich in die aktuelle Bildungs-Diskussion.
Bei meinen Recherchen habe ich ausgiebig und dankbar die Schriften Manfred Fuhrmanns konsultiert;
das Folgende stammt also von einem Zwerg auf den Schultern des Riesen. Ich hatte das Glück,
1985/86 als DAAD-Stipendiat in Konstanz zu studieren und lernte Manfred Fuhrmann als politischen
Latinisten kennen, als er, unmittelbar nachdem am 30. 4. 1986 der radioaktive Tschernobyl-Regen
über Deutschland niedergegangen war, in seiner Vorlesung über Karolingische Literatur eine Brandrede über die deutsche Atompolitik seit den 50er-Jahren hielt. Meine Überlegungen stehen daher in bewusstem Kontakt zu jenen Ansätzen, die Manfred Fuhrmann selbst verficht als Kritiker, latinistischer
Jurist und engagierter Citoyen.
Zwischen Vortrag und Ausarbeitung der schriftlichen Fassung erschien Lutz Käppels Programmschrift
zum "Modernitätspotential der alten Sprachen". Das in dieser Broschüre dargestellte Groß-Projekt
deckt sich inhaltlich mit vielen meiner Überlegungen, unterscheidet sich aber durch den marginalen
Stellenwert, den das Politische darin einnimmt.
Dieses aufklärerische Moment ist aber für mich mit Wesen und Funktion des Lateinunterrichts untrennbar verbunden. Karl Krapka, mein erster Wiener Lateinlehrer, war eine christlich-konservative Autorität und brachte es gleichzeitig fertig, ein Rudel Halbwüchsiger in Stecknadelstille zu bannen, für
Formenlehre und Sprachbewusstsein zu interessieren und sich dessen unbeschadet gemeinsam mit
uns über Lateinbuch "Austria Romana" lustigzumachen. Dass er uns anhand von Caesar detailliert
und anschaulich über NS-Militärpropaganda aufklärte, hat mein Selbstverständnis als Klassischer Philologe geprägt. Dem Andenken Karl Krapkas (1918–1976) seien daher auch diese Ausführungen gewidmet.
Spannungen im Fundament
Die aktuelle Frage nach der europäischen Identität im Kontext der Globalisierung und die alte Frage
nach der Funktion des Latein in der modernen Gesellschaft konvergieren punktuell: Kommt der Großteil der Welt nicht sehr gut ohne Latein aus? Ist nicht der größte Teil der Menschheit sogar von der
Frage so weit entfernt, dass man eigentlich kein Wort mehr darüber verlieren sollte, schon gar nicht
bei einer internationalen Tagung, die ferne Kulturen zusammenbringt?
Ich glaube dies nicht, und diese Überzeugung hege ich – hoffentlich – nicht nur berufsbedingt als
Klassischer Philologe, sondern weil die Kultur Europas objektiv durch nichts so sehr geformt worden
ist, wie durch Latein, und zwar nach innen als Medium übernationaler Prägungen und nach außen als
Differenzierungskriterium gegenüber anderen Kulturräumen. Latein trägt unbestreitbar bei zu einer
komplexen transnationalen Identität, die sich sehr lange für das Ganze der Welt und wenn nicht der
Welt, so doch der Zivilisation gehalten hat. Nun können wir aber gegenüber anderen Kulturen nicht –
zumal nicht gegenüber einer so mächtigen wie der chinesischen Tradition – in den alten, elitären
Schemata fortfahren, den sogenannten Humanismus, den Textkanon und das Wertekontinuum Europas seit der Antike auszuspielen, wobei dann stillschweigend andere Kulturkreise ausgeschlossen
werden.
Dabei wäre es aus europäischer Binnensicht verlockend einfach, den apologetischen Diskurs fortzuspinnen: Alle wichtigen Institutionen der westeuropäischen Kultur sind vom Frühmittelalter bis weit ins
20. Jahrhundert durch das Band des Latein geeint: Das Universitätswesen und große Teile der höheren Schulen waren bis etwa 1900 ohne Latein gar nicht zugänglich, das Rechtswesen war bis zur Kodifikation der modernen europäischen Rechte zwischen Code Civil (1804) und deutschem BGB (1900)
weitgehend vom Römischen Recht bzw. vom Zusammenspiel römischer, germanischer und kirchenrechtlicher Normen bestimmt; die katholische Kirche hat Latein noch heute als Amtssprache und dies
erst in den 60er-Jahren als Sprache der Liturgie aufgegeben; die wissenschaftliche Literatur erschien
bis zur Mitte des 17. Jhs. fast ausschließlich, bis zum Ende des 18. Jhs. noch in relevantem Ausmaß
auf Latein; ja selbst Dichtung wurde lange Zeit auf Latein verfasst. Bis zu Miltons lateinischen Dichtungen und etwa den grandiosen neulateinischen Werken des Jesuiten Jakobus Balde war Latein auch
poetisch keine tote Sprache.
Dennoch genügt es nicht, diese Tradition affirmativ zu lesen. Das 20. Jahrhundert hat die humanistischen Werte weitgehend als Illusionen desavouiert und auch die Philologen haben sich nicht gerade
als immun gegen politische und nationalistische Ideologien erwiesen, wie sie es eigentlich ihren Gegenständen nach hätten sein müssen. Wiewohl es auch absurd wäre zu fordern, dass der Lateinunter-
richt den Furor des Nationalismus und rechter wie linker Ideologien hätte aufhalten können, so hat
doch kaum ein Fach so sehr dafür die Rechnung präsentiert bekommen, dass in den mehr als 100
Jahren, die das humanistische Gymnasium zur Verfügung hatte, trotz bester Vorsätze und unglaublicher Stundenzahlen eine nationalkonservative, militaristische Elite ausgebildet worden ist, die blind in
den Untergang von 1914 rannte und dann gleich noch einmal – zumindest in großen Teilen – 1933.
Alfred Anderschs zornige Frage "Schützt Humanismus denn vor gar nichts?" blieb unbeantwortet, die
vom Philologen Uvo Hölscher eröffnete "Chance des Unbehagens" blieb seit 1965 ungenutzt. "Latein,
nein danke", war der eingängige Slogan österreichischer Jungsozialisten seit den 60er Jahren, "A bas
le latin" hieß der Kampfruf in Frankreich.
Nicht ganz zu unrecht, denn nicht nur ideologische Klassenkämpfer und Revolutionäre hegen Einwände gegen Latein. Vielmehr hat die neueste latinistische Forschung selbst Latein auch als eine Sprache
der Unterdrückung dargestellt. Gerade der Rückbezug auf die Tradition weist deren Widersprüche auf:
Molières "Malade imaginaire" enthält eine böse Satire auf das nebulose Latein der Ärzte, d. h. auf Latein als Mittel zur Verschleierung von Unwissen und zum Gelderwerb. In Alessandro Manzonis Roman
"I promessi sposi" dient Latein – "quel latino birbone" – ganz systematisch zur Charakterisierung von
Macht und Obrigkeit: Der Pfarrer Don Abbondio etwa flüchtet sich gleich im 2. Kapitel ins Latein, wenn
ihm keine triftigen Argumente mehr einfallen, um die gewünschte Ehe der Protagonisten zu verweigern. Und das Juristenlatein war sprichwörtlich für seine Unverständlichkeit und Kompliziertheit wie
das Juristendeutsch heute: Auch dafür bietet Manzoni zu Beginn des 18. Kapitels der "Promessi sposi" eine anschauliche Satire. Einen erfrischenden Blick auf die Geschichte des selbstgemachten
Grammatikterrors im Lateinunterricht wirft J. Buchmann. Am nachteiligsten hat sich aber Latein für die
bessere Hälfte Europas ausgewirkt: Latein hat effektiv und systematisch die Frauen vom Zugang zu
höherer Bildung ausgeschlossen. Das ist natürlich nicht ganz so radikal zu sehen, wie manche ideologische Interpretation das sehen will. So sind auch dort, wo niemand es erwarten würde, nämlich im
Frühmittelalter, Frauen als Abschreiberinnen und Entlehnerinnen von Büchern entdeckt worden. Insgesamt aber ist der Befund evident und niederschmetternd: Wer nicht in die Lateinschule kam – wie
eben Frauen – hatte bis ins 19. Jahrhundert nur minimale Chancen, an Bildung und Kultur teilzuhaben. Latein als Selektionskriterium schloss das höhere Bildungssystem vor späteren Quereinsteigerinnen hermetisch ab.
Ein kurioses Beispiel für die vordergründig gelungene Akkulturation eines Wilden bietet Waquet (S.
273f.): Pedro Gonzalez, ein Eingeborener der Kanarischen Inseln, schrieb 1582 seine Autobiographie:
Er war als Kuriosum, als Halbtier und Monstrum an den französischen Hof Heinrichs II. von Frankreich
gekommen und erhielt dann adelige Bildung und Erziehung.
Gleichsam als Dank dafür beschreibt er nun auf Latein, wie er seine Wildheit abgelegt hat, die freien
Künste und eben Latein studierte, kurz: wie er durch Latein zum Menschen geworden ist. Ein groteskes Zerrbild Europas – für das sich auch noch aus einem Roman des 20. Jhs. ein bemerkenswertes
Beispiel beibringen lässt (s. unten).
Die lateinische Tradition Europas ist also zumindest zwiespältig und beruht nicht nur in einer fraglosen
Kontinuität von Werten und Haltungen, sondern birst vor Spannungen und Widersprüchen. Man kann
die lateinisch-griechische Tradition zur Legitimation von Monarchie, Militarismus, Imperialismus, Nationalismus und, spät aber doch, auch von Rassismus verwenden – oder als Quelle der Inspiration von
Demokratie, Republik und bürgerlicher Freiheit: Latein als lastende Masse der Repression – Benjamin
Rush verglich Latein mit den Übeln Sklaverei und Alkohol – oder als Hebel der Befreiung. Ich will naturgemäß diese letztere, dynamische Komponente der lateinischen Identität Europas herausarbeiten,
für die ich den Begriff der "Selbstaufklärung" vorschlage, unter dem jene selbstkritisch-produktiven
Tendenzen der Tradition herauspräpariert und zusammengefasst werden können, die das lateinische
Europa als sein Eigenstes zu einer globalen Kultur mitbringt (und worin vielleicht eine nachhaltige
Rechtfertigung der alten Sprachen liegt).
Funktionen
Die eigentümliche Diglossie Europas, das geschichtete Nebeneinander, das feinverästelte Ineinander
von Latein und Volkssprachen hat, grob gesprochen, drei Dimensionen: Die synchrone Dimension internationaler Verständigung, die diachrone von Langzeitgedächtnis und historischer Revision, und –
am verstecktesten und mir am wichtigsten – auch eine die eigene Kultur jeweils relativierende, aufklärende und anregende Dimension, die ich die katalytische nenne möchte.
Kommunikation und Begriff
Die synchrone Dimension ist am einfachsten einzusehen und darzustellen. Latein bildete vom Frühmittelalter bis zur kulturellen Hegemonie des Französischen ab der Mitte des17. Jhs. und bis zum nunmehrigen Triumph des Englischen ab dem 20. Jh. ein Medium internationaler Kommunikation in Politik, Recht, Kirche und Wissenschaft. Es ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit sich Häresien,
Philosopheme und Gedanken über den ganzen Kontinent hin bewegten: Von Sizilien nach Schweden,
von Spanien nach Prag war es lange Zeit näher als heute, zumindest geistig. Studenten, Professoren,
Kleriker und Diplomaten bewegten sich zwischen den Ländern: Europa beginnt damit, dass Iren im
Frühmittelalter auf den Kontinent kommen. Der Süditaliener Thomas von Aquin geht im 13. Jahrhundert nach Köln, Albert der Große von Köln nach Paris, Italiener gingen als Rechtsberater nach England, München oder Prag; Universitäten waren internationaler besetzt als heute. Latein wirkte in diesem Sinn nicht als Hürde, sondern löste Grenzen auf. Welche Wirkung hätte noch Spinoza gehabt,
wenn er auf Niederländisch geschrieben hätte? Was natürlich nichts daran ändert, dass die revolutionären Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahrhunderten durchaus in
den Nationalsprachen gemacht wurden.
Der Übergang von Latein als Wissenschaftssprache zu den Volkssprachen fand im 17. Jh. statt, wobei
dessen Mitte die Grenze markiert. Galilei publizierte seinen ‚Sidereus Nuntius‘ 1610 auf Latein, was
natürlich mit dessen internationaler Verbreitungsstrategie zu tun hatte. Andere Schriften publizierte
Galilei ganz gezielt auf Italienisch, wenn das höfische Zielpublikum es erforderte. Newton publizierte
die ‚Principia Mathematica‘ auf Latein, die detailreichen Beschreibungen der ‚Optics‘ bereits auf Englisch. Das aufkommende Zeitschriftenwesen und die entstehenden Akademien förderten die Benutzung der Nationalsprachen. Latein unterlag einem steten Schrumpfungsprozess, bis es selbst zur
Sprache wissenschaftlicher Terminologien wurde oder in Verbindung mit dem Griechischen auch für
das dominierende Englisch zum Wortlieferanten wurde.
Gedächtnis und Kritik
Die diachrone Dimension des Latein bestand in der Regulierung der Tradition von der Spätantike bis
ins 19. Jahrhundert: Seit der karolingischen Bildungsreform tragen zunächst Kloster, Dom- und Kathedralschulen die Bildung weiter, ab dem 13. Jahrhundert die Universitäten, wozu noch Sonderentwicklungen wie die medizinische Schule von Salerno oder die juridischen Studien in Bologna ab dem 11.
Jahrhundert hinzuzuzählen sind. Alle kirchlichen Lehranstalten, die kommunalen und fürstlichen Lateinschulen bis zum humanistischen Gymnasium des 19. Jhs. beruhten auf Latein. Man kann darin die
Kontinuität betonen, doch das spezifisch Europäische an diesem Kontinuum scheint mir die Neigung
zu Renaissancen und Revolutionen zu sein, d. h. Entwicklungsschübe unter Rückgriff auf Vergangenes, die ohne das Medium des Latein nicht denkbar wären.
Das beginnt bereits bei der karolingischen Bildungsreform selbst, wo durch einen Rückgriff auf korrekte Sprache und eine kulturelle Reorganisation eben des Bildungswesens eine ungeheure Modernisierung einsetzt: Latein leistet als Verwaltungs-, Rechts-, Unterrichts- und Kirchensprache gute Dienste
in einer ethnisch zerklüfteten Gesellschaft. Und eben fast unsere gesamte schriftliche Überlieferung
setzt mit Codices ab dem frühen 9. Jahrhundert ein. Das Bildungswesen und die erste europäische
politische Ordnung greifen ineinander, und man kann gar nicht sagen, was größere Folgen gehabt hat.
Seit dieser Zeit wird in den großen Strom ekklesiastischer Texte und weltlicher Urkunden, die ja das
Hauptvolumen der mittelalterlichen Texte bilden, ein schmaler Seitenarm für die pagane Literautur der
Antike eröffnet. Nie ganz ungefährdet, wie man an den oft sehr geringen Handschriften-Zahlen erkennen kann, doch irgendwie gelang es den Grammatikern nach langwieriger Diskussion der Kirchenväter, die antiken Texte im Sprachunterricht zu retten, ehe dann feinere Methoden erfunden wurden. In
den "Accessus ad auctores", den mittelalterlichen Einführungstexten zu den Autoren, bekommen die
antiken Dichter fast durchwegs das Etikett "ethicus" oder "Ethicae subiacet" verliehen: Horaz, Ovid,
Lucan konnten so passieren. Für die mittelalterliche Literaturgeschichte fehlen leider so kluge Geschichten, wie wir sie von Flasch, de Libera und Sturlese für die mittelalterliche Philosophie besitzen:
List und Leistung der Schulmänner im Klerus, die die paganen Autoren hüteten, stünden in anderem
Ansehen.
Ähnlich wichtig war die Wiederentdeckung des römischen Rechts ab dem 11. Jh. in Bologna. Ausgehend von Italien, und dann später auch von Rechtsschulen in Süd-Frankreich erfasst die Beschäftigung mit dem römischen Recht alle Länder von Spanien bis Deutschland, was gleichfalls einen Modernisierungsschub bedeutete, da die alten germanischen, bzw. in Italien: Langobardischen Rechte
für komplexere Handelsgeschäfte, z. T. zwischen Städten und Staaten, und auch für kompliziertere Eigentumsverhältnisse nicht ausreichten.
Der nächste große Erneuerungsschub im Zusammenhang mit Latein sind die in Spanien im 12. Jh.
einsetzende Übersetzungstätigkeit und die Gründung der Universitäten: Bologna, Paris, Oxford und
Cambridge, Köln, Prag ab dem 13. Jh., wodurch – begrenzt – Freiräume außerhalb der Kirche und der
weltlichen Mächte eröffnet wurden, in die die arabische Wissenschaft und bald die Übersetzungen des
Aristoteles einschossen, was eben überhaupt so etwas wie Philosophie im modernen Sinn ermöglichte und bald auch ethische und politische Theorie. Zum lateinischen internationalen System der Kirche
kam nun ein zweites Wissensnetz, das ebenfalls nur durch Latein möglich war, und das, bei allen Entwicklungen, bis ins 17./18. Jh. fortwirkte. Scholastik und spätere aristotelische Schulphilosophie haben
zwar nicht den besten Ruf, doch war die Entdeckung der "Politik" des Aristoteles, erstmals übersetzt
um 1260 und sogleich von Albertus kommentiert, eine Sensation mit weitreichenden Konsequenzen.
Dante begründete in seiner "Monarchia" auf aristotelischer Grundlage erstmals systematisch eine
Trennung von weltlicher und geistlicher Macht durch Hinweis auf die politische Natur des Menschen,
etwas später dann Marsilius von Padua zu Beginn des 14. Jhs. in seinem "Defensor Pacis" unter dem
Hinweis auf den aristotelischen Gedanken der Volkssouveränität (Politik 3,14-16).
Herausgegriffen sei noch der nächste Wissensschub in der Renaissance, der zum einen die griechischen Texte im Original zugänglich machte, zum anderen die Wirksamkeit des Latein auf einen Höhepunkt brachte: Lorenzo Valla, der durch perfekte Beherrschung der alten Sprachen und der damit zusammenhängenden Geschichtskenntnisse die erste Großtat der historischen Kritik vollbrachte, indem
er 1440 die rechtliche Grundlage des Kirchenstaates, die sogenannte Konstantinische Schenkung, als
spätere Fälschung aufdeckte. Die Kenntnis der Tradition macht aus Latein ein Medium der historischen Kritik und dieses eine Mal sogar zu etwas wie einer politischen Waffe.
Mit der Tendenz, Latein strengen Normen zu unterwerfen, für die ebenfalls Lorenzo Valla steht, indem
er persönliche Gegner für mangelnde Sprachkenntnis lächerlich macht, verliert aber Latein auf dem
Kulminationspunkt seiner Wertschätzung – Vallas "Elegantiae linguae Latinae" entstehen 1441/9 – zugleich auch seine Entwicklungsmöglichkeiten als lebendige Gelehrtensprache. Das Mittelalter war in
diesem Sinne toleranter als die Renaissance und der Antike näher – es setzte sie eben fort.
Aber natürlich hat der Abstieg der Sprache Latein noch ganz andere Ursachen: Reformation und
Buchdruck. Der Buchdruck eröffnet Lektüremöglichkeiten außerhalb des engen lateinischen Bereichs
der Textproduktion, die Publizistik von Flugblättern entsteht und die ist auf die Volkssprache angewiesen, um wirken zu können. So auch die Reformation, die durch Luthers Bibelübersetzung aufs engste
mit den humanistischen Bemühungen um den Bibeltext durch Erasmus zusammenhängt, die aber um
der Wirksamkeit willen darauf angewiesen ist, sich der Volkssprache zu bedienen.
Vor diesem religiösen Faktor hatte aber schon längst die Ausbildung der Volkssprachen und die Diskussion der "questione della lingua" begonnen, wie fast immer am frühesten in Italien. Dante setzt
auch hierfür den theoretischen Maßstab, indem er sein "Convivio", 14 Canzonen mit Kommentar auf
Italienisch schrieb, obwohl damals alle Kommentare auf Lateinisch abgefasst wurden: Und er nennt
drei noch heute gültige, unüberholbare Gründe für den Vorrang der Volkssprache: größere Genauigkeit der Interpretation bezogen auf die italienischen Canzonen, größere Verständlichkeit, d. h. größeres Publikum (man darf wohl auch an die Frauen denken) und Liebe zur Sprache der eigenen Eltern.
Freilich ist diese Fähigkeit der Volkssprache, wie Dante selbst weiß, erst auf einer zweiten Ebene
möglich: In seinem sprachtheoretischen Werk "De vulgari eloquentia" erörtert Dante auf Latein die
Möglichkeit eines ‚vulgare illustre‘, das die Probleme der fehlenden Sprachnorm für die divergierenden
und rasch sich verändernden Dialekte Italiens lösen soll. Ohne eine solche Stabilisierung könnten wir
kaum den Dialekt unserer eigenen Stadt verstehen, der vor 50 Jahren gesprochen wurde. Dante entwickelt sein Ideal des "vulgare" durchaus mit Bezug auf das stabile Latein, dessen Überlegenheit anerkannt wird, das aber seinerseits katalytische Funktion für die eigene Sprache ausübt: Latein wird sogar als "grammatica" bezeichnet, womit die Funktion für fast alle europäischen Sprachen beschrieben
werden kann: Das Modell, an dem die eigene Sprache sich bei ihrer Entwicklung ausrichtet, ohne es
direkt nachzuahmen. Das ist ein komplexer Prozess, in den auch die volkssprachlichen Grammatiken
als Gebende eingreifen, doch ist es kein Zufall, dass auch Boccaccio und Petrarca wie Dante hervorragende lateinische Autoren waren: Latein diente der Modellierung der ersten ausgebildeten Volkssprache.
Ziemlich ähnlich liefen die Dinge im 16. Jh. in Frankreich: Viele Dichter der Pléiade dichteten parallel
französisch und lateinisch (vor allem du Bellay) und entschieden sich dann erst bewusst für Französisch. Auch Montaigne wurde von seinem Vater mittels eines deutschen Hauslehrers als Kleinkind auf
Latein erzogen – die ganze Familie durfte nur Latein mit Michel de Montaigne sprechen – ehe dann
der Lateinunterricht am Collège Guyenne in Bordeaux sein Latein völlig ruinierte9 In seinem berühmten Essai 1,26 wendet sich Montaigne gegen den Drill des Auswendiglernens vor allem im Lateinunterricht – und belegt seine Thesen vornehmlich durch lateinische Dichterzitate. Der Ahnherr des französischen Geistes ist ein durch und durch lateinischer Anti-Lateiner.
Die italienische Literatur ab dem 14. Jh., die französischen Klassiker ab dem 16. Jh., Shakespeare
und die metaphysical Poets in England ab dem frühen 17. Jh., Deutschland seit Mitte des 18. Jhs.
schaffen sich überlegene nationalsprachliche Literaturen – und eigentlich könnte man hier schon die
Geschichte des Latein enden lassen mit einem triumphalen Sieg der ‚modernes‘ über die
‚anciens‘,wäre da nicht noch die wichtigste Wirkung des Latein auf das heutige Leben: die politische.
Außer Manfred Fuhrmann und Hubert Cancik interessieren sich derzeit wenige deutsche Latinisten für
diese Seite des Faches: Sogar in Manfred Fuhrmanns Buch über den Bildungskanon kommt Politik im
Teil der Sachgebiete nicht vor, und auch bei Lutz Käppel nur am Rand mit Hinweis auf Canciks Aufsatz zu den Menschenrechten, wobei in Parenthese erwähnt wird, dass Latinisten bisweilen etwas mit
Herrschaftslegitimation zu tun haben. Das Gegenteil ist der Fall. Latein hat stets politische Grundbegriffe und Haltungen transportiert.
Eigentlich hatte ja auch die karolingische Renaissance mit der Betonung Roms und dem Kaisertum
einen kühnen Rückgriff auf römische Modelle im Hintergrund, doch ich will nicht den Reichsgedanken
verfolgen, obwohl es eigentlich unausweichlich ist, darauf hinzuweisen, dass der überwiegende Teil
lateinischer und eben humanistischer Tradition nicht der Schöpfung freier Individuen gilt, sondern bis
ins 18. Jh. im Dienste von weltlichen und kirchlichen Höfen stand und panegyrische Dekoration, handfeste Legitimation und bisweilen allzusanft mahnende Verpflichtung auf Ideale lieferte.
Rom stiftete aber über Autoren wie Cicero und Livius eine ständige Erinnerung an nicht-absolute,
nicht-monarchische Regierungsformen. Das setzt wiederum in Oberitalien ein, wo die höchsten Beamten der Kommunen oft den Titel consul tragen. Das war nicht kontinuierlich so, sondern wurde bewusst eingeführt. Und neuere Forschung hat nachgewiesen, dass es auch schon im 12. Jh. republikanische Theorie auf der Basis von Ciceros "De officiis" und Sallusts "Catilina" gab. Macchiavelli hat in
den "Discorsi" seine politische Theorie aus den ersten 10 Büchern Livius entwickelt, und – ebenso
überraschend wie evident – auch die amerikanische und die französische Revolution haben ideologische Wurzeln in der römischen Tradition, so dass J.G.A. Pocock die französische Revolution "the last
great act of the Renaissance" nennt. Soweit ich sehe, kommt dieser Aspekt in deutschsprachigen
Apologien und Geschichten des Latein kaum vor. Die Gründerväter der amerikanischen Verfassung
kamen aus humanistischen, lateinisch geprägten Schulen, und beim Konzipieren der neuen Ordnung
stand die politische Theorie des antiken Rom als fernes Leitbild bereit – vermittelt über Montesquieu:
Das Capitol von Washington zeugt davon, dass das entscheidend Neue am Alten Maß nimmt. Die
Hauptbeweggründe sind natürlich im sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und religiösen Bereich zu
suchen, aber ohne diese Orientierung an antiken Formen sähe die Welt heute anders aus. Richard
formuliert das so: "During the Revolutionary Era the Classics provided an indispensable precedent for
actions that were essentially unprecedented". Die konservativen Revolutionäre begründeten die Rebellion gegen den englischen König aus dem Prinzip der Volkssouveränitat bei Cicero und Platon:
"The American Revolution was a paradox: a revolution fueled by tradition".
Auch die französische Revolution kommt aus ganz anderen Beweggründen, doch ihr voraus geht die
Begeisterung für antiken Stil im Gegensatz zum Rokoko; vor der Revolution liegt die Begeisterung für
das einfache Leben bei Rousseau und in der spartanischen Tradition. Wenn sich die Revolution in den
ersten Jahren antik kostümiert – man denke an die Jakobinermütze, die das antike Zeichen des Freigelassenen zitiert, an die Bilder Davids, an die antikisierende Frauengestalt der Marianne, den antiken
Dekor der Revolutionsfeste, den Inschriftenstil und daran, dass nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. natürlich noch zahlreichere Brutusdramen geschrieben wurden als vorher: Die Selbstbilder und Interpretationsmuster der Revolution waren antik, und noch in der Debatte um die Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht war die römische Bürgerarmee neben dem Athener Heer bei Marathon ein wichtiges Argument gegen das herkömmliche Söldnerheer. Was schief gehen kann: Der Titel, den sich Napoleon als
Erbe der Revolution zulegte, war prémier consul.
Die Antike und ihr Leitmedium, die lateinische Sprache der Bildungsinstitutionen, sind also kein Hort
von identitätsstiftenden Werten, sondern ein Reservoir von Mustern, Symbolen und Interpretationen,
die jeweils umschlagen können. Die deutsche Gegenbewegung auf Revolution und napoleonische
Kriege waren die preußischen Reformen, unter denen Humboldts humanistisches Gymnasium hervorragt, das die Griechen bevorzugte und eigentlich durch Orientierung an den freiheitsliebenden, kreativen Hellenen die neuen deutschen Menschen als rundum kultivierte Personen hervorbringen sollte.
Grandios gedacht und begonnen, wandelte sich das Gymnasium bald zur Anstalt für Staatsdiener, aus
der die gipserne Antike der zweiten Hälfte des 19. Jhs. und der an Caesar trainierte militaristische Wilhelmismus hervorgehen sollte. Philologiestudium und Reserveoffizierkarriere gingen bei vielen Hand
in Hand, auch bei den feinsten Latinisten wie Friedrich Leo. In England und Frankreich gab es im 19.
Jh. ähnliche Tendenzen. Der faschistische Missbrauch des antiken Rom in Mussolinis Italien ist evident. Der Nazionalsozialismus hatte zwar mit Latein, der lateinischen Antike und dem Römischen
Recht wenig Freude, doch viele Lateiner mit dem Nationalsozialismus: Noch nach dem 2. Weltkrieg
war die Literatur zum Römertum ein Rückzugswinkel für bekannte Nazis unter den Latinisten.
Anregung zum Eigenen
Wo bleibt das Positive, wenn nicht nur die Nationalsprachen Latein an den Rand gedrängt haben und
die alten Sprachen ihrerseits nicht ganz so harmlos sind, wie sie gern wären? Ich glaube, das Positive
liegt genau in dieser Spannung aus Bewahrung und Kritik, in der ich das Wesen des Philologen sehe,
freilich unter Akzentverschiebung zugunsten der Kritik. Dass Europa eine Erinnerung hat, die mit einigen Lücken 2700 Jahre weit zurückreicht, macht ja das Leben in Europa so interessant und reizvoll,
und wer vermöchte die Nuancen, die tiefen Staffelungen europäischer Kultur besser genießen als der
Philologe? Wer sich frei durch Europas Geschichte bewegen will, wer Europa mit seinen positiven und
negativen Konstituenten verstehen will, braucht Latein in einem kritischen Sinn, um sich selbst ein Ur-
teil bilden zu können: sei es um des ästhetischen Vergnügens willen, d. h. des Verstehens von europäischer Literatur und bildender Kunst, oder um die sehr wirksame Vorgeschichte unserer Rechtsund Politik-Begriffe zu verstehen: Demokratie und Republik haben nicht von ungefähr ihre Namen direkt aus dem Latein oder durch dessen Vermittlung. Aber wenn man ehrlich ist, wie es der Kontakt mit
anderen Kulturkreisen erfordert, dann muss man auch zugeben, wie schmal der Streifen des Positiven
ist. Ihn gilt es dann um so sorgfältiger zu kultivieren.
Womit endlich die katalytische Dimension des Latein erreicht ist, die ich in engem Zusammenhang mit
der Praxis der Philologie sehe. Was leistet Latein abgesehen von Historie? Wir lehren und lernen eine
alte Sprache, wir bosseln an den Formen, Wörtern und Konstruktionen, wir zerlegen, rekonstruieren;
lesen mit einer Langsamkeit, die Außenstehenden absurd oder verrückt vorkommen muss, aber dieser Zeitlupenmodus ist die einzige Weise, wie man erfährt, was Sprache überhaupt ist. An Latein, dieser seltsamen, stark flektierenden, artikellosen, wortarmen, aber syntaktisch gut organsisierten Sprache hat Europa seit Jahrhunderten gelernt, aus den Nationalsprachen herauszuschauen. Indem der
Automatismus des schon Verstandenhabens der gesprochenen Sprachen stillgestellt wird, entsteht
Gelegenheit, aus unserer Befangenheit herauszutreten. Wer Latein kann, hat ein anderes Verhältnis
zur eigenen Sprache. Man kann Lateingrammatik nüchtern als Linguistik in nuce betreiben, man kann
von Latein aus in die indoeuropäische Sprachstruktur blicken, man kann an den Wörtern Begriffsgeschichte betreiben; man kann, wenn man die Ebene des Satzes überschreitet, mit dem Repertoire
rhetorischer Textanalyse die Organisation von Texten untersuchen, d. h. die Textoberfläche im Blick
auf Tiefenstrukturen, Intentionen und Strategien untersuchen. Etwas weniger nüchtern kann man darin
aber auch eine existenzielle Praxis sehen, die die Philologie mit anderen Existenzformen teilt: mit moderner Philosophie und Dichtung.
Latein hat also nicht nur retrospektiven Charakter, sondern ist sprachkritische Praxis von heute. Im
Hintergrund der von Wittgenstein inaugurierten sprachanalytischen Philosophie steht – neben dem
zweifelsohne viel wichtigeren der Mathematik und Logik Freges und Russels – die sprachkritische
Welt Wiens nach 1900, d. h. Mauthners Sprachkritik und diejenige von Karl Kraus. Wer Wittgenstein
mit Wiener Augen liest – man kann dies bequem nachvollziehen –, der hört in vielen Formulierungen
Wittgensteins geradezu Karl Kraus durch. Der Bezug Wittgensteins auf Karl Kraus geschieht bisweilen
explizit; oder man stolpert über das Nestroy-Motto, das vor den "Philosophischen Untersuchungen"
steht. Nestroy wurde von Kraus wiederentdeckt, und zwar unter dem Gesichtspunkt des Wörtlichnehmens von Sprache. Das Beim-Wort-nehmen verbindet nun den Satiriker, "in dem sich die Sprache
Gedanken macht über die Dinge", den Philosophen und den Philologen: Wörtlichkeit fokussiert den
Blick auf das, was in der Sprache geschieht, oft auch ohne Wissen des Sprechers. Woher kommt nun
diese Blickumkehr, die die Sprache als den blinden Fleck in unserem Bewusstsein erkennbar macht –
oder, mit Wittgensteins Worten, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigt? Karl Kraus hat in
einem Gedicht erklärt, woher sein Sprachverständnis rührte: vom Lateinunterricht seines Deutsch- und
Lateinlehrers, dem das Gedicht gewidmet ist: "Doch dank ich Deutsch dir, weil ich Latein gelernt."
Man kann darin ein konservatives ideologisches Konstrukt sehen, und es gibt auch einen unverächtlichen Beleg dafür. Der konservative Romancier Heimito von Doderer hat in seinem Roman "Die Dämonen" ein Analogon zu Pedro Gonzalez aus dem 16. Jh. geschaffen, indem er einen Handwerker Latein
lernen und dadurch die "Dialekt-Grenze", die Beengung durch das Eingesperrtsein in der gesprochenen Sprache überwinden lässt. Doch greift ein ideologischer Verdacht zu kurz, da das Phänomen zeitlich und räumlich zu weit verbreitet ist. Die Gründerväter der europäischen Volkssprachen Dante, Boccaccio, Petrarca und Montaigne waren in Latein perfekt ausgebildet wie auch der wichtigste italienische Dichter der Neuzeit, Giacomo Leopardi. In Deutschland könnte man noch Klopstock, Hölderlin
und Mörike hinzuzählen und diese pauschal dem alten Humanismus zuschreiben, gäbe es nicht noch
neuere Zeichen der katalytischen Funktion des Latein:
Tomas Tranströmer, der wichtigste lebende schwedische Dichter, ließ vor wenigen Jahren seine knappe Autographie mit dem Kapitel "Latein" enden, d. h. mit jener Lebensphase, als er im Übersetzen aus
dem Lateinischen zum schwedischen Dichter wurde. Und staunenswerter Weise gibt es genau darüber auch ein Gedicht aus der Karibik. Derek Walcott, der wohl bedeutendste lebende Dichter der
westlichen Hemisphäre, schrieb in den 80er Jahren "A Latin Primer", worin er beschreibt, wie er beim
basalen Latein-Unterricht, den er als Kind erfuhr und als College-Lehrer selbst kurze Zeit gab, zum
Dichter wurde. Freilich, indem er das Lateinunterrichten aufgab und den Blick auf die umgebende Natur, die kolonialen Überreste und den lokalen Patois richtet, das Mischmasch aus Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch der Antillen. Die Sprache aber, in der er dies beschreibt, ist an der
klassischen Sprache geschliffen worden, und auch das Bild, mit dem das Gedicht endet, stammt aus
der Antike: Steine und ein umgestürzter Baumstrunk werden dem Dichter zu den geborstenen Säulen
des Herakles. Das Grenzmal der Antiken Welt, die Walcott geographisch weit hinter sich gelassen hat,
wird ihm noch einmal zu einem bewusst überschrittenen Ausgangspunkt jener Kunst und jener Weltkultur, die eben jetzt entsteht.
Ad summam
1. Auf der synchronen Ebene wissenschaftlicher internationaler Kommunikation dient Latein – in
freundschaftlicher Symbiose mit der Halbtochter Englisch – dem Verständnis für die historische Genese moderner Terminologien und für wissenschaftshistorische Fragestellungen.
2. Wer Latein kann, taugt nicht zum bloßen Hüter des Kanons und Erben der wahren Bildung, sondern
er ist, recht verstanden, aktiver Mitgestalter der Tradition und Aufklärer auch ihrer dunklen Seiten.
Dazu ist es notwendig, neben die übliche konservative Argumentation die Tradition von Latein als
Transportmedium ziviler, republikanischer und kritischer Ideen zu setzen.
3. Und dies entspringt der philologischen Tätigkeit. Diese ist im Wesen kritisch. Das Kennzeichen des
Latinisten, das Fragenbündel "Was heißt das genau? Stimmt das? Kann das überhaupt stimmen?",
der analytische Blick auf Texte und deren Genese stellt Autoritäten und sprachliche Denk-Konventionen in Frage und verbindet Philologie mit zeitgenössischer Philosophie und Dichtung. Latein befreit
von Vorurteilen.
Literaturverzeichnis:
Literarische Texte:
Dante Alighieri, Opere minori ii/1, Convivio, a cura di C. Vasoli, D. de Robertis, Mailand-Neapel 1995
(Orig. 1988) – Opere minori iii/1, De vulgari eloquentia. Monarchia, a cura di V. Mengaldo, B. Nardi,
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Doderer, H. v., Die Dämonen, München 1956.
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