Aktueller Kommentar Dienstleistungsgesellschaft Deutschland – vergesst die Industrie nicht! 26. Februar 2008 "Dienstleistungsgesellschaft Deutschland“ lautet die Zauberformel, die sich einige Ökonomen und Politiker in ihre Sonntagsreden geschrieben haben. Sie entspringt dem Erfolgskonzept angelsächsisch geprägter Volkswirtschaften, dessen Charme sich viele nur schwer entziehen können. Vereinfacht lautet die Forderung, Deutschland müsse dem Beispiel der Partner im Westen folgen und sich noch stärker im Dienstleistungsbereich weiterentwickeln; Dienstleistungen müssten anteilsmäßig an der gesamten Wirtschaftsleistung an Bedeutung hinzugewinnen. Dann entstehe eine moderne Wirtschaftsstruktur und die Wirtschaft wachse schneller. Wahrlich zauberhaft. Doch worauf stützt sich diese Forderung? Ein Blick auf die typische Wirtschaftsstruktur von Industrienationen im Vergleich zu Entwicklungs und Schwellenländern liefert die Antwort: Der Dienstleistungsanteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung liegt in Entwicklungsländern in der Regel deutlich niedriger als in entwickelten Volkswirtschaften. In China lag er beispielsweise 2007 bei nur 34% – in Deutschland ist er etwa doppelt so hoch. Der Anteil des tertiären Sektors am BIP eines Landes scheint also ein Entwicklungsindikator zu sein. Wird eine solche Logik akzeptiert, besteht für Deutschland im Vergleich zu den USA und Großbritannien tatsächlich Handlungsbedarf. In diesen beiden Ländern beträgt der Wertschöpfungsanteil des Dienstleistungssektors ca. 78%, jener des industriellen Sektors für die USA 16% und für Großbritannien 15%. In Deutschland liegen die Anteile für den Dienstleistungssektor um 10%-Punkte niedriger und für die Industrie um ca. 10%-Punkte höher. Eine genauere Betrachtung der deutschen Wirtschaft zeigt allerdings, dass der Ruf nach der Dienstleistungsgesellschaft Deutschland nicht mit einer solch einfachen Rechnung begründet werden kann. Sie vermag höchstens, eine Entwicklungstendenz für Volkswirtschaften aufzuzeigen. Die bloße prozentuale Aufteilung der Wertschöpfung einer Volkswirtschaft auf seine drei Sektoren sagt allerdings wenig über ihre Wettbewerbsfähigkeit im Detail aus. So zeigt das Beispiel Deutschland seine traditionellen Stärken im industriellen Bereich über seine Exporterfolge im Maschinenbau oder der Automobilbranche. Deutschland ist weiterhin Exportweltmeister im Warenhandel. Dieses Prädikat wurde im Verarbeitenden Gewerbe verdient und zeigt die Stärke des Sektors im internationalen Vergleich. Dies gilt besonders für Investitionsgüter: So exportierte Deutschland im Jahre 2006 Maschinen im Wert von über EUR 126 Mrd., wertmäßig 14% aller Warenexporte. Letztlich folgt aus der internationalen Arbeitsteilung – unter Beibehaltung einer angemessenen Diversifizierung der Wirtschaft – die Fokussierung auf die eigenen Stärken, zu denen in Deutschland auch das Verarbeitende Gewerbe zählt. Die Bedeutung der deutschen Industrie zeigt sich, wenn man die Entwicklung der Wirtschaftsstruktur Deutschlands der letzten fünf Jahre nachzeichnet. Seit 2003 wuchs das Verarbeitende Gewerbe um jahresdurchschnittlich ca. 3,5% und nahm damit, gemessen am Anteil der Wertschöpfung des Sektors an der gesamten Bruttowertschöpfung, um 1%-Punkt an Bedeutung zu. Der Dienstleistungssektor legte nur um 1,2% p.a. zu und verlor anteilsmäßig 1,1%-Punkte. Die Industrie entwickelte offenbar genug Dynamik, um die Zugmaschine der deutschen Konjunktur zu sein. Im Jahr 2007 trug der industrielle Sektor trotz seiner deutlich geringeren Größe in etwa gleich viel zum deutschen Wirtschaftswachstum bei wie der tertiäre Sektor. Seite 1 von 3 Aktueller Kommentar In Anbetracht der Globalisierung sind solche Wachstumsraten kaum verwunderlich: Das starke Weltwirtschaftswachstum (+3,2% p.a. seit 2003) kam besonders der exportintensiven Industrie zugute. Ihre Erzeugnisse sind praktisch ohne Einschränkungen weltweit handelbar. Das Zusammenwachsen der Märkte bietet hier große Chancen. Vor allem von dem starken Wachstum der Schwellenländer profitieren die deutschen Exporteure von Investitionsgütern. Die deutsche Industrie ist wegen ihres hohen Exportanteils weniger stark von der Binnennachfrage abhängig als der Dienstleistungsbereich. Dienstleistungen sind dagegen nicht uneingeschränkt handelbar. Viele Leistungen erfordern die direkte räumliche Nähe und lassen keine großen Entfernungen zwischen Käufer und Verkäufer zu. Aus diesem Grund ist der Dienstleistungsbereich weniger exportintensiv und stärker von der Inlandskonjunktur abhängig, die in Deutschland in den letzten Jahren schwach war. Es drängt sich die Vermutung auf, dass es keine magische, „richtige“ Zahl für den Anteil des Dienstleistungssektors an der Wertschöpfung gibt. Dies gilt umso mehr, da die Grenzen zwischen Industrieprodukt und Dienstleistung fließender werden. Zwar existiert ein positiver Zusammenhang zwischen Wohlstand und Dienstleistungsanteil, wenn man unterschiedlich weit entwickelte Volkswirtschaften betrachtet. Allerdings ist ein Vergleich von Ländern mit ähnlichem Entwicklungsstand allein aufgrund dieses Indikators nicht aussagekräftig. So lässt beispielsweise ein höheres Gewicht in Frankreich (77%) nicht den Schluss zu, dass diese Volkswirtschaft konkurrenzfähiger oder wohlhabender sei als die japanische (68%) oder die kanadische (66%). Die Verzauberung in eine Dienstleistungsgesellschaft ist also der Empirie nach für Entwicklungsländer durchaus erstrebenswert, denn sie ist in erster Linie der Ausdruck einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung. Ein optimales Niveau für den Anteil des tertiären Sektors ist jedoch nicht quantifizierbar. In entwickelten Volkswirtschaften können abweichende Anteile nebeneinander koexistieren, ohne dass der eine besser oder schlechter zu nennen wäre, als der andere. Direkte Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur lassen sich wohl kaum mit dem einfachen Wunsch nach einer modernen Wirtschaftsstruktur rechtfertigen; manchmal ist die „Old Economy“ schon ganz schön modern und wettbewerbsfähig. ...mehr zum Research-Bereich Branchen Philipp Ehmer (+49) 69 910-31879 Aktuelle Kommentare - Archiv Seite 2 von 3 Aktueller Kommentar © Copyright 2008. Deutsche Bank AG, DB Research, D-60262 Frankfurt am Main, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten. Bei Zitaten wird um Quellenangabe „Deutsche Bank Research“ gebeten. Die vorstehenden Angaben stellen keine Anlage-, Rechts- oder Steuerberatung dar. Alle Meinungsaussagen geben die aktuelle Einschätzung des Verfassers wieder, die nicht notwendigerweise der Meinung der Deutsche Bank AG oder ihrer assoziierten Unternehmen entspricht. Alle Meinungen können ohne vorherige Ankündigung geändert werden. Die Meinungen können von Einschätzungen abweichen, die in anderen von der Deutsche Bank veröffentlichten Dokumenten, einschließlich Research-Veröffentlichungen, vertreten werden. Die vorstehenden Angaben werden nur zu Informationszwecken und ohne vertragliche oder sonstige Verpflichtung zur Verfügung gestellt. Für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Angemessenheit der vorstehenden Angaben oder Einschätzungen wird keine Gewähr übernommen. In Deutschland wird dieser Bericht von Deutsche Bank AG Frankfurt genehmigt und/oder verbreitet, die über eine Erlaubnis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verfügt. Im Vereinigten Königreich wird dieser Bericht durch Deutsche Bank AG London, Mitglied der London Stock Exchange, genehmigt und/oder verbreitet, die in Bezug auf Anlagegeschäfte im Vereinigten Königreich der Aufsicht der Financial Services Authority unterliegt. In Hongkong wird dieser Bericht durch Deutsche Bank AG, Hong Kong Branch, in Korea durch Deutsche Securities Korea Co. und in Singapur durch Deutsche Bank AG, Singapore Branch, verbreitet. In Japan wird dieser Bericht durch Deutsche Securities Limited, Tokyo Branch, genehmigt und/oder verbreitet. In Australien sollten Privatkunden eine Kopie der betreffenden Produktinformation (Product Disclosure Statement oder PDS) zu jeglichem in diesem Bericht erwähnten Finanzinstrument beziehen und dieses PDS berücksichtigen, bevor sie eine Anlageentscheidung treffen. Seite 3 von 3