Über Steuern mutig streiten!

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Über Steuern mutig streiten!
von Henrik Enderleinam 09. September 2013
Unsere Gesellschaft schrumpft und altert. Zugleich investieren wir zu wenig in Bildung und Infrastruktur.
In dieser Lage sind höhere Steuern der Schlüssel zu einer besseren Zukunft für alle.
Die Steuerpolitik führt in Wahlkämpfen in der Regel ein widersprüchliches Dasein: Während die parteipolitischen
Diskussionen permanent von Detailzahlen befeuert werden (etwa: "Bei uns werden X Prozent der Bevölkerung entlastet"
oder "Wir werden den Freibetrag für Verheiratete um X Punkte erhöhen"), rückt das Gesamtbild der finanzpolitischen
Strategien und Prioritäten der Parteien meist völlig in den Hintergrund.
Das ist nicht gut so. Denn das wichtigste Merkmal der Steuerpolitik lautet, dass ständig in breiten Alternativen gedacht
werden muss. Der Vorschlag, Steuern zu erhöhen, steht nie allein, sondern dient immer einem anderen politischen Ziel.
Wenn ich die Bildungsinvestitionen in Deutschland erhöhen möchte, dann kann ich a) an anderer Stelle Ausgaben senken,
b) neue Kredite aufnehmen oder c) Steuern erhöhen. Diese Optionen gehören zueinander ins Verhältnis gesetzt und
abgewogen.
Hängen bleibt im Wahlkampf aber oft nur der Satz: "Partei X will den Spitzensteuersatz erhöhen". Das ist natürlich viel
prägnanter als die inhaltlich richtige aber viel zu lange und technische Darstellung: "Für Partei X hat Priorität, die
Bildungsinvestitionen zu erhöhen. Die Finanzierung kann nicht über Ausgabensenkungen erfolgen, weil die möglichen
Einsparungen über die Erhöhung des subventionierten Ökosteuersatzes für energieintensive Unternehmen schon für die
Senkung der Staatsschulden eingeplant sind. Deshalb führt kein Weg an einer Steuererhöhung vorbei, die aber aus Gründen
der sozialen Gerechtigkeit nur Spitzenverdiener treffen soll." Tauglich für die Talkshow sind solche Ausführungen nicht.
Um die Gesamtperspektive muss es gehen
Erschwerend kommt hinzu, dass die Steuerthemen oft kompliziert sind - allein bei der Einkommenssteuer kommen
unterschiedliche Steuerklassen, das Ehegattensplitting sowie diverse Abschreibungsmöglichkeiten ins Spiel. Journalisten,
Stiftungen oder Institute versuchen, steuerpolitische Maßnahmen auf ihre konkreten Implikationen für typische
Haushaltskategorien hin zu untersuchen ("Die Jahresmehrbelastung für eine Familie mit zwei Kindern bei einem
Einkommen von X beträgt Y"). Diese nackten Mehrbelastungszahlen stehen dann aber weder in einem Zusammenhang mit
den breiteren politischen Alternativen, also mit den Maßnahmen, die durch sie finanziert werden, noch mit den
ausbleibenden Steuer- oder Schuldenstanderhöhungen an anderer Stelle. Klar ist: Bierdeckelargumente verzerren die
Komplexität von Entscheidungen über Einnahmequellen und Ausgabenprioritäten. Die wichtigste Anforderung an die
Debatte um die Steuerpolitik ist deshalb, sie in einen breiteren Zusammenhang zu stellen. Es sollte weniger um technisches
Kurzpassspiel gehen, als um das gesellschaftliche Gesamtkonzept, das dann nach einer politischen Bewertung verlangt.
Die folgenden vier Thesen zur deutschen Steuerpolitik sind ein möglicher Ansatz, diese Gesamtperspektive abzubilden. Es
mag viele andere Gesamtperspektiven geben. Aber wenn es im Wahlkampf ganz generell gelingt, mehr über die
Gesamtperspektiven zu sprechen, als über die Nachkommastellen bei den Einzelmaßnahmen, dann wäre das schon ein
großer Erfolg.
Am Schuldenabbau führt kein Weg vorbei
These 1: Der Schuldenabbau muss die Priorität der deutschen Steuerpolitik sein. Das liegt nicht etwa daran, dass Schulden
grundsätzlich schlecht sind und die schwäbische Hausfrau nur Geld ausgeben sollte, welches sie tatsächlich besitzt. Der
Grund für das Primat des Schuldenabbaus in Deutschland liegt in einer ganz besonderen Kontextbedingung: der
Demografie. Die Veränderungen in der Altersstruktur unserer Gesellschaft haben zur Folge, dass in den kommenden
Jahrzehnten mit einer Stagnation des Wirtschaftswachstums zu rechnen ist. Dies ist dann der Fall, wenn die
bevölkerungsbedingte Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht durch eine entsprechend starke Steigerung der
durchschnittlichen Arbeitsproduktivität ausgeglichen wird. Die Grafik [siehe Print-Ausgabe] illustriert diese
Zusammenhänge. Sie zeigt eine Extrapolation des Wachstums in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten unter der
Annahme, dass die Arbeitsproduktivität (BIP pro Erwerbsperson) mit mit dem durchschnittlichen Wert der Periode 1992 bis
2008 wächst. In diesem Zeitraum brachte das BIP pro Erwerbsperson von 1,13 Prozent eine durchschnittliche
Wachstumsrate von real 1,5 Prozent im Jahr für die gesamte Volkswirtschaft hervor. Aufgrund des Rückgangs der
arbeitenden Bevölkerung würde das gleiche BIP pro Erwerbsperson bis 2060 in dieser Extrapolation aber nur noch zu einer
durchschnittlichen BIP-Wachstumsrate von real 0,28 Prozent für die gesamte Volkswirtschaft führen.
Die Frage, wie der aktuelle Schuldenstand von mehr als zwei Billionen Euro zurückgeführt werden soll, wenn gleichzeitig
die Wachstumsraten fallen und die sozialpolitischen Herausforderungen in einer alternden Gesellschaft eher steigen, ist
kaum zu beantworten. Der aktuelle Finanzplan des Bundes 2011 bis 2015 geht von einer mittelfristigen Steigerung des
preisbereinigten BIP von 1,5 Prozent aus. Das ist deutlich mehr, als die hier vorgestellten Extrapolationen erwarten lassen.
Die demografischen Herausforderungen (die übrigens Ökonomen wie Paul Krugman, die von Deutschland ständig stärkere
fiskalische Impulse verlangen, immer übersehen) machen deutlich, dass an einem Abbau des Schuldenstands kein Weg
vorbei führt.
These 2: Deutschland hat ein Investitionsproblem - vor allem in der Bildung.
Die deutsche Wirtschaftspolitik ist zu wenig auf die Zukunft ausgerichtet. Bei den Ausgaben für Bildung oder Infrastruktur,
also den Grundlagen zukünftigen Wirtschaftswachstums, liegen wir mit einer Nettoinvestitionsquote von gerade drei
Prozent (2011) im OECD-Vergleich weit hinten. Seit der Jahrtausendwende ist die Nettoinvestitionsquote des Staates
gemessen am BIP in Deutschland im Schnitt sogar negativ. Das heißt, die öffentlichen Investitionen haben nicht einmal den
Ersatzbedarf gedeckt. Besonders deutlich wird der Investitionsmangel im Bereich Bildung. Deutschland ist das einzige
OECD-Land, in dem heute weniger junge Menschen einen Hochschulabschluss haben als ältere. Wir haben die niedrigste
Studienanfängerquote und eine der niedrigsten Abiturquoten. Doch das Studium ist der Schlüssel zum sozialen Aufstieg.
Die OECD rechnet mit einer Gesamtrendite von mindestens zehn Prozent für jeden im Bildungssektor investierten Euro.
Gerade wenn die Bevölkerung altert und die Zahl der Erwerbstätigen zurückgeht, ist es wichtig, den Beitrag jedes Einzelnen
zu erhöhen. Bildung ist dafür der wichtigste Hebel. Aber auch anderswo fehlt es an Investitionen. Schon heute nimmt die
Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur bedrohliche Ausmaße an: Kommunen sind finanziell nicht mehr in der
Lage, ihre Aufgaben zu bewältigen. Renovierungen von Schulen und Kindergärten werden aufgeschoben. Es besteht ein
immenser Nachholbedarf bei der Reparatur von Straßen. Viele unserer Universitäten sind der internationalen Konkurrenz in
Sachen Ausstattung und Wettbewerbsfähigkeit immer noch unterlegen.
These 3: Steuererhöhungen sind nötig.
Aus den ersten beiden Thesen ergibt sich eine Gleichung, die zum Herzstück der Steuerdebatte werden sollte: Zukünftige
soziale Gerechtigkeit = Bildungsinvestitionen erhöhen + Staatsschulden senken. Jedem ist klar, dass die Konsolidierung der
Staatsfinanzen bei gleichzeitiger Erhöhung der Bildungsinvestitionen Steuererhöhungen und/oder Ausgabensenkungen
erfordern. Es ist mutig, wenn SPD und Grüne mit Forderungen nach einer Erhöhung der Einkommenssteuer für
Spitzenverdiener in den Wahlkampf ziehen. Doch genau das ist der richtige Schritt im gesamtpolitischen Kontext.
Das ist eine politische Bewertung. Und diese ist an dieser Stelle dringend notwendig. Denn eine finanzpolitische Diskussion
ohne Bewertung kann es nicht geben. Wer umgekehrt Steuern senken will, der wird entweder Ausgaben senken müssen,
Sozialabgaben erhöhen oder zusätzliche Schulden aufnehmen. Alle drei Maßnahmen belasten die Bevölkerung an
unterschiedlichen Stellen. Je nach Präferenz kann der eine oder andere die verteilungspolitischen Implikationen von
zusätzlichen Schulden, höheren Steuern oder Sozialabgaben befürworten. Steuern und Sozialabgaben mögen ökonomisch
ähnlich wirken, verteilungspolitisch wirken sie sehr unterschiedlich. Steuern holen sich wegen der Progression von den
unterschiedlichen Stellen. Je nach Präferenz kann der eine oder andere die verteilungspolitischen Implikationen von
zusätzlichen Schulden, höheren Steuern oder Sozialabgaben befürworten. Steuern und Sozialabgaben mögen ökonomisch
ähnlich wirken, verteilungspolitisch wirken sie sehr unterschiedlich. Steuern holen sich wegen der Progression von den
Reichen mehr als von den Ärmeren. Abgaben dagegen sind für alle Menschen gleich, oder ihre Progression ist gedeckelt.
Sie treffen die Ärmeren überproportional. Wer sich für Steuersenkungen ausspricht und nicht auf den Cent genau darlegt,
wo Einsparungen erfolgen sollen, der plädiert also entweder für höhere Sozialabgaben oder höhere Schulden.
Genau um solche Vergleiche muss es in der finanzpolitischen Auseinandersetzung im Wahlkampf gehen. Denn wer am
Ende die Lasten tragen sollte, das ist eine Frage der politischen Bewertung. Ich bin überzeugt: Ein höherer Spitzensteuersatz
(der heute schon bei Einkommen von rund 53.000 Euro pro Jahr fällig wird, also einem besseren Facharbeitergehalt, das
keineswegs ein "Spitzeneinkommen" ist) und eine angemessene Besteuerung von Vermögen wird von vielen als gerecht
empfunden, so lange auf diesem Weg dringend notwendige Zukunftsinvestitionen ermöglicht werden, die sonst aufgrund der
demografischen Entwicklung nicht mehr finanzierbar wären. Auch Schweden, Dänemark, Belgien, Portugal, Spanien und
die Niederlande haben Spitzensteuersätze von mehr als 50 Prozent. Und eine Erhöhung der Besteuerung von Kapitalerträgen
rechtfertigt sich im aktuellen Kontext schon allein dadurch, dass die massiven Injektionen von Liquidität durch die
Notenbanken vor allem im Kapitalmarkt wirken. Wenn dort die Erträge rapide steigen, dann ist es ein Gebot der Stunde,
einen kleinen Teil der Gewinne über eine erhöhte Steuer wieder an die Gemeinschaft zurückzuführen.
Bildung ist der beste Schutz vor Altersarmut
Übrigens: Was die Rentenfrage betrifft, macht die Steuerdebatte deutlich, dass großzügigere Rentenkompromisse oder gar
teure Anpassungen der Rentenformel nicht realisierbar sind. Das mag für einige Sozialdemokraten hart klingen, ist aber bei
näherem Hinsehen die logische Konsequenz einer der zukünftigen Gerechtigkeit verpflichteten Politik.
Bildungsinvestitionen sind der beste Schutz vor Altersarmut. Sie verhindern Erwerbsarmut, die der Altersarmut vorausgeht.
Als Baustein einer klaren wirtschaftspolitischen Strategie ist diese Haltung sicher leichter zu vermitteln als im engen Fokus
einer isoliert geführten Rentendebatte. Auch die Rentendiskussion sollte deshalb eingebettet werden in eine viel breitere
Debatte über die finanzpolitischen Prioritäten der Parteien.
Wer akzeptieren soll, später in Rente zu gehen, der muss wissen, dass dieser Schritt nicht die Folge zunehmender sozialer
Kälte ist, sondern ganz im Gegenteil der Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft. Eine längere Lebensarbeitszeit ist
deshalb auch kein simples Resultant demografischer Entwicklungen, sondern der Ausdruck gesellschaftlicher Präferenzen in
einem finanzpolitischen Gesamtkonzept.
These 4: Wir müssen Finanzierungsquellen jenseits von Steuererhöhungen erschließen.
Höhere Steuersätze sind nur ein Teil der Lösung. Natürlich müssen auch Ausgaben und Subventionen auf den Prüfstand:
Die Steuerermäßigung auf Hotelübernachtungen ist nur die Spitze des Eisbergs. Aus meiner Sicht sollte das Kindergeld
einkommensabhängig ausgezahlt werden, und auch das Elterngeld gehört überprüft. Auch die Befreiung von der Ökosteuer
für energieintensive Unternehmen sollte nicht unter den Tisch fallen, wenn auf diesem Weg andere Prioritäten in der
Steuerpolitik verwirklicht werden könnten.
Doch es gibt noch weitere Quellen, um die Finanzierung des Gemeinwesens zu erleichtern: Die Möglichkeiten zur
Mobilisierung von privatem Kapital sind bei weitem nicht ausgeschöpft. In Deutschland gibt es so viel Reichtum wie nie
zuvor. Allein das Geldvermögen wird auf 8,5 Billionen Euro geschätzt. In Deutschland wird mehr gespart als in den meisten
anderen Ländern. Doch das Geld wandert viel zu oft ins Ausland und wird nicht in produktive Investitionen hierzulande
gesteckt. Um privates Kapital besser in Zukunftsprojekte zu lenken, könnte zum Beispiel die steuerliche Absetzbarkeit von
privaten Investitionen in ausgewählte zukunftsträchtige Leitprojekte erhöht werden. Oder der Staat könnte projektbezogene
"Kommunal-Anleihen" oder "Bürger-Fonds" auflegen, mit denen sich die Bürger an konkreten kommunalen Vorhaben im
Bereich Bildung und Infrastruktur beteiligten könnten. Hier sind innovative Lösungen gefragt, die die Wohlhabenden in
unserer Gesellschaft einladen, freiwillig höhere Beiträge zu leisten, um die Gemeinschaft weiter zu bringen.
Oft wird gesagt: Die Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der Verwendung öffentlicher Mittel durch den Staat ist hoch
und die Akzeptanz von Steuererhöhungen dementsprechend gering. Ich glaube nicht, dass diese pessimistische
Kurzeinschätzung zutrifft. Wenn es gelingt, die Diskussion auf das finanzpolitische Gesamtkonzept zu lenken, dann wird
auch die Bereitschaft wachsen, für eine Stärkung der Gesellschaft und des Gemeinwesens höhere Beiträge zu leisten. Es
geht darum, deutlich zu machen, dass höhere Steuern der Schlüssel zu einer besseren Zukunft sind, während viele
Alternativen wie neue Schulden oder Kürzungen bei den Sozialausgaben die Gesellschaft weiter ins Ungleichgewicht
auch die Bereitschaft wachsen, für eine Stärkung der Gesellschaft und des Gemeinwesens höhere Beiträge zu leisten. Es
geht darum, deutlich zu machen, dass höhere Steuern der Schlüssel zu einer besseren Zukunft sind, während viele
Alternativen wie neue Schulden oder Kürzungen bei den Sozialausgaben die Gesellschaft weiter ins Ungleichgewicht
bringen.
Diese Überzeugungsarbeit funktioniert aber nur, wenn von vornherein die Prioritäten klar sind. Die Bürger werden höhere
Steuern nur dann akzeptieren, wenn die Erträge nicht versickern, sondern einem ganz bestimmten Zweck zugutekommen.
Um welchen Zweck es sich handelt, sollte der wichtigste Gegenstand der politischen Debatte sein. Ich würde den Akzent
darauf legen, dass die heutige Politik vor allem zukünftigen Generationen verpflichtet ist. Eine gerechte Zukunftspolitik
ergibt sich vor allem aus einer besseren Bildungspolitik und soliden Staatsfinanzen. Deshalb plädiere ich für die
Faustformel: zukünftige soziale Gerechtigkeit = Bildungsinvestitionen erhöhen + Staatsschulden senken. Viele andere Ziele
sind ebenfalls wichtig, sollten diese Prioritäten aber nie gefährden.
Dieser Text erschien zunächst im Debattenmagazin Berliner Republik 3+4/2013
www.fortschrittsforum.de
PDF erstellt am 18.05.2017 um 01:09 Uhr
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